CHINA IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT


Studie von Josef Maria von der Ewigen Weisheit


Über die Jungfrau China aus einem Roman der Ming-Dynastie:

Oh welch holdselige Erscheinung bot sich seinem Auge! Der zarte Schimmer ihrer Haut ließ die herrlichste Blume neben ihr vor Scham vergehen! An der Grazie ihrer Bewegung gemessen, erschien der zierliche Flug der Schwalbe von lächerlicher Plumpheit! Der edle Schwung ihrer Brauen beschämte die anmutigen Konturen lenzlicher Hügel! Verglichen mit dem seelenvollen Feucht ihres Auges, war daas Blank des Herbstsees matt und tot! Ihre Taille, zum Zerbrechen zart, stand rank wie die zierliche Pagode, die dem Sturme trotzt! Mondglanz lag auf ihrem Haare, dessen Spiegelglätte keiner Salbe bedurfte! Die Reinheit ihres Teints ließ frisch gesottenen Reis schmutzig erscheinen und machte Puder und Schminke entbehrlich! Ach, ihre Schönheit zu beschreiben hieße, den Kranichflug im Bilde festhalten zu wollen! Ihr göttlicher Anblick ließ dich bis ins Mark erschauern!“



ERSTES KAPITEL
KAISER PUYI

Puyi wurde am 7. Februar 1906 als ältester Sohn des Prinzen Chun II Zaifeng und dessen Gemahlin Youlan im „Nördlichen Herrschaftssitz“, einem Palast nahe Peking, geboren. Sein Vater war ein jüngerer Halbbruder des amtierenden Kaisers Guangxu und entstammte dem mandschurischen Fürstengeschlecht der Aisin Gioro, die seit 1644 in der Qing-Dynastie die chinesischen Kaiser stellten.
Ende 1908 lag der kinderlose Kaiser Guangxu im Sterben. Daher ließ Kaiserinwitwe Cixi, die eigentliche Machthaberin Chinas und bei Hofe, den erst zweijährigen Puyi in die Verbotene Stadt nach Peking bringen, um ihn als Thronerben einzusetzen. Cixi hielt seit 47 Jahren die Fäden in der Hand. Sie war zunächst Nebenfrau des Kaisers Xianfeng und hatte mit diesem einen Sohn Tongzhi, der seinem Vater 1861 als Minderjähriger auf den Thron folgte. Nach dessen plötzlichem Tod im Alter von 18 Jahren – seine schwangere Ehefrau starb zwei Monate nach ihm – setzte die Kaiserinwitwe ihren dreijährigen Neffen Zaitian als Kaiser Guangxu durch. Dieser war Puyis Onkel. Einen Tag nach der Ankunft des Jungen in der Verbotenen Stadt, starb Guangxu und einen Tag später Cixi.
Mit nur zwei Jahren war Puyi Kaiser von China und wurde am 2. Dezember in einer hochoffiziellen, aufwändigen Zeremonie in der „Halle der höchsten Harmonie“ inthronisiert. Fortan lebte der Kind-Kaiser getrennt von seinen leiblichen Eltern als gottähnliche Person in der Verbotenen Stadt, umgeben von Eunuchen, Dienstboten und Konkubinen seiner Vorgänger. Jeder, der dem Kaiser gegenübertrat, musste den Kotau vor ihm machen, Kritik an ihm war untersagt. Ein strenges Protokoll regelte den Tagesablauf des Jungen.
Die Regentschaft für seinen minderjährigen Sohn übernahmen Prinz Chun und Guangxus Witwe Longyu. Chun erwies sich bald als unfähig, die kaiserliche Zentralmacht zu festigen. In China herrschten chaotische Zustände. Korruption und Misswirtschaft drohten, China unregierbar werden zu lassen. Große Teile des Landes wandten sich von Peking ab, kaiserliche Dekrete und Erlasse erzielten kaum noch Wirkung. Regionale Kriegsherren bestimmten das Geschehen, die republikanische Kuomintang-Bewegung hatte enormen Zulauf und ausländische Großmächte strebten danach, ihren Einfluss in China auszubauen. Als im Herbst 1911 die Xinhai-Revolution ausbrach, war das Ende der Monarchie absehbar. Am 1. Januar 1912 rief Sun Yat-sen die Republik China aus und der sechsjährige Puyi musste am 12. Februar abdanken. Im Edikt zur „Wohlwollenden Behandlung des Kaisers der großen Qing-Dynastie“ wurde Puyi weiterhin Kaisertitel und -würden zugestanden. Ihm wurde unbefristetes Wohnrecht in der Verbotenen Stadt eingeräumt und zur Unterhaltung seines riesigen Hofstaates erhielt er eine jährliche Apanage von vier Millionen Yuan.
Trotz seiner formellen Abdankung änderten sich an Puyis Leben und Behandlung vorerst nichts. Er durfte auch weiterhin seinen Titel „Kaiser von China“ tragen und auch benutzen. Der von Eunuchen dominierte Hofstaat hielt auch nach Ausrufung der Republik an dem überkommenen Hofzeremoniell fest. Puyi lebte immer noch von seinen leiblichen Eltern getrennt in der Abgeschiedenheit der Verbotenen Stadt, wo die Amme Wang Momo seine wichtigste Bezugsperson bildete. Verwandte (insbesondere sein Vater), hohe Beamte und Eunuchen bereicherten sich persönlich an den zugewiesenen Geldmitteln und den Kunstschätzen der Verbotenen Stadt. Inmitten von Korruption, Missgunst und Intrigen oblag die Erziehung des Jungen seiner Amme und ausgesuchten Eunuchen. Unterrichtet wurde er im Einzelunterricht von Privatlehrern, die ihn hauptsächlich in traditioneller chinesischer und konfuzianischer Literatur sowie Kalligraphie unterwiesen. Erst ab 1914 änderte sich Puyis isolierte Stellung, als sein jüngerer Bruder Pujie als Spielkamerad an den Hof geholt wurde.
Politisch spielte er erstmals 1917 wieder eine Rolle, als nach einem Militärputsch die Monarchie kurzzeitig wieder eingeführt wurde. General Zhang Xun nutzte die Instabilität der Republik aus, putschte sich an die Macht und setzte im Juli 1917 Puyi wieder als Kaiser ein. Nach zwölf Tagen jedoch war dieser Restaurationsversuch wieder beendet und Puyis Berater hielten sich fortan politisch zurück.
Im Frühjahr 1919 wurde der britische Kolonialbeamte und Sinologe Professor Johnston neuer Privat- und Englischlehrer Puyis, der nun gemeinsam mit seinem Bruder und ausgesuchten Aristokratenkindern unterrichtet wurde. Johnston gewann schnell großen Einfluss auf Puyi, prägte dessen Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig und führte ihn an die westliche Denkweise heran. Dies ging sogar soweit, dass sich Puyi seinen Zopf, die traditionelle Haartracht der Mandschu, selbst abschnitt.
Politisch blieb China ein Pulverfass. Im November 1924 putschte sich General Feng Yuxiang an die Macht und revidierte unter anderem das Edikt zwischen Republik und Kaiser. Auf seinen Druck hin musste Puyi die Verbotene Stadt verlassen. Nach 16 Jahren setzte er wieder einen Schritt vor die Tore und ging am 5. November 1924 mit kleinem Gefolge zu seinem Vater in den Nördlichen Herrschaftssitz.
Mitte der 1920er Jahre spitzte sich die Lage in China zu, es herrschten Chaos und Anarchie, Bürgerkrieg drohte. Regionale Kriegsherren, die Kommunisten und die republikanische Zentralmacht kämpften um die Macht. Ausländische Mächte, allen voran Japan, wollten die Schwäche Chinas ausnutzen und sich territoriale und wirtschaftliche Vorteile verschaffen. In den Wirren dieser Zeit war die persönliche Sicherheit Puyis gefährdeter denn je. Auf Anraten seines Gefolges begab sich Puyi schließlich inkognito in das internationale Botschafterviertel Pekings. Dort stellte er sich umgehend unter den Schutz der japanischen Botschaft und bezog mit seinem Gefolge ein eigenes Gebäude, wo er zunehmend japanischen Einfluss ausgesetzt war.
Am 23. Februar 1925 übersiedelte Puyi nach Tianjin. Die kosmopolitische Hafenstadt besaß ein großes internationales Viertel, wo Puyi sich in japanisches Hoheitsgebiet begab und eine herrschaftliche Villa bezog. Während der Jahre in Tianjin entwickelte Puyi den Wunsch, eines Tages auf den chinesischen Kaiserthron zurückzukehren. Als Privatmann nahm er rege am gesellschaftlichen Leben der großen ausländischen Gemeinde teil.
Nach der Mandschurei-Krise zwischen Japan und China bedrängten japanische Agenten den psychisch labilen Puyi. In der Mandschurei sollte ein von Japan abhängiger Satellitenstaat entstehen, mit Puyi an der Spitze. Nach einigem Zögern stimmte dieser schließlich zu.
Nachdem Puyi zugestimmt hatte, sich an die Spitze des neuen Staates zu stellen, bereiteten die Japaner seine Umsiedlung in die Mandschurei vor. Zu diesem Zweck wurde ihm am 24. Februar 1932 eine Bitte des Volkes der Mandschurei vorgetragen, ihr neuer Präsident zu werden, woraufhin Puyi nach Lüshun (Port Arthur) gebracht wurde. Dort erlebte er mit, wie in der von japanischen Truppen befreiten Mandschurei das unabhängige Mandschukuo errichtet wurde, woraufhin Puyi feierlich in der neuen Hauptstadt Xinjing einzog. In Xinjing bezog er den Gebäudekomplex der ehemaligen Salzsteuerbehörde, richtete hier seinen Hof ein und wurde auch dort zum Staatspräsidenten vereidigt. Bei der anschließenden Ausarbeitung der Verfassung blieb Puyi außen vor, Mitspracherecht wurde ihm nicht zugestanden.
Als Staatspräsident hatte er formell zwar weitreichende exekutive, judikative und legislative Befugnisse, konnte seine Regierung ernennen, doch Mandschukuo war von Beginn an ein japanischer Marionettenstaat. Japanisches Fernziel war es, Mandschukuo als Sprungbrett für die Unterwerfung Gesamtchinas zu nutzen. Die politische Macht des Staates lag beim „Staatsausschuss für allgemeine Angelegenheiten“, der ausschließlich mit Japanern besetzt war und seine Handlungsdirektiven aus Tokio erhielt. Mandschukuo von den Japanern wirtschaftlich erschlossen, diente als Rohstoffquelle und Fabrikationsstätte. Es gab viele Bodenschätze und Rohstoffe, eine ertragreiche und fruchtbare Landwirtschaft und die Infrastruktur war gut. Die Einwanderung japanischer Siedler wurde forciert, Amtssprache wurde Japanisch und die Shinto-Religion eingeführt.
Puyi indes träumte insgeheim von der Rückkehr auf den Kaiserthron in Peking, doch die Japaner ließen ihn mehr und mehr spüren, wer das Sagen hatte. 1934 wurde Mandschukuo eine Monarchie und war fortan das Kaiserreich Mandschukuo. Zu diesem Zweck wurde Puyi am 1. März 1934 zum Kaiser von Mandschukuo gekrönt. Die Krönungszeremonie fand im Beisein Prinz Chichibus statt, des jüngeren Bruders Kaiser Hirohitos, was lediglich unterstrich, dass Puyi Kaiser von Japans Gnaden war. An seiner einflusslosen Stellung änderte dies indes nichts. Im Gegenteil fühlte er sich an seinem Hof, der eine in sich geschlossene, privilegierte Welt war, zunehmend wie ein Gefangener. Umgeben von japanischen Spitzeln wurde er zunehmend von der Außenwelt isoliert und zeigte in seinem Verhalten paranoide Züge. Vom Verlauf des Zweiten Weltkriegs erfuhr er nur aus der allgemeinen japanischen Kriegspropaganda.
1945 war Japan militärisch praktisch besiegt. Im August erklärte ihm die Sowjetunion den Krieg und marschierte in Mandschukuo ein. Die japanische Armee stellte sich nicht zum Kampf, sondern zog sich nach Süden zurück. Das Land verfiel in Chaos, die Ordnung löste sich auf. Am 11. August verließ Puyi seinen Palast in Xinjing und versuchte sich mit wenigen Getreuen (unter anderem mit seinem Bruder Pujie) nach Japan durchzuschlagen. Auf der Flucht dankte Puyi am 16. August formell ab und erklärte die Rückkehr der Mandschurei nach China. Anschließend wurde er am Flughafen von Mukden durch sowjetische Fallschirmjäger gefangen genommen.
Die Sowjets internierten Puyi im Kriegsgefangenenlager von Chabarowsk. Zwischenzeitlich wurde Puyi 1946 als Zeuge beim Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Tokio angehört, erklärte allein die Japaner für jegliche Kriegsverbrechen verantwortlich und sprach sich selbst von aller Schuld frei.
Puyi blieb bis zum August 1950 in sowjetischer Haft, ehe er nach dem Sieg der Kommunisten unter Mao Zedong an die Volksrepublik China ausgeliefert wurde. Die chinesischen Behörden internierten den Ex-Kaiser im Gefängnis von Fushun. Dort traf er neben seinem Bruder Pujie auf seinen Schwiegervater Prinz Su und drei Neffen. Ziel der „Umerziehung“ war es, Puyi im Sinne des Kommunismus zu einem loyalen Bürger der Volksrepublik zu machen. Er musste schriftlich Selbstkritik üben und sich vor Parteikadern für seine Taten verantworten. Nach neun Jahren im Gefängnis von Fushun wurde Puyi am 9. Dezember 1959 aus der Haft entlassen. Die Umerziehung war „erfolgreich“ abgeschlossen und auf Anordnung Mao Zedongs war er begnadigt worden. Anschließend ging er nach Peking, wurde von seinem Halbbruder Puren aufgenommen und bekam eine Anstellung als Gärtner im Botanischen Garten der Stadt zugewiesen, später als Archivar an einem Institut für Geschichte einer Pekinger Universität. Fortan führte er ein einfaches, zurückgezogenes Leben. Endgültig rehabilitiert wurde er 1964, als er von der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes zum Mitglied ihres Nationalkomitees gewählt wurde.
1964 wurde bei ihm Krebs diagnostiziert und fortan verschlechterte sich sein Gesundheitszustand kontinuierlich, bis er schließlich am 17. Oktober 1967 im Pekinger Kreiskrankenhaus verstarb.
Nach den damaligen Gesetzen wurde sein Leichnam in einem Krematorium eingeäschert und zunächst auf dem Pekinger Revolutionsfriedhof Babaoshan beerdigt. 1995 erreichte seine Witwe die Verlegung der Urne auf einen Friedhof außerhalb der Stadt, nahe den traditionellen Grabstätten seiner Qing-Vorfahren. Dort wurden vier der neun Qing-Kaiser, drei Kaiserinnen, 69 Prinzen und kaiserliche Konkubinen bestattet.


ZWEITES KAPITEL
SUN YAT-SEN

Sun Yat-sen wurde am 12. November 1866 als Sohn einer Bauernfamilie im Dorf Cuiheng, Bezirk Xiangshan, Guangdong in Südchina geboren. Der Bezirk wurde ihm zu Ehren in Zhongshan umbenannt. Über seine Herkunft sagte Sun: „Ich bin ein Kuli und der Sohn eines Kulis. Ich habe immer mit dem Kampf des Volkes sympathisiert.“
1878 ging er im Alter von 13 Jahren erstmals nach Hawaii und zog zu seinem Bruder nach Honolulu, der dort bereits als Arbeiter angefangen und als Händler reich geworden war. Von 1879 bis 1882 lernte er an der anglikanischen Iolani School, danach noch an der Punahou-Schule. Diese erste Berührung mit dem Christentum prägte ihn zutiefst.
Nach seiner Rückkehr ins Dorf Cuiheng zerschlug er einen Götzen im Dorftempel, um sein Aufbegehren gegen die herrschenden Umstände zu demonstrieren. Dafür wurde er aus dem Dorf verbannt.
So begann er im Jahr 1886, am Hong Kong College of Medicine for Chinese Medizin zu studieren, wo er der erste Absolventen war. Danach arbeitete er als Arzt in Hongkong.
Seine Aufenthalte im Westen nährten in ihm die Unzufriedenheit mit der Regierung der Qing-Dynastie und so begann er seine politischen Aktivitäten damit, dass er Reformgruppen von Exilchinesen in Hongkong organisierte. Im Oktober 1894 gründete er die Xing Zhong Hui, die Vereinigung zur Wiederherstellung Chinas, mit dem Ziel, eine Plattform für zukünftige revolutionäre Aktivitäten zu schaffen.
Im Jahr 1895 schlug der von ihm geplante Kantoner Aufstand fehl. Die Qing-Regierung setzte auf ihn ein Kopfgeld aus, so verbrachte Sun 16 Jahre im Exil in Europa, den USA, Kanada und Japan. Dort sammelte er Geld für seine revolutionären Aktivitäten. In Japan trat er chinesischen Dissidentengruppen bei und gründete dort im Jahr 1905 den Tongmenghui-Bund, den chinesischer Revolutionsbund, den Vorgänger der Kuomintang. Er wurde dafür von Japan in die USA ausgewiesen. In dieser Zeit begann er auch, westliche Anzüge zu tragen und ließ sich den chinesischen Zopf abschneiden.
Am 10. Oktober 1911 begann der Wuchang-Aufstand, der den Auftakt zur Xinhai-Revolution bildete und zum Ende der zweitausendjährigen Herrschaft der Kaiserdynastien in China führte. Sun hörte von der erfolgreichen Rebellion des Militärs gegen die Qing-Dynastie. Daraufhin fuhr er zunächst nach Europa, um dort die Westmächte davon zu überzeugen, den Qing keine Kredite mehr zu gewähren. In London konnte er so einen wichtigen Erfolg verbuchen. Er kehrte zu Weihnachten aus Frankreich nach China zurück.
Am 29. Dezember wurde Sun in einer Konferenz von Provinzrepräsentanten in Nanjing zum Übergangspräsidenten der Republik China gewählt.
Obwohl in der Geschichtsschreibung der Kuomintang die Rolle von Sun sehr betont wird, bezweifeln Historiker, dass er im Umsturz von 1911 eine große Rolle gespielt hatte, einfach aus dem Grund, weil er zu jener Zeit im Ausland war. Vielmehr wurde er zum Übergangspräsidenten gewählt, weil er geachtet, aber unbedeutend war und einen Kompromisskandidaten zwischen Revolutionären und konservativem Adel darstellte. Am 12. August 1912 gründet er im Hinblick auf die bevorstehenden Parlamentswahlen aus zahlreichen kleineren politischen Gruppierungen die Nationale Volkspartei Kuomintang.
Nach seiner Vereidigung berief Sun Delegierte aus allen Provinzen ein, um die Nationalversammlung der Republik China zu gründen. Das Übergangsrecht wurde von dieser Versammlung zum Grundgesetz der neuen Republik erklärt.
Die Übergangsregierung war trotzdem in einer sehr schwachen Lage: Die Südprovinzen hatten ihre Unabhängigkeit erklärt, während der Norden dies noch nicht getan hatte. Die Übergangsregierung hatte außerdem keine Streitkräfte, denn ihre Kontrolle über die neue Armee war gering und es gab viele Truppen, die noch den Qing treu waren. Daher brauchte Sun die Unterstützung von Yuan Shikai, dem mit der Beiyang-Armee das Militär Nordchinas unterstand. Sun war gezwungen, ihm das Präsidentenamt zu versprechen, damit er sich auf die Seite der Revolution schlug und Kaiser Puyi zum Abdanken zwang.
Als sich Yuan zum Diktator entwickelte, versuchte Sun 1913, eine Revolte gegen ihn zu starten. Als sie fehlschlug, ging Sun ins Exil nach Japan, wo er die Kuomintang neu organisierte.
1917 kehrte er nach China zurück und wurde 1921 zum Präsidenten der selbstproklamierten Nationalregierung in Kanton gewählt. 1923 erklärte er seine drei Volksprinzipien in einer Rede zur Basis des Staates und seine Fünf-Yuan-Verfassung zur Richtlinie für das politische System.
Um militärische Schlagkraft für eine Nordexpedition gegen die Militaristen in Peking zu haben, gründete er die Whampoa-Militärakademie in der Nähe von Kanton, mit Chiang Kai-shek als Kommandeur und Parteigenossen wie Wang Jingwei und Hu Hanmin als politischen Lehrern.
In den frühen 20er Jahren bekam Sun Hilfe von der Kommunistischen Internationale, um die Kuomintang in eine leninistische Partei umzuorganisieren. Gleichzeitig handelte er die erste vereinigte Front aus Kommunisten und Kuomintang aus. 1924 wurde diese Allianz noch gestärkt, um das Land besser unter Kontrolle bringen zu können. Zu diesem Zeitpunkt war Sun überzeugt davon, dass China nur mit Gewalt von seiner Basis in Südchina aus vereinigt werden könnte. Nach einer Periode politischer Vormundschaft sollte dann ein Übergang zur Demokratie geschehen.
Am 10. November 1924 reiste Sun in den Norden und trat für eine gesamtchinesische Konferenz sowie die Abschaffung der unfairen Handelsverträge mit dem Westen ein. Zwei Tage später reiste er trotz schlechten Gesundheitszustandes und Bürgerkriegs wieder in den Norden, um über die Zukunft des Landes zu diskutieren.
Am 12. März 1925 starb er in Peking an Leberkrebs im Alter von 58 Jahren.
Seine politische Philosophie, bekannt als dreifaches Volksprinzip, wurde im August 1905 veröffentlicht und war stark an den amerikanischen Progressivismus angelehnt.
In seinem Werk Methoden und Strategien zum Aufbau des Landes, im Jahre 1919 fertiggestellt, schlug er vor, dieses Prinzip zu verwenden, um endgültigen Frieden, Freiheit und Gleichheit in China zu erreichen.
Nach Suns Tod brach ein Machtkampf zwischen seinem jungen Protegé Chiang Kai-shek und dem älteren Wang Jingwei aus, der die Kuomintang spaltete. Das lag zum Teil am zwiespältigen Erbe, das Sun Yat-sen hinterlassen hatte. Als sich die Allianz zwischen Kommunisten und der Kuomintang 1927 auflöste und der Bürgerkrieg ausbrach, behaupteten alle von sich, seine wirklichen Erben zu sein. Diese Spaltung bestand auch während des japanischen Krieges fort.
Sun Yat-sen ist der einzige chinesische Politiker, der sowohl in Taiwan wie in Rot-China großes Ansehen genießt. In Taiwan wird er als Vater der Republik China betrachtet und sein Bild ist in fast allen öffentlichen Räumen präsent. Da Sun Yat-sen nie in der Regierung Taiwans war, ist er auch bei Befürwortern der taiwanesischen Unabhängigkeit unverfänglich.
In Rot-China wird er als chinesischer Nationalist und Vorkämpfer der Republik und des Sozialismus gesehen. In den letzten Jahren wurde Sun auch von der chinesischen Regierung in den Vordergrund gerückt, nicht zuletzt um die Beziehungen zu Taiwan und den dortigen Unterstützern einer Wiedervereinigung zu verbessern. Mittlerweile gibt es zu den Mai-Feiern ein großes Bild von Sun Yat-sen auf dem Tian-anmen-Platz, während Bilder von Marx und Lenin nicht länger zu sehen sind.


DRITTES KAPITEL
CHIANG KAI-SHEK

Chiangs Eltern waren Salzhändler und gehörten zur oberen Mittelschicht. Sein Vater hatte Schwierigkeiten mit diesem Geschäft. Nach dem Tod des Vaters 1896 geriet die Familie in Not. Chiang war Mitglied der Methodistenkirche.
Chiang versuchte erstmals 1906, eine militärische Ausbildung in Japan zu beginnen. Diese wurde ihm aber verweigert, da er keine Erlaubnis der chinesischen Qing-Regierung vorweisen konnte. Allerdings lernte er bei seinem Aufenthalt in Japan Chen Qimei kennen, der ihm die Tongmenghui-Bewegung näherbrachte, in die Chiang zwei Jahre später eintrat. Chiang kehrte noch im Winter 1906 nach China zurück und begann im Sommer des darauffolgenden Jahres eine Ausbildung an der Baoding-Militärakademie, an welcher er nach einem Jahr eine Prüfung ablegte, die ihm eine weitere Militärausbildung in Japan erlaubte. Im Anschluss ging Chiang ein weiteres Mal nach Japan, wo er ein Studium an einer speziell für chinesische Studenten eingerichteten Militärschule aufnehmen konnte. Nach seinem dortigen Abschluss im November 1909 wurde er mit einigen anderen Absolventen dem 19. Feldartillerieregiment der Kaiserlich Japanischen Armee zugeteilt, da er Felderfahrung sammeln musste, bevor er die Kaiserlich Japanische Heeresakademie hätte besuchen dürfen.
Als er 1911 vom Wuchang-Aufstand hörte, kehrte er nach China zurück, um sich an der Bewegung zum Sturz der chinesischen Kaiserdynastie zu beteiligen. Mit Hilfe seines Förderers Chen Qimei übernahm er in Shanghai die Führung eines Regiments der revolutionären Streitkräfte und wurde Gründungsmitglied der Kuomintang.
Nachdem Chiang 1923 Sun Yat-sen und dessen Frau bei einem Attentat das Leben rettete, wurde er Suns Protegé. 1923 leitete er eine Studienreise in die Sowjetunion, der an einer Stärkung der jungen Republik China gelegen war. 1924 wurde er von Sun zum Leiter der neugegründeten Whampoa-Militärakademie ernannt. Whampoa wurde finanziell und personell von der Sowjetunion unterstützt. Sowjetische Berater halfen auch, die Kuomintang als Einheitspartei zu formen. Die chinesischen Kommunisten wurden aufgefordert, der Kuomintang beizutreten.
Nach dem Tod von Sun Yat-sen übernahm Chiang 1925 die Kontrolle über die Kuomintang. Seine Machtposition war aber bedroht, zum einen durch die Kommunisten außerhalb der Partei und durch den linken Flügel in der Partei, vertreten durch Wang Jingwei. Außerdem wurden viele Regionen Chinas durch Kriegsherren wie die Nördlichen Militaristen beherrscht oder waren gänzlich dem politischen Chaos verfallen. Unterstützung erhielt Chiang Kai-shek von Du Yuesheng, dem Chef der Grünen Bande, der 1925 in die Kuomintang eintrat.
1926 begann er als Kuomintang-Führer die Nordexpedition, einen Feldzug gegen das Kriegsherren-Regime Zhang Zuolins in Nordchina. Das Ziel war die Einigung Chinas unter der Kuomintang-Regierung. 1928 beendete er diese Mission siegreich. Im April 1927 schlug Chiang mit Hilfe der Grünen Bande im Shanghai-Massaker Aufstände in der Arbeiterschaft Shanghais blutig nieder. Aufständische Arbeiter wurden exekutiert, die Kommunisten verloren ihre wichtigste Wirkungsstätte.
Die erfolgreiche Durchführung der Nordexpedition stärkten Chiangs Position gegenüber seinen Gegnern wie Wang Jingwei. Auf Bitten seiner Frau und nach „sorgfältiger Prüfung des Fragenkomplexes“ war Chiang Christ geworden, Methodist. Später hat er selbst eine chinesische Bibelübersetzung redigiert und ein Vorwort zu einer Psalmenübersetzung geschrieben.
Nach der Ausschaltung der Kommunisten und der Wiedererlangung der Kontrolle über Nordchina wurde Chiang auch vom Ausland als der neue starke Mann Chinas anerkannt. Die Anzahl der ausländischen Konzessionen verringerte sich. Die Kuomintang-Regierung gewann die Kontrolle über Steuern und Zölle zurück, die unter der Qing-Dynastie an die ausländischen Mächte abgetreten worden waren.
Mit dem Mukden-Zwischenfall begann 1931 Japans Invasion der Mandschurei, die schon seit 1895 zum japanischen Einflussbereich gehörte, in der aber die chinesische Nationalregierung versuchte, ihren Einfluss auszubauen. Um seine Machtposition zu schonen, befahl Chiang den Rückzug. 1932 errichtete Japan dort seinen Satellitenstaat Mandschukuo.
Um Japans Dominanz zu begegnen und den innerchinesischen Konflikt mit den Kommunisten für sich zu entscheiden, war es notwendig, die Modernisierung von Wirtschaft und Militär voranzutreiben. Unterstützung erhielt Chiang von Deutschland, das im Zuge seiner Wiederaufrüstung auf chinesische Rohstoffe angewiesen war. Im Rahmen der Chinesisch-Deutschen Kooperation waren Deutsche con 1933 bis 1938 als Militärberater für Chiang tätig.
Schon seit 1930 versuchte er mit seiner national-chinesischen Partei Kuomintang jegliche kommunistische Bewegung auszulöschen. Damit war er in mehreren Feldzügen und mit weiträumigen Belagerungen relativ erfolgreich, mit Ausnahme in den von Mao Zedong kontrollierten Gebieten.
Am 12. Dezember 1936, im Zwischenfall von Xi’an, wurde Chiang von General Zhang Xueliang, der zwar Chiangs Kommando unterstand, aber als langjähriger Kriegsherr auch eigene Interessen verfolgte, entführt. Um den Machtkampf für sich zu entscheiden, baute er auf die Unterstützung der Sowjetunion und wollte im Gegenzug die Bedrängung der chinesischen Kommunisten aufgeben. Aber schon am 14. Dezember 1936 verurteilten die sowjetischen Zeitungen Prawda und Iswestija die Entführung. Am 16. Dezember leitete die Nationalregierung militärische Aktionen gegen Zhang Xueliang ein. Er gab schließlich auf und ließ sich von Chiang unter Hausarrest stellen, aus dem er erst 1990 wieder entlassen wurde. Zeitgleich stellte die Sowjetunion aber in Aussicht, Chiangs Sohn Chiang Ching-kuo aus der Sowjetunion ausreisen zu lassen, was von Chiang Kai-shek sehnlichst erwartet wurde. Chiang entschloss sich zu einem Bündnis mit den Kommunisten, das formal bis zum Ende des Krieges mit Japan hielt.
Während des Zweiten Chinesisch-Japanischen-Krieges von 1937–1945, eines Teils des Zweiten Weltkriegs, konnte sich Chiang trotz der Kampfhandlungen mit den Japanern einerseits und des Konfliktes mit den Kommunisten andererseits an der Macht halten. Japans Militärs meinten, China in drei Monaten besetzen zu können, was aber schon in Shanghai am chinesischen Widerstand scheiterte; allein die Einnahme der Stadt dauerte vier Monate. Entgegen der Meinung seiner militärischen Berater befahl Chiang den Großteil seiner besten Einheiten in die Schlacht um Shanghai. Die Japaner konnten zwar die Stadt erobern, der erbitterte Widerstand stärkte aber die Moral der Chinesen. Chiang musste sich nach dem Fall der Hauptstadt Nanjing nach Wuhan und 1938 nach Chongqing zurückziehen, es gelang ihm aber, den Japanern empfindliche Rückschläge zuzufügen, wie 1938 bei der Schlacht um Tai’erzhuang oder bei den vier Schlachten um Changsha zwischen 1939 und 1944.
Chiangs Deichbruchaktion in der Provinz Henan am Gelben Fluss am 9. Juni 1938 mit der Idee, durch Flutung ganzer Provinzen die japanische Armee aufzuhalten, forderte fast eine Million Tote. Die Flutungen schafften es immerhin, den japanischen Feldzug gegen Wuhan für Monate zu unterbrechen. Die Überlebenden wurden zum Wiederaufbau der Deiche gezwungen; erst 1947 waren alle Deiche wieder aufgebaut.
Mao Zedong und Chiang hatten zwar offiziell eine zweite Einheitsfront gegen die Japaner geschmiedet. Dies war aber nur ein brüchiger Frieden. Chiang und Mao wussten, dass sie ihre Armeen für den absehbaren innerchinesischen Konflikt brauchen würden.
Nach Kriegseintritt wurde Chiang trotz zunehmender Korruption und abnehmenden Rückhalts in der Bevölkerung von den USA zunächst bis 1945 und anschließend bis 1949 mit Milliarden US-Dollar unterstützt.
Der Kriegseintritt der Sowjetunion gegen Japan ermöglichte es Stalin, wieder Einfluss in China zu nehmen. Die von den Sowjets erbeuteten Waffen sollten vertragsgemäß der chinesischen Regierung übergeben werden. Stattdessen stattete die Rote Armee die Kommunistische Partei Chinas nach der Niederlage Japans mit dem erbeuteten japanischen Kriegsgerät aus. Damit endete die Allianz zwischen Chiang Kai-sheks Kuomintang und Mao Zedongs Kommunistischer Partei und der Konflikt entflammte erneut. Zwischenzeitlich wurden die Staatsorgane der Republik China nach Nanjing zurück verlegt. Nachdem eine Verfassungskommission ihre Arbeit beendet hatte, konnten 1947 landesweite Wahlen für die Nationalversammlung und die Gesetzgebungskammer durchgeführt werden. Überraschenderweise gewannen mehrheitlich unabhängige Kandidaten, gefolgt von der Kuomintang, den Sozialdemokraten und der Jung-China-Partei. Wegen der zunehmenden Auseinandersetzungen mit der Volksbefreiungsarmee entschloss sich die Nationalversammlung gleich nach ihrer Konstituierung zur Verabschiedung von Sondergesetzen, welche dem künftigen Präsidenten faktisch diktatorische Vollmachten zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung für den Zeitraum der „kommunistischen Rebellion“ verleihen sollte. Erst danach wählte die Nationalversammlung Chiang Kai-shek mit 2.430 Stimmen zum Präsidenten.
Maos militärische Siege führten zu systematischem Terror in den eroberten Gebieten, wozu insbesondere die Verfolgung und Tötung von als „Kapitalisten“ und „Großgrundbesitzern“ sowie Geistlichen sämtlicher Religionsgemeinschaften, Personen mit Auslandsverbindungen und Anhängern der Kuomintang und anderer Parteien zählten. 1949 siegten die Kommunisten endgültig. Chiang Kai-shek und seine Anhänger zogen sich nach Taiwan zurück.
Im Dezember 1949 wurde auf Taiwan der neue Sitz der Verfassungsorgane der Republik China, mit einer vorübergehenden Hauptstadt, Taipeh, eingerichtet. In dieser Position erhob Chiang weiterhin Anspruch auf ganz China.
Auf Taiwan errichtete Chiang Kai-shek ein autoritäres Regime innerhalb des rechtlichen Rahmens der Sondergesetze, die ihm die Nationalversammlung 1948 übertragen hatte. Unter dieser diktatorischen Führung konnten die Wirtschaft und das Bildungssystem gefördert werden, weshalb Chiangs Herrschaft als „Entwicklungsdiktatur“ bezeichnet wurde. Demokratische Prozesse waren dagegen auf die Kommunen und Kreise beschränkt. Die Verehrung Chiangs wurde häufig mit dem Personenkult seines Rivalen Mao Zedong verglichen.
Chiang Kai-shek betrieb in der Zeit zwischen 1950 und 1975 offiziell eine Politik der Rückeroberung Chinas. Taiwan wurde von den USA finanziell und materiell unterstützt. Chiangs Rumpfparlament – nicht alle Mitglieder der republikanischen Nationalversammlung waren nach Taiwan übergesiedelt – war ein dauerndes Provisorium ohne eigentliche gesetzgebende Funktion. Nach dem Ausbruch des Koreakrieges von 1950 erhielt Taiwan von den USA militärische Unterstützung, um der Volksrepublik China – auch nach der Besetzung Tibets – deutliche Grenzen zu setzen. Dabei hatten die USA Schwierigkeiten, Chiangs militärische Blockaden der Taiwan-Straße und die Gegenwehr durch Artilleriebeschuss aus der Volksrepublik in einem Status quo zu halten. 1955 musste Taiwan die Dachen-Inseln und Nanchi an die Volksrepublik China abtreten, die Bewohner wurden zuvor mit US-amerikanischer Hilfe evakuiert.
Bis zu seinem Tod 1975 blieb er Präsident der Republik China. Er wurde von der letztmals 1947 noch gesamtchinesisch gewählten Nationalversammlung viermal ohne Gegenkandidaten wiedergewählt. Seine eigene Rolle als autoritär herrschender Präsident sah Chiang lediglich als notwendiges Übel zur Verteidigung der Republik China und der Verfassungsdoktrin der Lehren Sun Ya-sens (Staatliche Unabhängigkeit, wirtschaftliche Gerechtigkeit und Demokratie) an. Gegenüber einem US-General erklärte Chiang deshalb: „Sollte ich sterben, solange ich noch Diktator bin, werde ich sicherlich wie andere Diktatoren in Vergessenheit geraten. Sollte ich aber auf der anderen Seite darin erfolgreich sein, das stabile Fundament für eine demokratische Regierung zu schaffen, werde ich für immer in jeder Familie Chinas weiterleben."
Nach dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis und durch die Zündung von Chinas erster eigener Atombombe von 1965 wurde die internationale Machtposition der Republik China geschwächt. Die Volksrepublik China wurde von immer mehr Staaten als Vertretung anerkannt. Nach dem Verzicht auf Schadenersatz für Kriegsschäden gelang es der Volksrepublik 1972 die diplomatische Anerkennung durch Japan zu erreichen. 1973 wurde Taiwan nur noch von 39 Staaten, 2006 von 23 Staaten als offizielle Vertretung Chinas angesehen.
Chiang Kai-shek starb 1975 in Taiwans Hauptstadt Taipeh an einem Herzanfall.


VIERTES KAPITEL
MAO ZEDONG

Mao Zedong wurde am 26. Dezember 1893 als ältester Sohn einer Bauernfamilie im zentralchinesischen Shaoshan, Provinz Hunan, geboren. Seine Vorfahren lebten seit 500 Jahren in dieser Gegend. Politisch war die Zeit durch den Verfall der Mandschu-Dynastie geprägt. Doch wegen der Abgeschiedenheit des Dorfes, zu dem weder Straßen noch schiffbare Flüsse führten, erfuhr die Bevölkerung erst zwei Jahre nach dem Tod des vorletzten Kaisers im Jahr 1908 von dessen Ableben. Aufgrund des bescheidenen Wohlstandes seiner Familie konnte Mao zunächst im Hause eines Privatlehrers eine einfache Schulausbildung genießen, die vor allem im Auswendiglernen konfuzianischer Klassiker bestand, die das Begriffsvermögen Maos überstiegen. Das Lesen wurde für das Kind zur Leidenschaft, die er zeit seines Lebens beibehielt. Mit seinen Lehrern geriet Mao häufig aneinander, so dass er aufgrund seiner Neigung zu ungehorsamem und eigensinnigem Verhalten mehrerer Schulen verwiesen wurde. 1911, am Vorabend der Xinhai-Revolution, trat er in die Mittelschule in der Bezirkshauptstadt Changsha ein. Zu dieser Zeit begann sein politisches Interesse zu erwachen. Er informierte sich mit Hilfe von Zeitungen über die aktuellen Debatten und holte nach, was er bisher versäumt hatte. Er schrieb seinen ersten politischen Aufsatz, in dem er republikanische Positionen vertrat. Zusammen mit einem Kollegen lauerte er anderen Schülern auf und schnitt diesen gewaltsam die in der verhassten Mandschu-Dynastie gebräuchlichen Zöpfe ab.
Mao Zedongs Muttersprache war Xiang. Er sprach Hochchinesisch nur unter Anstrengungen und mit starkem Akzent.
Während der Chinesischen Revolution von 1911 wurde er Mitglied der anti-kaiserlichen Armee von Hunan, kehrte danach aber wieder in die Schule zurück.
1918 folgte er seinem Lehrer Yang Changji nach Peking. Durch Vermittlung dieses Lehrers fand er eine Anstellung als Hilfsbibliothekar an der Peking-Universität und bekam unter anderem Kontakt zu Li Dazhao, einem der wichtigsten frühen chinesischen Marxisten und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas. Er lernte in Peking seine spätere zweite Ehefrau Yang Kaihui, die Tochter seines Lehrers, kennen. Liebesheiraten waren damals noch alles andere als der Normalfall, dementsprechend wurde die Verbindung von den jungen linken Intellektuellen in Changsha als Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts gefeiert.
Anders als viele andere spätere Führungskräfte des chinesischen Kommunismus verbrachte Mao die frühen 1920er Jahre nicht im Ausland, sondern mit ausgedehnten Reisen durch Hunan und andere chinesische Provinzen.
Mao war keiner der Teilnehmer bei der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas 1920 in Shanghai, sondern lebte zu dieser Zeit bereits wieder in Changsha. Die Gründung wurde angeregt durch die von Lenin einberufene Dritte Kommunistische Internationale. Später wurde dieses Treffen als die Neue Internationale, kurz Komintern bezeichnet. Erst 1921 nahm Mao an dem durch die 2. Komintern organisierten Ersten Kongress der kommunistischen Partei Chinas als einer der 13 chinesischen Delegierten teil. 1923 wurde er auf dem zweiten Parteikongress ins Zentralkomitee gewählt. Während der Ersten Einheitsfront zwischen den Kommunisten und der Kuomintang war er Direktor eines Instituts zur revolutionären Erziehung der Bauern in Guangzhou.
Nach dem Bruch zwischen Kuomintang und Kommunistischer Partei 1927 startete Mao einen Aufstand in Changsha, der aber schnell niedergeschlagen wurde. Mit einigen anderen Überlebenden zog sich Mao in das Jinggang-Gebirge zurück, wo er seine Truppen mit denen von Zhu De, Chen Yi und Zhou Enlai vereinigte, die sich nach dem Nanchang-Aufstand ebenfalls hierhin zurückgezogen hatten. Zu dieser Zeit begann Mao seine Gegner und einen Teil der lokalen Bevölkerung im Rahmen von „Säuberungen“ einzuschüchtern und zu töten.
Die Times schrieb: „Der Name Mao ist seit zwei Jahren an den Grenzen von Fukien und Kwangtung berüchtigt. Zweimal konnte man ihn in die Berge vertreiben, wo er aber zu beweglich war, um ihn gefangen zu nehmen, aber mit den ersten Anzeichen von Entspannung bei den Behörden kommt er wieder herunter und verwüstet die Ebene. Mao nennt sich selbst einen Kommunisten. Wohin auch immer Mao geht, wendet er sich an die Bauern und sagt ihnen, sie sollen die Kapitalisten zerstören. Dabei ist er selbst wirklich der übelste Bandit.“
Die Guerilla-Basis vergrößerte sich schnell; 1928 beherrschte sie bereits ein Gebiet mit über 500.000 Einwohnern. Unter dem Druck der Kuomintang wurde das Zentrum 1931 etwas nach Süden verlagert, und die Jiangxi-Sowjetrepublik wurde gegründet. Die Zeit war allerdings auch geprägt von andauernden Machtkämpfen zwischen Mao, der die Revolution durch Guerillakrieg erreichen wollte, und an der Komintern orientierten Gruppen, die auf eine Revolution des Proletariats setzten.
In Jinggangshan lernte Mao auch seine dritte Partnerin He Zizhen kennen. Seine Geliebte Yang Kaihui hatte Mao in Changsha zurückgelassen, wo sie von der Kuomintang verhaftet und 1930 hingerichtet wurde. Ihre Kinder mit Mao mussten sich eine Zeit lang als Straßenkinder in Shanghai durchschlagen, bevor sie außer Landes gebracht werden konnten.
1934 wurde der Druck der Kuomintang schließlich so stark, dass die Jiangxi-Sowjetrepublik aufgegeben werden musste. Die Kommunistischen Truppen zogen im Langen Marsch nach Yanan, in der Provinz Shaanxi, ständig auf der Flucht vor Truppen der Kuomintang noder feindlicher lokaler Kriegsherren. Mao selbst legte den größten Teil des Weges in einer eigens für ihn konstruierten Sänfte zurück. Unter den Opfern waren wahrscheinlich auch mehrere Kinder von ihm und He Zizhen, die bei Bauern untergebracht, aber nach 1949 nicht mehr aufgefunden werden konnten. He Zizhen selbst überlebte zwar, aber war gesundheitlich angeschlagen. Sie wurde 1937 in die Sowjetunion geschickt, um sich zu kurieren, aber auch, um Mao nicht bei dessen Affäre mit seiner späteren vierten Ehefrau, der Schauspielerin und Politikerin Jiang Qing, im Wege zu stehen.
Während des Langen Marsches konnte sich Mao auf der Konferenz von Zunyi mit Hilfe von Zhou Enlai als Anführer der Kommunistischen Partei durchsetzen.
In Yanan konnte sich die Kommunistische Partei Chinas nur durch finanzielle Hilfe aus Moskau und durch den großangelegten Mohnanbau und den damit erzielten Einkünften aus dem Drogenhandel stabilisieren. Auch war das Gebiet abgelegen genug, um erfolgreiche Angriffe der Kuomintang zu verhindern, und außerdem führte der Chinesisch-Japanische Krieg 1937 zur Zweiten Einheitsfront. Diese entstand im Wesentlichen durch Vermittlung Stalins, der durch ein starkes China Japan von einem direkten Angriff auf die Sowjetunion abhalten wollte.
Nach der Kapitulation Japans und dem Rückzug der japanischen Truppen aus China flammte der Bürgerkrieg 1946 erneut mit voller Härte auf. Die Kuomintang und ihr Führer Chiang Kai-shek hatten jedoch während des Krieges an Stärke verloren, während die Kommunisten enorm an Stärke gewonnen hatten. Nach der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 zog sich die Kuomintang nach Taiwan zurück, wo sie die Republik China fortführte.
Am 25. Juni 1950 hatte der Koreakrieg mit einer Offensive der nordkoreanischen Volksarmee begonnen. Am 28. Juni wurde Seoul von Nordkorea erobert. Amerikanische und verbündete Truppen schlugen den Angriff zurück. Sie überschritten am 7. Oktober 1950 die Demarkationslinie und nahmen Pjöngjang ein. Daraufhin antwortete die Volksrepublik China am 19. Oktober mit einer Offensive gegen die Vereinten Nationen und die südkoreanischen Truppenverbände. Hintergrund waren die außenpolitischen Probleme mit den Vereinigten Staaten und die Ablehnung einer Wiedervereinigung Koreas unter amerikanischer Führung. Der Angriff wurde von zunächst etwa 200.000 chinesischen Soldaten unter widrigsten Umständen vorgetragen. Am 4. Januar 1951 nahmen Chinesen und Nordkoreaner Seoul zum zweiten Mal ein.
In dieser verlustreichen Sturmeroberung, die hauptsächlich von chinesischen „Freiwilligenverbänden“ ausgeführt wurde, wurden die Truppen der Südkoreaner zurückgeschlagen. Der militärische Erfolg, nach 100 Jahren der Machtlosigkeit gegenüber ausländischen Invasoren, galt als einer der wichtigsten Erfolge Maos.
Im Mai 1956 initiierte Mao die „Hundert-Blumen-Bewegung“: Er ließ die Zensur für die Intellektuellen lockern, um neue Anregungen zu erhalten, wobei er davon ausging, dass er nur drei Prozent der Intellektuellen gegen sich habe. Aus Angst vor dem Regime setzte die Kritik der Intellektuellen erst ein Jahr später ein, im Mai 1957 im Zuge einer weiteren Kampagne.
Da auch Maos Politik dabei heftig kritisiert wurde, ließ Mao durch Deng Xiaoping die „Hundert-Blumen-Bewegung“ stoppen, diffamierte die Intellektuellen in einem neuen Klassenkampf und ließ 300 000 von ihnen inhaftieren. Weiterhin wurden 700 000 ihm als „Volksfeinde“ erscheinende Angestellte entlassen und durch neue kommunistische Kader aus den Bauernschichten ersetzt. Aufgrund der neuen, zumeist unqualifizierten Führungskader, die wissenschaftliche Ratschläge und Methoden oftmals als „unproletarisch“ oder „antikommunistisch“ brandmarkten, griffen Misswirtschaft und Missmanagement in weiten Teilen der chinesischen Wirtschaft um sich.
In einer Rede vor Parteiführern sagte Mao 1958: „Was ist so ungewöhnlich an dem Kaiser Shi Huangdi aus der Qin-Dynastie? Er hat nur 460 Gelehrte lebendig begraben, wir dagegen haben 46 000 Gelehrte lebendig begraben. Wir sind dem Kaiser in Bezug auf die Unterdrückung konterrevolutionärer Gelehrter hundertfach voraus!“
Der „Große Sprung nach vorn“ war die offizielle Parole für die Politik der Volksrepublik China von 1958 bis Anfang 1962. Ziel war es, China auf schnellstem Weg zu einer industriellen Großmacht zu machen, Ergebnis jedoch war die größte von Menschen ausgelöste Hungersnot der Geschichte! Sie kostete etwa 45 Millionen Menschen das Leben!
Deng Xiaoping, der spätere Reformpolitiker, stritt seine Mitverantwortung an dem „Großen Sprung“ nicht ab und warnte davor, alle Schuld auf Mao zu schieben. Am 1. April 1980 sagte er dazu: „Maos Hirn ist damals heißgelaufen. Unsere Köpfe aber auch. Keiner hat ihm widersprochen, auch ich nicht“.
Da die katastrophalen Folgen der Kampagne gegenüber der Bevölkerung verschwiegen und diejenigen beseitigt wurden, die darüber zu sprechen wagten, blieb der Nimbus Maos intakt. Nach der Zündung der ersten chinesischen Atombombe im Jahre 1965 sowie nach der Veröffentlichung der „Mao-Bibel“ mit von Lin Biao zusammengestellten Zitaten Maos wuchs seine Verehrung bei der Bevölkerung, und seine ideologische Stellung wurde zunehmend unanfechtbar, obwohl er nach dem Scheitern des „Großen Sprungs“ einen Großteil seiner Macht eingebüßt hatte.
1966 startete Mao die „große Proletarische Kulturrevolution“ durch seine Unterstützung kritischer Wandzeitungen und den Aufruf an Schüler, Studenten und Arbeiter, neu etablierte Gesellschaftsstrukturen zu brechen. Mit der Parole „Die Liebe zu Mutter und Vater gleicht nicht der Liebe zu Mao Zedong“ forderte er Kinder auf, ihre Eltern als „Konterrevolutionäre“ oder „Rechtsabweichler“ zu denunzieren – wie überhaupt die Förderung der Denunziation eines von Maos wirksamsten Herrschaftsinstrumenten war. Das erklärte Ziel der Kampagne war die Beseitigung reaktionärer Tendenzen unter Parteikadern, Lehrkräften und Kulturschaffenden. In Wirklichkeit sollte durch das entstehende Chaos die erneute Machtergreifung Mao Zedongs und die Beseitigung seiner innerparteilichen Gegner erreicht werden, was Mao mit Hilfe der Viererbande auch gelang. Seine innerparteilichen Gegner wurden wegen Landesverrats verhaftet, getötet oder durch schwere körperliche Arbeit „resozialisiert“. Die im Zuge der Revolution aufgehetzten Jugendlichen schlossen sich zu „Roten Garden“ zusammen. In der Folgezeit schwänzten die Jugendlichen Schulen und Universitäten, töteten und misshandelten zahlreiche Menschen, insbesondere Menschen mit Bildung (Lehrer, Ärzte, Künstler, Mönche), zerstörten Kulturdenkmäler, Tempel, Bibliotheken und Museen, bekämpften sich untereinander und störten die öffentliche Ordnung nachhaltig.
Mao Zedong, der die Macht wieder fest im Griff hatte, rief daher bereits 1968 die randalierenden Jugendlichen dazu auf, ihren „wahren Revolutionsgedanken“ in die spärlich besiedelten, bäuerlichen Westprovinzen zu tragen, und sich die dortigen, hart arbeitenden Bauern als proletarische Vorbilder zu nehmen. Da nur wenige Jugendliche schulfreies Unruhestiften in chinesischen Großstädten durch harte Feldarbeit in armen Westprovinzen ersetzen wollten, musste in der Folgezeit die Armee eingesetzt werden, um die Roten Garden offen zu bekämpfen und die neu eingeführte Schulpflicht zu erzwingen. In der Folge wurden zahlreiche Rote Garden bei Massenexekutionen erschossen. Die Kulturrevolution wurde erst nach Maos Tod im Jahr 1976 offiziell als beendet erklärt und die Viererbande für die Unruhen verantwortlich gemacht.
Außenpolitisch war die Aufnahme der Volksrepublik China in die Vereinten Nationen 1971 Maos größter Erfolg. Auch der Besuch des amerikanischen Präsidenten Nixon 1972 trug dazu bei, dass der „Bambusvorhang“ durchlässiger wurde. Nachdem Mao im selben Jahr einen ersten Schlaganfall erlitt, wurde der Spitzenfunktionär Deng Xiaoping aus der Verbannung geholt.
Nach Maos Tod wurde eine neue Verfassung eingeführt und die Viererbande sofort verhaftet. Die Mao-Witwe Jiang Qing wurde in einem Prozess 1981 zum Tod auf Bewährung verurteilt. Das Urteil wurde zwei Jahre später in lebenslänglich umgewandelt. 1991 wurde sie aus gesundheitlichen Gründen entlassen, doch zehn Tage später tötete sie sich selbst.
Nach der endgültigen Rehabilitierung von Deng Xiaoping 1977 und nach der diplomatischen Anerkennung durch die Vereinigten Staaten am 1. Januar 1979 öffnete China die Grenzen und rehabilitierte die überlebenden Mao-Opfer. Der Inhalt der Mao-Bibel wurde 1980 als Weisheit der gesamten Führung durch Mao definiert.
1981 gestand die Kommunistische Partei schließlich erstmals offiziell die Misserfolge der Kampagnen ein, sie schützt Mao aber weiterhin: Die Kulturrevolution sei ein grober Fehler gewesen, Maos Wirken sei in der Endabrechnung aber zu siebzig Prozent positiv zu bewerten, denn die Leistungen würden die Irrtümer mehr als ausgleichen.
Außenpolitisch band Mao China zunächst eng an die Sowjetunion an. Seine Zweifel an der Tauglichkeit des sowjetischen Modells zur Entwicklung und weltweiten Verbreitung des Kommunismus ließen ihn aber nach dem Tode Stalins den allmählichen Bruch mit der Sowjetunion vorantreiben.
Sinn und Zweck der permanenten innenpolitischen Kampagnen war vordergründig, die sich immer wieder bildenden bürgerlichen Strukturen durch eine „permanente Revolution“ zu zerschlagen. Diese Säuberungen dienten allerdings hauptsächlich Maos diktatorischem Machtanspruch, den er rücksichtslos gegen alle tatsächlichen und vermeintlichen Feinde innerhalb und außerhalb der Partei verteidigte.
Man spricht von insgesamt 76 Millionen Toten, die Maos Politik gekostet hat.
Der Maoismus als politische Bewegung war nicht nur in China prägend, sondern beeinflusste auch die europäische Studentenbewegung um 1968, die Naxaliten in Indien, die Guerillabewegung Leuchtender Pfad in Peru, die Kommunistische Partei der Philippinen und zahlreiche andere Parteien, Gruppen und Splittergruppen. Einige Jugendliche im Westen sahen Maos radikales Vorgehen gegen die Bürgerlichen als Modell für die Bekämpfung „bourgeoiser“ Strukturen weltweit.
Rot-China war während der gesamten dreißigjährigen Herrschaft Maos ein wirtschaftlich darniederliegendes, von politischen Verfolgungen gezeichnetes und bis 1972 außenpolitisch weitgehend isoliertes Land.
Mao war viermal verheiratet und hatte zwei Söhne und zwei Töchter. Der Biografie seines Leibarztes zufolge hatte Mao darüber hinaus sexuellen Verkehr mit hunderten weiteren Frauen. Dabei habe Mao bewusst das Risiko in Kauf genommen, die Frauen mit seinen Geschlechtskrankheiten, die er nie auskuriert hatte, zu infizieren.


FÜNFTES KAPITEL
DER CHINESISCHE CHRISTUS

Derzeit gibt es in der Volksrepublik China etwa 80 Millionen Christen, das wären bis zu sechs Prozent der Bevölkerung. Eine evangelikal-christliche Missionsorganisation behauptet jedoch, dass bis zu fast acht Prozent der Bevölkerung auf dem chinesischen Festland Christen sind; das wäre ein höherer Anteil als in Taiwan.
In China haben europäische Missionare lange mit wenig Erfolg versucht zu missionieren. Nachdem die europäischen Missionare in den 1950er Jahren des Landes verwiesen wurden und nachdem während der Kulturrevolution das religiöse Leben streng verboten war, hat das Christentum in den letzten dreißig Jahren ohne wesentliche ausländische Unterstützung einen massiven Aufschwung genommen. Inzwischen hat China eine der größten christlichen Gemeinden mit weiterem stabilem Wachstum. Bisher hat die übrige Christenheit von dieser äußerst lebendigen chinesischen Variante des Christentums kaum Notiz genommen.
Katholizismus und Protestantismus werden in der Volksrepublik China als verschiedene Religionen angesehen. Es gibt wenig Ökumene. Die Katholische Kirche und die protestantischen Gemeinden haben untereinander kaum Kontakt.
Die kirchliche Situation ist sehr kompliziert und abhängig von Konfession, Denomination und Ort oder Diözese. Es herrscht eine zunehmende Undurchschaubarkeit im Bereich der Katholischen Untergrund-Kirche und den protestantischen „Hauskirchen“ bei gleichzeitiger Entstehung von ausgedehnten Grauzonen zwischen dem „Untergrund“ und der vom Staat offiziell anerkannten Kirchen. Es gibt ein sehr intensives sakramentales Leben und unzählige Aktivitäten, die eigentlich in keiner Entsprechung zum Personal und zu den finanziellen Möglichkeiten der Kirche stehen. In der chinesischen Christenheit gibt es eine Vitalität des christlichen Lebens, die den europäischen Christen inzwischen meist fremd ist. Die christliche Lehre ist noch nicht sehr gefestigt. Es besteht immer noch theologische Unklarheit und Unsicherheit in den Gemeinden mit der Gefahr, dass ganze Gemeinden von Sekten vereinnahmt werden. Es gibt eine große Unversöhnlichkeit zwischen den Gruppierungen der Kirchen wie zwischen der offiziellen katholischen Kirche und der Katholischen Untergrund-Kirche.
Die christliche Mission hat in China eine sehr lange Geschichte. Sie war jedoch bis 1949 im Wesentlichen ein Misserfolg. Trotz jahrhundertelanger Bemühung gab es bei der Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 nur etwa zwei Millionen Christen.
Die Volksrepublik China wurde, gemäß der Verfassung, als ein atheistischer Staat gegründet. Zu dem Ziel, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten, gehörte aber auch die Beseitigung der Religionen, die dadurch zunehmend unter Druck gerieten. Bis Mitte der 1950er Jahre wurden alle ausländischen Missionare ausgewiesen. Den Kirchen in China wurde der Kontakt zu Institutionen und Vereinigungen im Ausland untersagt. Während der Kulturrevolution wurde die Religionsausübung vollkommen unterdrückt.
Unter Deng Xiaoping begann eine neue Periode der Öffnung, in der auch die Religionsausübung wieder erlaubt wurde. Seit Mitte der 80er Jahre gibt es in China ein massives Anwachsen der Religionsgemeinschaften. Wissenschaftler sprechen von einem „Religionsfieber“. Inzwischen kommen allein zur offiziellen protestantischen Gemeinde Chinas jedes Jahr eine Million Menschen neu zu den Gemeinden hinzu. Nicht nur das Christentum wächst im heutigen China, auch der Buddhismus, der Taoismus und der Islam. Das Christentum hat sich aber in den letzten Jahren am schnellsten entwickelt.
In China gibt es fünf staatlich anerkannten Religionen: Katholizismus, Protestantismus, Buddhismus, Taoismus und Islam, die jeweils eine sogenannte „Patriotische Vereinigung“ besitzen müssen. Die patriotischen Vereinigungen der Religionsgemeinschaften, die in den 50er Jahren entstanden sind, gründen auf den bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von chinesischen Theologen formulierten Drei-Selbst-Prinzipien. Diese sind: Selbsterhaltung, also finanziell selbstständig zu sein und keine ausländische Hilfe annehmen, Selbstverkündung, also das Evangelium durch einheimische Kräfte zu verkünden, Selbstverwaltung, also die Kirche in China selbstständig, ohne ausländischen Einfluss zu verwalten.
Zu diesen staatlich geforderten Vereinigungen zählen die protestantische „Patriotische Drei-Selbst-Bewegung“ und die „Patriotische Vereinigung der Katholischen Kirche“, die beide bereits 1951 gegründet worden waren. Gemäß der Satzung sind die Patriotischen Vereinigungen nicht für den direkten religiösen Bereich zuständig. Bei den Katholiken gibt es dafür die Bischofskonferenz, für die Protestanten ist dies der „Chinesische Christenrat“. Die Patriotischen Vereinigungen sollen die Kirchen im materiellen wie politischen Bereich unterstützen, aber auch kontrollieren. Die offiziellen Organisationen haben für die Gemeinden selbst aber nur beschränkten Einfluss. Jede lokale Gemeinde ist, auch finanziell, für sich selbst verantwortlich. Einen Einfluss haben die staatlichen Kirchenorganisationen bei der Ausbildung der Pfarrer und Priester und bei der Bereitstellung von Arbeitsmaterialien. Religiöse Amtsträger dürfen religiöse Aktivitäten nur nach der Bestätigung durch die Religiöse Organisationen und der Registrierung bei den Abteilungen für religiöse Angelegenheiten durchführen. Jeder Prediger muss also von einer patriotischen Drei-Selbst-Bewegung anerkannt werden.
Neben dieser offiziellen Kirche gibt es noch eine breite Grauzone von Gemeinden, die teilweise toleriert, teilweise ignoriert, manchmal auch schikaniert werden. Es kommt sowohl auf die lokalen Behörden wie auch auf die jeweiligen Gemeinden an, und es gibt teilweise sehr obskure Sekten. Die rechtliche Lage ist sehr unklar, bis heute gibt es kein Gesetz für die Religionen. Auf jeden Fall gehört die Mehrheit der chinesischen Christen keiner der beiden großen offiziellen Kirchen an.
Die Römisch-Katholische Kirche ist geteilt in die offizielle Kirche und die Untergrund-Kirche. Beide Kirchen haben ungefähr 70 Bischöfe. Die Strukturen der offiziellen und der inoffiziellen Kirche verlaufen parallel, so dass die Diözesen oft doppelt besetzt sind. Beide Organisationen haben eine vom Vatikan nicht anerkannte Bischofskonferenz. Die meisten Bischöfe der offiziellen katholischen Kirche sind inzwischen vom Papst anerkannt und legitimiert und in einem Brief an die chinesischen Katholiken im Jahr 2007 erläuterte Papst Benedikt XVI, dass er eine Vereinigung der beiden katholischen Kirchenflügel Chinas wünscht, und dass es keine Bischofsernennungen im Untergrund mehr geben wird. Die Zuständigkeit für die Bischofsernennungen bleibt weiterhin umstritten. Der Papst ist der Überzeugung, dass ihm das Recht auf Ernennung der Bischöfe zusteht, die chinesische Regierung besteht auf dem Verfassungsartikel, dass keine Kirche aus dem Ausland gesteuert werden dürfe. Es wird ein Kompromiss angestrebt.
Innerhalb der evangelischen Konfession wird zwischen den Kirchen der patriotischen Drei-Selbst-Bewegung, den Versammlungspunkten im Bereich der Drei-Selbst-Bewegung, halb unabhängigen ländlichen Kirchen und den sogenannten Hauskirchen unterschieden.
Die Kirchen der Drei-Selbst-Bewegung und ihre Versammlungspunkte sind offiziell anerkannt und staatlich registriert. Ihre religiösen Versammlungsstätten befinden sich meist in den Städten.
Die halb unabhängigen ländlichen Kirchen sind nur teilweise staatlich registriert, gehören aber nicht zur Drei-Selbst-Bewegung.
Die so genannten „Hauskirchen“ entstehen aus ganz unterschiedlichen Gründen. Ihre Gottesdienste sind nicht geheim.
Zwischen Volksreligion und Protestantismus wachsen seit Beginn der 80er Jahre Gruppierungen wie die „Lehre des Östlichen Blitzes“ oder die „Apostelgemeinschaft“. Sie sind durch einen charismatischen Anführer und eine komplexe und flexible Organisationsform sowie sonderliche Erlösungslehren gekennzeichnet. Seit der Ming-Dynastie gelten diese als ein Anzeichen für sozioökonomische Instabilitäten und als politisches Unruhepotential. Sie werden vom chinesischen Staat als eine Bedrohung der Stabilität betrachtet. Immer wieder kommt es zu staatlichen Repressionen, manchmal auch zu Verhaftungen.
Es gibt in China sehr verschiedene Formen des Christentums, so dass oft von den verschiedenen Christentümern in China geredet wird. So fallen das Christentum in ländlichen Gebieten und das Christentum in den Städten aufgrund der verschiedenen Lebenswirklichkeiten oft weit auseinander. Besonders auf dem Land gibt es charismatische, auf einen einzigen Führer bezogenen Sekten mit vom klassischen Christentum oft weit abweichenden Lehren.
Vertreter des evangelischen Christenrats schätzen, dass mindestens die Hälfte der Bekehrungen in den ländlichen Gebieten Chinas auf Geschichten oder Erfahrungen mit Glaubensheilungen zurückgehen. Für die arme Landbevölkerung stehen diese Heilungsgeschichten, bei denen ein Gebet von einfachen Menschen von Gott erhört wurde, gegen die in China weit verbreitete Haltung des fatalistischen „mei banfa“: „da lässt sich nichts machen“.
Im chinesischen Hinterland sind aber auch militante Sekten tätig, die sich selbst mit christlichen Inhalten in Verbindung bringen und versuchen christliche Gemeinden abzuwerben. Diese Sekten, wie etwa „Der Blitz aus dem Osten“, die verkündet, dass Jesus in Form einer chinesischen Frau wiedergeboren sei, sind ein ernstes Problem für die christlichen Gemeinden.
In den Städten Chinas gibt es einerseits die sozial Schwachen, die Hilfe und moralische Unterstützung suchen, andererseits gibt es die sogenannten Kulturchristen, die sich meist keiner Gemeinde anschließen, die sich jedoch mit dem Christentum beschäftigen und sich mit wesentlichen Aussagen des Christentums identifizieren. Im Jahr 2001 führte die Universität in Peking eine Umfrage unter den Studenten durch. Vier Prozent der Befragten erklärten, sie seien Christen, sechzig Prozent der Befragten erklärten, sie seinen zwar nicht Christen, jedoch durchaus am Christentum interessiert. In den Städten und an den Universitäten haben sich in den letzten Jahren nicht registrierte Hausgemeinden oder Gruppen zum Bibelstudium etabliert.
Ein wesentlicher Grund für das rasante Anwachsen des Christentums in China liegt in der Auflösung bisheriger gesellschaftlicher Strukturen und Moralstandards und in der Diskreditierung klassischer Werte. Auch hat der Kommunismus als Staatsideologie inzwischen als sinnstiftende Kraft keine Bedeutung mehr.
Die Kirchen werden wie alle religiösen Gruppen von den staatlichen Organen misstrauisch beobachtet. Sie sind dem Staat aufgrund ihres für die Menschen in China attraktiven Erwartungs-, Hoffnungs- und Handlungspotentials suspekt.
Die Chinesen haben im Modernisierungsprozess materiell erstaunliche Fortschritte erreicht. Doch der rapide gesellschaftliche Wandel hat die ursprünglichen Moralsysteme zerstört und Wertestandards gingen verloren. Menschen wurden in ihren Glauben erschüttert. Es kam zum Ausbruch einer moralischen Krise, die in der chinesischen Gesellschaft lange latent geschlummert hatte. Korruption und das Fehlen eines auch nur minimal ausgeprägten Gemeinschaftssinns sind inzwischen allgemeine Phänomene in China.
Die massiven gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 30 Jahre folgten auf die vorherigen Erschütterungen Chinas durch die Kulturrevolution, die die bisherigen Werte nach Kräften zerstörte. Die Dichterin Shu Ting schrieb im Jahr 1980, kurz nach dem Ende der Kulturrevolution: „… nichts blieb in mir zurück als ein Ruinenfeld.“
Familiäre Beziehungen stehen im Zentrum der chinesischen Kultur. Doch unglücklicherweise hat sich jeder politische und soziale Wandel in der modernen chinesischen Geschichte auf die Familien belastend ausgewirkt. Der Theologe Chen Xida zeigt am Beispiel des Bibel-Gleichnisses vom Verlorenen Sohn, wie das Christentum gerade die sozial Strauchelnden anspricht, die in der chinesischen Tradition eher ausgegrenzt werden. Das Gleichnis Jesu zeichnet das Bild eines Vaters, der das traditionelle chinesische Vatermodell herausfordert, nach dem ein Vater seine Kinder disziplinieren, zum Erfolg führen und dazu bringen muss, seinen Namen und den aller Vorfahren zu glorifizieren. Damit ist Misserfolg im traditionellen Familienbild ein Makel, aufgrund dessen sich viele Menschen schämen und nicht mehr heimzukehren wagen. Dem steht im Gleichnis des verlorenen Sohns ein Familienbild gegenüber, bei dem jeder immer zurückkehren kann und willkommen ist.
Jedes Jahr ruft die Katholische Kirche am 24. Mai zum Weltgebetstag für China auf. Diesen besonderen Gebetstag hat Papst Benedikt XVI bewusst auf den Tag der traditionellen Wallfahrt nach Sheshan, dem größten Marienheiligtum in China nahe Shanghai, gelegt.
Die Begriffe, die für Gott im Chinesischen verwendet werden, sind selbst innerhalb des Christentums unterschiedlich. Als die ersten Missionare während der Tang-Dynastie in China ankamen, sprachen sie von ihrer Religion als Jing jiao („lichte Lehre“). Einige andere sprachen von Shangdi („der Herrscher von oben“), da dies eher in der chinesischen Sprache verwurzelt war. Schließlich entschied sich jedoch die Katholische Kirche dazu, den konfuzianischen Begriff Tianzhu („Herr des Himmels“) zumindest in offiziellen Gottesdiensten und Texten zu verwenden. Als die Protestanten schließlich im 19. Jahrhundert nach China kamen, bevorzugten sie Shangdi gegenüber Tianzhu. Viele Protestanten benutzen auch den Titel Shen, der im Allgemeinen „Gott“ oder „Geist“ bedeutet.
Die moderne chinesische Sprache unterteilt die Christen im Allgemeinen in zwei Gruppen: Die Anhänger des Katholizismus, Tianzhu jiao, und die Anhänger des Jidu jiao – wörtlich „Christentumes“ – oder Jidu Xinjiao, „Neu-Christentum“-Protestantismus. Chinesen sehen Katholizismus und Protestantismus als unterschiedliche Religionen, auch wenn diese Unterscheidung in der westlichen Welt nicht vorgenommen wird. In der westlichen Welt fasst der Begriff „Christentum“ alle Konfessionen zusammen, im Chinesischen hingegen gibt es keinen Begriff, der dies ermöglicht. In der heutigen Katholischen Literatur wird der Begriff Jidu zongjiao für christliche Sekten benutzt. Der Begriff bedeutet wörtlich „Religion Christi“. Die orthodoxen Ostkirchen werden Dongzheng jiao genannt, welches die wörtliche Übersetzung von „östliche orthodoxe Religion“ ins Chinesische ist.


EPILOG


Ich weihe die katholischen Christen der offiziellen und der Untergrund-Kirche sowie alle, die Jesus Christus ernsthaft suchen, und das ganze geliebte chinesische Volk dem Unbefleckten Herzen der Königin von China, der Jungfrau Maria.