Studie
von Josef Maria von der Ewigen Weisheit
ERSTER
TEIL
CHINESISCHE
PHILOSOPHIE
ERSTES
KAPITEL
KONFUZIUS
Zwei
Jahre nach seiner Geburt, 551 vor Christus in Lu, starb sein Vater,
und der junge Konfuzius erhielt 539−533 vor Christus
Privatunterricht bei seinem Großvater. Mit 19 Jahren heiratete er.
In den Jahren 532−502 vor Christus war er als Scheunenaufseher und
in anderen niederen Beschäftigungsverhältnissen tätig.
Seine
Mutter starb 529 vor Christus. Nach einem angeblichen Treffen mit Lao
Tse in Luoyang 518 vor Christus musste er zwei Jahre später die
Flucht vor internen Machtkämpfen ergreifen und Exil im Nachbarstaat
Qi suchen. Nach seiner Rückkehr nach Lu begann etwa 500 vor Christus
der politische Aufstieg des Konfuzius. Er wurde zunächst Bauminister
und dann Justizminister von Lu und schließlich 498 vor Christus
stellvertretender Kanzler.
497
vor Christus nimmt Herzog Ding von Lu 80 Singmädchen als Geschenk
des Nachbarstaats Qi entgegen, woraufhin Konfuzius abermals ins Exil
geht. Nun beginnt eine dreizehnjährige Wanderschaft durch
verschiedene Staaten.
Erst
484 vor Christus erfolgt die Zurückberufung nach Lu. Dort erlebt er
482 vor Christus den Tod seines Sohnes Bo Yu und 481 vor Christus den
Tod seines Lieblingsschülers Yan Hui und die Ermordung des Herzogs
von Qi. Dies wird auch als der Beginn der „Zeit der Streitenden
Reiche“ bezeichnet. 480 vor Christus stirbt sein Schüler Tse Lu
auf dem Schlachtfeld und ein Jahr später stirbt auch Konfuzius
selbst.
Über
das Leben und Wirken des Konfuzius informiert vor allem ein
ausführliches Kapitel in den Historischen Annalen von Sima Qian, der
Jahrhunderte später während der Han-Dynastie lebte und schrieb.
Hier heißt es:
Die
Vorfahren des Konfuzius waren die Könige von Shang, denen der König
von Zhou nach dem Sturz der Shang-Dynastie das Lehen von Song gegeben
hatte. Die Familie verarmte jedoch später. Bereits in früher Jugend
verlor Konfuzius seinen Vater und wurde von seiner Mutter allein
aufgezogen.
Mit
19 Jahren heiratete Konfuzius und trat in den Dienst des Staats Lu
ein. Mit 50 Jahren soll es ihm gelungen sein, einen Ministerposten zu
erlangen. Diesen Posten soll er jedoch bereits ein paar Jahre später
wieder enttäuscht quittiert haben. Anschließend zog er mit seinen
Schülern als Wanderlehrer von einem Lehnsstaat zum anderen und
wirkte als Berater an verschiedenen Fürstenhöfen. Drei Jahre vor
seinem Tod kehrte er in seinen Heimatstaat Lu zurück. Erfolg war ihm
nicht beschieden. Erst seine Schüler bauten seine Lehre aus und
gewannen Einfluss.
Dass
es schwierig ist, ein klares Bild von Konfuzius zu zeichnen, liegt
daran, dass er kein einziges schriftliches Werk hinterlassen hat.
Seine Lehren wurden erst hundert Jahre später von seinen Anhängern
niedergeschrieben. Am meisten über seine Gedankenwelt erfahren wir
aus den Gesprächen (Lun yu), in denen viele seiner Aussprüche
überliefert sind.
Wenn
du einen Würdigen siehst, dann trachte ihm nachzueifern. Wenn du
einen Unwürdigen siehst, dann prüfe dich in deinem Innern!
Das
einflussreichste Werk der ostasiatischen Geistesgeschichte ist das
Lun yu. Es enthält die vier Grundbegriffe des Konfuzius:
Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, kindliche Pietät und Riten.
Das
menschliche Ideal ist für Konfuzius der Edle, er strebt danach, die
vier Tugenden zu verwirklichen. Dabei stellen diese für Konfuzius
lediglich ein Ideal dar, das niemals zu erreichen ist. Dies tritt in
den Lun yu ebenfalls hervor, wenn es über den Meister selbst heißt:
„Ist das nicht jener Mann, der weiß, dass seine Ideen nicht zu
verwirklichen sind, aber dennoch nicht davon ablässt?“ Auch
Konfuzius selbst beansprucht nicht, dieses Ideal zu erfüllen:
„Konfuzius
sprach: Zum Weg des Edlen gehört dreierlei, aber ich bewältige es
nicht: Richtiges Verhalten zu anderen Menschen − es befreit von
Sorgen. Weisheit − sie bewahrt vor Zweifeln. Entschlossenheit −
sie überwindet die Furcht. Tse Gong bemerkte: So beurteilt der
Meister sich selbst.“
Wichtig
ist jedoch, dass man nicht davon ablässt, sich diesem Ideal
anzunähern. Der Edle bemüht sich, diesem Ideal so nahe wie möglich
zu kommen, aber er weiß um die Unerreichbarkeit desselben. Redliches
Bemühen ist also das faktische Ideal des Konfuzius, während das
imaginäre Ideal als unerreichbar angesehen wird. Strebsamkeit ist
somit erste Bedingung des Edlen: „Wer nicht danach strebt, dem
eröffne ich die Wahrheit nicht.“
Dabei
steht diese Entwicklung einem jeden offen, der sich nur darum bemüht.
Als Mittel hierfür galten Konfuzius die Bildung und das Lernen. Es
braucht daher keiner speziellen Anlagen, ein Edler zu werden:
„Konfuzius sprach: Von Natur aus sind die Menschen einander
ähnlich. Durch die Erziehung entfernen sie sich voneinander.“ Die
Tatsache, dass die Menschen unterschiedlich sind, heißt nicht, dass
sie dies ihrer Veranlagung nach sind. Wer die Unterschiedlichkeit zum
Anlass nimmt, Menschen den Zugang zu Bildung zu verwehren, weil diese
ihrer Veranlagung nach ungeeignet seien, der verwechselt die Ursache,
die Erziehung, und die Wirkung. Deshalb fordert Konfuzius: „Bildung
soll allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede
machen.“
Derjenige,
vor dem Konfuzius die größte Hochachtung hatte und der als Beispiel
des wahrhaft Edlen galt, war Wu Tai Bo. Die Aussagen des Konfuzius
wurden von seinen Schülern im Lun Yu aufgezeichnet. Im achten
Kapitel steht bereits zu Beginn des Kapitels über Wu Tai Bo
geschrieben: "Tai Bo ist ein wahrhaft edler Mensch. Er hat einen
sehr hohen moralischen Charakter. Dreimal hatte er dem eignen
Königsthron entsagt. Für das gemeine Volk lassen sich keine
richtigen Worte finden, ihn zu loben."
Dem
Lernen wird bei Konfuzius eine hohe Priorität eingeräumt. Es ist
das bevorzugte Mittel, den Edlen zu formen, zu bilden. Der Edle ist
also wortwörtlich gebildet. Das erste Wort des Lun yu ist „Lernen“:
„Lernen und es von Zeit zu Zeit wiederholen, ist das nicht auch
eine Freude?“ Das Lernen ist für Konfuzius das, was den Menschen
erst zum Menschen macht, als kulturelles Wesen ist er dadurch
bestimmt, dass er Wissen durch Traditionsbildung weitergibt.
Wesentlich ist dabei, dass Bildung untrennbar mit der moralischen
Forderung nach Selbstkultivierung verbunden ist: „Konfuzius sprach:
Im Altertum lernte man, um sich selbst zu vervollkommnen; heute
dagegen lernt man, um anderen gegenüber etwas zu gelten.“
Konfuzius lehnte es ab, Bildung als bloßes Mittel für egoistische
und niederträchtige Zwecke einzusetzen. Zu lernen und sich zu
bilden, ist dabei für Konfuzius eine Aufgabe, die jedem zukommt:
„Der
Schüler Tse Gao wurde durch den Schüler Tse Lu zum Präfekten von
Bi ernannt. Konfuzius meinte dazu: Damit verdirbst du fremder Leute
Sohn. Tse Lu rechtfertigte sich: Er hat dort Land und Leute zu
regieren. Warum muss man unbedingt Bücher lesen, um etwas zu lernen?
Doch der Meister erwiderte: Wegen solcher Art Ausreden erregen
zungenfertige Leute deines Schlags meinen Widerwillen.“
Allerdings
gibt es für Konfuzius einen Unterschied zwischen totem Wissen und
wahrer Bildung:
„Konfuzius
sprach: Nehmen wir an, jemand kann alle dreihundert Stücke des Buchs
der Lieder auswendig hersagen. Wird ihm aber eine verantwortungsvolle
Aufgabe übertragen, dann versagt er. Ein solcher Mensch hat zwar
viel gelernt, aber welchen Nutzen hat es?“
Konfuzius
lehrte eine Philosophie des So-ist-es: „Wenn ein Freund von weit
her kommt, ist das nicht auch eine Freude?“ Wer würde da nein
sagen? Das einflussreichste Werk in der ostasiatischen
Geistesgeschichte beginnt mit einer einfachen Feststellung, nicht mit
Spekulationen über erste Ursachen der Welt oder höchste Prinzipien,
wie etwa in der griechischen Philosophie. Auch plagen Konfuzius keine
modernen Zweifel, ob es die Außenwelt wirklich gibt. Die Welt ist da
und in ihr muss gelebt werden. Es geht Konfuzius nun darum, sie in
ihrem So-sein zu bestimmen, ohne dieses auf andere Prinzipien
zurückzuführen. Es herrscht also eine pragmatische Haltung
gegenüber der Welt vor.
Zentraler
Gegenstand der Lehre des Konfuzius ist die Gesellschaftsordnung, also
das Verhältnis zwischen Kind und Eltern, Vorgesetzten und
Untergebenen, die Ahnenverehrung, Riten und Sitten. Konfuzius lehrte,
dass erst durch die Ordnung sich überhaupt Freiheit für den
Menschen eröffnet. So wie die Regeln eines Spiels Bedingung dafür
sind, dass die Freiheit des Spielens entsteht, bringt die
wohlgeordnete Gesellschaft erst die Strukturen für ein freies Leben
des Menschen hervor. Wie jeder Spieler aus Freiheit die Regeln
akzeptiert, so akzeptiert auch der Edle Sittlichkeit und Pflichten.
Ordnung unterdrückt also nicht die Freiheit, sondern eröffnet erst
einen Handlungsraum, in dem menschliche Tätigkeiten einen Sinn
bekommen. Es wäre hingegen das Chaos, als Gegenteil der Ordnung,
welches eine Sphäre des Zwangs und der Bedrängnis entstehen lässt.
Während
des Konfuzius lebendige Lehre noch eine Biegsamkeit gegenüber den
gesellschaftlichen Regeln umfasste, um diese vor dem Erstarren zu
bewahren, wurden in Teilen des Konfuzianismus die Regeln zum
Selbstzweck und begannen, tatsächlich mehr einschränkend als
befreiend zu wirken. Diese potentielle Gefahr seiner Lehre muss
Konfuzius bewusst gewesen sein, wenn er beispielsweise über die
Geisterverehrung spricht:
„Der
Schüler Fan Chi fragte, was Weisheit sei. Konfuzius antwortete: Zu
den Pflichten stehen, die man gegenüber dem Volke hat, die Geister
verehren, aber nicht darin aufgehen, das kann man Weisheit nennen.“
Der
Konfuzianismus ist eine der philosophisch-politischen Strömungen
Chinas, die sich als Antwort auf eine tief greifende Krise der
Gesellschaft herausgebildet haben und an die Lehre des Konfuzius
anschließt. Schon im Lun yu sagt Konfuzius: „Wäre die Welt in
Ordnung, dann brauchte ich mich nicht damit abzugeben, sie zu
ändern.“
„Vor
Konfuzius war die Kultur das Geheimnis der Heiligen auf dem Thron.
Durch Konfuzius, den ungekrönten König, wurde sie einer Schule von
Gebildeten anvertraut, die als Berater und Minister von Herrschern
und Königen dafür gesorgt haben, dass, wo sie Einfluss hatten, die
Macht durch Recht und Sitte geheiligt wurde. Das Problem des
Konfuzius war die naturgemäße Organisation der Menschheit. Für den
Aufbau seines Systems wählte er eine Ellipse mit zwei Brennpunkten.
Der eine Brennpunkt war für ihn das Innere des Menschen, der andere
die menschliche Gesellschaft.“ (Richard Wilhelm)
ZWEITES
KAPITEL
LAO
TSE
Der
Überlieferung nach wurde Lao Tse in der Präfektur Ku des Staates
Chu geboren. Ein anderer Name für ihn ist Lao Dan (Altes Langohr).
Lao Tse diente als Archivar in der Bibliothek der Zhou. Als er Chaos
und den Verfall des Reiches vorhersah, verließ er das Land. Westlich
von Xian, bei Louguan Tai befindet sich am Shan-Gu Pass ein Tempel,
in dem Yin Xi, auch Yin Wenshi genannt, ein Gelehrter der Zhou der
Periode der Frühlings- und Herbstannalen, einen Turm zur Beobachtung
von Gestirnen und Wetter errichtet hatte. Hier wurde Lao Tse der
Legende zufolge von ebendiesem Yin Xi aufgefordert, sein Wissen
mitzuteilen. Die Sammlung seiner Lehren, welche er daraufhin schrieb,
wurde als Tao Te King bekannt. Die Historischen Annalen berichten,
dass Lao Tse nach dessen Niederschrift im Westen verschwand. Yin
Wenshi, der den taoistischen Namen Guan Ling trug, war Berater des
Kronprinzen. Er legte nach seiner Begegnung mit Lao Tse alle
weltlichen Ämter nieder und folgte den Lebensregeln des frühen
Taoismus.
Den
Legenden nach wurde Lao Tse über 160 Jahre alt, andere Quellen
sprechen sogar von 200 Jahren. Dieses hohe Alter erreichte er durch
Vollkommenheit im Tao. Nach seinen eigenen Lehren suchte Lao Tse
Zurückgezogenheit und Namenlosigkeit. Dies steht im Widerspruch zur
Bekanntheit seiner Person. Tschuang Tse kritisierte: „Um sie so
fest an sich zu binden, muß er Worte gesprochen haben, die er nicht
sprechen durfte. Das ist aber ein Abweichen von der himmlischen
Natur."
Ab
dem 2. Jahrhundert während der Han-Dynastie entwickelte sich die
Gestalt des Lao Tse zum Hochgott des Taoismus, und er wurde als einer
der Drei Reinen in das Pantheon des Taoismus aufgenommen. Er
verkörperte den Heiligen, wie er bei Tschuang Tse beschrieben wird,
und seine Züge vermischten sich mit den Gottheiten Tai Yi und Huang
Di. Er gilt als Verkörperung des Tao und seine Gestalt wurde
kosmisiert. So nahm man an, er weile im Sternbild des Scheffels
(Großer Bär) und steige auf und ab als Vermittler zwischen der
himmlischen und der irdischen Welt. Sein Sitz ist der Mittelpunkt des
Sternenhimmels und der Himmelsrichtungen. In der Ikonographie ist er
umgeben von den vier heraldischen Tieren, die diese symbolisieren.
Lao Tse wandelt sich mit den Zyklen der Zeit und nimmt vielerlei
Formen an. Er ist gleich dem Tao in der Lage, sich ins Unendliche
auszudehnen und unendlich klein zu werden.
In
einigen taoistischen Schulen wurde sogar angenommen, Lao Tse sei das
Tao selbst. So geht gemäß diesen Schulen seine Existenz dem
Universum voraus, und er tritt in ihm als Gestalter der kosmischen
Ordnung auf. In unzähligen Inkarnationen ist er der weise Berater
der Kaiser und unterweist die taoistischen Adepten, so dass er als
immer wiederkehrender Lehrer und Verkünder der unterschiedlichen
Schulen des Taoismus erscheint.
In
der westlichen Welt wird Lao Tse meist als Philosoph verstanden,
welcher mit seinem Werk Tao Te King einen prägenden Einfluss auf den
Taoismus ausübte. In seiner Einleitung zum Tao Te King schreibt
Richard Wilhelm:
„Das,
was man heutzutage Taoismus zu nennen gewohnt ist, geht in
Wirklichkeit auf ganz andere Quellen zurück als den Tao Te King des
Lao Tse. Dennoch würde es verkehrt sein, Lao Tse aus dem
Zusammenhang des chinesischen Geisteslebens herauszuschälen, denn er
ist mit tausend Fäden damit verknüpft.“
Tao
Te King, das einzige Werk, das Lao Tse zugeschrieben wird, umfasst
etwa 5000 altchinesische Schriftzeichen. Es existieren zahlreiche
Übersetzungen, die sich allesamt erheblich unterscheiden, da es
keineswegs einfach ist, in der Vieldeutigkeit vieler dieser Zeichen
den ursprünglichen Gedanken zu erkennen und angemessen zu
formulieren. Einige der Übersetzungen sind schwer mit dem trotz
dieser Vieldeutigkeit erkennbaren Gedankengut des Tao Te King zu
vereinbaren, da sie eine stark esoterische Terminologie verwenden,
die den zumeist sehr klaren Beobachtungen Lao Tse's nicht gerecht
werden kann, oder auf andere Weise mehr von den Ansichten des
Übersetzers selbst einfließt als von Lao Tse.
DRITTES
KAPITEL
MO
TI
Mo
Ti (Meister Mo), latinisiert Micius genannt, lebte im späten 5.
Jahrhundert vor Christus, wirkte hauptsächlich in Nordchina und war
Begründer und Namensgeber des Mohismus, einer Schule der
chinesischen Philosophie. Der Mohismus war eine am Wohlergehen des
Volkes ausgerichtete Denkrichtung. Die straff organisierte
mohistische Schule war bereits im 3. Jahrhundert vor Christus in drei
Gruppen gespalten und hatte ein Jahrhundert später vollends an
Bedeutung verloren. Im Gegensatz zu Konfuzius soll Mo Ti zumindest
einen Teil seiner in großem Umfang erhaltenen Schriften selbst
verfasst haben.
Vom
sechsten bis zum dritten vorchristlichen Jahrhundert war China
Schauplatz der sogenannten „Wanderphilosophen“, Männer, die mit
der gesellschaftlichen Situation unzufrieden waren und durch die
Lande reisten, um den Herrschern von ihren Überlegungen zu berichten
und um sie in die Tat umzusetzen. Der wohl bekannteste dieser
Philosophen ist Konfuzius.
Alle
beschäftigten sie sich mit grundlegenden Fragen, zum Beispiel, wie
eine perfekte Gesellschaftsordnung auszusehen habe und was diese
zusammenhält. Dabei treten unweigerlich Fragen nach dem Recht auf:
gibt es Gesetze, und wenn ja, wer erlässt diese, wie sehen die
Gesetze aus und wie wird für ihre Befolgung gesorgt.
Die
Angaben über die Person des Mo Ti sind dürftig und teilweise
spekulativ. Er lebte wohl zwischen 490 und 381 vor Christus. Es ist
möglich, dass Mo Ti noch vor dem Tod des Konfuzius geboren wurde,
der mit dem Jahre 479 vor Christus angegeben wird.
Sein
Heimatstaat war Lu oder Song, Mo war sein Familienname und sein
Vorname Ti. Mo Ti entstammte einer niederen gesellschaftlichen
Schicht, die Annahmen seiner Tätigkeit reichen vom Handwerker über
den Schreiber bis hin zum hohen Beamten. Seine Anstellung als Beamter
ist jedoch unwahrscheinlich.
Die
Zeit, in der Mo Ti lebte, war geprägt durch den Zerfall des alten
Patriarchats und die Auflösung der feudalen Strukturen. Die
Gesellschaft machte eine Entwicklung durch, in der die unteren
Schichten ihre passive Rolle verließen und die oberen Schichten sich
der willkürlichen Ausbeutung der unteren Schichten zunehmend
widmeten. Das Land war gebeutelt von Kriegen und die gemeine
Bevölkerung versank in Chaos und Armut.
Mo
Ti verleiht diesem Umstand durch Nennung von sieben Missständen
Ausdruck: Investition in Prunk anstatt in Verteidigung; keine Hilfe
der Nachbarn bei feindlichem Angriff; nutzlose Erschöpfung der
Kräfte des Volkes; Korruption und Willkür der Beamten; Unwissenheit
und Hochmut des Fürsten und dadurch nicht ausreichende
Verteidigungsmaßnahmen; Glaube an Lügen; zu wenig Lebensmittel,
ungeeignete Beamte und Wirkungslosigkeit von Belohnungen und
Bestrafungen.
Basiert
die vollendete Gesellschaft nach Konfuzius auf der
Mit-Menschlichkeit, so nimmt diesen Platz in Mo Ti's Theorie die
Rechtschaffenheit ein. Wie bereits in den Begriffen anklingt,
entsteht die Menschlichkeit nach Konfuzius im Menschen selbst und
wirkt aus ihm heraus. Die Rechtschaffenheit jedoch ist nach Mo Ti
eine dem Menschen von außen durch Zwang auferlegte Tugend.
Dieser
grundlegende Unterschied lässt sich auch anhand des Bildes des
Himmels nachvollziehen. Während der Himmel bei Konfuzius eine
abgerückte, ungreifbare und unpersönliche Wesenheit darstellt,
deren Wille im Menschen selbst verankert ist und in ihm wirkt, so
sieht Mo Ti ihn als eigenständige Persönlichkeit an, die der Erde
sehr nahesteht. Ebenso wie die Tugend bei Konfuzius aus sich heraus
entspringt, hat sie sich selbst zum Zweck. Mo Ti jedoch betrachtet
selbst die Tugend und somit den Willen des Himmels aus der
Perspektive des Volkes. Die Rechtschaffenheit dient der Stabilität
des politischen Systems.
Der
Gedanke der Mitmenschlichkeit ist zwar auch im Gedankengut Mo Ti's
fest verankert, rückt jedoch in der Hierarchie unter die
Rechtschaffenheit, zu deren Erhalt sie dient. Sie erfährt eine
Veränderung dadurch, dass Mo Ti sie von den Beschränkungen durch
die Teilung der Gesellschaft, wie sie Konfuzius vorsah, freimacht. Er
fordert eine Mitmenschlichkeit, die nicht der festen Einordnung des
Individuums in die Gesellschaft unterliegt, die sich besonders in der
pietätvollen Fügsamkeit äußerte. Somit geht Mo Ti noch einen
Schritt weiter als Konfuzius und weitet den Fokus von der
herrschenden Klasse auf die gesamte Gesellschaft aus. Während sich
bei Konfuzius Volk und Herrscher nicht vermischen, so ist die
Trennlinie bei Mo Ti in beide Richtungen durchlässig.
„Daher
wurde zu jener Zeit nach Tugendhaftigkeit eingestuft, wurden je nach
Amt die Aufgaben übertragen, je nach persönlichem Einsatz die
Belohnungen festgesetzt und entsprechend den Leistungen wurde das
Gehalt aufgeteilt. So war ein Beamter nicht unbedingt auf Dauer in
seiner gehobenen Position und die Leute waren nicht auf immer dazu
verdammt, als Gemeine zu leben. Hatte einer Fähigkeiten, wurde er
ausgewählt, war er aber unfähig, wurde er seines Amtes enthoben.“
Die
Gleichheit der Menschen drückt sich also nicht in tatsächlicher
materieller Hinsicht aus, sondern vielmehr in Chancengleichheit und
Gleichheit der Bewertungsmaßstäbe. Mo Ti sieht in der
differenzierten Mitmenschlichkeit die Ursache der mangelnden
Gerechtigkeit.
„Und
wenn wir diejenigen im Reich herausgreifen und benennen, die andere
hassen und schädigen, werden ihre Handlungen durch Universalität
oder durch Parteilichkeit veranlaßt? Die Antwort ist gewiß: Durch
Parteilichkeit.“
„Die
Lehre von der Universalität ist wohl menschlich und rechtschaffen.“
Menschlichkeit
und Rechtschaffenheit sind also Kriterien für Universalität und
dieser daher übergeordnet.
Die
Grundlage der Überlegungen Mo Ti's bildet eindeutig sein
Menschenbild. Seiner Meinung nach handelt ein Mensch, der ohne feste
gesellschaftliche Umgebung aufwächst, egoistisch und kurzsichtig.
Als
es „noch keine Rechtsprechung und keine Regierung“ gab, war die
„Unordnung im Reich so, als handele es sich um wilde Tiere. Es gab
keine Vorschriften für die Beziehungen zwischen Fürst und Untertan,
Vorgesetztem und Untergebenem, Älteren und Jüngeren, keine
Verhaltensmaßregel für das Verhalten von Vater und Sohn und älterem
und jüngerem Bruder; daher war das Reich in Verwirrung.“
Von
sich aus sind die Menschen nicht in der Lage, eine gemeinsame Sprache
zu entwickeln und ihre Ansichten abzugleichen.
Die
Zeit, in der er lebte, und die Perspektive, aus der er die
Gesellschaft wahrnahm, nämlich aus der des einfachen Volkes, sind
maßgebend für die Ziele Mo Ti's. Er entwickelte ein dem
Konfuzianismus ähnliches System, welches auf die Bedürfnisse des
einfachen Mannes zurechtgeschnitten war. Sein Bestreben galt der
Gerechtigkeit, dem Frieden und dem Wohlstand des Volkes.
Mo
Ti's gesellschaftliches Ideal war die allgemeine Nächstenliebe und
der gegenseitige Nutzen. Auf die Frage, wie die Misere des Landes zu
beenden sei, antwortet Mo Ti: „Mit der allumfassenden gegenseitigen
Liebe und der gegenseitigen Unterstützung aller läßt es sich
ändern.“
Die
geforderte allgemeine Nächstenliebe ist neben dem Utilitarismus eine
der großen Neuerungen Mo Ti's. Standen sich Nutzen und Moral bei
Konfuzius noch gegenüber, so gehen sie bei Mo Ti eine Synthese ein.
Die Nächstenliebe ist nützlich.
„Jetzt
habe ich gezeigt, daß die Universalität den größten Nutzen für
das Reich mit sich bringt.“
Die
allgemeine Nächstenliebe besteht für Mo Ti darin, nicht länger
zwischen sich selbst und seinen Mitmenschen zu unterscheiden. Dies
ist auf alle Strukturen erweiterbar, die Familie jedes anderen ist
wie die eigene und auch andere Staaten sind wie der eigene.
„Meister
Mo Ti sagte: Wenn man andere Staaten wie den eigenen betrachtet und
andere Familien wie die eigene und andere Menschen wie sich selbst,
dann werden die Feudalfürsten einander lieben und keinen Krieg
miteinander führen, und die Familienvorstände werden untereinander
Freundschaft pflegen und nicht aufeinander übergreifen, und die
Menschen werden einander lieben und nicht schädigen. Und Elend,
Übergriffe, Unzufriedenheiten und Haß werden in der ganzen Welt
nicht mehr aufkommen können. Dies hat seinen Grund in der
gegenseitigen Liebe.“
Die
Grenze zwischen dem Ego und der restlichen Gesellschaft wird also
aufgehoben. Jeder, der in seinem eigenen Sinne handelt, handelt
automatisch im Sinne der Gesellschaft und umgekehrt.
„Es
ist die Aufgabe eines Menschlichen, sich um die Mehrung des Nutzens
im Reiche zu mühen, Schaden von ihm abzuwenden und ein Vorbild für
die Welt zu sein. Deshalb tut er das, was den Menschen nützt und
unterlässt, was ihnen nichts nützt. Darüber hinaus denkt der
Menschliche, wenn er den Nutzen des Reiches plant, nicht nur an das,
was das Auge erfreut, dem Ohr behagt, dem Gaumen schmeckt und dem
Körper angenehm ist. Denn wenn er dazu das Volk der für Kleidung
und Nahrung notwendigen Güter berauben müsste, würde er das
unterlassen.“
„Den
Willen des Himmels macht er also zum Maßstab und stellt es als
Richtschnur auf, um damit Menschlichkeit und Unmenschlichkeit bei den
Königen, Fürsten und Großen des Reiches zu ermitteln, so als
unterscheide er zwischen schwarz und weiß.“
Die
allgemeine Nächstenliebe und der gegenseitige Nutzen finden primär
Anwendung auf horizontaler Ebene, obwohl auch vertikal angewandt,
hier aber im Gegenteil zur Menschlichkeit in beiden Richtungen.
„Wenn
Untertanen und Söhne ihren Fürsten und Vätern keine kindliche
Pietät bezeugen, dann nennt man das Verwirrung. Wenn selbst der
Vater gegenüber seinem Sohn, der ältere gegenüber seinem jüngeren
Bruder oder der Fürst gegenüber seinem Untertan keine liebevolle
Gesinnung hegt, so ist dies auch ein Zustand, den man Unordnung im
Reiche nennt. Und wenn die Würdenträger ihre Familien gegenseitig
in Unordnung bringen und die Lehnsfürsten sich untereinander
bekämpfen, dann ist es ebenso. Alle Fälle von Verwirrung im Reiche
sind darin enthalten. Und untersucht man, worin sie ihren Grund
haben, so ist es immer der Mangel an gegenseitiger Liebe.“
„Nimmt
man den Himmel zum Vorbild, dann muß man sich in allem seinem Tun am
Himmel orientieren und das, was der Himmel wünscht, befolgen, und
unterlassen, was er nicht wünscht. Ganz gewiß wünscht der Himmel,
daß die Menschen einander lieben und sich gegenseitig unterstützen.“
Die
Maßnahmen, die Mo Ti für die Umsetzung seiner Ideen vorsieht,
lassen sich in zwei Bereiche teilen. Auf der einen Seite der Weg zu
Friede, Menschlichkeit und Gerechtigkeit und auf der anderen Seite
das Erreichen des Wohlstandes. Die hauptsächliche Erfüllung dieser
beiden Hauptziele obliegt verschiedenen gesellschaftlichen Schichten.
„Wenn
sich die Oberen ganz für die Regierung einsetzen, dann ist der Staat
wohlgeordnet, und wenn die Unteren mit ganzer Kraft ihren Pflichten
nachkommen, dann werden Güter und Mittel ausreichen.“
Fußend
auf Mo Ti's Menschenbild fordert er ein System, welches die Menschen
durch Belohnungen und Strafen zwingt, sich seiner Vorstellung gemäß
zu benehmen. Die Implementierung dieses Systems läuft parallel auf
zwei Ebenen ab, auf sakraler und irdischer Ebene gleichzeitig.
Der
Maßstab ist der Wille des Himmels. An ihm muss sich jeder Mensch
ausrichten. Um dies zu gewährleisten, zieht Mo Ti die Geister und
Götter heran, die zu seiner Zeit im Volksglauben stark verankert
waren und macht sie zu Agenten des Himmels. Diese Geister und Götter
kennen den Willen des Himmels und lassen sich von ihm führen. Sie
sehen und hören immer alles und sind befugt, zu belohnen oder zu
bestrafen.
„Dem
wachen Auge der Geister kann man sich auch in düsteren Tälern oder
weiten Sümpfen, in Bergen, Wäldern oder tiefen Schluchten nicht
entziehen, denn die Augen der Geister werden einen dennoch sehen.“
„Wenn
man heute alle Menschen im Reiche dazu veranlassen könnte, zu
glauben, dass die Geister in der Lage sind, die Tüchtigen zu
belohnen und die Schlechten zu bestrafen, wie könnte es dann im
Reiche Unordnung geben?“
Obgleich
hier der Hauptaspekt nicht die Existenz der Geister, sondern vielmehr
der Glaube der Menschen an die Existenz der Geister ist, wird doch
deutlich, dass dieser Glaube von elementarer Bedeutung für die
Wirksamkeit dieses Zweiges der Implementierung des Wertesystems ist.
Die Wertmaßstäbe wirken also nicht von außen auf den Menschen,
sondern vermittels des Geisterglaubens aus ihm heraus. In dieser
Instrumentalisierung der Geister findet der utilitaristische
Grundgedanke mit dem Ziel, die Unordnung zu beseitigen, Ausdruck.
Um
das Reich aus dem Chaos zu führen, muss es von einem obersten
Herrscher vereint werden.
„Daher
wurde der fähigste Weise des Reiches ausgewählt und als Himmelssohn
eingesetzt.“
Dieser
kann nicht vom Volk gewählt werden, da es dazu aufgrund seiner
Beschränktheit und Selbstsucht nicht in der Lage ist. Auch der
Gedanke, den Herrscher von einer Gruppe Weiser ernennen zu lassen,
wird gleich wieder verworfen, denn der Herrscher darf keine andere
Machtinstanz über sich haben außer dem Himmel. Somit obliegt es
zwangsläufig dem Himmel, den Herrscher zu bestimmen. Das geschieht
durch Anlegen des Maßstabes, also dem Willen des Himmels.
Ist
der Himmelssohn einmal installiert, so besteht seine Aufgabe darin,
Standards zu erlassen, die die Gesellschaft aus dem Urzustand führen
sollen.
Da
das Land allerdings zu umfangreich ist, um von einer Person alleine
vereinheitlicht zu werden und als „man sah, dass seine Kraft nicht
ausreichte, da wählte man auch andere fähige und weise Männer des
Reiches aus und machte sie zu den drei Ministern.“
Diese
„teilten sie das Ganze in zahllose Gebiete und setzten
Feudalfürsten und Landesherren ein. Und man wählte die weisesten
und fähigsten Männer jedes Landes aus und setzte sie als Beamte
ein.“
So
wird das Land in immer kleinere Bereiche geteilt, bis hinab zu den
Gemeinden. Jedem Teil auf jeder Ebene wird ein Mann vorgestellt. Als
Kriterium gilt die Menschlichkeit:
„Der
menschlichste Mann einer jeden Gemeinde wurde der Gemeindevorsteher.“
„Bezirksvorsteher
war der menschlichste Mann im Bezirk.“
„Fürst
war der menschlichste Mann seines Landes.“
Nach
der Installation dieses hierarchischen Systems verkündete der
Himmelssohn seine Regierungspolitik.
„Wenn
einer Gutes oder Schlechtes erfährt, dann soll er seinem
Vorgesetzten davon berichten. Und was der Vorgesetzte für richtig
hält, das müssen alle für richtig halten, und was er für falsch
hält, das müssen alle für falsch halten. Wenn ein Vorgesetzter
einen Fehler begeht, dann soll man sich in angemessener Weise
beklagen, und wenn seine Untertanen Gutes tun, soll sie der
Vorgesetzte empfehlen.“
Diese
Verhaltensregeln werden dem Volk in den Gemeinden vom
Gemeindevorsteher beigebracht. Er richtet die Menschen am
Bezirksvorsteher aus, dessen Aufgabe es ist, „die Ansichten im
Bezirk zu vereinheitlichen.“
Der
Bezirksvorsteher wiederum richtet die Menschen am Landesfürsten aus
und dieser sie am Himmelssohn. Auf allen Ebenen bis hin zum
Himmelssohn werden die Meinungen der Menschen weiter vereinheitlicht.
„Denn
prüft man, worauf die gute Ordnung im Reiche beruht, so liegt sie
einfach daran, dass der Himmelssohn die vielfältigen Ansichten in
seinem Reiche zu vereinheitlichen versteht.“
Wenn
Untertanen und Herrscher verschiedene Ansichten haben, werden jene,
welche der Herrscher belohnt, vom Volk verachtet werden, und solche,
die er bestraft, vom Volk gelobt.
Das
Volk hat kein Recht, sich gegen den Himmelssohn zu erheben. Sollte
dieser jedoch nicht gemäß dem Willen des Himmels regieren, so wird
das ganze Land von Naturkatastrophen heimgesucht und somit der
Herrscher und das Volk bestraft.
„Aber
selbst wenn sich jeder mit dem Himmelssohn identifiziert, aber nicht
im Einklang mit dem Himmel ist, dann nehmen die Naturkatastrophen
kein Ende.“
„Dadurch
wurden die Einwohner des Reiches alle sehr erschreckt und fürchteten
sich und wagten nicht, Schlechtes zu tun, und sagten: Augen und Ohren
des Himmelssohnes haben übernatürliche Fähigkeiten.“
Der
Wille des Himmels (tian zhi) ist das Fundament des Mohismus. Er
beschreibt die Grundlagen der funktionierenden Gesellschaft, zu deren
Erlangen und Erhalten alles andere dient. Der Himmel greift nicht
unmittelbar in die Welt ein, sondern über seine Agenten und über
den Himmelssohn. Die Kommunikation mit diesen verläuft über den
Willen des Himmels.
„Der
Himmel wünscht nicht, dass große Staaten kleine angreifen, dass
große Familien bei kleinen Verwirrung stiften, dass die Starken den
Minderheiten übel mitspielen, dass die Schlauen die Dummen
überlisten und die Vornehmen die Geringen verachten. Er will, dass
die Kräftigen ihre Mitmenschen unterstützen, die Gebildeten ihre
Mitmenschen belehren und die Begüterten mit ihren Mitmenschen
teilen. Auch will er, dass die Oberen sich ganz für die Regierung
und die Unteren sich mit ihrer ganzen Kraft bei ihren Aufgaben
einsetzen.“
„Der
Himmel wünscht Gerechtigkeit und hasst Unrecht.“
„Der
Himmel wünscht Leben und hasst Tod, er wünscht Wohlstand und hasst
Armut, er wünscht Ordnung und hasst Unordnung.“
VIERTES
KAPITEL
TSCHUANG
TSE
Wie
bei fast allen seinen Zeitgenossen sind die biografischen Daten
Tschuang Tse's nur bruchstückhaft und nicht gesichert. Die
wesentlichen Angaben stammen von Sima Qian. Seinen Historischen
Annalen zufolge hatte Tschuang Tse eine Zeit lang ein Amt in dem Ort
Qiyuan inne, der zu Meng im Staat Song gehörte:
„Tschuang
Tse stammte aus Mong. Sein Rufname war Dschou. Er hatte eine Zeit
lang ein Amt in der Stadt Tsi Yüan, die zu Mong gehörte. Er war
Zeitgenosse der Könige Hui von Liang und Süan von Tsi. Er besaß
überaus umfassende Kenntnisse, doch hielt er sich hauptsächlich an
die Worte des Lau Dan. So schrieb er ein Werk, das über
hunderttausend Worte enthält, die zum großen Teil aus Zitaten und
Gleichnissen bestehen. Er schrieb das Buch vom alten Fischer, vom
Räuber Dschi, vom Kisten aufbrechen, um die Schüler des Kung Tse zu
verhöhnen und die Lehren des Lau Dan zu erklären. Namen wie We Le
Hü und Gong Sang Tse sind lauter freie Erfindungen, denen nichts
Wirkliches zugrunde liegt, doch er war Meister des Stils. Durch
Andeutungen und Schilderungen verstand er es, die Anhänger des Kung
Tse und Mo Ti zu verhöhnen, dass auch die tüchtigsten Gelehrten
seiner Zeit sich seiner nicht erwehren konnten. So ergötzte er sich
an seinem prickelnden, fließenden Stil in stolzer
Selbstgenügsamkeit. Darum konnten auch Fürsten und Könige und hohe
Beamte sich seiner nicht bedienen.“
Bis
auf ein Aufseher-Amt in einem Lackgarten verweigerte sich Tschuang
Tse wohl allen Ämtern. Eine Haltung, die sich bereits im ersten
Kapitel ausdrückt: Als der heilige Herrscher Yau – eine der
bedeutendsten Figuren in der chinesischen Überlieferung –
‚Freigeber‘ die Führung des Reichs anbietet, so antwortet
dieser:
„Freigeber
sprach: Ihr habt das Reich geordnet. Da nun das Reich bereits in
Ordnung ist, so würde ich es nur um des Namens willen tun, wenn ich
Euch ablösen wollte. Der Name ist der Gast der Wirklichkeit. Sollte
ich etwa die Stellung eines Gastes einnehmen wollen? Der Zaunkönig
baut sein Nest im tiefen Wald, und doch bedarf er Eines Zweiges nur.
Der Maulwurf trinkt im großen Fluss, und doch bedarf er nur so viel,
um seinen Durst zu stillen. Geht heim! Lasst ab, o Herr! Ich habe
nichts mit dem Reich zu schaffen.“
Die
höchste Ehre wird hier mit dem Hinweis auf die einfachsten
körperlichen Bedürfnisse ausgeschlagen: So wie der Maulwurf nur
soviel trinkt, wie er durstig ist, ist auch ‚Freigeber‘ schon
zufrieden, wenn er einen vollen Magen hat. Da Tschuang Tse wohl
entsprechend im wirklichen Leben handelte, herrschten in seiner
Familie oft ärmliche Verhältnisse.
Tschuang
Tse pflegte Kontakt zu verschiedenen anderen Philosophen und
Philosophie-Schulen. Er soll der Schüler des Tian Zifang gewesen
sein, welcher wiederum der Schüler eines Schülers des Konfuzius
war. In seinen Schriften finden sich deswegen an einigen Stellen
konfuzianische Züge, insbesondere die Frühlings- und Herbstannalen
werden mit Achtung erwähnt. Im Vergleich zu anderen historischen
Persönlichkeiten fällt auf, dass Tschuang Tse meist recht
menschlich dargestellt wird, ohne jegliche Idealisierung, wie dies
beispielsweise bei Lao Tse der Fall ist. Nirgendwo ist von einer
Schule des Tschuang Tse oder seinen Anhängern die Rede, lediglich
einige Gesprächspartner tauchen im Werk selber auf.
Das
Buch „Tschuang Tse“ ist eine Textsammlung, deren Autorschaft
teilweise ungeklärt ist. Nach allgemeinem Dafürhalten schreibt man
der Person Tschuang Tse nur die ersten sieben Kapitel zu, die anderen
Kapitel mögen von Anhängern seiner Schule zusammengetragen worden
sein.
„Tschuang
Tse gibt uns nicht nur taoistische Lebensweisheit, sondern eine
richtige taoistische Philosophie. Seine philosophischen Grundlagen
finden sich in den ersten 7 Büchern, dem sogenannten inneren
Abschnitt. Das erste Buch heißt: Wandern in Muße. Es bildet die
Exposition des Ganzen. Das irdische Leben mit seinen Schicksalen und
Einflüssen wird verglichen mit einer kleinen Wachtel, während das
Leben in seliger Muße frei ist von aller Kleinlichkeit. Es wird
verglichen mit dem ungeheuren Vogel Pong, dessen Flügel wie hängende
Wolken durch den Himmel fahren. Von besonderer Wichtigkeit ist das
zweite Buch: Vom Ausgleich der Weltanschauungen. Hier wird die Lösung
der philosophischen Streitfragen der Zeit vom taoistischen Standpunkt
aus gegeben. Tschuang Tse hat im Anschluß an das Tao Te King alle
diese entgegengesetzten, in logischen Auseinandersetzungen
begriffenen Anschauungen in ihrer notwendigen Bedingtheit erkannt. Da
keine Seite ihr Recht beweisen konnte, fand Tschuang Tse den Ausweg
von der Disputation zur Intuition. Im dritten Buch kommt die
praktische Anwendung dieser Erkenntnis. Es gilt den Herrn des Lebens
zu finden, nicht irgend eine besondere einzelne Lage zu erstreben,
sondern den Hauptlebensadern nachzugehen und sich mit der äußeren
Stellung abzufinden, in der man sich vorfindet. Denn nicht eine
Veränderung der äußeren Verhältnisse ist es, die uns retten kann,
sondern eine andere Einstellung zu den jeweiligen Lebensverhältnissen
vom Tao her. Dadurch ist der Zugang gegeben zu der Welt, die jenseits
der Unterschiede ist. Im vierten Buch führt der Schauplatz aus dem
Einzelleben hinaus in die Menschenwelt. Auch hier gilt es, das
Umfassende des Standpunktes zu wahren, sich nicht zu binden, in
irgendwelche Vereinzelung hinein. Denn die Vereinzelung gibt zwar
Brauchbarkeit, aber gerade diese Brauchbarkeit ist der Grund dafür,
dass man verwendet wird. Man wird eingespannt in den Zusammenhang der
Erscheinungen, wird ein Rad in der großen Gesellschaftsmaschine,
aber eben dadurch zum Berufsmenschen und einseitigen Fachmann,
während der Unbrauchbare, der über den Gegensätzen Stehende eben
dadurch sein Leben rettet. Das fünfte Buch handelt vom Siegel des
völligen Lebens. Es zeigt durch verschiedene Parabeln, wie die
innere Berührung mit dem Tao, die das wahre absichtslose Leben gibt,
einen inneren Einfluss über die Menschen ausübt, vor dem jede
äußere Unzulänglichkeit verschwinden muß. Es sind Geschichten von
Krüppeln und Menschen von monströser Häßlichkeit, durch die diese
Wahrheit gerade wegen des Paradoxen der äußeren Verhältnisse am
deutlichsten sich kundgibt. Zu den wichtigsten Büchern des Tschuang
Tse gehört das sechste: Der große Ahn und Meister. Es behandelt das
Problem des Menschen, der zu dem großen Ahn und Meister, zum Tao,
den Zugang gefunden hat. Die wahren Menschen fürchteten sich nicht,
einsam zu sein. Sie vollbrachten keine Heldentaten, sie schmiedeten
keine Pläne. Sie kannten nicht die Freude am Leben und nicht die
Abneigung vor dem Tode. Gelassen kamen sie, gelassen gingen sie. Das
siebente Buch: Für den Gebrauch der Könige und Fürsten, bildet den
Abschluss und handelt von dem Herrschen durch Nichtherrschen. Der
höchste Mensch, heißt es da, gebraucht sein Herz wie einen Spiegel.
Er geht den Dingen nicht nach und geht ihnen nicht entgegen. Er
spiegelt sie wider, aber er hält sie nicht fest.“
Die
formale Textgestalt des „Tschuang Tse“ ist charakterisiert durch
eine für das alte China inhaltliche und stilistische Komplexität
und poetische Kunstgriffe. Einige Passagen sind in Reimform verfasst.
Die Sprache des Werkes weist auf eine sonst nicht weiter überlieferte
Tradition hin, die wohl im Süden Chinas im Staate Song lebendig war.
Im Gegensatz zu Lao Tse kleidet Tschuang Tse seine Meinungen und
Erkenntnisse in kunstvoll formulierte Parabeln, kurze Abhandlungen zu
philosophischen Problemen und anekdotenhafte Dialoge und Erzählungen.
Dies hat zur Folge, dass die Anzahl der Wörter, denen der Status
eines Fachbegriffs zugewiesen kann, recht gering ist. Einige sind der
konfuzianischen Tradition entnommen.
Tschuang
Tse lebte in einer Zeit großer politischer und geistiger Umbrüche.
Während dieser Zeit der Streitenden Reiche kämpften verschiedene
Fürsten um die Vorherrschaft, die alten Traditionen und Riten wurden
nicht mehr mit dem vormaligen Ernst gepflegt und auch das Vertrauen
in die oberste Gottheit, den Himmel (tian) war im Schwund begriffen,
wenngleich sich Konfuzius um eine Erneuerung bemüht hatte und
Mencius den Himmel zum abstrakten obersten Prinzip der
konfuzianischen Philosophie ausbaute. Zugleich entstand eine Vielzahl
von anderen philosophischen Schulen, welche sich gegenseitig
bekämpften, weshalb man auch von der Zeit der Hundert Schulen
spricht.
Man
kann davon ausgehen, dass Formen und Ansätze, die dem taoistischen
Denken ähnlich sind, schon zur Zeit der Person Tschuang Tse's
vorhanden waren und dieser an sie anknüpfte, wenngleich das Werk
Tschuang Tse zusammen mit dem Lao Tse's die frühsten schriftlichen
Quellen darstellen.
Die
zur Zeit Tschuang Tse's wichtigste philosophische Schule war der
Konfuzianismus. Seine genauen Kenntnisse hierüber nutzte Tschuang
Tse vor allem zu scharfer und pointierter Kritik, so ersann er
humorvolle Begegnungen zwischen Konfuzius und Lao Tse, die den
Konventionalismus und Zeremonialismus der Konfuzianer als übertrieben
erscheinen lassen.
Viele
der Geschichten rühmen die Nutzlosigkeit und zeigen eine Ablehnung
konfuzianischer Selbstkultivierung. Darüber hinausgehend werden an
vielen Stellen die Konfuzianer mit ihren Regeln und Vorschriften für
den bedauernswerten Zustand der Welt verantwortlich gemacht. Die im
„Tschuang Tse“ erscheinende Zivilisations- und Kulturkritik wurde
zu einem wesentlichen Element der chinesischen Geisteswelt, und der
gepriesene Rückzug in die idyllische Natur übte auf die chinesische
Gelehrtenschicht einen starken Einfluss aus.
Tschuang
Tse lehnte dabei die kulturellen Formen, Sitten, Bräuche und
Wahrnehmungsmuster nicht grundsätzlich ab, versucht aber ihnen
gegenüber eine Biegsamkeit und Spontaneität zu erlangen, so dass er
vorgegebenen Interpretationsmustern nicht mehr ausgeliefert war. Er
sah den Fehler der Konfuzianer darin, dass diese vergessen, dass
Anstand und Sitte von ihnen selbst aufgestellt sind. Gerät der
menschliche Ursprung nämlich in Vergessenheit, so ist der einzelne
den starren Regeln des Zusammenlebens ausgeliefert, die nicht mehr
bloß einem Miteinander dienen, sondern umgekehrt den einzelnen
einschränken und ihn seiner Spontaneität berauben.
Tschuang
Tse verwies darauf, dass die Menschen vergangener Zeitalter noch
einen ursprünglichen Bezug zu Gesetz und Sitte hatten: „Im Gesetz
sahen die wahren Menschen des Altertums das Wesen der Staatsordnung,
in den Umgangsformen eine Erleichterung des Verkehrs, im Wissen die
Erfordernisse der Zeit, im geistigen Einfluss das Mittel, die
Menschen zu sich hinan zu ziehen.“
Tschuang
Tse stellte dem Ideal der Konfuzianer, dem Edlen, das des heiligen
und wahren Menschen entgegen. Dieser steht den gesellschaftlichen
Ansprüchen mit einer verfügenden Distanz gegenüber, mit jener
Leichtigkeit, welche die Menschen des Altertums noch gegenüber
Gesetz, Sitte, Wissen und Einfluss hatten, als diese noch nicht durch
die Konfuzianer zu Imperativen ausgebaut wurden.
Tschuang
Tse kritisierte jedoch nicht den Lehrer Konfuzius, der selber noch
darauf hinwies, dass es wichtig ist, sich nicht sklavisch den Regeln
zu ergeben, vielmehr der Situation und dem Kontext nach zu
entscheiden, sondern dessen Schüler, welche die lebendige Lehre des
Konfuzius zum starren Konfuzianismus verknöcherten. Zurück blieb so
in den Augen Tschuang Tse's lediglich ein leerer Formalismus, der
sein ursprüngliches Verhältnis zur eigenen Natur verloren hatte:
„Wenn
man jemand im Marktgedränge auf den Fuß tritt, so entschuldigt man
sich wegen seiner Unvorsichtigkeit. Wenn ein älterer Bruder seinem
jüngeren auf den Fuß tritt, so klopft er ihm auf die Schulter. Tun
es die Eltern, so erfolgt nichts weiter. Darum heißt es: Höchste
Höflichkeit nimmt keine besondere Rücksicht auf die Menschen;
höchste Gerechtigkeit kümmert sich nicht um Einzeldinge; höchste
Weisheit schmiedet keine Pläne; höchste Liebe kennt keine
Zuneigung.“
Tschuang
Tse machte also nicht eine Immoralität gegen Konfuzius geltend,
sondern das, was er für die wahre und ursprüngliche Moral zwischen
den Menschen hielt.
Die
Eröffnungsgeschichte des „Tschuang Tse“ handelt vom Vogel Pong
und der Wachtel. Beide Wesen sind in der Dingwelt befangen, dem
Bereich, in welchem alles der Relativität unterworfen ist:
„Der
Rücken des Pong gleicht dem Großen Berge; seine Flügel gleichen
vom Himmel herabhängenden Wolken. Im Wirbelsturm steigt er kreisend
empor, viel tausend Meilen weit bis dahin, wo Wolken und Luft zu Ende
sind und er nur noch den schwarzblauen Himmel über sich hat. Dann
macht er sich auf nach Süden und fliegt nach dem südlichen Ozean.
Eine flatternde Wachtel verlachte ihn und sprach: Wo will der hinaus?
Ich schwirre empor und durchstreiche kaum ein paar Klafter, dann lass
ich mich wieder hinab. Wenn man so im Dickicht umher flattert, so ist
das schon die höchste Leistung im Fliegen. Aber wo will der hinaus?“
Mit
großer Deutlichkeit beschreibt Tschuang Tse den höchsten Menschen.
Daher vergleicht man den großen Vogel Pong mit dem Übermenschen,
der als höchster Mensch, geistiger Mensch und berufener Heiliger
bezeichnet ist. „Großes Verständnis ist umfassend, und kleines
Verständnis ist heikel. Große Worte tragen Stärke mit sich, und
kleine Worte sind unbedeutend und zänkisch." Es wird in
anschaulicher Form darauf hingewiesen, dass das Fliegen auf dem Wind
vorhergehender Anstrengungen und Entsagungen bedarf. Aber die
Position der Unabhängigkeit von den Dingen und der Wandel im
Grenzenlosen ist eine eigene Erfahrung und lässt sich anderen
gegenüber nicht mitteilen. Sie kann dazu führen, den an sich
unbedeutenden vergänglichen Dingen des Alltags keine Beachtung mehr
zu schenken, denn man hat die Wirklichkeit der Grenzenlosigkeit von
Zeit und Raum erkannt.
Den
großen Wert, den Tschuang Tse darauf legte, die Eigenarten der
Individuen zu achten, erklärt dann auch seine Abneigung gegen
Institutionen und politische Vorschriften: Diese erheben verbindliche
und allgemeine Werte und Verhaltensnormen, die sich dann über die
individuellen Eigenarten und Bedürfnisse hinwegsetzten und die Leute
zugleich dazu auffordert, nach ihnen zu eifern. Die Bemühungen ihn
zu erreichen führen jedoch nur dazu, vom Tao abzuweichen und nicht
mehr dem Te zu entsprechen. Entsprechend ist Tschuang Tse's
Vorstellung einer Regierung auch nicht durch einen Maßnahmen- und
Gesetzeskatalog geprägt, sondern sein Ideal ist das Nicht-Handeln
(wu wei).
Was
Tschuang Tse sucht, ist eine ungebundene Ansicht, ein freies
Verhalten zu den Dingen und eine Einstellung, mit welcher sich durch
die Welt in Muße wandern lässt.
Nun
sind die Dinge und die Welt für Tschuang Tse nicht bloß vorhanden,
sondern sie sind im ewigen Wandel begriffen. Alle Dinge sind einem
stetigen Fluss unterworfen, innerhalb dessen sie sich gegenseitig
bedingen:
„Die
Ränder des Schattens fragten den Schatten und sprachen: Bald bist du
gebückt, bald bist du aufrecht; bald bist du zerzaust, bald bist du
gekämmt; bald sitzest du, bald stehst du auf; bald läufst du, bald
bleibst du stehen. Wie geht das zu? Der Schatten sprach: Alter,
Alter, wie fragt Ihr oberflächlich! Ich bin, aber weiß nicht, warum
ich bin. Ich bin wie die leere Schale der Zikade, wie die
abgestreifte Haut der Schlange. Ich sehe aus wie etwas, aber ich bin
es nicht. Im Feuerschein und bei Tag bin ich kräftig. An sonnenlosen
Orten und bei Nacht verblasse ich. Von dem andern da, dem Körper,
bin ich abhängig, ebenso wie der wieder von einem andern abhängt.
Kommt er, so komme ich mit ihm. Geht er, so gehe ich mit ihm. Ist er
stark und kraftvoll, so bin ich mit ihm stark und kraftvoll. Bin ich
stark und kraftvoll, was brauche ich dann noch zu fragen?“
„Gi
von Li war die Tochter des Grenzwarts von Ai. Als der Fürst von Dsin
sie eben erst genommen hatte, da weinte sie bitterlich, also dass die
Tränen ihr Gewand befeuchteten. Als sie aber dann zum Palast des
Königs kam und die Genossin des Königs wurde, da bereute sie ihre
Tränen.“
„Einst
träumte Tschuang Tse, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder
Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste
von Tschuang Tse. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich
und wahrhaftig Tschuang Tse. Nun weiß ich nicht, ob Tschuang Tse
geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der
Schmetterling geträumt hat, dass er Tschuang Tse sei, obwohl doch
zwischen Tschuang Tse und dem Schmetterling sicher ein Unterschied
ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.“
Die
Weisheit des heiligen Menschen besteht darin, dass dieser mögliche
Perspektiven vorübergehend einnehmen kann, ohne an sie gebunden zu
sein. Er wechselt zwischen ihnen, je nachdem wie die Situation es
nahelegt. Diese geistige Beweglichkeit kommt im Wechsel vom Menschen
zum Schmetterling zum Ausdruck. Sie vollzieht sich mit der
Leichtigkeit wie der Übergang zwischen Schlafen und Wachen.
Für
Tschuang Tse war das Tao dieser ewige Wandel der Dinge. Die Weisheit
der Heiligen besteht darin, das Tao zu erkennen und dem Wandel der
Dinge zu folgen.
Tschuang
Tse gilt als taoistischer Mystiker und hat diese Tradition stark
beeinflusst. Mit der taoistischen Tradition verbunden ist Tschuang
Tse insbesondere durch den Begriff des Heiligen. Der Heilige bei
Tschuang Tse ist verschränkt mit dem Glauben an Unsterbliche,
menschengestaltige, unsterbliche Wesen, die übernatürliche Kräfte
haben. Der Heilige erlebt eine vollkommene Freiheit vom Körper und
Freiheit im Geist. Er steht jenseits des Weltlichen. Das Universum
wird vom Heiligen bereist und durchstreift. Er ordnet sich keinen
Normen unter, und macht sich die Vielfalt ohne Grenzen zu eigen. Der
Heilige hat eine umfassende Fähigkeit der Wandlung, gleichzeitig ist
seine Identität einheitlich und einigend. Der Heilige ist frei von
Sorgen, auch politischen, moralischen oder sozialen Sorgen. Ebenso
ist er sich nicht metaphysisch im Ungewissen. Er strebt nicht nach
weltlicher Wirksamkeit, hat keine Konflikte des Inneren oder Äußeren,
leidet nicht Mangel und sucht nichts Irdisches. Frei im Geist besitzt
er eine perfekte Einheit mit sich und allem was existiert. Er ist von
vollkommener Fülle und Vollständigkeit und verfügt über eine
himmlische Dimension. Attribute, die am häufigsten dem Heiligen
zugesprochen werden sind: einzigartig, allein und echt, sowie
himmlisch, was im Gegensatz zu rein menschlich steht.
In
den ersten Kapiteln des Tschuang Tse wird der Heilige folgendermaßen
beschrieben: Er reitet auf dem Wind und auf weißen Wolken, er
unterliegt keiner Verwesung, er verbrennt im Feuer nicht und ertrinkt
im Wasser nicht, Glut und Frost berühren ihn nicht, Menschen und
Tiere können ihm nichts anhaben.
Göttliche
Menschen nehmen kein Getreide zu sich, atmen den Wind ein, trinken
Tau, göttliche Menschen fliegen auf Wolken und auf der Luft, sie
reiten auf fliegenden Drachen und können jenseits der Meere wandeln.
Angespielt
wird auch auf ein weiteres Charakteristikum des Taoismus, den
mystischen Flug. Das Buch beginnt mit dem Flug des riesigen Phönix,
was darauf hindeutet, dass es sich bei diesem Flug um ein Thema von
Bedeutung und einen Hinweis auf Tschuang Tse's Intention handelt. In
mehreren Textpassagen fallen Tschuang Tse's Figuren in einen
ekstatischen Zustand und lassen ihren Körper zurück, wie totes
Holz, und ihr Herz, das auch als Geist und Intellekt gilt, wie
erloschene Asche.
Tschuang
Tse sieht es als wichtig an, die schon von Lao Tse betonte Ruhe,
Stille und Gedankenfreiheit zu verwirklichen. So wird das Sitzen in
Selbstvergessenheit geübt, die Meditation. Da werden Körper und
Gliedmaßen aufgegeben, die Wahrnehmungsschärfe verworfen, die
eigene Gestalt verlassen, das Wissen aufgegeben und eine
Identifikation mit dem allumfassend Großen vorgenommen. Andere
Lehren sind das Fasten des Herz-Geistes und des Spiegels des Herzens,
der die ganze Welt spiegelt, rein und unverzerrt, in ihrer
vollkommenen Totalität. Der Begriff des Fastens des Herzens wird mit
dem Begriff: Das Eine bewahren, verbunden, der aus dem Tao Te King
stammt. Das Eine bewahren, das bezeichnet verschiedene
Meditationsübungen und gilt als Schlüsselbegriff des Taoismus. Der
Körper muss ruhig sein und das Denken eine Einheit bilden, woraufhin
man die himmlische Harmonie erlangt. Man soll das Wissen sammeln und
das Tun soll auf das Eine ausgerichtet sein, damit die seligen
Geister zur Wohnung kommen. Der ruhige Körper bedeutet einen in der
richtigen Meditationshaltung sich befindenden Körper und die seligen
Geister beziehen sich auf Erscheinungen von Göttlichem in der
Meditationskammer. Die taoistische Meditation ist eine innere
Sammlung und dient dazu, sich der äußeren Welt gegenüber
abzuschließen. Sie dient dem Rückzug und dem Bruch mit der Welt der
Sinne. Die Meditation gilt als Vorbereitung für eine Ausdehnung, die
ohne Trennung von Innen und Außen ist. Dies bringt den Heiligen
hervor, der sich in dieser Ausdehnung bewegt. Die Welt des
Individuums wird als begrenzt verstanden durch sinnliche
Wahrnehmungen und Gedanken. Das sich Verschließen gegenüber der
Welt der Sinne wird verstanden als Öffnung zum Himmel, der die
Einheit ist.
„Meister
Ki sprach: Die große Natur stößt ihren Atem aus, man nennt ihn
Wind. Jetzt eben bläst er nicht; bläst er aber, so ertönen heftig
alle Löcher. Hast du noch nie dieses Brausen vernommen? Der
Bergwälder steile Hänge, uralter Bäume Höhlungen und Löcher: sie
sind wie Nasen, wie Mäuler, wie Ohren, wie Dachgestühl, wie Ringe,
wie Mörser, wie Pfützen, wie Wasserlachen. Da zischt es, da
schwirrt es, da schilpt es, da schnauft es, da ruft es, da klagt es,
da dröhnt es, da kracht es. Der Anlaut klingt schrill, ihm folgen
keuchende Töne. Wenn der Wind sanft weht, gibt es leise Harmonien;
wenn ein Wirbelsturm sich erhebt, so gibt es starke Harmonien. Wenn
dann der grause Sturm sich legt, so stehen alle Öffnungen leer. Hast
du noch nie gesehen, wie dann alles leise zittert und bebt? Der
Jünger sprach: Der Erde Orgelspiel kommt also einfach aus den
verschiedenen Öffnungen, wie der Menschen Orgelspiel aus gereihten
Röhren kommt.“
„Im
Schlaf pflegt die Seele Verkehr. Im Wachen öffnet sich das
körperliche Leben wieder und beschäftigt sich mit dem, was ihm
begegnet, und die widerstreitenden Gefühle erheben sich täglich im
Herzen. Die Menschen sind verstrickt, hinterlistig, verborgen. Lust
und Zorn, Trauer und Freude, Sorgen und Seufzer, Unbeständigkeit und
Zögern, Genußsucht und Unmäßigkeit, Hingabe an die Welt und
Hochmut entstehen wie die Töne in hohlen Röhren, wie feuchte Wärme
Pilze erzeugt. Tag und Nacht lösen sie einander ab und tauchen auf,
ohne dass die Menschen erkennen, woher sie kommen.“
Der
Mensch erleidet nur, was ihm widerfährt, kann sich dazu aber nicht
schöpferisch verhalten. Diesem bedauernswerten Zustand der
gewöhnlichen Menschen stellt Tschuang Tse den Heiligen entgegen.
Indem dieser sein Ego ablegt, also seine Eigenarten, welche den
Dingen der Außenwelt eine Angriffsfläche bieten, kommt er zur
Stille und Gedankenleere:
„Meister
Ki von Südweiler saß, den Kopf in den Händen, über seinen Tisch
gebeugt da. Er blickte zum Himmel auf und atmete, abwesend, als hätte
er die Welt um sich verloren. Ein Schüler von ihm, der dienend vor
ihm stand, sprach: Was geht hier vor? Kann man wirklich den Leib
erstarren machen wie dürres Holz und alle Gedanken auslöschen wie
tote Asche? Ihr seid so anders, Meister, als ich Euch sonst über
Euren Tisch gebeugt erblickte. Meister Ki sprach: Es ist ganz gut,
dass du fragst. Heute habe ich mein Ich begraben. Weißt du, was das
heißt? Du hast vielleicht der Menschen Orgelspiel gehört, allein
der Erde Orgelspiel noch nicht vernommen. Du hast vielleicht der Erde
Orgelspiel gehört, allein des Himmels Orgelspiel noch nicht
vernommen.“
Frei
von allen irdischen Dingen übertrifft der Heilige auch das Ideal der
konfuzianischen Philosophie, den Edlen, der die Tugenden der Güte,
Gerechtigkeit, die höflichen Umgangsformen beherrscht, wie das
fiktive Gespräch zwischen Konfuzius und seinem Lieblingsschüler Yen
Hui zeigt:
„Yen
Hui sprach: Ich bin vorangekommen. Kung Tse sprach: Was meinst du
damit? Yen Hui sagte: Ich habe Güte und Gerechtigkeit vergessen.
Kung Tse sprach: Das geht an, doch ist es noch nicht das Höchste. -
An einem andern Tag trat er wieder vor ihn und sprach: Ich bin
vorangekommen. Kung Tse sprach: Was meinst du damit? Er sprach: Ich
habe Umgangsformen und Musik vergessen. Kung Tse sprach: Das geht an,
doch ist es noch nicht das Höchste. - An einem andern Tag trat er
wieder vor ihn und sprach: Ich bin vorangekommen. Kung Tse sprach:
Was meinst du damit? Er sagte: Ich bin zur Ruhe gekommen und habe
alles vergessen. Kung Tse sprach bewegt: Was meinst du damit, dass du
zur Ruhe gekommen bist und alles vergessen hast? Yen Hui sprach: Ich
habe meinen Leib zurück gelassen, ich habe abgetan meine Erkenntnis.
Fern vom Leib und frei vom Wissen bin ich Eins geworden mit Dem, der
alles durchdringt. Das meine ich damit, dass ich zur Ruhe gekommen
bin und alles vergessen habe. Kung Tse sprach: Wenn du diese Einheit
erreicht hast, so bist du frei von aller Begierde; wenn du dich so
verwandelt hast, so bist du frei von allen Gesetzen und bist weit
besser als ich, und ich bitte nur, dass ich dir nachfolgen darf.“
Es
geht aber nicht ausschließlich darum, abgeschieden von der Welt das
Seelenheil zu suchen und in diesem Zustand zu verharren, sondern nach
Zeiten des Rückzugs auch wieder in die Lebenswelt und
Angelegenheiten des menschlichen Handelns zu treten und dort durch
Einheit mit dem Tao einen natürlichen und freien Umgang mit Menschen
und Dingen zu verwirklichen. Dieser Zustand wird erreicht durch das
Abwerfen des Selbst und das Fasten des Geistes.
Der
Mensch kann den Zustand des Heiligen erreichen durch das Fasten des
Geistes oder auch des innersten Selbst. Der Fastende enthält sich
dabei seiner Talente und seines Geschicks, denn es ist gefährlich
für ihn: Der Zimtbaum wird gefällt, das schöne Fell von Füchsen
und Leoparden ist ihr Verderbnis. Er enthält sich der Sinnesfreuden,
denn sie vernebeln den Geist und beunruhigen das Herz. Ebenso gibt
sich der Weise keinen starken Gefühlsausbrüchen hin: Selbst dem
Tode des großen Meisters Lao Tse steht er mit Gelassenheit
gegenüber. Auch zu großes Wissen führt die Welt ins Chaos: Der
grübelnde Geist erfindet den Bogen, welcher die Vögel verjagt, er
übt sich in der Rhetorik, welche in großen Reden dann das
natürliche Verständnis in Verwirrung stürzt. Auch moralisches und
unmoralisches Verhalten fastet der Weise gleichermaßen in die
Unbedeutsamkeit, denn beide führen die menschlichen Verhältnisse in
unlösbare Verstrickung.
Als
Grund für die widerstreitenden Leidenschaften und Ansichten erweist
sich, dass sich die gewöhnlichen Menschen allein an die dingliche
Welt halten, an das was ist oder was nicht ist. Für Tschuang Tse
hingegen geht alles Sein und Nicht-Sein erst aus einem
Noch-nicht-Sein hervor.
Dieses
Noch-nicht-sein, welches der Ursprung aller Dinge ist, unterscheidet
Tschuang Tse dabei sowohl vom Sein als auch vom Nichtsein. Dies
daher, da das Nichtsein bloß vom Sein her vorgestellt wird, indem
nämlich das Sein negiert wird. Das Noch-nicht-Sein hingegen entzieht
sich jeder Darstellung, da es gerade nicht als ein Negiertes
vorgestellt werden kann. Dabei ist es das Noch-nicht-Sein, welches
erst die Gegensätze nährt. Eine Auffassung, die sich an das Tao Te
King anlehnt: „Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe:
auf dem Nichts daran beruht des Wagens Brauchbarkeit.“
Erst
dem Noch-nicht-Sein entspringen die für unsere Lebensführung
wichtigen Gegensätze von Sein und Nichtsein, die sich ausprägen als
Leben und Tod, Gutes und Böses, Erfolg und Scheitern. Je mehr man
sich jedoch an eines dieser Extreme klammert, umso stärker tritt das
andere in den Vordergrund. Nicht nur aber was das Streben des
Menschen betrifft, sondern auch was sein Verständnis der Welt
angeht, so ist der Standpunkt von Sein oder Nichtsein zu vermeiden,
denn erst auf dieser Ebene entstehen die Widersprüche.
Allein
durch den Rückzug aus dem Standpunkt des Seins und des Nichtseins
und den sich in ihnen ergebenden Gegensätzen, welche einen stets
hin- und herwerfen, gelangt man zum ursprünglichen, vorausgehenden
Standpunkt des Noch-nicht-Seins.
Nun
führt jedoch das Fasten des Geistes keineswegs zu einer passiven
Untätigkeit. Denn erst mit einem freien Selbst, das sich nicht an
Sein und Nichtsein klammert, kann man dem entsprechen, was die
Verhältnisse verlangen: Jeder Vorfall hat seine ihm angemessene
Weise zu handeln, die sich nicht auf die eigenen Wünsche zurück
beziehen lässt oder ihr Maß aus allgemeinen Regeln beziehen könnte.
Diese Erkenntnis weist auf den innersten Widerspruch des Lebens
selbst: Damit man die Welt so nehmen kann, wie sie ist, muss man
zunächst frei von ihr sein. Das Fasten des Geistes wird somit zu
einer ersten Bedingung, um gänzlich in die Welt zu treten und dem
ewigen Wandel der Dinge frei zu folgen und zu entsprechen.
So
verwandelt, sind es nicht mehr einzelne Dinge, an welche sich das
Herz hängt. Der Geist ist kein absichtlicher, der sich auf Einzelnes
richtet. Das wahre Selbst des Menschen ist also nicht die Summe
unserer Wünsche und der absichtlich erfassten Gegenstände, es wird
nicht durch die Außenwelt geprägt, sondern es liegt jenseits von
diesen von außen an den Menschen herantretenden Bedürfnisse. Glück
ist für Tschuang Tse daher der Zustand, in dem wir zu unserem wahren
Selbst zurückkehren. Dies zu erreichen, ist eine der Aufgaben des
Lebens, als Mittel hierzu dient das Fasten des Geistes. Erreicht man
dieses Glück, so weiß man dies von sich aus: Es ist ein Zustand, in
dem weder Kummer einen bedrückt, noch Freude einen überschwänglich
werden lässt, sondern Kummer und Freude sind gleichermaßen so, wie
sie sind, sie sind einfach da. Wer auf diese Weise das
hungrig-begierige Selbst überwindet, der hat seine vom Himmel
geschenkte Natur erlangt. Er wird nicht danach trachten, den Lauf der
Dinge durch absichtliche Eingriffe seinen Vorstellungen zu
unterwerfen oder ihn zu beschleunigen, sondern ist ein Gefährte des
Himmels.
Hat
man gefastet im Geist und das Reich von Entweder-Oder überwunden,
Leidenschaften und Wünsche abgelegt, dann passt man in die Welt,
wobei dies auch die Bedeutungen von Leichtigkeit und Glück hat:
„Wenn
man die richtigen Schuhe hat, so vergißt man seine Füße; wenn man
den richtigen Gürtel hat, vergißt man die Hüften. Wenn man in
seiner Erkenntnis alles Für und Wider vergißt, dann hat man das
richtige Herz; wenn man in seinem Innern nicht mehr schwankt und sich
nicht nach andern richtet, dann hat man die Fähigkeit, richtig mit
den Dingen umzugehen. Wenn man erst einmal so weit ist, dass man das
Richtige trifft und niemals das Richtige verfehlt, dann hat man das
richtige Vergessen dessen, was richtig ist.“
„Der
Wissende nämlich spricht nicht, der Sprechende weiß nicht.“
Das
Tao ist nicht auszusprechen, denn sagen lässt sich immer nur über
die Dinge, die sind. Da das Tao aber kein Ding ist, kann nicht
unvermittelt von ihm gesprochen werden, es kann nur darüber
gesprochen werden, dass nicht über es gesprochen werden kann.
„Himmel
und Erde entstehen mit mir zugleich, und alle Dinge sind mit mir
eins. Da sie nun Eins sind, kann es nicht noch außerdem ein Wort
dafür geben; da sie aber andererseits als Eins bezeichnet werden, so
muß es noch außerdem ein Wort dafür geben. Das Eine und das Wort
sind zwei; zwei und eins sind drei. Von da kann man fortmachen, dass
auch der geschickteste Rechner nicht folgen kann, wieviel weniger die
Masse der Menschen! Wenn man nun schon vom Nichtsein aus das Sein
erreicht bis zu drei, wohin kommt man dann erst, wenn man vom Sein
aus das Sein erreichen will! Man erreicht nichts damit. Darum genug
davon!“
„Auf
der ganzen Welt gibt es nichts Größeres als die Spitze eines
Flaumhaares, und: Der Große Berg ist klein. Es gibt nichts, das ein
höheres Alter hätte als ein totgeborenes Kind, und: Der alte
Großvater Pong, der sechshundert Jahre gelebt hat, ist in frühester
Jugend gestorben.“
Das
Ziel solcher Passagen liegt darin, durch die Unmöglichkeit und
Unsinnigkeit dieser Aussagen und des Kopfzerbrechens darüber den
Relativismus zu überwinden. Der Relativismus wird nur durch das
Anschmiegen an den Wandel der Dinge, an das Tao, überwunden, was
sich in verschiedenen Stufen vollzieht:
„Es
ist leicht, das Tao des Berufenen einem Manne kundzutun, der die
entsprechende Begabung hat. Wenn ich ihn bei mir hätte zur
Belehrung, nach drei Tagen sollte er so weit sein, die Welt
überwunden zu haben. Nachdem er die Welt überwunden, wollte ich ihn
in sieben Tagen so weit bringen, dass er außerhalb des Gegensatzes
von Subjekt und Objekt stünde. Nach abermals neun Tagen wollte ich
ihn so weit bringen, dass er das Leben überwunden hätte. Nach
Überwindung des Lebens könnte er klar sein wie der Morgen, und in
dieser Morgenklarheit könnte er das Eine sehen. Wenn er das Eine
erblickte, so gäbe es für ihn keine Vergangenheit und Gegenwart
mehr; jenseits der Zeit könnte er eingehen in das Gebiet, wo es
keinen Tod und keine Geburt mehr gibt.“
Leben
und Tod waren für Tschuang Tse wie zwei Welten, zwischen denen es
kein Fenster gibt, durch welches man von der einen in die andere
schauen könnte. Daher lässt sich auch nicht sagen, welche von
beiden vorzuziehen ist, ein Kopfzerbrechen hierüber führt zu
nichts. Eine humorvoll erkünstelte Geschichte spielt die
Andersartigkeit der beiden Welten durch:
„Tschuang
Tse sah einst unterwegs einen leeren Totenschädel, der zwar
gebleicht war, aber seine Form noch hatte. Er tippte ihn an mit
seiner Reitpeitsche und begann also ihn zu fragen: Bist du in der
Gier nach Leben von dem Pfade der Vernunft abgewichen, dass du in
diese Lage kamst? Oder hast du ein Reich zugrunde gerichtet und bist
mit Beil oder Axt hingerichtet worden, dass du in diese Lage kamst?
Oder hast du einen üblen Wandel geführt und Schande gebracht über
Vater und Mutter, Weib und Kind, dass du in diese Lage kamst? Oder
bist du durch Kälte und Hunger zugrunde gegangen, dass du in diese
Lage kamst? Oder bist du, nachdem des Lebens Lenz und Herbst sich
geendet, in diese Lage gekommen? Als er diese Worte gesprochen hatte,
nahm er den Schädel zum Kissen und schlief. Um Mitternacht erschien
ihm der Schädel im Traum und sprach: Du hast da geredet wie ein
Schwätzer. Alles, was du erwähnst, sind nur Sorgen der lebenden
Menschen. Im Tode gibt es nichts derart. Möchtest du etwas vom Tode
reden hören? Tschuang Tse sprach: Ja. Der Schädel sprach: Im Tode
gibt es weder Fürsten noch Knechte und nicht den Wechsel der
Jahreszeiten. Wir lassen uns treiben, und unser Lenz und Herbst sind
die Bewegungen von Himmel und Erde. Selbst das Glück eines Königs
auf dem Throne kommt dem unseren nicht gleich. Tschuang Tse glaubte
ihm nicht und sprach: Wenn ich den Herrn des Schicksals vermöchte,
dass er deinen Leib wieder zum Leben erweckt, dass er dir wieder
Fleisch und Bein und Haut und Muskeln gibt, dass er dir Vater und
Mutter, Weib und Kind und alle Nachbarn und Bekannten zurückgibt,
wärst du damit einverstanden? Der Schädel starrte mit weiten
Augenhöhlen, runzelte die Stirn und sprach: Wie könnte ich mein
königliches Glück wegwerfen, um wieder die Mühen der Menschenwelt
auf mich zu nehmen?“
Über
den Tod seiner Frau lässt eine Geschichte den Tschuang Tse sagen:
„Als ich mich darüber besann, von wo sie gekommen war, da erkannte
ich, dass ihr Ursprung jenseits der Geburt liegt; ja nicht nur
jenseits der Geburt, sondern jenseits der Leiblichkeit; ja nicht nur
jenseits der Leiblichkeit, sondern jenseits der Chi. Da entstand eine
Mischung im Unfaßbaren und Unsichtbaren, und es wandelte sich und
hatte Chi; das Chi verwandelte sich und hatte Leiblichkeit; die
Leiblichkeit verwandelte sich und kam zur Geburt. Nun trat abermals
eine Verwandlung ein, und es kam zum Tod. Diese Vorgänge folgen
einander wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter, als der Kreislauf
der vier Jahreszeiten. Und nun sie da liegt und schlummert in der
großen Kammer, wie sollte ich da mit Seufzen und Klagen sie
beweinen? Das hieße das Schicksal nicht verstehen. Darum lasse ich
ab davon.“
Entsprechend
gelassen sah Tschuang Tse auch seine eigene Beerdigung, welche
Gleichgültigkeit den Konfuzianern mit ihren strengen
Bestattungsriten ein Dorn im Auge sein musste. „Die wahren Menschen
der Vorzeit kannten nicht die Lust an der Geburt und nicht den
Abscheu vor dem Sterben. Gelassen gingen sie, gelassen kamen sie.“
Eines der letzten Kapitel erzählt vom Tod des Tschuang Tse:
„Tschuang
Tse lag im Sterben, und seine Jünger wollten ihn prächtig
bestatten. Tschuang Tse sprach: Himmel und Erde sind mein Sarg, Sonne
und Mond leuchten mir als Totenlampen, die Sterne sind meine Perlen
und Edelsteine, und die ganze Schöpfung gibt mir das Trauergeleit.
So habe ich doch ein prächtiges Begräbnis! Was wollt ihr da noch
hinzufügen? Die Jünger sprachen: Wir fürchten, die Krähen und
Weihen möchten den Meister fressen. Tschuang Tse sprach: Unbeerdigt
diene ich Krähen und Weihen zur Nahrung, beerdigt den Würmern und
Ameisen. Den einen es nehmen, um es den andern zu geben: warum so
parteiisch sein?“
Vom
Himmel haben Menschen und Dinge ihre Form oder Gestalt. Das
wichtigste Zitat hierzu stammt aus einem der bekanntesten Bücher des
„Tschuang Tsei“, den „Herbstfluten“:
„Dass
Ochsen und Pferde vier Beine haben, das heißt ihre himmlische Natur.
Den Pferden die Köpfe zu zügeln und den Ochsen die Nasen zu
durchbohren, das heißt menschliche Beeinflussung.“
Der
Himmel ist so etwas wie die Natur der Dinge. Für den Menschen steht
die Möglichkeit offen, dem Weg des Himmels zu folgen oder aber dem
Weg des Menschen. Da davon ausgegangen wird, dass die Welt in ihrem
Lauf auch ohne den Menschen geschieht, werden Eingriffe in die Natur
und die natürliche Einstellung des Menschen als überflüssig
angesehen: „Schwimmhäute zwischen den Zehen und ein sechster
Finger an der Hand sind Bildungen, die über die Natur hinausgehen
und für das eigentliche Leben überflüssig sind.“
Tschuang
Tse fragt, wie es dem Menschen möglich sei, ein Leben so zu führen,
dass es das Verhältnis von Himmel und Mensch nicht ins
Ungleichgewicht bringt. Dazu muss zuvorderst zwischen beiden
unterschieden werden können: „Das Wirken des Himmels zu kennen,
und zu erkennen, in welcher Beziehung das menschliche Wirken dazu
stehen muss: das ist das Ziel.“ Da aber alle Erkenntnis sich auf
Äußeres bezieht, ergibt sich ein Problem: „Doch liegt hier eine
Schwierigkeit vor. Die Erkenntnis ist abhängig von etwas, das außer
ihr liegt, um sich als richtig zu erweisen. Da nun gerade das, wovon
sie abhängig ist, ungewiss ist, wie kann ich da wissen, ob das, was
ich Himmel nenne, nicht der Mensch ist, ob das, was ich menschlich
nenne, nicht in Wirklichkeit der Himmel ist?“ Tschuang Tse verweist
auf das Innere des Menschen, seine himmlische Natur, welche ihn den
richtigen Weg erkennen lässt: „Es bedarf eben des wahren Menschen,
damit es wahre Erkenntnis geben kann.“ Diese wahren Menschen
zeichnen sich folgendermaßen aus: „Die wahren Menschen des
Altertums scheuten sich nicht davor, wenn sie mit ihrer Erkenntnis
allein blieben. Sie vollbrachten keine Heldentaten, sie schmiedeten
keine Pläne. Die wahren Menschen des Altertums hatten während des
Schlafens keine Träume und beim Erwachen keine Angst. Ihre Speise
war einfach, ihr Atem tief. Die wahren Menschen der Vorzeit kannten
nicht die Lust an der Geburt und nicht den Abscheu vor dem Sterben.
Dadurch erreichten sie es, dass ihr Herz fest wurde, ihr Antlitz
unbewegt und ihre Stirn einfach heiter.“
Ist
durch diese Lebenshaltung der Weg des Himmels erkannt, so kann der
wahre Mensch ihm folgen, ohne ihn zu verletzen. Er handelt ohne
einzugreifen, sein Handeln ist „ohne Tun“: Wu wei.
Während
für Konfuzius erst der gesellschaftliche Einsatz des Menschen die
Ordnung der Welt garantieren konnte, sieht Tschuang Tse gerade in den
von den Weisen aufgestellten Regeln die Ursache für die Unruhe und
das Ungleichgewicht. Deshalb heißt es:
„Ich
weiß davon, dass man die Welt leben und gewähren lassen soll. Ich
weiß nichts davon, dass man die Welt ordnen soll. Sie leben lassen,
das heißt, besorgt sein, dass die Welt nicht ihre Natur verdreht;
sie gewähren lassen, das heißt, besorgt sein, dass die Welt nicht
abweicht von ihrem wahren Te. Wenn die Welt ihre Natur nicht verdreht
und nicht abweicht von ihrem wahren Te, so ist damit die Ordnung der
Welt schon erreicht.“
Die
Welt muss nicht erst eingerichtet werden, so dass der Mensch in ihr
wohnen kann. Tschuang Tse verweist auf einen natürlichen Urzustand:
„Im
goldenen Zeitalter, da saßen die Leute umher und wußten nicht, was
tun; sie gingen und wußten nicht, wohin; sie hatten den Mund voll
Essen und waren glücklich, klopften sich den Leib und gingen
spazieren. Darin bestand die ganze Fähigkeit der Leute, bis dann die
Weisen kamen und Umgangsformen und Musik zurechtzimmerten, um das
Benehmen der Welt zu regeln, ihnen Moralvorschriften aufhingen und
sie danach springen ließen.“
„Darum,
wenn ein großer Mann gezwungen ist, sich mit der Regierung der Welt
abzugeben, so ist am besten das Nicht-Handeln. Durch Nicht-Handeln
kommt man zum ruhigen Abfinden mit den Verhältnissen der
Naturordnung.“ Dabei meint das Nicht-Handeln nicht, dass man gar
nichts tun soll. Vielmehr bezieht es sich darauf, nicht in das Walten
des Tao einzugreifen, das von sich aus die Welt im geordneten Fluss
hält. Die Haltung des Wu Wei wird anhand von drei Hauptpunkten
verdeutlicht:
„Tse
Gung war im Staate Tschu gewandert und nach dem Staate Dsin
zurückgekehrt. Als er durch die Gegend nördlich des Han-Flusses
kam, sah er einen alten Mann, der in seinem Gemüsegarten beschäftigt
war. Er hatte Gräben gezogen zur Bewässerung. Er stieg selbst in
den Brunnen hinunter und brachte in seinen Armen ein Gefäß voll
Wasser herauf, das er ausgoss. Er mühte sich aufs äußerste ab und
brachte doch wenig zustande. Tse Gung sprach: Da gibt es eine
Einrichtung, mit der man an einem Tag hundert Gräben bewässern
kann. Mit wenig Mühe wird viel erreicht. Möchtet Ihr die nicht
anwenden? Der Gärtner richtete sich auf, sah ihn an und sprach: Und
was wäre das? Tse Gung sprach: Man nimmt einen hölzernen Hebelarm,
der hinten beschwert und vorn leicht ist. Auf diese Weise kann man
das Wasser schöpfen, dass es nur so sprudelt. Man nennt das einen
Ziehbrunnen. Da stieg dem Alten der Ärger ins Gesicht, und er sagte
lachend: Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen
benützt, so betreibt er all seine Geschäfte maschinenmäßig; wer
seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein
Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat,
dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin
ist, der wird ungewiss in den Regungen seines Geistes. Ungewissheit
in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren Tao
nicht verträgt. Nicht dass ich solche Dinge nicht kennen würde:
aber ich schäme mich, sie anzuwenden.“
„Der
Sumpffasan muß zehn Schritte gehen, ehe er einen Bissen Nahrung
findet, und hundert Schritte, ehe er einmal trinkt; aber er begehrt
nicht darnach, in einem Käfig gehalten zu werden. Obwohl er dort
alles hätte, was sein Herz begehrt, gefällt es ihm doch nicht.“
„Gien
Wu besuchte Dsie Yü, den Narren. Dsie Yü, der Narr, sprach: Was hat
Mittagsanfang mit dir gesprochen? Gien Wu sprach: Er hat mir gesagt,
dass, wenn ein Fürst in seiner eigenen Person die Richtlinien zeigt
und durch den Maßstab der Gerechtigkeit die Menschen regelt, niemand
es wagen wird, Gehorsam und Besserung zu verweigern. Dsie Yü, der
Narr, sprach: Das ist der Geist des Betrugs. Wer auf diese Weise die
Welt ordnen wollte, der gleicht einem Menschen, der das Meer
durchwaten oder dem Gelben Fluß ein Bett graben wollte und einer
Mücke einen Berg aufladen würde. Die Ordnung des Berufenen: ist das
etwa eine Ordnung der äußeren Dinge? Es ist recht, und dann geht
es, dass wirklich jeder seine Arbeit versteht. Der Vogel fliegt hoch
in die Lüfte, um dem Pfeil des Schützen zu entgehen. Die Spitzmaus
gräbt sich tief in die Erde, um der Gefahr zu entgehen, geräuchert
oder ausgegraben zu werden. Sollten die Menschen weniger Mittel haben
als die unvernünftige Kreatur, um sich äußerem Zwang zu
entziehen?“
Die
Haltung des Wu Wei zeigt sich jedoch nicht nur anhand eines milden
und trotzdem schirmenden Herrschens oder im Unterlassen umfassender
Eingriffe in den Weg des Himmels, sondern auch in den alltäglichen
praktischen Dingen des Lebens. Dies verdeutlicht die Geschichte des
Kochs Pong, in welcher die Anschmiegsamkeit an die Dinge und die Welt
verdeutlicht wird:
„Der
Koch legte Hand an, drückte mit der Schulter, setzte den Fuß auf,
stemmte die Knie an: ritsch! ratsch! trennte sich die Haut, und
zischend fuhr das Messer durch die Fleischstücke. Alles ging wie im
Takt eines Tanzliedes, und er traf immer genau zwischen die Gelenke.
Zum Fürsten sprach der Koch darüber: Als ich anfing, Rinder zu
zerlegen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte
ich es soweit gebracht, dass ich die Rinder nicht mehr ungeteilt vor
mir sah. Heutzutage verlasse ich mich ganz auf den Geist und nicht
mehr auf den Augenschein. Ich folge den natürlichen Linien nach,
dringe ein in die großen Spalten und fahre den großen Höhlungen
entlang. Ich verlasse mich auf die anatomischen Gesetze. Geschickt
folge ich auch den kleinsten Zwischenräumen zwischen Muskeln und
Sehnen. Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er
schneidet. Ein stümperhafter Koch muß das Messer alle Monate
wechseln, weil er hackt.“
Die
Frage der Zeit bestand darin, wie die zwischenmenschlichen
Beziehungen in Ordnung zu halten sind, also in der Frage der Moral.
Während die Konfuzianer für eine strenge Einhaltung der Moral
kämpften und die Fügung des Einzelnen unter die Gruppe, betont
Tschuang Tse, dass moralische Regeln lediglich menschengemacht sind.
Sie sind nur notwendig, weil die Menschen von ihrer ursprünglichen
und friedlichen Natur abweichen. Allerdings führen sie nicht zu
einem neuen geordneten Zustand, sondern stürzen die
zwischenmenschlichen in nur noch weitere Verstrickungen, und die
Menschen fallen vom Tao ab, sie vergessen den Weg des Himmels.
Selbst
wenn es allerdings gelingen sollte, die Einhaltung aller Regeln
politisch durchzusetzen, so ist damit noch nicht gewonnen, denn
gerade nun droht die Gefahr des Missbrauchs:
„Sich
gegen Diebe, die Kisten aufbrechen, Taschen durchsuchen, Kasten
aufreißen, dadurch zu sichern, dass man Stricke und Seile darum
schlingt, Riegel und Schlösser befestigt, das ist es, was die Welt
Klugheit nennt. Wenn nun aber ein großer Dieb kommt, so nimmt er den
Kasten auf den Rücken, die Kiste unter den Arm, die Tasche über die
Schulter und läuft davon, nur besorgt darum, dass auch die Stricke
und Schlösser sicher festhalten.“
„Wenn
einer eine Spange stiehlt, so wird er hingerichtet. Wenn einer ein
Reich stiehlt, so wird er Fürst!“
Als
Grund für die räuberischen Fürsten und die nie endenden
moralischen Verstrickungen sieht Tschuang Tse die Lehren der Weisen
und Gelehrten an:
„Jede
Ursache hat ihre Wirkung: Sind die Lippen fort, so sind die Zähne
kalt. Weil der Wein von Lu zu dünn war, wurde Han Dan belagert.
Ebenso: wenn Weise geboren werden, so erheben sich die großen
Räuber. Darum muß man die Weisen vertreiben und die Räuber sich
selbst überlassen; dann erst wird die Welt in Ordnung kommen.“
Tschuang
Tse unterhält sich mit Hui Shi, einem Hauptvertreter der
Sophistenschule:
„Tschuang
Tse einst mit Hui Shi spazieren am Ufer eines Flusses. Tschuang Tse
sprach: Wie lustig die Forellen aus dem Wasser herausspringen! Das
ist die Freude der Fische. Hui Shi sprach: Ihr seid kein Fisch, wie
wollt Ihr denn die Freude der Fische kennen? Tschuang Tse sprach: Ihr
seid nicht ich, wie könnt Ihr da wissen, dass ich die Freude der
Fische nicht kenne? Hui Shi sprach: Ich bin nicht Ihr, so kann ich
Euch allerdings nicht erkennen. Nun seid Ihr aber sicher kein Fisch,
und so ist es klar, dass Ihr nicht die Freude der Fische kennt.
Tschuang Tse sprach: Bitte laßt uns zum Ausgangspunkt zurückkehren!
Ihr habt gesagt: Wie könnt Ihr denn die Freude der Fische erkennen?
Dabei wußtet Ihr ganz gut, dass ich sie kenne, und fragtet mich
dennoch. Ich erkenne die Freude der Fische aus meiner Freude beim
Wandern am Fluß.“
Die
Welt ist immer schon so wie sie ist offenbar: Die Freude der Fische
bedarf keiner Erklärung, keiner Rückführung auf einen Grund,
welcher die Wahrheit versichert. Alle nachträglichen Versuche, sie
diskursiv und argumentativ zu begründen, müssen scheitern, denn es
gibt nichts, was zur Erkenntnis über die Freude der Fische
hinzutreten könnte und diese so noch offenbarer machen könnte.
Unsinnig hingegen ist es, das Offenbare abzulehnen und dann nach
etwas anderem zu fragen, was dieses begründen könnte.
„Angenommen,
ich disputierte mit dir; du besiegst mich, und ich besiege dich
nicht. Hast du nun wirklich recht? Hab ich nun wirklich unrecht? Oder
aber ich besiege dich, und du besiegst mich nicht. Habe ich nun
wirklich recht und du wirklich unrecht? Hat einer von uns recht und
einer unrecht, oder haben wir beide recht oder beide unrecht? Ich und
du, wir können das nicht wissen. Wenn die Menschen aber in einer
solchen Unklarheit sind, wen sollen sie rufen, um zu entscheiden?
Sollen wir einen holen, der mit dir übereinstimmt, um zu
entscheiden? Da er doch mit dir übereinstimmt, wie kann er
entscheiden? Oder sollen wir einen holen, der mit mir übereinstimmt?
Da er doch mit mir übereinstimmt, wie kann er entscheiden? Sollen
wir einen holen, der von uns beiden abweicht, um zu entscheiden? Da
er doch von uns beiden abweicht, wie kann er entscheiden?“
„Der
Berufene hat die Wahrheit als innere Überzeugung, die Menschen der
Masse suchen sie zu beweisen, um sie einander zu zeigen.“ Der
Wille, sich gegenseitig zu überzeugen oder den anderen argumentativ
auszustechen, ist schon in den Einzelegoismen verwurzelt. Das Tao
selbst bedarf nicht des Beweises, denn so wie große Liebe nicht
liebevoll ist, weil sie alles umfasst, ist alles im Tao inbegriffen.
Selbst keine Eigenschaft von etwas, lässt es sich aber sprachlich
nicht fassen und daher heißt es: „Sucht man mit Worten zu
beweisen, so erreicht man nichts.“
Mit
der ersten vollständigen Übersetzung ins Deutsche durch Richard
Wilhelm traf das Werk im intellektuellen Deutschland des frühen 20.
Jahrhunderts auf großes Interesse. Karl Jaspers sah in Tschuang Tse
einen der beeindruckendsten chinesischen Denker: „Die
bewunderungswürdige Erfindungsgabe Tschuang Tse's, seine
eindringenden Gedanken über die Welt und Wirklichkeit, über
Sprache, über die mannigfachen psychologischen Zustände, sein
Reichtum machen ihn zu einem der interessantesten chinesischen
Autoren.“ Auch Hermann Hesse hat in seiner Auseinandersetzung mit
asiatischer Philosophie und Literatur Bewunderung für Tschuang Tse
empfunden: „Von allen Büchern chinesischer Denker, die ich kenne,
hat dieses am meisten Reiz und Klang.“ Martin Heidegger, der schon
früh im Dialog mit asiatischen Denkern stand, war ebenfalls durch
die Schrift des Tschuang Tse beeinflusst. So lässt er sich zum
Beispiel, als er 1930 nach einem Vortrag etwas zum Thema
Intersubjektivität sagen möchte, das Buch Tschuang Tse bringen und
liest daraus „Die Freude der Fische“ vor.
Komparativ
angelegte Studien vergleichen Tschuang Tse mit westlichen
Philosophen, wie Nietzsche oder Heidegger. Ein Hörspiel bringt
Tschuang Tse in einen Dialog mit Meister Eckart.
VIERTES
KAPITEL
MENZIUS
Geboren
wurde Menzius in Zou, in einem Ort ganz in der Nähe des Geburtsortes
von Konfuzius. Menzius' Vater starb schon sehr früh und seine Mutter
erzog ihren Sohn daraufhin alleine. In China allbekannt ist die
Geschichte, dass diese zweimal ihren Wohnsitz wechselte, damit der
junge Menzius in einer möglichst förderlichen Umgebung aufwachsen
konnte. Zunächst lebte die Familie neben einem Friedhof. Menzius
spielte in der Nähe der Gräber und versuchte Bestattungen
nachzuspielen. Die Mutter entschied sich daraufhin, in die Nähe
eines Marktplatzes umzuziehen. Auch diese Umgebung des
Geschäftemachens und des Marktgeschreis schien ihr aber auch für
ihren Sohn unpassend. Letztendlich zog seine Mutter neben eine
Schule.
Zur
damaligen Zeit war es üblich, dass die Herrscher der einzelnen
Reiche sich Gelehrte zur Unterhaltung an ihren Hof holten. Die
Fürsten empfanden es als unterhaltsam, sich über philosophische
Themen mit den Gelehrten auszutauschen. Ähnlich wie sein Vorbild
Konfuzius reiste Menzius so von Reich zu Reich, um seine Ideen und
Lehren zu verbreiten. Menzius versuchte dabei, die jeweiligen Fürsten
zu beeinflussen, die seine Lehren umsetzen sollten. Menzius
Philosophie hat dadurch einen sehr praktischen Anspruch.
Wie
Konfuzius bereiste auch Menzius China für vierzig Jahre, um seinen
Rat den Herrschern anzubieten. Er diente als Beamter von 319 bis 312
vor Christus Um seinen Verpflichtungen als Sohn nachzukommen, ließ
er sein öffentliches Amt für drei Jahre ruhen, um den Tod seiner
Mutter zu betrauern. Enttäuscht davon, dass seine Bemühungen um
Reformen so geringen Einfluss hatten, zog er sich aus dem
öffentlichen Leben zurück.
Menzius
unterscheidet sich von seinem Vorgänger unter anderem durch die
Aussage, dass eine ungerechte Herrschaft nicht geduldet, sondern auch
durch die Untertanen beendet werden darf, dem Prinzip des Wechsels
des Mandats. Menzius vertritt ein positives Menschenbild, nach seiner
Überzeugung ist der Mensch von Natur aus gut, und nur die Umwelt und
die Leidenschaften entfernen ihn davon. Radikal und modern sind seine
Ansichten zum Umweltschutz. So lautet sein Rat an Herrscher:
„Verbietest
Du den Gebrauch fein geknüpfter Netze in großen Teichen, dann
werden dort mehr Fische und Schildkröten sein, als die Menschen
essen können. Wenn Du Äxte und Hacken im Wald nur zur richtigen
Saison erlaubst, dann wird man dort mehr Holz ernten, als die
Menschen benötigen.“
Vor
allem auf das Wirken von Menzius ist es zurückzuführen, dass sich
der Konfuzianismus nach dem Tod des Konfuzius im Widerstreit mit
anderen philosophischen Schulen wie dem Taoismus oder dem Mohismus
durchsetzen konnte.
Während
sich Konfuzius nicht explizit zum Wesen der menschlichen Natur
geäußert hatte, ist dieses Thema eines der wichtigsten in Menzius'
Philosophie.
Grundsätzlich
geht Menzius davon aus, dass die menschliche Natur gut ist. Diese
These sollte später von Xunzi kritisiert werden, der die Auffassung
vertrat, der Mensch sei von Natur aus schlecht. Menzius begründet
seine Hypothese zunächst mit der Feststellung, dass alle Menschen
einander ähnlich seien, weil sie zur selben Art gehören. Er
argumentiert dabei mit den menschlichen Sinnen. Alle Menschen hielten
ähnliche Speisen für schmackhaft, die Augen empfänden alle
ähnliche Dinge als schön und die Ohren hören ebenfalls alle gerne
ähnliche Töne und Musik. Menzius schließt daran die rhetorische
Frage an, ob es dann sein könne, dass die Menschen einzig in ihrem
Geist so unterschiedlich seien.
Daraufhin
versucht er zu erklären, warum die Menschen so ähnlich sind und
erklärt Vernunft und Rechtschaffenheit als die dem zugrunde liegende
Prinzipien.
Menzius
fährt fort und erklärt, dass vier grundlegende menschliche
Fähigkeiten in jedem Menschen wiederzufinden seien: Mitleid, Scham,
Ehrerbietung und die Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse.
Alle
vier wiederum führen jeweils zu einer der vier Tugenden des
Menschen: Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit.
Als
herausgehoben stellt sich das Mitleid dar, das zu den drei anderen
Tugenden führt. Menzius stellt seine Behauptung, dass das Mitleid
angeboren sei, mithilfe eines Bildes von einem Kind dar, das im
Begriff ist, in einen Brunnen zu fallen. Er erklärt, dass jeder, der
diese Szene sieht, sofort versuchen wird, das Kind zu retten. Dabei
spielen Gedanken an eine mögliche Belohnung der Eltern oder ein
höheres Ansehen im Dorf wegen der Rettungsaktion keine Rolle. Der
Beobachter wird vielmehr spontan helfen wollen, ganz ohne
Hintergedanken zu haben. Menzius schließt daraus, dass der Mensch
dieses Gefühl von Geburt an hat. Er bezeichnet es als Fähigkeit des
Mitleids.
Die
allen gemeinsame gute Natur allerdings besteht von Geburt an. Äußere
Einflüsse und Verhältnisse können aber zu Unterschieden führen
und die ursprünglich guten Eigenschaften verändern. Dadurch werden
die Menschen erst schlecht. Diese äußeren Umstände hängen mit der
Zeit, den historischen Gegebenheiten und den wirtschaftlichen
Verhältnissen zusammen.
Darüber
hinaus verlieren die Menschen ihre angeborene Güte auch, wenn sie
sie nicht ständig anwenden und üben. Auch erhält der Mensch eine
gewisse moralische Erfrischung durch den Schlaf. Er regeneriert sich
zumindest teilweise. Allerdings reicht diese Regeneration meistens
nicht aus, um die schlechten Einflüsse, die sich über den Tag
gesammelt haben, wieder auszugleichen. Menzius' Vorstellung von der
Tugend hat gewisse Parallelen zum Sport. Ganz verlieren kann er sie
zwar nicht, aber ein regelmäßiges Training ist zwingend
erforderlich. Es ist dabei nötig, seine Wünsche und Leidenschaften
zu zügeln. Handelt man so, erlangt man Gleichmut und Seelenruhe.
Menzius behauptet, diese Tugend mit vierzig Jahren erreicht zu haben.
Bildung
spielt bei Menzius die wohl wichtigste Rolle, um wieder zu einer
guten moralischen Verfassung zurückzufinden, was er in der Aussage
ausdrückt: „Das Ziel des Studiums ist kein anderes, es sucht nur
nach dem verlorenen Herzen.“ Die Möglichkeit zum Lernen ist für
ihn auch der einzige Unterschied des Menschen zum Tier. Erst dadurch
wird der Mensch zum Menschen.
Bildung
ist für Menzius nur rein moralische Bildung und hat somit nichts mit
Vielwissen zu tun. Anhäufung von Wissen ist nicht in seinem Sinne.
Schulen sind damit vielmehr moralische Erziehungsstätten.
Menzius
stellt sich gegen den Utilitarismus der Mohisten. Er begründet dies
ebenfalls mit seiner Theorie von den vier angeborenen Tugenden. Da
sie von Beginn an da sind, dürfen sie auch nicht ausgeübt werden,
um sich damit nur materiellen Profit zu erarbeiten. Menzius sieht die
Sachlage andersherum: Wenn sich die Menschen tugendhaft nach dem
Prinzip der Rechtschaffenheit verhalten, wird der Gewinn automatisch
kommen, so wie ein Künstler in erster Linie ein Kunstwerk herstellt
und die Ideen und Gefühle des Künstlers selbst ausdrückt, und nur
quasi als Nebenprodukt gefällt es dann seinen Betrachtern.
Menzius
definiert allerdings nirgendwo in seinem Werk den genauen Unterschied
zwischen Gewinn und Rechtschaffenheit. Trotzdem kann man insgesamt
von einer Einstellung gegen den puren Utilitarismus ausgehen, was am
Beispiel seiner Äußerungen zu den Bestattungen deutlich wird.
Während sich dabei die Mohisten mit eher simplen Begräbnissen
zufriedengeben, spricht sich Menzius für eine größere Ehrung der
Toten aus, denn nur diese stelle die Hinterbliebenen auch wirklich
zufrieden.
ZWEITER
TEIL
ISLAMISCHE
PHILOSOPHIE
ERSTES
KAPITEL
AL-KINDI
Al-Kindi
war arabischer Abstammung und wurde von seinen vielen persischen
Genossen und Kollegen deshalb „der arabische Philosoph“ genannt.
Er selbst führt seinen Stammbaum auf die alten Kinda-Fürsten
zurück, was darauf hindeutet, dass er aus einer wohlhabenden Familie
stammte. Er wurde um 800 in Kufa geboren, wo sein Vater Statthalter
war. Der erwähnte Reichtum seiner Ahnen führte einerseits zu einem
sehr gebildeten Stamm, wovon al-Kindi in seiner Ausbildung
profitierte, als auch später zu der Möglichkeit, sehr viele
Übersetzer beschäftigen zu können. Den größten Teil seines
Lebens verbrachte er in Bagdad, das damals das kulturelle Zentrum der
islamischen Welt schlechthin war und es ihm ermöglichte, sich mit
den verschiedensten Kulturen und Lehren auseinanderzusetzen. So gilt
er auch als einer der ersten großen Übersetzer, da er einen
Großteil der Werke von Aristoteles, Platon und des Neuplatonismus
übersetzen ließ. Al-Kindi selbst baute darauf seine eigenen Werke
auf. Er hatte Zugang zum Hof des Kalifen. Zeitweise dürfte er auch
in Ungnade gefallen sein, seine Bibliothek war eine Zeit lang
konfisziert und das Fehlen seiner genauen Geburts- und Todesjahre
deutet darauf hin, dass er in untergeordneter Stellung gestorben sein
dürfte.
Bekannt
war er aber nicht nur als Philosoph sondern auch als Arzt,
Mathematiker, Physiker, Pharmakologe. Von Alchemie hielt er wenig. Er
war Astrologe, Geograph und Prinzenerzieher am Hofe al-Mamuns. Lange
Zeit galt er auch als Theologe, vor allem wegen seiner Versuche,
Philosophie und Religion zu einen. Al-Kindi starb um das Jahr 870
herum.
Das
philosophische Schaffen al-Kindis war vor allem durch seine vielen
Übersetzungen geprägt, die er selbst korrigierte. Dem folgen auch
Entwicklungen in seinen eigenständigen Werken. Zunehmend kenntlich
wird eine Nähe zu Platon und der Tradition des Neuplatonismus, aber
auch an Aristoteles, dessen Werke eine starke Stellung in ak-Kindi's
Bibliothek einnehmen.
In
seinem Hauptwerk „Über die Erste Philosophie“ sind die Einflüsse
durch Aristoteles besonders deutlich. Es ist in vier Abschnitte
geteilt: Im ersten Teil steckt er den Rahmen der Untersuchung ab und
erklärt, dass die Aufgabe des Philosophen die Wahrheitssuche ist,
also die Suche nach den Ursachen für Materie, Form, Gattung und Art
der Dinge, in Anlehnung an Aristoteles' „Metaphysik“. Im zweiten
Teil ändert sich die Perspektive, und al-Kindi erklärt, dass die
Welt endlich ist und die Unendlichkeit der Welt nur eine Potenz ist.
Er zeigt, dass die Dimensionen des Raumes endlich sind, so wie aber
auch die Zeit endlich sei und also einen zeitlichen Anfang haben
müsse. Im dritten Teil erklärt er die Existenz Gottes mit dem
Argument, dass die Vielheit der sinnlich wahrnehmbaren Dinge auf der
Existenz des ursprünglichen Einen beruhe, in Anlehnung an den
Neuplatoniker Proklos. Im vierten Teil beschreibt Kindi Gott und
bedient sich einer negativen Theologie im Sinne des späten
Neuplatonismus, in Anlehnung an Proklos; der Text wird aber mit einer
Wendung beschlossen: Der ferne und unbekannte Gott habe unsere Welt
nicht von Ewigkeit her, sondern in der Zeit aus dem Nichts bewirkt,
in Anlehnung an das religiöse Dogma der Schöpfung aus dem Nichts.
Seine
eigentliche Philosophie war zunächst auf der Mathematik aufbauend;
es finden sich Zahlenspiele in seinen Schriften. Nach ihm konnte
niemand „Philosoph“ werden, der nicht Mathematik und Logik
studiert habe. Die Welt ist bei ihm ein Werk Gottes, dessen Wirken
von oben nach unten vermittelt wird: alles Höhere wirkt auf das
Niedere ein, nicht aber das Verursachte auf seine Ursache. So
entsteht eine durchgehende Ursächlichkeit in der Welt, deren
Erkenntnis es ermöglicht, Zukünftiges vorherzusagen. Die Welt
besteht aus dem göttlichen Geist, der materiellen Körperwelt und
der Seele, die sich dazwischen befindet. Die menschliche Seele ist
ein Ausfluss der Weltseele, in ihren Wirkungen an den Körper
gebunden, ihrem geistigen Wesen nach aber frei. Die Seele ist in die
Sinnenwelt herabgekommen, mit einer Ahnung ihres ursprünglichen
Zustands und findet sich daher auf Erden nicht heimisch. Erlösung
kann sie im Aufstieg in die geistige Welt finden, wo alle ihre wahren
Bedürfnisse befriedigt werden. Dafür muss sie sich von allen
materiellen und körperlichen Begierden befreien.
Als
wesentlichstes eigenes Werk, also unabhängig von den Vorlagen durch
den Islam oder die griechische Philosophie,) dürfte „Über den
Intellekt“ gelten, das die meisten eigenen Konzepte aufweist. Es
geht dabei um Aristoteles' Unterscheidung zwischen aktivem und
passivem Intellekt. Al-Kindi definierte: Der aktive Intellekt sei die
Ursache und das universale Prinzip allen Intellekts und er sei die
Spontaneität des Denkens und ohne Ruhe. Das Denken sei in drei
Stufen aufgebaut: Der potentielle Intellekt (das Vermögen des
Menschen zu denken), der erworbene Intellekt (das Vermögen des
Menschen, etwas tun zu können, es aber gerade nicht auszuüben), der
sichtbare Intellekt (das Vermögen des Menschen, das erworbene Wissen
anzuwenden). Diese drei Stufen sind Formen des passiven oder
rezeptiven Intellekts.
Ein
weiteres wichtiges Werk al-Kindis sind die Definitionen der Begriffe.
Im Rahmen seiner Übersetzungen entstand eine Schrift über die
Definition des Begriffs „Philosophie“, die seine Philosophie auch
wesentlich charakterisieren. Es ist eine Definition von sechs
Gesichtspunkten: Etymologisch ist Philosophie die „Liebe zur
Weisheit“; Philosophie ist das Bemühen, sich den göttlichen Taten
anzugleichen und zwar nach Maßgabe des menschlichen Vermögens;
Philosophie ist die Sorge um den Tod, nämlich zum einen die Sorge um
den Austritt der Seele aus dem Körper und zum anderen die Sorge um
das Abtöten der Begierden; Philosophie ist die Kunst der Künste und
die Weisheit der Weisheiten; die Dinge sind entweder körperlich oder
unkörperlich, der Mensch besteht aber aus Körper und Seele, und die
Seele besteht aus Substanz, um seine Substanz zu kennen, muss der
Mensch sich selbst erkennen, erkennt der Mensch alle seine drei
Bestandteile, erkennt der die ganze Welt; Philosophie ist die
Kenntnis der ewigen Universalien, ihres Wesens und ihrer Ursachen,
soweit dies dem Menschen möglich ist.
Al-Kindi
galt als erster islamischer Aristoteliker, auch wenn er im
Unterschied zu Aristoteles von einer endlichen Welt ausging. Ein
Fehler aber passierte bei seinen Übersetzungen. Die Enneaden Plotins
werden irrtümlicherweise Aristoteles als „Theologie des
Aristoteles“ zugeschrieben und in der islamischen Philosophie als
„neuplatonischer Aristotelismus“ verwechselt. Dieser Fehler wird
erst sehr viel später bemerkt werden und zieht sich ganz wesentlich
durch die Geschichte der islamischen Philosophie.
ZWEITES
KAPITEL
AVICENNA
Avicennas
Vater war ein aus Balch stammender ismaelitischer Steuereintreiber,
der sich im Dorf Afschana bei Buchara im persischen Samanidenreich
niederließ und dort Avicennas Mutter Setara heiratete. Avicenna und
ein Bruder wurden in Afschana geboren, anschließend zog die Familie
nach Buchara.
Da
seine Muttersprache Persisch war, lernte er zuerst Arabisch, die
damalige Weltsprache. Danach wurden ihm zwei Lehrer zugewiesen, die
ihm den Koran und die Literatur näher bringen sollten. Bereits im
Alter von zehn Jahren konnte er den Koran auswendig und hatte viele
Werke der Literatur studiert und sich dadurch die Bewunderung seiner
Umgebung erworben. Während der nächsten sechs Jahre studierte er
autodidaktisch Jura, Philosophie, Logik, Werke des Euklid und den
Almagest. Von einem gelehrten Gemüsehändler lernte er indische
Mathematik und Algebra. Er wandte sich im Alter von siebzehn Jahren
der Medizin zu und studierte sowohl ihre Theorie als auch ihre
Praxis. Er beschrieb die Heilkunst als nicht schwierig. Er vertiefte
sich auch in metaphysische Probleme, besonders in die Werke des
Aristoteles.
Da
er sich im Alter von achtzehn Jahren bereits einen Ruf als Arzt
erarbeitet hatte, nahm ihn der samanidische Herrscher Nuh ibn Mansur
in seine Dienste auf. Zum Dank wurde ihm erlaubt, die königliche
Bibliothek mit ihren seltenen und einzigartigen Büchern zu nutzen.
So gelang es ihm, im Alter von 21 Jahren sein erstes Buch zu
verfassen.
Er
verlor 1002 seinen Vater und 1005 mit dem Aussterben der
samanidischen Dynastie seine Anstellung. Wahrscheinlich verließ er
Buchara bereits, als die Stadt 999 an die türkischen Qarachaniden
fiel, und wanderte über Nischapur und Merv in Chorasan nach Choresm
aus. Über das Oasengebiet südlich des Aralsees herrschte damals Ali
ibn Mamun, dem Avicenna in Kath diente, bis er 1012 floh, um nicht in
den Dienst des Sultans Mahmud von Ghazni treten zu müssen. Nach
erneuter Wanderung durch verschiedene Städte Chorasans kam er noch
1013 nach Gorgan nahe dem Kaspischen Meer. Angezogen hatte ihn der
Ruhm des dortigen Herrschers Qabus, der als Förderer der
Wissenschaft galt. Der Fürst aus der Dynastie der Ziyariden war
jedoch kurz vor Avicennas Ankunft ermordet worden. In Gorgan hielt er
Vorlesungen in Logik und Astronomie, schrieb den ersten Teil des
Qanun und traf seinen Freund und Schüler al-Dschuzdschani.
In
Rayy, wo er sich 1014–1015 aufhielt und im Dienst der Buyiden
stand, gründete Avicenna eine medizinische Praxis und verfasste
dreißig kurze Werke. Als Rayy belagert wurde, floh er nach Hamadan.
Dort behandelte er eine reiche Frau, wurde Leibarzt und medizinischer
Berater des Buyiden Shams ad-Daula und stieg schließlich sogar zu
dessen Wesir auf. Eine Meuterei von Soldaten führte zu seiner
Absetzung und Verhaftung. Doch als der Emir wieder einmal an einer
Kolik litt, soll Avicenna zur Behandlung herangezogen und nach
erfolgreicher Heilung freigelassen und wieder in sein altes Amt
eingesetzt worden sein.
Sein
Leben in jener Zeit war äußerst anstrengend: Tagsüber war er mit
Diensten für den Emir beschäftigt, während er einen großen Teil
der Nächte mit Vorlesungen und dem Diktieren von Notizen für seine
Bücher verbrachte. Studenten sammelten sich in seinem Haus, um
Ausschnitte aus seinen zwei Hauptwerken zu lesen, dem Kitab al-Shifa
und dem Qanun.
Nach
dem Tod Shams ad-Daulas 1021 bot Avicenna dem Kakuyiden-Emir Ala
ad-Daula Muḥammad von Isfahan seine Dienste an und wurde deswegen
vom neuen Herrscher Hamadans in der nahen Burg Fardajan eingekerkert.
Als Ala ad-Daula vier Monate später gegen Hamadan marschierte, kam
Avicenna frei und zog zusammen mit seinem Freund al-Dschusdschani und
zwei Sklaven nach Isfahan, wo ihn Ala ad-Daula willkommen hieß. Er
verbrachte seine letzten Jahre im Dienst des Kakuyiden, den er in
wissenschaftlichen und literarischen Fragen beriet. Ihm widmete er
eine Zusammenfassung der Philosophie in persischer Sprache namens
„Das Buch des Wissens für Ala ad-Daula“. Außerdem begleitete er
ihn auf Kriegszügen. Freunde rieten ihm, sich zu schonen und ein
gemäßigtes Leben zu führen, aber das entsprach nicht Avicennas
Charakter: „Ich habe lieber ein kurzes Leben in Fülle als ein
karges langes Leben“, antwortete er. Erschöpft durch seine harte
Arbeit und sein hartes Leben starb Avicenna im Juni 1037 im Alter von
57 Jahren an Krebs. Angeblich wurde sein Ende durch eine übermäßige
Gabe eines Medikaments durch einen Schüler beschleunigt. Er wurde in
Hamadan begraben, wo noch heute sein Mausoleum steht.
Es
wird behauptet, dass Avicenna 21 Hauptwerke und 24 Nebenwerke in
Philosophie, Medizin, Theologie, Geometrie, Astronomie und anderen
Gebieten vollendet hat. Andere Autoren schreiben Avicenna 99 Bücher
zu: 16 über Medizin, 68 über Theologie und Metaphysik, 11 über
Astronomie und 4 über das Drama. Die meisten von ihnen waren
arabisch, aber auch in seiner Muttersprache Persisch schrieb er eine
große Auswahl philosophischer Lehren und eine kurze Abhandlung über
den Puls.
Avicenna
beschäftigte sich auch mit Naturwissenschaften. In der Astronomie
arbeitete er seinem Schüler al-Dschuzdschani zufolge an Ptolemäus’
Sternenmodell und vermutete, dass die Venus der Erde näher stehe als
die Sonne. Die Astrologie lehnte er ab, weil ihre Brauchbarkeit nicht
empirisch nachweisbar sei und sie mit der islamischen Theologie
unvereinbar sei. Avicenna zitierte einige Passagen aus dem Koran, um
dieses Urteil religiös zu untermauern. Als Chemiker erfand er die
Wasserdampfdestillation, um Öle zu erzeugen. Andererseits stand er
der damaligen Chemie, der Alchemie, skeptisch gegenüber und glaubte
nicht an den Stein der Weisen. Alchemistisch erzeugtes Gold war, wie
er schrieb, nur eine Imitation, und er bestritt die Gleichheit
natürlicher und künstlicher Stoffe. Sie war in den frühen
Übersetzungen oft der Meteorologie von Aristoteles beigefügt, da
die Herausgeber sie für aristotelisch hielten, und übte einen
beträchtlichen Einfluss auf die alchemistische Literatur aus als
Gegenpol, demgegenüber man sich rechtfertigte. Einige der ihm später
zugeschriebenen alchemistischen Schriften sind spätere
Unterschiebungen, beeinflussten aber Bacon. In der Geologie gab er
zwei Ursachen für die Entstehung von Bergen an: „Entweder
entstehen sie durch das Aufbäumen von Erdschichten, wie es bei
schweren Erdbeben geschieht, oder sie sind die Folge von Wasser, das
neue Wege suchte und Täler heraus gewaschen hat, wo weichere
Gesteinsschichten zu finden sind. Dies muss jedoch eine große Zeit
in Anspruch nehmen, in der die Berge selbst geringer werden könnten.“
Auch in der Physik war Avicenna vielfältig tätig; so verwendete er
Thermometer, um die Temperatur bei seinen Experimenten zu messen, und
stellte eine Theorie über Bewegung auf. Darin befasste er sich mit
der Kraft und der Bahnneigung eines Geschosses und zeigte, dass ein
Geschoss sich in einem Vakuum ewig fortbewegt. In der Optik
argumentierte er, dass die Lichtgeschwindigkeit endlich sei und gab
eine Beschreibung des Regenbogens.
Avicenna
beschäftigte sich ausgiebig mit philosophischen Fragen, sowohl mit
Metaphysik als auch mit Logik und Ethik. Seine Kommentare zu Werken
des Aristoteles enthielten konstruktive Kritik an dessen Auffassungen
und schufen Voraussetzungen für eine neue Aristoteles-Diskussion.
Avicennas philosophische Lehren werden sowohl von westlichen als auch
von muslimischen Forschern als weiterhin aktuell eingeschätzt.
Während westliche Wissenschaftler ihn oft als Rationalisten in der
Nachfolge von Aristoteles sehen, neigen muslimische Forscher eher
dazu, ihn als Mystiker zu betrachten.
Avicenna
schrieb seine frühesten Arbeiten in Buchara unter dem Einfluss von
al-Farabi. Das erste, ein "Kompendium über die Seele", ist
eine kurze Abhandlung, die er den samanidischen Herrschern widmete
und in der er sich mit neuplatonischem Gedankengut beschäftigte. Das
zweite ist die „Philosophie für den Prosodisten“, in der er sich
mit der Metaphysik des Aristoteles auseinandersetzt.
Nach
seinem Aufbruch aus Buchara verfasste Avicenna weitere philosophische
Werke, darunter das "Buch der Heilung", eine
wissenschaftliche Enzyklopädie. Die Bedeutung des arabischen Titels
ist etwa „Buch der Angemessenheit“. Das Buch behandelt
Arithmetik, Astronomie, Geometrie, Logik, Musik, Naturwissenschaften,
Philosophie und Psychologie. Es wurde sowohl von hellenistischen
Denkern wie Aristoteles und Claudius Ptolemäus als auch von
muslimischen Wissenschaftlern wie al-Farabi und al-Biruni
beeinflusst. Das Werk stieß allerdings nicht überall in der
islamischen Welt auf ungeteilte Zustimmung, es wurde, wie Ernst Bloch
berichtet, immer wieder auch als ketzerisch verfolgt: „Avicennas
philosophische Enzyklopädie wurde 1150 auf Befehl des Kalifen von
Bagdad verbrannt; auch später wurde jedes erreichbare Exemplar
vernichtet, vom Urtext gibt es nur Bruchstücke“.
Avicennas
zweites Werk war das „Buch des Wissens für Ala ad-Daula“ auf
Persisch, in dem er seinem Gönner eine Zusammenfassung seiner
Philosophie auf der Grundlage des „Buchs der Heilung“ bietet.
Avicenna
verfasste außerdem das „Buch der Ratschläge und Erinnerungen“,
ein Werk, das sein Denken über eine Vielzahl von logischen und
metaphysischen Themen vorstellt. Ein anderes Werk ist „Das Urteil“,
das sich von den anderen Arbeiten durch seine Radikalität und seine
Vermischung von aristotelischem Gedankengut und Neuplatonismus
unterscheidet. Sein letztes Werk ist „Die östliche Philosophie“,
es ist weitgehend verloren.
Die
frühe islamische Philosophie, die sich noch eng am Koran
orientierte, unterschied klarer als Aristoteles zwischen Wesen und
Existenz. Avicenna entwickelte eine umfassende metaphysische
Weltbeschreibung, indem er neuplatonisches Gedankengut mit
aristotelischen Lehren verband. Das Verhältnis von Stoff und Form
verstand er so, dass im Stoff (Materie) die Möglichkeiten der Formen
(Essenz) bereits enthalten sind. Gott sei notwendig an sich, alles
andere Sein notwendig durch anderes. „Gott ist das einzige Sein,
bei dem Essenz (Wesen) und Existenz (Dasein) nicht zu trennen sind
und das daher notwendig an sich ist.“ Alles andere Sein sei bedingt
notwendig und lasse sich in Ewiges und Vergängliches unterteilen.
Gott schuf durch seine geistige Tätigkeit die Weltschöpfung. Der
Intellekt des Menschen habe die Aufgabe, den Menschen zu erleuchten.
In der Frage der Ideen vertrat Avicenna auf Platon aufbauend die
These, dass diese vor der Erschaffung der Welt bereits im Verstand
Gottes sind, effektiv in der Natur zu finden sind und auch in der
menschlichen Erkenntnis. Avicenna bestritt die Unsterblichkeit der
menschlichen Seele, Gottes Interesse an Einzelereignissen sowie eine
Erschaffung der Welt in der Zeit.
Avicenna
widmete sich der Logik sowohl in islamischer Philosophie als auch in
Medizin mit großer Hingabe und entwickelte sogar ein eigenes
logisches System, das auch als „Avicennische Logik“ bezeichnet
wird. So war Avicenna wohl einer der ersten, die es wagten,
Aristoteles zu kritisieren und von ihm unabhängige Abhandlungen zu
verfassen. Besondere Kritik erhielt die Schule von Bagdad von ihm, da
sie sich zu sehr auf Aristoteles begründete.
Avicenna
hatte in Buchara einen Großteil seiner Ausbildung für den Koran und
die islamische Religion verwendet. Es heißt, er habe bereits mit
zehn Jahren den Koran auswendig gekannt. Zeitlebens war er ein
frommer Muslim. Er verfasste fünf Abhandlungen über verschiedene
Suren, die generell voll Respekt sind. Nur seine philosophischen
Tätigkeiten brachten ihn manchmal in Konflikt mit der islamischen
Orthodoxie: Ausgehend von der Seelenlehre des Aristoteles
differenzierte er die drei Seelenvermögen weiter aus und ordnete sie
der Weltseele unter. Damit widersprach er zentralen Glaubensinhalten,
was ihm die Feindschaft sunnitischer Theologen einbrachte. Wie die
christlichen Scholastiker nach ihm versuchte Avicenna, die
griechische Philosophie mit seiner Religion, die Vernunft mit dem
Glauben zu verbinden. So benutzte er philosophische Lehren, um die
islamischen Glaubenssätze wissenschaftlich zu unterlegen. Obwohl er
sowohl Religion als auch Philosophie als zwei notwendige Teile der
ganzen Wahrheit auffasste, argumentierte er, dass die islamischen
Propheten mehr Bedeutung als die antiken Philosophen haben sollten.
In
der lateinischen Scholastik wurde Avicenna zu dem – nach Averroes –
angesehensten Vertreter der Persischen Philosophie und Vermittler der
aristotelischen Philosophie und Naturkunde. Seine Werke wurden an den
Artistenfakultäten und von Theologen wie Thomas von Aquin und
Johannes Duns Scotus rezipiert.
Dante
versetzt in seiner Göttlichen Komödie Avicenna zusammen mit seinen
beiden muslimischen Glaubensbrüdern Averroes und Saladin in das
„edle Schloss“ (nobile castello) im Limbus der Hölle, wo
ansonsten nur Personen der vorchristlichen heidnischen Antike,
insbesondere Philosophen und Dichter der griechischen und römischen
Welt, angesiedelt sind: er teilt dort mit ihnen das Schicksal, durch
eine tugendhafte Lebensführung zwar der ewigen Verdammnis entgangen
zu sein, da er sonst in einem der tieferen Kreise der eigentlichen
Hölle zu strafen wäre, zugleich aber mangels Teilhabe am Sakrament
der Taufe von der Erlösung ins Paradies ausgeschlossen zu sein und
deshalb einen Zustand ohne Strafe, aber in ewiger Gottesferne,
erleiden zu müssen. Dass er und seine beiden Glaubensbrüder im
Unterschied zu ihren heidnischen Leidensgenossen der vorchristlichen
Zeit die christliche Lehre bereits kannten und sich zur Taufe hätten
entscheiden können, ihr Beharren in einem anderen Glauben folglich
auf eigener Wahl beruhte und sie trotzdem nicht mit ihren übrigen
Glaubensbrüdern zur Strafe in einem tiefer gelegenen Kreis der Hölle
verdammt sind, bringt die besondere Wertschätzung zum Ausdruck, die
Dante ihnen entgegenbrachte.
DRITTES
KAPITEL
AVERROES
Averroes
wurde 1126 in Cordoba in eine Juristenfamilie geboren. Er studierte
Recht, Medizin und Philosophie und war auch darüber hinaus ein sehr
gebildeter Mensch. Im Jahre 1168 soll er von Ibn Tufail dem Fürsten
Abu Yaqub Yusuf I. vorgestellt worden sein, welcher ihn in einem
Gespräch fragte, was denn die Ansicht der Philosophen über die
Ewigkeit des Himmels sei. Averroes aber war eingeschüchtert und
behauptete, sich nicht mit Philosophie zu beschäftigen. Also begann
der Fürst ein Gespräch mit Ibn Tufail und zeigte dabei seine große
Kenntnis der islamischen Philosophie und ihrer Fragestellungen.
Averroes begann sich dann doch in das Gespräch einzumischen und
bekam schließlich den Auftrag, alle Werke des Aristoteles neu zu
ordnen und zu kommentieren, um dem Islam rein und vollständig die
Wissenschaft zu geben. Er führte ein vielfältiges Leben, so war er
Richter in Cordoba und Sevilla und wurde Leibarzt des mittlerweile
zum Kalifen gewordenen Abu Yaqub. Jedoch hielt er auch diese Stellung
nur kurz und wurde wieder Richter in seiner Heimatstadt. Das alle
spanisch-arabischen Philosophen betreffende Umfeld der ungünstigen
politischen Verhältnisse zu jener Zeit traf auch für Averroes zu,
die islamischen Herrscher bedurften ihrer nicht als vielmehr der
Unterstützung durch Theologen. Averroes' Aufforderungen an die
Menschen, ihre Vernunft zu gebrauchen, brachten ihn in Konflikt mit
den Sichtweisen der islamischen Orthodoxie. Unter Kalif Yaqub
al-Mansur, dem Sohn und Nachfolger von Abu Yaqub, stand Averroes
zunächst in der Gunst des Herrschers, doch bald fiel er in Ungnade.
Der Kalif, der sich auf einem Feldzug in Spanien befand, meinte auf
die Unterstützung orthodoxer Kräfte angewiesen zu sein. Daher wurde
Averroes nach Lucena, einer Kleinstadt südlich von Cordoba,
verbannt; seine Werke wurden verboten und ihre Verbrennung
angeordnet. Doch schon nach drei Jahren holte ihn der Kalif an seinen
Hof nach Marrakesch und machte alle Maßnahmen gegen ihn rückgängig.
Bald darauf starb Averroes am 10. Dezember 1198.
Averroes
war ein offener und kritischer Geist seiner Zeit. In seiner
Beschäftigung mit Aristoteles ging er so systematisch wie nur
möglich voran und interpretierte ihn wie niemand zuvor. Er schrieb
Kommentare in mehreren Abstufungen, kürzere, mittlere und größere
und machte sich als Kommentator des Aristoteles einen Namen. Sogar
Dante erwähnt ihn in dieser Funktion in seiner Göttlichen Komödie.
Aristoteles ist dabei für Averroes der vollkommene Mensch, der im
Besitze der unfehlbaren Wahrheit gewesen sei und sich den Menschen
nur einmalig gezeigt habe. Er sei die inkarnierte Vernunft gewesen.
Des Averroes eigene Philosophie baut sehr auf Logik auf, wie es von
einem großen Aristoteliker auch nicht anders zu erwarten wäre. Sie
beginnt zunächst mit der Frage, ob man überhaupt philosophieren
dürfe, ob es vom religiösen Gesetz her erlaubt, verboten, empfohlen
oder notwendig sei. In Koran-Versen wie „Denkt nach, die ihr
Einsicht habt!“ findet Averroes nicht nur die Aufforderung an die
Muslime, über ihren Glauben nachzudenken, sondern auch, die
bestmögliche Beweislage für ihr Denken zu finden, und diese sieht
er eindeutig in der Philosophie und zumal in der aristotelischen
Beweisführung gegeben. Aber auch Averroes schränkt ein, dass nicht
alle Menschen sich mit Philosophie beschäftigen können, sondern nur
jene, die einen starken Intellekt besitzen. In Reaktion auf
al-Ghazali teilt er den Koran und dessen Exegese in seinem Werk „Die
entscheidende Abhandlung“ in drei Gruppen ein: Klare und evidente
Verse, die direkt und für jedermann verständlich sind; in ihrer
Aussage klare Verse, die aber darüber hinaus auch von Personen mit
starkem Intellekt interpretiert und reflektiert werden können;
Verse, bei denen nicht klar ist, ob sie wörtlich oder im
übertragenen Sinne zu verstehen sind und bei denen folglich auch die
Meinung der Gelehrten abweichen kann.
Noch
viel direkter greift er al-Ghazali dann aber in seiner Schrift „Die
Inkohärenz der Inkohärenz“ an, der Titel ist in Anlehnung an
al-Ghazali „Die Inkohärenz der Philosophen“ gewählt. Dort hatte
al-Ghazali die Philosophen vor allem deswegen angegriffen, da sie
Unglauben auf Grund von drei Dingen lehrten: Die Urewigkeit der Welt;
das Wissen Gottes um die Einzeldinge nur auf allgemeine Weise; die
mögliche Auferstehung des Menschen nur mit der Seele, nicht aber mit
dem Leibe.
Averroes
antwortete auf diese drei Punkte folgendermaßen: Der Koran sagt
nirgends, dass die Welt aus dem Nichts geschaffen und in der Zeit
entstanden sein soll. In den sechs Tagen der Schöpfung schwebte
Gottes Thron dem Koran nach sogar über dem Wasser, woher davon
auszugehen ist, dass die Welt schon existiert haben könnte. Solche
Verse ordnet Averroes der dritten Gruppe der Koran-Verse zu, wegen
deren Interpretation niemand des Unglaubens bezichtigt werden dürfe.
Die Philosophen behaupten gar nicht, dass Gott kein Wissen um die
Einzeldinge hätte. Sie betonen aber, dass es anders sei als das
Wissen der Menschen und dass die Menschen also gar nicht wissen
könnten, was Gott alles weiß. Ihr Wissen entstehe Schritt für
Schritt, während Gottes Wissen von Ewigkeit her alle Dinge umfasse
und daher eine Voraussetzung dafür sei, dass die Einzeldinge
nacheinander entstehen. Auch leugnen die Philosophen die Auferstehung
nicht und lehren nichts, was im Widerspruch zum Koran stünde. Auch
jene Verse ordnet er der dritten Gruppe der Koran-Verse zu. Also
dürfe niemand aufgrund einer anderen Interpretation des Unglaubens
bezichtigt werden.
Hier
setzt dann sein eigenes philosophisches System an. Allerdings gibt es
hier keine eigenständigen Werke mehr, sondern seine Lehre erstreckt
sich auf seine zahlreichen Kommentare zu griechischen Autoren,
wiewohl er nicht des Griechischen mächtig war. Die Wahrheit sei nach
Aristoteles verloren gegangen. Avicenna und anderen wirft er vor,
Philosophie mit Theologie verbunden zu haben und somit die
Philosophie für Leute wie al-Ghazali überhaupt erst angreifbar
gemacht zu haben. Auch Averroes beschäftigte sich – wie fast alle
islamischen Philosophen – mit dem Intellekt, der Vernunft. So habe
nicht jeder Mensch seinen eigenen individuellen potenziellen
Intellekt, der ihm die Glückseligkeit ermögliche. Denn es gebe nur
einen universalen potenziellen Intellekt. Das Individuum verfüge
aber nur über jene Tätigkeiten, die mit der körperlichen Existenz
zusammenhängen, die von einer Seele koordiniert würden, einer
Seele, die mit dem Körper verbunden sei und mit ihm vergehe. Die
geistige Erkenntnis gehöre also nicht in den Bereich des
Individuellen.
VIERTES
KAPITEL
AL-GHAZALI
Nach
dem Tod seines Lehrers al-Dschuwaini ging al-Ghazali an den Hof Nizam
al-Mulks, des Wesirs der Seldschuken-Sultane, der ihn 1091 zum
Professor in Bagdad ernannte. Er erwarb sich in dieser Stellung als
höchstrangiger Lehrer der islamischen Gemeinschaft von Bagdad
größtes Ansehen und war auch als politischer Berater gefragt.
Während
der durch die Ermordung Nizam al-Mulks ausgelösten Wirren geriet
al-Ghazali nach eigenem Bekunden in eine spirituelle Krise und wandte
sich der islamischen Mystik, dem Sufismus, zu. Er gab seine Professur
auf, spendete seinen Besitz den Armen und verließ Bagdad. Als Sufi
führte er anschließend in Palästina und Syrien ein Wanderleben,
bis er schließlich in seine Heimatstadt Tus zurückkehrte, wo er
abgesehen von einer kürzeren Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als
Professor bis zu seinem Tod ein zurückgezogenes Leben als sufischer
Lehrer führte.
Al-Ghazalis
Haltung zur Philosophie ist zwiespältig: Einerseits zeugen seine
Werke von einer gründlichen Kenntnis der griechischen und
islamischen Philosophie, andererseits lehnte er die Philosophie als
eigenen Weg zur Wahrheit ab und warf Vorgängern wie Avicenna und
al-Farabi vor, durch ihre unkritische Adaption der heidnischen
aristotelischen und platonischen Philosophie den islamischen Glauben
zu verderben. Besonders gegen die Emanations-Lehre, die das
notwendige Hervorgehen der Welt aus Gott auf dem Weg über den
Intellekt und in Verbindung damit auch die Ewigkeit der Welt lehrte,
verteidigte er die durch die Koran-Offenbarung verbürgte göttliche
Erschaffung und Zeitlichkeit der Welt, indem er den Philosophen das
Recht absprach, ihr Prinzip der Kausalität auch auf den jenseitigen
Gott anzuwenden.
Al-Ghazali
versuchte in seinem Weltbild eine Synthese vom göttlichen
Determinismus mit dem menschlichen freien Willen: Auf der obersten
Stufe befindet sich der sich stets selbsterhaltende Gott. Auf
unterster Ebene ist die materielle Welt, die von Gott vorherbestimmt
ist. Dazwischen liegt die Welt der Menschen, deren Seele und Selbst
durch den freien Willen geprägt ist. Gott gibt dem Menschen Ideen
und Neigungen, aber die folgenden Taten obliegen einzig dem Menschen.
Er
gab sich mit der bloßen Vernunft als Erkenntnisquelle nicht
zufrieden und lehrte den Weg zu einem Gottesbewusstsein, das aus dem
Herzen entspringt, um sich von den unislamischen Einflüssen des
Verstandes zu lösen. Mit dieser Haltung ebnete er anti-rationalen
Tendenzen in den geistigen Auseinandersetzungen seiner Epoche den
Weg.
In
seiner intellektuellen Autobiographie "Der Erretter aus dem
Irrtum" machte al-Ghazali deutlich, dass er nach seiner
jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit den verschiedenen religiösen
Wissenschaften den Sufismus als das religiöse System betrachtete,
das den größten Heilsnutzen verspricht. So schrieb er hier:
„Ich
wusste mit Gewissheit, dass die Ṣufis diejenigen sind, die auf dem
Wege des erhabenen Gottes voranschreiten, besonders weil ihre
Lebensweise die beste aller Lebensweisen, ihr Weg der richtigste
aller Wege und ihre Gesinnung die reinste aller Gesinnungen ist. Ja
sogar, wenn man die Vernunft aller Vernünftigen, die Weisheit aller
Weisen und das Wissen der Gelehrten, denen sich die Geheimnisse der
Offenbarung erschlossen haben, in sich vereinigte, um auch nur etwas
von der Lebensweise und der Gesinnung der Ṣufis zu verändern und
durch etwas Besseres zu ersetzen, so würde ihnen dieses nicht
gelingen. Denn alle ihre Bewegungen und Ruhehaltungen, in ihrem
Äußeren wie auch im Inneren, sind der Lichtnische der Prophetie
entnommen. Hinter diesem Lichte der Prophetie gibt es kein anderes
Licht auf Erden, von dem Erleuchtung erlangt werden kann.“
Durch
Aussagen wie diese trug al-Ghazali maßgeblich zur allgemeinen
Anerkennung des Sufismus im Islam bei. Al-Ghazali gab auch dem
Dschihad durch die Neuinterpretation eines Koranverses eine neue,
Bedeutung: Nicht der Kampf auf dem Schlachtfeld sei Dschihad, sondern
der Kampf gegen das eigene sündige Ego.