ÖSTLICHE PHILOSOPHIE


Studie von Josef Maria von der Ewigen Weisheit


ERSTER TEIL
CHINESISCHE PHILOSOPHIE


ERSTES KAPITEL
KONFUZIUS

Zwei Jahre nach seiner Geburt, 551 vor Christus in Lu, starb sein Vater, und der junge Konfuzius erhielt 539−533 vor Christus Privatunterricht bei seinem Großvater. Mit 19 Jahren heiratete er. In den Jahren 532−502 vor Christus war er als Scheunenaufseher und in anderen niederen Beschäftigungsverhältnissen tätig.
Seine Mutter starb 529 vor Christus. Nach einem angeblichen Treffen mit Lao Tse in Luoyang 518 vor Christus musste er zwei Jahre später die Flucht vor internen Machtkämpfen ergreifen und Exil im Nachbarstaat Qi suchen. Nach seiner Rückkehr nach Lu begann etwa 500 vor Christus der politische Aufstieg des Konfuzius. Er wurde zunächst Bauminister und dann Justizminister von Lu und schließlich 498 vor Christus stellvertretender Kanzler.
497 vor Christus nimmt Herzog Ding von Lu 80 Singmädchen als Geschenk des Nachbarstaats Qi entgegen, woraufhin Konfuzius abermals ins Exil geht. Nun beginnt eine dreizehnjährige Wanderschaft durch verschiedene Staaten.
Erst 484 vor Christus erfolgt die Zurückberufung nach Lu. Dort erlebt er 482 vor Christus den Tod seines Sohnes Bo Yu und 481 vor Christus den Tod seines Lieblingsschülers Yan Hui und die Ermordung des Herzogs von Qi. Dies wird auch als der Beginn der „Zeit der Streitenden Reiche“ bezeichnet. 480 vor Christus stirbt sein Schüler Tse Lu auf dem Schlachtfeld und ein Jahr später stirbt auch Konfuzius selbst.
Über das Leben und Wirken des Konfuzius informiert vor allem ein ausführliches Kapitel in den Historischen Annalen von Sima Qian, der Jahrhunderte später während der Han-Dynastie lebte und schrieb. Hier heißt es:
Die Vorfahren des Konfuzius waren die Könige von Shang, denen der König von Zhou nach dem Sturz der Shang-Dynastie das Lehen von Song gegeben hatte. Die Familie verarmte jedoch später. Bereits in früher Jugend verlor Konfuzius seinen Vater und wurde von seiner Mutter allein aufgezogen.
Mit 19 Jahren heiratete Konfuzius und trat in den Dienst des Staats Lu ein. Mit 50 Jahren soll es ihm gelungen sein, einen Ministerposten zu erlangen. Diesen Posten soll er jedoch bereits ein paar Jahre später wieder enttäuscht quittiert haben. Anschließend zog er mit seinen Schülern als Wanderlehrer von einem Lehnsstaat zum anderen und wirkte als Berater an verschiedenen Fürstenhöfen. Drei Jahre vor seinem Tod kehrte er in seinen Heimatstaat Lu zurück. Erfolg war ihm nicht beschieden. Erst seine Schüler bauten seine Lehre aus und gewannen Einfluss.
Dass es schwierig ist, ein klares Bild von Konfuzius zu zeichnen, liegt daran, dass er kein einziges schriftliches Werk hinterlassen hat. Seine Lehren wurden erst hundert Jahre später von seinen Anhängern niedergeschrieben. Am meisten über seine Gedankenwelt erfahren wir aus den Gesprächen (Lun yu), in denen viele seiner Aussprüche überliefert sind.
Wenn du einen Würdigen siehst, dann trachte ihm nachzueifern. Wenn du einen Unwürdigen siehst, dann prüfe dich in deinem Innern!
Das einflussreichste Werk der ostasiatischen Geistesgeschichte ist das Lun yu. Es enthält die vier Grundbegriffe des Konfuzius: Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, kindliche Pietät und Riten.
Das menschliche Ideal ist für Konfuzius der Edle, er strebt danach, die vier Tugenden zu verwirklichen. Dabei stellen diese für Konfuzius lediglich ein Ideal dar, das niemals zu erreichen ist. Dies tritt in den Lun yu ebenfalls hervor, wenn es über den Meister selbst heißt: „Ist das nicht jener Mann, der weiß, dass seine Ideen nicht zu verwirklichen sind, aber dennoch nicht davon ablässt?“ Auch Konfuzius selbst beansprucht nicht, dieses Ideal zu erfüllen:
„Konfuzius sprach: Zum Weg des Edlen gehört dreierlei, aber ich bewältige es nicht: Richtiges Verhalten zu anderen Menschen − es befreit von Sorgen. Weisheit − sie bewahrt vor Zweifeln. Entschlossenheit − sie überwindet die Furcht. Tse Gong bemerkte: So beurteilt der Meister sich selbst.“
Wichtig ist jedoch, dass man nicht davon ablässt, sich diesem Ideal anzunähern. Der Edle bemüht sich, diesem Ideal so nahe wie möglich zu kommen, aber er weiß um die Unerreichbarkeit desselben. Redliches Bemühen ist also das faktische Ideal des Konfuzius, während das imaginäre Ideal als unerreichbar angesehen wird. Strebsamkeit ist somit erste Bedingung des Edlen: „Wer nicht danach strebt, dem eröffne ich die Wahrheit nicht.“
Dabei steht diese Entwicklung einem jeden offen, der sich nur darum bemüht. Als Mittel hierfür galten Konfuzius die Bildung und das Lernen. Es braucht daher keiner speziellen Anlagen, ein Edler zu werden: „Konfuzius sprach: Von Natur aus sind die Menschen einander ähnlich. Durch die Erziehung entfernen sie sich voneinander.“ Die Tatsache, dass die Menschen unterschiedlich sind, heißt nicht, dass sie dies ihrer Veranlagung nach sind. Wer die Unterschiedlichkeit zum Anlass nimmt, Menschen den Zugang zu Bildung zu verwehren, weil diese ihrer Veranlagung nach ungeeignet seien, der verwechselt die Ursache, die Erziehung, und die Wirkung. Deshalb fordert Konfuzius: „Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede machen.“
Derjenige, vor dem Konfuzius die größte Hochachtung hatte und der als Beispiel des wahrhaft Edlen galt, war Wu Tai Bo. Die Aussagen des Konfuzius wurden von seinen Schülern im Lun Yu aufgezeichnet. Im achten Kapitel steht bereits zu Beginn des Kapitels über Wu Tai Bo geschrieben: "Tai Bo ist ein wahrhaft edler Mensch. Er hat einen sehr hohen moralischen Charakter. Dreimal hatte er dem eignen Königsthron entsagt. Für das gemeine Volk lassen sich keine richtigen Worte finden, ihn zu loben."
Dem Lernen wird bei Konfuzius eine hohe Priorität eingeräumt. Es ist das bevorzugte Mittel, den Edlen zu formen, zu bilden. Der Edle ist also wortwörtlich gebildet. Das erste Wort des Lun yu ist „Lernen“: „Lernen und es von Zeit zu Zeit wiederholen, ist das nicht auch eine Freude?“ Das Lernen ist für Konfuzius das, was den Menschen erst zum Menschen macht, als kulturelles Wesen ist er dadurch bestimmt, dass er Wissen durch Traditionsbildung weitergibt. Wesentlich ist dabei, dass Bildung untrennbar mit der moralischen Forderung nach Selbstkultivierung verbunden ist: „Konfuzius sprach: Im Altertum lernte man, um sich selbst zu vervollkommnen; heute dagegen lernt man, um anderen gegenüber etwas zu gelten.“ Konfuzius lehnte es ab, Bildung als bloßes Mittel für egoistische und niederträchtige Zwecke einzusetzen. Zu lernen und sich zu bilden, ist dabei für Konfuzius eine Aufgabe, die jedem zukommt:
„Der Schüler Tse Gao wurde durch den Schüler Tse Lu zum Präfekten von Bi ernannt. Konfuzius meinte dazu: Damit verdirbst du fremder Leute Sohn. Tse Lu rechtfertigte sich: Er hat dort Land und Leute zu regieren. Warum muss man unbedingt Bücher lesen, um etwas zu lernen? Doch der Meister erwiderte: Wegen solcher Art Ausreden erregen zungenfertige Leute deines Schlags meinen Widerwillen.“
Allerdings gibt es für Konfuzius einen Unterschied zwischen totem Wissen und wahrer Bildung:
„Konfuzius sprach: Nehmen wir an, jemand kann alle dreihundert Stücke des Buchs der Lieder auswendig hersagen. Wird ihm aber eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen, dann versagt er. Ein solcher Mensch hat zwar viel gelernt, aber welchen Nutzen hat es?“
Konfuzius lehrte eine Philosophie des So-ist-es: „Wenn ein Freund von weit her kommt, ist das nicht auch eine Freude?“ Wer würde da nein sagen? Das einflussreichste Werk in der ostasiatischen Geistesgeschichte beginnt mit einer einfachen Feststellung, nicht mit Spekulationen über erste Ursachen der Welt oder höchste Prinzipien, wie etwa in der griechischen Philosophie. Auch plagen Konfuzius keine modernen Zweifel, ob es die Außenwelt wirklich gibt. Die Welt ist da und in ihr muss gelebt werden. Es geht Konfuzius nun darum, sie in ihrem So-sein zu bestimmen, ohne dieses auf andere Prinzipien zurückzuführen. Es herrscht also eine pragmatische Haltung gegenüber der Welt vor.
Zentraler Gegenstand der Lehre des Konfuzius ist die Gesellschaftsordnung, also das Verhältnis zwischen Kind und Eltern, Vorgesetzten und Untergebenen, die Ahnenverehrung, Riten und Sitten. Konfuzius lehrte, dass erst durch die Ordnung sich überhaupt Freiheit für den Menschen eröffnet. So wie die Regeln eines Spiels Bedingung dafür sind, dass die Freiheit des Spielens entsteht, bringt die wohlgeordnete Gesellschaft erst die Strukturen für ein freies Leben des Menschen hervor. Wie jeder Spieler aus Freiheit die Regeln akzeptiert, so akzeptiert auch der Edle Sittlichkeit und Pflichten. Ordnung unterdrückt also nicht die Freiheit, sondern eröffnet erst einen Handlungsraum, in dem menschliche Tätigkeiten einen Sinn bekommen. Es wäre hingegen das Chaos, als Gegenteil der Ordnung, welches eine Sphäre des Zwangs und der Bedrängnis entstehen lässt.
Während des Konfuzius lebendige Lehre noch eine Biegsamkeit gegenüber den gesellschaftlichen Regeln umfasste, um diese vor dem Erstarren zu bewahren, wurden in Teilen des Konfuzianismus die Regeln zum Selbstzweck und begannen, tatsächlich mehr einschränkend als befreiend zu wirken. Diese potentielle Gefahr seiner Lehre muss Konfuzius bewusst gewesen sein, wenn er beispielsweise über die Geisterverehrung spricht:
„Der Schüler Fan Chi fragte, was Weisheit sei. Konfuzius antwortete: Zu den Pflichten stehen, die man gegenüber dem Volke hat, die Geister verehren, aber nicht darin aufgehen, das kann man Weisheit nennen.“
Der Konfuzianismus ist eine der philosophisch-politischen Strömungen Chinas, die sich als Antwort auf eine tief greifende Krise der Gesellschaft herausgebildet haben und an die Lehre des Konfuzius anschließt. Schon im Lun yu sagt Konfuzius: „Wäre die Welt in Ordnung, dann brauchte ich mich nicht damit abzugeben, sie zu ändern.“
„Vor Konfuzius war die Kultur das Geheimnis der Heiligen auf dem Thron. Durch Konfuzius, den ungekrönten König, wurde sie einer Schule von Gebildeten anvertraut, die als Berater und Minister von Herrschern und Königen dafür gesorgt haben, dass, wo sie Einfluss hatten, die Macht durch Recht und Sitte geheiligt wurde. Das Problem des Konfuzius war die naturgemäße Organisation der Menschheit. Für den Aufbau seines Systems wählte er eine Ellipse mit zwei Brennpunkten. Der eine Brennpunkt war für ihn das Innere des Menschen, der andere die menschliche Gesellschaft.“ (Richard Wilhelm)


ZWEITES KAPITEL
LAO TSE

Der Überlieferung nach wurde Lao Tse in der Präfektur Ku des Staates Chu geboren. Ein anderer Name für ihn ist Lao Dan (Altes Langohr). Lao Tse diente als Archivar in der Bibliothek der Zhou. Als er Chaos und den Verfall des Reiches vorhersah, verließ er das Land. Westlich von Xian, bei Louguan Tai befindet sich am Shan-Gu Pass ein Tempel, in dem Yin Xi, auch Yin Wenshi genannt, ein Gelehrter der Zhou der Periode der Frühlings- und Herbstannalen, einen Turm zur Beobachtung von Gestirnen und Wetter errichtet hatte. Hier wurde Lao Tse der Legende zufolge von ebendiesem Yin Xi aufgefordert, sein Wissen mitzuteilen. Die Sammlung seiner Lehren, welche er daraufhin schrieb, wurde als Tao Te King bekannt. Die Historischen Annalen berichten, dass Lao Tse nach dessen Niederschrift im Westen verschwand. Yin Wenshi, der den taoistischen Namen Guan Ling trug, war Berater des Kronprinzen. Er legte nach seiner Begegnung mit Lao Tse alle weltlichen Ämter nieder und folgte den Lebensregeln des frühen Taoismus.
Den Legenden nach wurde Lao Tse über 160 Jahre alt, andere Quellen sprechen sogar von 200 Jahren. Dieses hohe Alter erreichte er durch Vollkommenheit im Tao. Nach seinen eigenen Lehren suchte Lao Tse Zurückgezogenheit und Namenlosigkeit. Dies steht im Widerspruch zur Bekanntheit seiner Person. Tschuang Tse kritisierte: „Um sie so fest an sich zu binden, muß er Worte gesprochen haben, die er nicht sprechen durfte. Das ist aber ein Abweichen von der himmlischen Natur."
Ab dem 2. Jahrhundert während der Han-Dynastie entwickelte sich die Gestalt des Lao Tse zum Hochgott des Taoismus, und er wurde als einer der Drei Reinen in das Pantheon des Taoismus aufgenommen. Er verkörperte den Heiligen, wie er bei Tschuang Tse beschrieben wird, und seine Züge vermischten sich mit den Gottheiten Tai Yi und Huang Di. Er gilt als Verkörperung des Tao und seine Gestalt wurde kosmisiert. So nahm man an, er weile im Sternbild des Scheffels (Großer Bär) und steige auf und ab als Vermittler zwischen der himmlischen und der irdischen Welt. Sein Sitz ist der Mittelpunkt des Sternenhimmels und der Himmelsrichtungen. In der Ikonographie ist er umgeben von den vier heraldischen Tieren, die diese symbolisieren. Lao Tse wandelt sich mit den Zyklen der Zeit und nimmt vielerlei Formen an. Er ist gleich dem Tao in der Lage, sich ins Unendliche auszudehnen und unendlich klein zu werden.
In einigen taoistischen Schulen wurde sogar angenommen, Lao Tse sei das Tao selbst. So geht gemäß diesen Schulen seine Existenz dem Universum voraus, und er tritt in ihm als Gestalter der kosmischen Ordnung auf. In unzähligen Inkarnationen ist er der weise Berater der Kaiser und unterweist die taoistischen Adepten, so dass er als immer wiederkehrender Lehrer und Verkünder der unterschiedlichen Schulen des Taoismus erscheint.
In der westlichen Welt wird Lao Tse meist als Philosoph verstanden, welcher mit seinem Werk Tao Te King einen prägenden Einfluss auf den Taoismus ausübte. In seiner Einleitung zum Tao Te King schreibt Richard Wilhelm:
„Das, was man heutzutage Taoismus zu nennen gewohnt ist, geht in Wirklichkeit auf ganz andere Quellen zurück als den Tao Te King des Lao Tse. Dennoch würde es verkehrt sein, Lao Tse aus dem Zusammenhang des chinesischen Geisteslebens herauszuschälen, denn er ist mit tausend Fäden damit verknüpft.“
Tao Te King, das einzige Werk, das Lao Tse zugeschrieben wird, umfasst etwa 5000 altchinesische Schriftzeichen. Es existieren zahlreiche Übersetzungen, die sich allesamt erheblich unterscheiden, da es keineswegs einfach ist, in der Vieldeutigkeit vieler dieser Zeichen den ursprünglichen Gedanken zu erkennen und angemessen zu formulieren. Einige der Übersetzungen sind schwer mit dem trotz dieser Vieldeutigkeit erkennbaren Gedankengut des Tao Te King zu vereinbaren, da sie eine stark esoterische Terminologie verwenden, die den zumeist sehr klaren Beobachtungen Lao Tse's nicht gerecht werden kann, oder auf andere Weise mehr von den Ansichten des Übersetzers selbst einfließt als von Lao Tse.


DRITTES KAPITEL
MO TI

Mo Ti (Meister Mo), latinisiert Micius genannt, lebte im späten 5. Jahrhundert vor Christus, wirkte hauptsächlich in Nordchina und war Begründer und Namensgeber des Mohismus, einer Schule der chinesischen Philosophie. Der Mohismus war eine am Wohlergehen des Volkes ausgerichtete Denkrichtung. Die straff organisierte mohistische Schule war bereits im 3. Jahrhundert vor Christus in drei Gruppen gespalten und hatte ein Jahrhundert später vollends an Bedeutung verloren. Im Gegensatz zu Konfuzius soll Mo Ti zumindest einen Teil seiner in großem Umfang erhaltenen Schriften selbst verfasst haben.
Vom sechsten bis zum dritten vorchristlichen Jahrhundert war China Schauplatz der sogenannten „Wanderphilosophen“, Männer, die mit der gesellschaftlichen Situation unzufrieden waren und durch die Lande reisten, um den Herrschern von ihren Überlegungen zu berichten und um sie in die Tat umzusetzen. Der wohl bekannteste dieser Philosophen ist Konfuzius.
Alle beschäftigten sie sich mit grundlegenden Fragen, zum Beispiel, wie eine perfekte Gesellschaftsordnung auszusehen habe und was diese zusammenhält. Dabei treten unweigerlich Fragen nach dem Recht auf: gibt es Gesetze, und wenn ja, wer erlässt diese, wie sehen die Gesetze aus und wie wird für ihre Befolgung gesorgt.
Die Angaben über die Person des Mo Ti sind dürftig und teilweise spekulativ. Er lebte wohl zwischen 490 und 381 vor Christus. Es ist möglich, dass Mo Ti noch vor dem Tod des Konfuzius geboren wurde, der mit dem Jahre 479 vor Christus angegeben wird.
Sein Heimatstaat war Lu oder Song, Mo war sein Familienname und sein Vorname Ti. Mo Ti entstammte einer niederen gesellschaftlichen Schicht, die Annahmen seiner Tätigkeit reichen vom Handwerker über den Schreiber bis hin zum hohen Beamten. Seine Anstellung als Beamter ist jedoch unwahrscheinlich.
Die Zeit, in der Mo Ti lebte, war geprägt durch den Zerfall des alten Patriarchats und die Auflösung der feudalen Strukturen. Die Gesellschaft machte eine Entwicklung durch, in der die unteren Schichten ihre passive Rolle verließen und die oberen Schichten sich der willkürlichen Ausbeutung der unteren Schichten zunehmend widmeten. Das Land war gebeutelt von Kriegen und die gemeine Bevölkerung versank in Chaos und Armut.
Mo Ti verleiht diesem Umstand durch Nennung von sieben Missständen Ausdruck: Investition in Prunk anstatt in Verteidigung; keine Hilfe der Nachbarn bei feindlichem Angriff; nutzlose Erschöpfung der Kräfte des Volkes; Korruption und Willkür der Beamten; Unwissenheit und Hochmut des Fürsten und dadurch nicht ausreichende Verteidigungsmaßnahmen; Glaube an Lügen; zu wenig Lebensmittel, ungeeignete Beamte und Wirkungslosigkeit von Belohnungen und Bestrafungen.
Basiert die vollendete Gesellschaft nach Konfuzius auf der Mit-Menschlichkeit, so nimmt diesen Platz in Mo Ti's Theorie die Rechtschaffenheit ein. Wie bereits in den Begriffen anklingt, entsteht die Menschlichkeit nach Konfuzius im Menschen selbst und wirkt aus ihm heraus. Die Rechtschaffenheit jedoch ist nach Mo Ti eine dem Menschen von außen durch Zwang auferlegte Tugend.
Dieser grundlegende Unterschied lässt sich auch anhand des Bildes des Himmels nachvollziehen. Während der Himmel bei Konfuzius eine abgerückte, ungreifbare und unpersönliche Wesenheit darstellt, deren Wille im Menschen selbst verankert ist und in ihm wirkt, so sieht Mo Ti ihn als eigenständige Persönlichkeit an, die der Erde sehr nahesteht. Ebenso wie die Tugend bei Konfuzius aus sich heraus entspringt, hat sie sich selbst zum Zweck. Mo Ti jedoch betrachtet selbst die Tugend und somit den Willen des Himmels aus der Perspektive des Volkes. Die Rechtschaffenheit dient der Stabilität des politischen Systems.
Der Gedanke der Mitmenschlichkeit ist zwar auch im Gedankengut Mo Ti's fest verankert, rückt jedoch in der Hierarchie unter die Rechtschaffenheit, zu deren Erhalt sie dient. Sie erfährt eine Veränderung dadurch, dass Mo Ti sie von den Beschränkungen durch die Teilung der Gesellschaft, wie sie Konfuzius vorsah, freimacht. Er fordert eine Mitmenschlichkeit, die nicht der festen Einordnung des Individuums in die Gesellschaft unterliegt, die sich besonders in der pietätvollen Fügsamkeit äußerte. Somit geht Mo Ti noch einen Schritt weiter als Konfuzius und weitet den Fokus von der herrschenden Klasse auf die gesamte Gesellschaft aus. Während sich bei Konfuzius Volk und Herrscher nicht vermischen, so ist die Trennlinie bei Mo Ti in beide Richtungen durchlässig.
„Daher wurde zu jener Zeit nach Tugendhaftigkeit eingestuft, wurden je nach Amt die Aufgaben übertragen, je nach persönlichem Einsatz die Belohnungen festgesetzt und entsprechend den Leistungen wurde das Gehalt aufgeteilt. So war ein Beamter nicht unbedingt auf Dauer in seiner gehobenen Position und die Leute waren nicht auf immer dazu verdammt, als Gemeine zu leben. Hatte einer Fähigkeiten, wurde er ausgewählt, war er aber unfähig, wurde er seines Amtes enthoben.“
Die Gleichheit der Menschen drückt sich also nicht in tatsächlicher materieller Hinsicht aus, sondern vielmehr in Chancengleichheit und Gleichheit der Bewertungsmaßstäbe. Mo Ti sieht in der differenzierten Mitmenschlichkeit die Ursache der mangelnden Gerechtigkeit.
„Und wenn wir diejenigen im Reich herausgreifen und benennen, die andere hassen und schädigen, werden ihre Handlungen durch Universalität oder durch Parteilichkeit veranlaßt? Die Antwort ist gewiß: Durch Parteilichkeit.“
„Die Lehre von der Universalität ist wohl menschlich und rechtschaffen.“
Menschlichkeit und Rechtschaffenheit sind also Kriterien für Universalität und dieser daher übergeordnet.
Die Grundlage der Überlegungen Mo Ti's bildet eindeutig sein Menschenbild. Seiner Meinung nach handelt ein Mensch, der ohne feste gesellschaftliche Umgebung aufwächst, egoistisch und kurzsichtig.
Als es „noch keine Rechtsprechung und keine Regierung“ gab, war die „Unordnung im Reich so, als handele es sich um wilde Tiere. Es gab keine Vorschriften für die Beziehungen zwischen Fürst und Untertan, Vorgesetztem und Untergebenem, Älteren und Jüngeren, keine Verhaltensmaßregel für das Verhalten von Vater und Sohn und älterem und jüngerem Bruder; daher war das Reich in Verwirrung.“
Von sich aus sind die Menschen nicht in der Lage, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln und ihre Ansichten abzugleichen.
Die Zeit, in der er lebte, und die Perspektive, aus der er die Gesellschaft wahrnahm, nämlich aus der des einfachen Volkes, sind maßgebend für die Ziele Mo Ti's. Er entwickelte ein dem Konfuzianismus ähnliches System, welches auf die Bedürfnisse des einfachen Mannes zurechtgeschnitten war. Sein Bestreben galt der Gerechtigkeit, dem Frieden und dem Wohlstand des Volkes.
Mo Ti's gesellschaftliches Ideal war die allgemeine Nächstenliebe und der gegenseitige Nutzen. Auf die Frage, wie die Misere des Landes zu beenden sei, antwortet Mo Ti: „Mit der allumfassenden gegenseitigen Liebe und der gegenseitigen Unterstützung aller läßt es sich ändern.“
Die geforderte allgemeine Nächstenliebe ist neben dem Utilitarismus eine der großen Neuerungen Mo Ti's. Standen sich Nutzen und Moral bei Konfuzius noch gegenüber, so gehen sie bei Mo Ti eine Synthese ein. Die Nächstenliebe ist nützlich.
„Jetzt habe ich gezeigt, daß die Universalität den größten Nutzen für das Reich mit sich bringt.“
Die allgemeine Nächstenliebe besteht für Mo Ti darin, nicht länger zwischen sich selbst und seinen Mitmenschen zu unterscheiden. Dies ist auf alle Strukturen erweiterbar, die Familie jedes anderen ist wie die eigene und auch andere Staaten sind wie der eigene.
„Meister Mo Ti sagte: Wenn man andere Staaten wie den eigenen betrachtet und andere Familien wie die eigene und andere Menschen wie sich selbst, dann werden die Feudalfürsten einander lieben und keinen Krieg miteinander führen, und die Familienvorstände werden untereinander Freundschaft pflegen und nicht aufeinander übergreifen, und die Menschen werden einander lieben und nicht schädigen. Und Elend, Übergriffe, Unzufriedenheiten und Haß werden in der ganzen Welt nicht mehr aufkommen können. Dies hat seinen Grund in der gegenseitigen Liebe.“
Die Grenze zwischen dem Ego und der restlichen Gesellschaft wird also aufgehoben. Jeder, der in seinem eigenen Sinne handelt, handelt automatisch im Sinne der Gesellschaft und umgekehrt.
„Es ist die Aufgabe eines Menschlichen, sich um die Mehrung des Nutzens im Reiche zu mühen, Schaden von ihm abzuwenden und ein Vorbild für die Welt zu sein. Deshalb tut er das, was den Menschen nützt und unterlässt, was ihnen nichts nützt. Darüber hinaus denkt der Menschliche, wenn er den Nutzen des Reiches plant, nicht nur an das, was das Auge erfreut, dem Ohr behagt, dem Gaumen schmeckt und dem Körper angenehm ist. Denn wenn er dazu das Volk der für Kleidung und Nahrung notwendigen Güter berauben müsste, würde er das unterlassen.“
„Den Willen des Himmels macht er also zum Maßstab und stellt es als Richtschnur auf, um damit Menschlichkeit und Unmenschlichkeit bei den Königen, Fürsten und Großen des Reiches zu ermitteln, so als unterscheide er zwischen schwarz und weiß.“
Die allgemeine Nächstenliebe und der gegenseitige Nutzen finden primär Anwendung auf horizontaler Ebene, obwohl auch vertikal angewandt, hier aber im Gegenteil zur Menschlichkeit in beiden Richtungen.
„Wenn Untertanen und Söhne ihren Fürsten und Vätern keine kindliche Pietät bezeugen, dann nennt man das Verwirrung. Wenn selbst der Vater gegenüber seinem Sohn, der ältere gegenüber seinem jüngeren Bruder oder der Fürst gegenüber seinem Untertan keine liebevolle Gesinnung hegt, so ist dies auch ein Zustand, den man Unordnung im Reiche nennt. Und wenn die Würdenträger ihre Familien gegenseitig in Unordnung bringen und die Lehnsfürsten sich untereinander bekämpfen, dann ist es ebenso. Alle Fälle von Verwirrung im Reiche sind darin enthalten. Und untersucht man, worin sie ihren Grund haben, so ist es immer der Mangel an gegenseitiger Liebe.“
„Nimmt man den Himmel zum Vorbild, dann muß man sich in allem seinem Tun am Himmel orientieren und das, was der Himmel wünscht, befolgen, und unterlassen, was er nicht wünscht. Ganz gewiß wünscht der Himmel, daß die Menschen einander lieben und sich gegenseitig unterstützen.“
Die Maßnahmen, die Mo Ti für die Umsetzung seiner Ideen vorsieht, lassen sich in zwei Bereiche teilen. Auf der einen Seite der Weg zu Friede, Menschlichkeit und Gerechtigkeit und auf der anderen Seite das Erreichen des Wohlstandes. Die hauptsächliche Erfüllung dieser beiden Hauptziele obliegt verschiedenen gesellschaftlichen Schichten.
„Wenn sich die Oberen ganz für die Regierung einsetzen, dann ist der Staat wohlgeordnet, und wenn die Unteren mit ganzer Kraft ihren Pflichten nachkommen, dann werden Güter und Mittel ausreichen.“
Fußend auf Mo Ti's Menschenbild fordert er ein System, welches die Menschen durch Belohnungen und Strafen zwingt, sich seiner Vorstellung gemäß zu benehmen. Die Implementierung dieses Systems läuft parallel auf zwei Ebenen ab, auf sakraler und irdischer Ebene gleichzeitig.
Der Maßstab ist der Wille des Himmels. An ihm muss sich jeder Mensch ausrichten. Um dies zu gewährleisten, zieht Mo Ti die Geister und Götter heran, die zu seiner Zeit im Volksglauben stark verankert waren und macht sie zu Agenten des Himmels. Diese Geister und Götter kennen den Willen des Himmels und lassen sich von ihm führen. Sie sehen und hören immer alles und sind befugt, zu belohnen oder zu bestrafen.
„Dem wachen Auge der Geister kann man sich auch in düsteren Tälern oder weiten Sümpfen, in Bergen, Wäldern oder tiefen Schluchten nicht entziehen, denn die Augen der Geister werden einen dennoch sehen.“
„Wenn man heute alle Menschen im Reiche dazu veranlassen könnte, zu glauben, dass die Geister in der Lage sind, die Tüchtigen zu belohnen und die Schlechten zu bestrafen, wie könnte es dann im Reiche Unordnung geben?“
Obgleich hier der Hauptaspekt nicht die Existenz der Geister, sondern vielmehr der Glaube der Menschen an die Existenz der Geister ist, wird doch deutlich, dass dieser Glaube von elementarer Bedeutung für die Wirksamkeit dieses Zweiges der Implementierung des Wertesystems ist. Die Wertmaßstäbe wirken also nicht von außen auf den Menschen, sondern vermittels des Geisterglaubens aus ihm heraus. In dieser Instrumentalisierung der Geister findet der utilitaristische Grundgedanke mit dem Ziel, die Unordnung zu beseitigen, Ausdruck.
Um das Reich aus dem Chaos zu führen, muss es von einem obersten Herrscher vereint werden.
„Daher wurde der fähigste Weise des Reiches ausgewählt und als Himmelssohn eingesetzt.“
Dieser kann nicht vom Volk gewählt werden, da es dazu aufgrund seiner Beschränktheit und Selbstsucht nicht in der Lage ist. Auch der Gedanke, den Herrscher von einer Gruppe Weiser ernennen zu lassen, wird gleich wieder verworfen, denn der Herrscher darf keine andere Machtinstanz über sich haben außer dem Himmel. Somit obliegt es zwangsläufig dem Himmel, den Herrscher zu bestimmen. Das geschieht durch Anlegen des Maßstabes, also dem Willen des Himmels.
Ist der Himmelssohn einmal installiert, so besteht seine Aufgabe darin, Standards zu erlassen, die die Gesellschaft aus dem Urzustand führen sollen.
Da das Land allerdings zu umfangreich ist, um von einer Person alleine vereinheitlicht zu werden und als „man sah, dass seine Kraft nicht ausreichte, da wählte man auch andere fähige und weise Männer des Reiches aus und machte sie zu den drei Ministern.“
Diese „teilten sie das Ganze in zahllose Gebiete und setzten Feudalfürsten und Landesherren ein. Und man wählte die weisesten und fähigsten Männer jedes Landes aus und setzte sie als Beamte ein.“
So wird das Land in immer kleinere Bereiche geteilt, bis hinab zu den Gemeinden. Jedem Teil auf jeder Ebene wird ein Mann vorgestellt. Als Kriterium gilt die Menschlichkeit:
„Der menschlichste Mann einer jeden Gemeinde wurde der Gemeindevorsteher.“
„Bezirksvorsteher war der menschlichste Mann im Bezirk.“
„Fürst war der menschlichste Mann seines Landes.“
Nach der Installation dieses hierarchischen Systems verkündete der Himmelssohn seine Regierungspolitik.
„Wenn einer Gutes oder Schlechtes erfährt, dann soll er seinem Vorgesetzten davon berichten. Und was der Vorgesetzte für richtig hält, das müssen alle für richtig halten, und was er für falsch hält, das müssen alle für falsch halten. Wenn ein Vorgesetzter einen Fehler begeht, dann soll man sich in angemessener Weise beklagen, und wenn seine Untertanen Gutes tun, soll sie der Vorgesetzte empfehlen.“
Diese Verhaltensregeln werden dem Volk in den Gemeinden vom Gemeindevorsteher beigebracht. Er richtet die Menschen am Bezirksvorsteher aus, dessen Aufgabe es ist, „die Ansichten im Bezirk zu vereinheitlichen.“
Der Bezirksvorsteher wiederum richtet die Menschen am Landesfürsten aus und dieser sie am Himmelssohn. Auf allen Ebenen bis hin zum Himmelssohn werden die Meinungen der Menschen weiter vereinheitlicht.
„Denn prüft man, worauf die gute Ordnung im Reiche beruht, so liegt sie einfach daran, dass der Himmelssohn die vielfältigen Ansichten in seinem Reiche zu vereinheitlichen versteht.“
Wenn Untertanen und Herrscher verschiedene Ansichten haben, werden jene, welche der Herrscher belohnt, vom Volk verachtet werden, und solche, die er bestraft, vom Volk gelobt.
Das Volk hat kein Recht, sich gegen den Himmelssohn zu erheben. Sollte dieser jedoch nicht gemäß dem Willen des Himmels regieren, so wird das ganze Land von Naturkatastrophen heimgesucht und somit der Herrscher und das Volk bestraft.
„Aber selbst wenn sich jeder mit dem Himmelssohn identifiziert, aber nicht im Einklang mit dem Himmel ist, dann nehmen die Naturkatastrophen kein Ende.“
„Dadurch wurden die Einwohner des Reiches alle sehr erschreckt und fürchteten sich und wagten nicht, Schlechtes zu tun, und sagten: Augen und Ohren des Himmelssohnes haben übernatürliche Fähigkeiten.“
Der Wille des Himmels (tian zhi) ist das Fundament des Mohismus. Er beschreibt die Grundlagen der funktionierenden Gesellschaft, zu deren Erlangen und Erhalten alles andere dient. Der Himmel greift nicht unmittelbar in die Welt ein, sondern über seine Agenten und über den Himmelssohn. Die Kommunikation mit diesen verläuft über den Willen des Himmels.
„Der Himmel wünscht nicht, dass große Staaten kleine angreifen, dass große Familien bei kleinen Verwirrung stiften, dass die Starken den Minderheiten übel mitspielen, dass die Schlauen die Dummen überlisten und die Vornehmen die Geringen verachten. Er will, dass die Kräftigen ihre Mitmenschen unterstützen, die Gebildeten ihre Mitmenschen belehren und die Begüterten mit ihren Mitmenschen teilen. Auch will er, dass die Oberen sich ganz für die Regierung und die Unteren sich mit ihrer ganzen Kraft bei ihren Aufgaben einsetzen.“
„Der Himmel wünscht Gerechtigkeit und hasst Unrecht.“
„Der Himmel wünscht Leben und hasst Tod, er wünscht Wohlstand und hasst Armut, er wünscht Ordnung und hasst Unordnung.“


VIERTES KAPITEL
TSCHUANG TSE

Wie bei fast allen seinen Zeitgenossen sind die biografischen Daten Tschuang Tse's nur bruchstückhaft und nicht gesichert. Die wesentlichen Angaben stammen von Sima Qian. Seinen Historischen Annalen zufolge hatte Tschuang Tse eine Zeit lang ein Amt in dem Ort Qiyuan inne, der zu Meng im Staat Song gehörte:
„Tschuang Tse stammte aus Mong. Sein Rufname war Dschou. Er hatte eine Zeit lang ein Amt in der Stadt Tsi Yüan, die zu Mong gehörte. Er war Zeitgenosse der Könige Hui von Liang und Süan von Tsi. Er besaß überaus umfassende Kenntnisse, doch hielt er sich hauptsächlich an die Worte des Lau Dan. So schrieb er ein Werk, das über hunderttausend Worte enthält, die zum großen Teil aus Zitaten und Gleichnissen bestehen. Er schrieb das Buch vom alten Fischer, vom Räuber Dschi, vom Kisten aufbrechen, um die Schüler des Kung Tse zu verhöhnen und die Lehren des Lau Dan zu erklären. Namen wie We Le Hü und Gong Sang Tse sind lauter freie Erfindungen, denen nichts Wirkliches zugrunde liegt, doch er war Meister des Stils. Durch Andeutungen und Schilderungen verstand er es, die Anhänger des Kung Tse und Mo Ti zu verhöhnen, dass auch die tüchtigsten Gelehrten seiner Zeit sich seiner nicht erwehren konnten. So ergötzte er sich an seinem prickelnden, fließenden Stil in stolzer Selbstgenügsamkeit. Darum konnten auch Fürsten und Könige und hohe Beamte sich seiner nicht bedienen.“
Bis auf ein Aufseher-Amt in einem Lackgarten verweigerte sich Tschuang Tse wohl allen Ämtern. Eine Haltung, die sich bereits im ersten Kapitel ausdrückt: Als der heilige Herrscher Yau – eine der bedeutendsten Figuren in der chinesischen Überlieferung – ‚Freigeber‘ die Führung des Reichs anbietet, so antwortet dieser:
„Freigeber sprach: Ihr habt das Reich geordnet. Da nun das Reich bereits in Ordnung ist, so würde ich es nur um des Namens willen tun, wenn ich Euch ablösen wollte. Der Name ist der Gast der Wirklichkeit. Sollte ich etwa die Stellung eines Gastes einnehmen wollen? Der Zaunkönig baut sein Nest im tiefen Wald, und doch bedarf er Eines Zweiges nur. Der Maulwurf trinkt im großen Fluss, und doch bedarf er nur so viel, um seinen Durst zu stillen. Geht heim! Lasst ab, o Herr! Ich habe nichts mit dem Reich zu schaffen.“
Die höchste Ehre wird hier mit dem Hinweis auf die einfachsten körperlichen Bedürfnisse ausgeschlagen: So wie der Maulwurf nur soviel trinkt, wie er durstig ist, ist auch ‚Freigeber‘ schon zufrieden, wenn er einen vollen Magen hat. Da Tschuang Tse wohl entsprechend im wirklichen Leben handelte, herrschten in seiner Familie oft ärmliche Verhältnisse.
Tschuang Tse pflegte Kontakt zu verschiedenen anderen Philosophen und Philosophie-Schulen. Er soll der Schüler des Tian Zifang gewesen sein, welcher wiederum der Schüler eines Schülers des Konfuzius war. In seinen Schriften finden sich deswegen an einigen Stellen konfuzianische Züge, insbesondere die Frühlings- und Herbstannalen werden mit Achtung erwähnt. Im Vergleich zu anderen historischen Persönlichkeiten fällt auf, dass Tschuang Tse meist recht menschlich dargestellt wird, ohne jegliche Idealisierung, wie dies beispielsweise bei Lao Tse der Fall ist. Nirgendwo ist von einer Schule des Tschuang Tse oder seinen Anhängern die Rede, lediglich einige Gesprächspartner tauchen im Werk selber auf.
Das Buch „Tschuang Tse“ ist eine Textsammlung, deren Autorschaft teilweise ungeklärt ist. Nach allgemeinem Dafürhalten schreibt man der Person Tschuang Tse nur die ersten sieben Kapitel zu, die anderen Kapitel mögen von Anhängern seiner Schule zusammengetragen worden sein.
„Tschuang Tse gibt uns nicht nur taoistische Lebensweisheit, sondern eine richtige taoistische Philosophie. Seine philosophischen Grundlagen finden sich in den ersten 7 Büchern, dem sogenannten inneren Abschnitt. Das erste Buch heißt: Wandern in Muße. Es bildet die Exposition des Ganzen. Das irdische Leben mit seinen Schicksalen und Einflüssen wird verglichen mit einer kleinen Wachtel, während das Leben in seliger Muße frei ist von aller Kleinlichkeit. Es wird verglichen mit dem ungeheuren Vogel Pong, dessen Flügel wie hängende Wolken durch den Himmel fahren. Von besonderer Wichtigkeit ist das zweite Buch: Vom Ausgleich der Weltanschauungen. Hier wird die Lösung der philosophischen Streitfragen der Zeit vom taoistischen Standpunkt aus gegeben. Tschuang Tse hat im Anschluß an das Tao Te King alle diese entgegengesetzten, in logischen Auseinandersetzungen begriffenen Anschauungen in ihrer notwendigen Bedingtheit erkannt. Da keine Seite ihr Recht beweisen konnte, fand Tschuang Tse den Ausweg von der Disputation zur Intuition. Im dritten Buch kommt die praktische Anwendung dieser Erkenntnis. Es gilt den Herrn des Lebens zu finden, nicht irgend eine besondere einzelne Lage zu erstreben, sondern den Hauptlebensadern nachzugehen und sich mit der äußeren Stellung abzufinden, in der man sich vorfindet. Denn nicht eine Veränderung der äußeren Verhältnisse ist es, die uns retten kann, sondern eine andere Einstellung zu den jeweiligen Lebensverhältnissen vom Tao her. Dadurch ist der Zugang gegeben zu der Welt, die jenseits der Unterschiede ist. Im vierten Buch führt der Schauplatz aus dem Einzelleben hinaus in die Menschenwelt. Auch hier gilt es, das Umfassende des Standpunktes zu wahren, sich nicht zu binden, in irgendwelche Vereinzelung hinein. Denn die Vereinzelung gibt zwar Brauchbarkeit, aber gerade diese Brauchbarkeit ist der Grund dafür, dass man verwendet wird. Man wird eingespannt in den Zusammenhang der Erscheinungen, wird ein Rad in der großen Gesellschaftsmaschine, aber eben dadurch zum Berufsmenschen und einseitigen Fachmann, während der Unbrauchbare, der über den Gegensätzen Stehende eben dadurch sein Leben rettet. Das fünfte Buch handelt vom Siegel des völligen Lebens. Es zeigt durch verschiedene Parabeln, wie die innere Berührung mit dem Tao, die das wahre absichtslose Leben gibt, einen inneren Einfluss über die Menschen ausübt, vor dem jede äußere Unzulänglichkeit verschwinden muß. Es sind Geschichten von Krüppeln und Menschen von monströser Häßlichkeit, durch die diese Wahrheit gerade wegen des Paradoxen der äußeren Verhältnisse am deutlichsten sich kundgibt. Zu den wichtigsten Büchern des Tschuang Tse gehört das sechste: Der große Ahn und Meister. Es behandelt das Problem des Menschen, der zu dem großen Ahn und Meister, zum Tao, den Zugang gefunden hat. Die wahren Menschen fürchteten sich nicht, einsam zu sein. Sie vollbrachten keine Heldentaten, sie schmiedeten keine Pläne. Sie kannten nicht die Freude am Leben und nicht die Abneigung vor dem Tode. Gelassen kamen sie, gelassen gingen sie. Das siebente Buch: Für den Gebrauch der Könige und Fürsten, bildet den Abschluss und handelt von dem Herrschen durch Nichtherrschen. Der höchste Mensch, heißt es da, gebraucht sein Herz wie einen Spiegel. Er geht den Dingen nicht nach und geht ihnen nicht entgegen. Er spiegelt sie wider, aber er hält sie nicht fest.“
Die formale Textgestalt des „Tschuang Tse“ ist charakterisiert durch eine für das alte China inhaltliche und stilistische Komplexität und poetische Kunstgriffe. Einige Passagen sind in Reimform verfasst. Die Sprache des Werkes weist auf eine sonst nicht weiter überlieferte Tradition hin, die wohl im Süden Chinas im Staate Song lebendig war. Im Gegensatz zu Lao Tse kleidet Tschuang Tse seine Meinungen und Erkenntnisse in kunstvoll formulierte Parabeln, kurze Abhandlungen zu philosophischen Problemen und anekdotenhafte Dialoge und Erzählungen. Dies hat zur Folge, dass die Anzahl der Wörter, denen der Status eines Fachbegriffs zugewiesen kann, recht gering ist. Einige sind der konfuzianischen Tradition entnommen.
Tschuang Tse lebte in einer Zeit großer politischer und geistiger Umbrüche. Während dieser Zeit der Streitenden Reiche kämpften verschiedene Fürsten um die Vorherrschaft, die alten Traditionen und Riten wurden nicht mehr mit dem vormaligen Ernst gepflegt und auch das Vertrauen in die oberste Gottheit, den Himmel (tian) war im Schwund begriffen, wenngleich sich Konfuzius um eine Erneuerung bemüht hatte und Mencius den Himmel zum abstrakten obersten Prinzip der konfuzianischen Philosophie ausbaute. Zugleich entstand eine Vielzahl von anderen philosophischen Schulen, welche sich gegenseitig bekämpften, weshalb man auch von der Zeit der Hundert Schulen spricht.
Man kann davon ausgehen, dass Formen und Ansätze, die dem taoistischen Denken ähnlich sind, schon zur Zeit der Person Tschuang Tse's vorhanden waren und dieser an sie anknüpfte, wenngleich das Werk Tschuang Tse zusammen mit dem Lao Tse's die frühsten schriftlichen Quellen darstellen.
Die zur Zeit Tschuang Tse's wichtigste philosophische Schule war der Konfuzianismus. Seine genauen Kenntnisse hierüber nutzte Tschuang Tse vor allem zu scharfer und pointierter Kritik, so ersann er humorvolle Begegnungen zwischen Konfuzius und Lao Tse, die den Konventionalismus und Zeremonialismus der Konfuzianer als übertrieben erscheinen lassen.
Viele der Geschichten rühmen die Nutzlosigkeit und zeigen eine Ablehnung konfuzianischer Selbstkultivierung. Darüber hinausgehend werden an vielen Stellen die Konfuzianer mit ihren Regeln und Vorschriften für den bedauernswerten Zustand der Welt verantwortlich gemacht. Die im „Tschuang Tse“ erscheinende Zivilisations- und Kulturkritik wurde zu einem wesentlichen Element der chinesischen Geisteswelt, und der gepriesene Rückzug in die idyllische Natur übte auf die chinesische Gelehrtenschicht einen starken Einfluss aus.
Tschuang Tse lehnte dabei die kulturellen Formen, Sitten, Bräuche und Wahrnehmungsmuster nicht grundsätzlich ab, versucht aber ihnen gegenüber eine Biegsamkeit und Spontaneität zu erlangen, so dass er vorgegebenen Interpretationsmustern nicht mehr ausgeliefert war. Er sah den Fehler der Konfuzianer darin, dass diese vergessen, dass Anstand und Sitte von ihnen selbst aufgestellt sind. Gerät der menschliche Ursprung nämlich in Vergessenheit, so ist der einzelne den starren Regeln des Zusammenlebens ausgeliefert, die nicht mehr bloß einem Miteinander dienen, sondern umgekehrt den einzelnen einschränken und ihn seiner Spontaneität berauben.
Tschuang Tse verwies darauf, dass die Menschen vergangener Zeitalter noch einen ursprünglichen Bezug zu Gesetz und Sitte hatten: „Im Gesetz sahen die wahren Menschen des Altertums das Wesen der Staatsordnung, in den Umgangsformen eine Erleichterung des Verkehrs, im Wissen die Erfordernisse der Zeit, im geistigen Einfluss das Mittel, die Menschen zu sich hinan zu ziehen.“
Tschuang Tse stellte dem Ideal der Konfuzianer, dem Edlen, das des heiligen und wahren Menschen entgegen. Dieser steht den gesellschaftlichen Ansprüchen mit einer verfügenden Distanz gegenüber, mit jener Leichtigkeit, welche die Menschen des Altertums noch gegenüber Gesetz, Sitte, Wissen und Einfluss hatten, als diese noch nicht durch die Konfuzianer zu Imperativen ausgebaut wurden.
Tschuang Tse kritisierte jedoch nicht den Lehrer Konfuzius, der selber noch darauf hinwies, dass es wichtig ist, sich nicht sklavisch den Regeln zu ergeben, vielmehr der Situation und dem Kontext nach zu entscheiden, sondern dessen Schüler, welche die lebendige Lehre des Konfuzius zum starren Konfuzianismus verknöcherten. Zurück blieb so in den Augen Tschuang Tse's lediglich ein leerer Formalismus, der sein ursprüngliches Verhältnis zur eigenen Natur verloren hatte:
„Wenn man jemand im Marktgedränge auf den Fuß tritt, so entschuldigt man sich wegen seiner Unvorsichtigkeit. Wenn ein älterer Bruder seinem jüngeren auf den Fuß tritt, so klopft er ihm auf die Schulter. Tun es die Eltern, so erfolgt nichts weiter. Darum heißt es: Höchste Höflichkeit nimmt keine besondere Rücksicht auf die Menschen; höchste Gerechtigkeit kümmert sich nicht um Einzeldinge; höchste Weisheit schmiedet keine Pläne; höchste Liebe kennt keine Zuneigung.“
Tschuang Tse machte also nicht eine Immoralität gegen Konfuzius geltend, sondern das, was er für die wahre und ursprüngliche Moral zwischen den Menschen hielt.
Die Eröffnungsgeschichte des „Tschuang Tse“ handelt vom Vogel Pong und der Wachtel. Beide Wesen sind in der Dingwelt befangen, dem Bereich, in welchem alles der Relativität unterworfen ist:
„Der Rücken des Pong gleicht dem Großen Berge; seine Flügel gleichen vom Himmel herabhängenden Wolken. Im Wirbelsturm steigt er kreisend empor, viel tausend Meilen weit bis dahin, wo Wolken und Luft zu Ende sind und er nur noch den schwarzblauen Himmel über sich hat. Dann macht er sich auf nach Süden und fliegt nach dem südlichen Ozean. Eine flatternde Wachtel verlachte ihn und sprach: Wo will der hinaus? Ich schwirre empor und durchstreiche kaum ein paar Klafter, dann lass ich mich wieder hinab. Wenn man so im Dickicht umher flattert, so ist das schon die höchste Leistung im Fliegen. Aber wo will der hinaus?“
Mit großer Deutlichkeit beschreibt Tschuang Tse den höchsten Menschen. Daher vergleicht man den großen Vogel Pong mit dem Übermenschen, der als höchster Mensch, geistiger Mensch und berufener Heiliger bezeichnet ist. „Großes Verständnis ist umfassend, und kleines Verständnis ist heikel. Große Worte tragen Stärke mit sich, und kleine Worte sind unbedeutend und zänkisch." Es wird in anschaulicher Form darauf hingewiesen, dass das Fliegen auf dem Wind vorhergehender Anstrengungen und Entsagungen bedarf. Aber die Position der Unabhängigkeit von den Dingen und der Wandel im Grenzenlosen ist eine eigene Erfahrung und lässt sich anderen gegenüber nicht mitteilen. Sie kann dazu führen, den an sich unbedeutenden vergänglichen Dingen des Alltags keine Beachtung mehr zu schenken, denn man hat die Wirklichkeit der Grenzenlosigkeit von Zeit und Raum erkannt.
Den großen Wert, den Tschuang Tse darauf legte, die Eigenarten der Individuen zu achten, erklärt dann auch seine Abneigung gegen Institutionen und politische Vorschriften: Diese erheben verbindliche und allgemeine Werte und Verhaltensnormen, die sich dann über die individuellen Eigenarten und Bedürfnisse hinwegsetzten und die Leute zugleich dazu auffordert, nach ihnen zu eifern. Die Bemühungen ihn zu erreichen führen jedoch nur dazu, vom Tao abzuweichen und nicht mehr dem Te zu entsprechen. Entsprechend ist Tschuang Tse's Vorstellung einer Regierung auch nicht durch einen Maßnahmen- und Gesetzeskatalog geprägt, sondern sein Ideal ist das Nicht-Handeln (wu wei).
Was Tschuang Tse sucht, ist eine ungebundene Ansicht, ein freies Verhalten zu den Dingen und eine Einstellung, mit welcher sich durch die Welt in Muße wandern lässt.
Nun sind die Dinge und die Welt für Tschuang Tse nicht bloß vorhanden, sondern sie sind im ewigen Wandel begriffen. Alle Dinge sind einem stetigen Fluss unterworfen, innerhalb dessen sie sich gegenseitig bedingen:
„Die Ränder des Schattens fragten den Schatten und sprachen: Bald bist du gebückt, bald bist du aufrecht; bald bist du zerzaust, bald bist du gekämmt; bald sitzest du, bald stehst du auf; bald läufst du, bald bleibst du stehen. Wie geht das zu? Der Schatten sprach: Alter, Alter, wie fragt Ihr oberflächlich! Ich bin, aber weiß nicht, warum ich bin. Ich bin wie die leere Schale der Zikade, wie die abgestreifte Haut der Schlange. Ich sehe aus wie etwas, aber ich bin es nicht. Im Feuerschein und bei Tag bin ich kräftig. An sonnenlosen Orten und bei Nacht verblasse ich. Von dem andern da, dem Körper, bin ich abhängig, ebenso wie der wieder von einem andern abhängt. Kommt er, so komme ich mit ihm. Geht er, so gehe ich mit ihm. Ist er stark und kraftvoll, so bin ich mit ihm stark und kraftvoll. Bin ich stark und kraftvoll, was brauche ich dann noch zu fragen?“
„Gi von Li war die Tochter des Grenzwarts von Ai. Als der Fürst von Dsin sie eben erst genommen hatte, da weinte sie bitterlich, also dass die Tränen ihr Gewand befeuchteten. Als sie aber dann zum Palast des Königs kam und die Genossin des Königs wurde, da bereute sie ihre Tränen.“
„Einst träumte Tschuang Tse, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Tschuang Tse. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Tschuang Tse. Nun weiß ich nicht, ob Tschuang Tse geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Tschuang Tse sei, obwohl doch zwischen Tschuang Tse und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.“
Die Weisheit des heiligen Menschen besteht darin, dass dieser mögliche Perspektiven vorübergehend einnehmen kann, ohne an sie gebunden zu sein. Er wechselt zwischen ihnen, je nachdem wie die Situation es nahelegt. Diese geistige Beweglichkeit kommt im Wechsel vom Menschen zum Schmetterling zum Ausdruck. Sie vollzieht sich mit der Leichtigkeit wie der Übergang zwischen Schlafen und Wachen.
Für Tschuang Tse war das Tao dieser ewige Wandel der Dinge. Die Weisheit der Heiligen besteht darin, das Tao zu erkennen und dem Wandel der Dinge zu folgen.
Tschuang Tse gilt als taoistischer Mystiker und hat diese Tradition stark beeinflusst. Mit der taoistischen Tradition verbunden ist Tschuang Tse insbesondere durch den Begriff des Heiligen. Der Heilige bei Tschuang Tse ist verschränkt mit dem Glauben an Unsterbliche, menschengestaltige, unsterbliche Wesen, die übernatürliche Kräfte haben. Der Heilige erlebt eine vollkommene Freiheit vom Körper und Freiheit im Geist. Er steht jenseits des Weltlichen. Das Universum wird vom Heiligen bereist und durchstreift. Er ordnet sich keinen Normen unter, und macht sich die Vielfalt ohne Grenzen zu eigen. Der Heilige hat eine umfassende Fähigkeit der Wandlung, gleichzeitig ist seine Identität einheitlich und einigend. Der Heilige ist frei von Sorgen, auch politischen, moralischen oder sozialen Sorgen. Ebenso ist er sich nicht metaphysisch im Ungewissen. Er strebt nicht nach weltlicher Wirksamkeit, hat keine Konflikte des Inneren oder Äußeren, leidet nicht Mangel und sucht nichts Irdisches. Frei im Geist besitzt er eine perfekte Einheit mit sich und allem was existiert. Er ist von vollkommener Fülle und Vollständigkeit und verfügt über eine himmlische Dimension. Attribute, die am häufigsten dem Heiligen zugesprochen werden sind: einzigartig, allein und echt, sowie himmlisch, was im Gegensatz zu rein menschlich steht.
In den ersten Kapiteln des Tschuang Tse wird der Heilige folgendermaßen beschrieben: Er reitet auf dem Wind und auf weißen Wolken, er unterliegt keiner Verwesung, er verbrennt im Feuer nicht und ertrinkt im Wasser nicht, Glut und Frost berühren ihn nicht, Menschen und Tiere können ihm nichts anhaben.
Göttliche Menschen nehmen kein Getreide zu sich, atmen den Wind ein, trinken Tau, göttliche Menschen fliegen auf Wolken und auf der Luft, sie reiten auf fliegenden Drachen und können jenseits der Meere wandeln.
Angespielt wird auch auf ein weiteres Charakteristikum des Taoismus, den mystischen Flug. Das Buch beginnt mit dem Flug des riesigen Phönix, was darauf hindeutet, dass es sich bei diesem Flug um ein Thema von Bedeutung und einen Hinweis auf Tschuang Tse's Intention handelt. In mehreren Textpassagen fallen Tschuang Tse's Figuren in einen ekstatischen Zustand und lassen ihren Körper zurück, wie totes Holz, und ihr Herz, das auch als Geist und Intellekt gilt, wie erloschene Asche.
Tschuang Tse sieht es als wichtig an, die schon von Lao Tse betonte Ruhe, Stille und Gedankenfreiheit zu verwirklichen. So wird das Sitzen in Selbstvergessenheit geübt, die Meditation. Da werden Körper und Gliedmaßen aufgegeben, die Wahrnehmungsschärfe verworfen, die eigene Gestalt verlassen, das Wissen aufgegeben und eine Identifikation mit dem allumfassend Großen vorgenommen. Andere Lehren sind das Fasten des Herz-Geistes und des Spiegels des Herzens, der die ganze Welt spiegelt, rein und unverzerrt, in ihrer vollkommenen Totalität. Der Begriff des Fastens des Herzens wird mit dem Begriff: Das Eine bewahren, verbunden, der aus dem Tao Te King stammt. Das Eine bewahren, das bezeichnet verschiedene Meditationsübungen und gilt als Schlüsselbegriff des Taoismus. Der Körper muss ruhig sein und das Denken eine Einheit bilden, woraufhin man die himmlische Harmonie erlangt. Man soll das Wissen sammeln und das Tun soll auf das Eine ausgerichtet sein, damit die seligen Geister zur Wohnung kommen. Der ruhige Körper bedeutet einen in der richtigen Meditationshaltung sich befindenden Körper und die seligen Geister beziehen sich auf Erscheinungen von Göttlichem in der Meditationskammer. Die taoistische Meditation ist eine innere Sammlung und dient dazu, sich der äußeren Welt gegenüber abzuschließen. Sie dient dem Rückzug und dem Bruch mit der Welt der Sinne. Die Meditation gilt als Vorbereitung für eine Ausdehnung, die ohne Trennung von Innen und Außen ist. Dies bringt den Heiligen hervor, der sich in dieser Ausdehnung bewegt. Die Welt des Individuums wird als begrenzt verstanden durch sinnliche Wahrnehmungen und Gedanken. Das sich Verschließen gegenüber der Welt der Sinne wird verstanden als Öffnung zum Himmel, der die Einheit ist.
„Meister Ki sprach: Die große Natur stößt ihren Atem aus, man nennt ihn Wind. Jetzt eben bläst er nicht; bläst er aber, so ertönen heftig alle Löcher. Hast du noch nie dieses Brausen vernommen? Der Bergwälder steile Hänge, uralter Bäume Höhlungen und Löcher: sie sind wie Nasen, wie Mäuler, wie Ohren, wie Dachgestühl, wie Ringe, wie Mörser, wie Pfützen, wie Wasserlachen. Da zischt es, da schwirrt es, da schilpt es, da schnauft es, da ruft es, da klagt es, da dröhnt es, da kracht es. Der Anlaut klingt schrill, ihm folgen keuchende Töne. Wenn der Wind sanft weht, gibt es leise Harmonien; wenn ein Wirbelsturm sich erhebt, so gibt es starke Harmonien. Wenn dann der grause Sturm sich legt, so stehen alle Öffnungen leer. Hast du noch nie gesehen, wie dann alles leise zittert und bebt? Der Jünger sprach: Der Erde Orgelspiel kommt also einfach aus den verschiedenen Öffnungen, wie der Menschen Orgelspiel aus gereihten Röhren kommt.“
„Im Schlaf pflegt die Seele Verkehr. Im Wachen öffnet sich das körperliche Leben wieder und beschäftigt sich mit dem, was ihm begegnet, und die widerstreitenden Gefühle erheben sich täglich im Herzen. Die Menschen sind verstrickt, hinterlistig, verborgen. Lust und Zorn, Trauer und Freude, Sorgen und Seufzer, Unbeständigkeit und Zögern, Genußsucht und Unmäßigkeit, Hingabe an die Welt und Hochmut entstehen wie die Töne in hohlen Röhren, wie feuchte Wärme Pilze erzeugt. Tag und Nacht lösen sie einander ab und tauchen auf, ohne dass die Menschen erkennen, woher sie kommen.“
Der Mensch erleidet nur, was ihm widerfährt, kann sich dazu aber nicht schöpferisch verhalten. Diesem bedauernswerten Zustand der gewöhnlichen Menschen stellt Tschuang Tse den Heiligen entgegen. Indem dieser sein Ego ablegt, also seine Eigenarten, welche den Dingen der Außenwelt eine Angriffsfläche bieten, kommt er zur Stille und Gedankenleere:
„Meister Ki von Südweiler saß, den Kopf in den Händen, über seinen Tisch gebeugt da. Er blickte zum Himmel auf und atmete, abwesend, als hätte er die Welt um sich verloren. Ein Schüler von ihm, der dienend vor ihm stand, sprach: Was geht hier vor? Kann man wirklich den Leib erstarren machen wie dürres Holz und alle Gedanken auslöschen wie tote Asche? Ihr seid so anders, Meister, als ich Euch sonst über Euren Tisch gebeugt erblickte. Meister Ki sprach: Es ist ganz gut, dass du fragst. Heute habe ich mein Ich begraben. Weißt du, was das heißt? Du hast vielleicht der Menschen Orgelspiel gehört, allein der Erde Orgelspiel noch nicht vernommen. Du hast vielleicht der Erde Orgelspiel gehört, allein des Himmels Orgelspiel noch nicht vernommen.“
Frei von allen irdischen Dingen übertrifft der Heilige auch das Ideal der konfuzianischen Philosophie, den Edlen, der die Tugenden der Güte, Gerechtigkeit, die höflichen Umgangsformen beherrscht, wie das fiktive Gespräch zwischen Konfuzius und seinem Lieblingsschüler Yen Hui zeigt:
„Yen Hui sprach: Ich bin vorangekommen. Kung Tse sprach: Was meinst du damit? Yen Hui sagte: Ich habe Güte und Gerechtigkeit vergessen. Kung Tse sprach: Das geht an, doch ist es noch nicht das Höchste. - An einem andern Tag trat er wieder vor ihn und sprach: Ich bin vorangekommen. Kung Tse sprach: Was meinst du damit? Er sprach: Ich habe Umgangsformen und Musik vergessen. Kung Tse sprach: Das geht an, doch ist es noch nicht das Höchste. - An einem andern Tag trat er wieder vor ihn und sprach: Ich bin vorangekommen. Kung Tse sprach: Was meinst du damit? Er sagte: Ich bin zur Ruhe gekommen und habe alles vergessen. Kung Tse sprach bewegt: Was meinst du damit, dass du zur Ruhe gekommen bist und alles vergessen hast? Yen Hui sprach: Ich habe meinen Leib zurück gelassen, ich habe abgetan meine Erkenntnis. Fern vom Leib und frei vom Wissen bin ich Eins geworden mit Dem, der alles durchdringt. Das meine ich damit, dass ich zur Ruhe gekommen bin und alles vergessen habe. Kung Tse sprach: Wenn du diese Einheit erreicht hast, so bist du frei von aller Begierde; wenn du dich so verwandelt hast, so bist du frei von allen Gesetzen und bist weit besser als ich, und ich bitte nur, dass ich dir nachfolgen darf.“
Es geht aber nicht ausschließlich darum, abgeschieden von der Welt das Seelenheil zu suchen und in diesem Zustand zu verharren, sondern nach Zeiten des Rückzugs auch wieder in die Lebenswelt und Angelegenheiten des menschlichen Handelns zu treten und dort durch Einheit mit dem Tao einen natürlichen und freien Umgang mit Menschen und Dingen zu verwirklichen. Dieser Zustand wird erreicht durch das Abwerfen des Selbst und das Fasten des Geistes.
Der Mensch kann den Zustand des Heiligen erreichen durch das Fasten des Geistes oder auch des innersten Selbst. Der Fastende enthält sich dabei seiner Talente und seines Geschicks, denn es ist gefährlich für ihn: Der Zimtbaum wird gefällt, das schöne Fell von Füchsen und Leoparden ist ihr Verderbnis. Er enthält sich der Sinnesfreuden, denn sie vernebeln den Geist und beunruhigen das Herz. Ebenso gibt sich der Weise keinen starken Gefühlsausbrüchen hin: Selbst dem Tode des großen Meisters Lao Tse steht er mit Gelassenheit gegenüber. Auch zu großes Wissen führt die Welt ins Chaos: Der grübelnde Geist erfindet den Bogen, welcher die Vögel verjagt, er übt sich in der Rhetorik, welche in großen Reden dann das natürliche Verständnis in Verwirrung stürzt. Auch moralisches und unmoralisches Verhalten fastet der Weise gleichermaßen in die Unbedeutsamkeit, denn beide führen die menschlichen Verhältnisse in unlösbare Verstrickung.

 Als Grund für die widerstreitenden Leidenschaften und Ansichten erweist sich, dass sich die gewöhnlichen Menschen allein an die dingliche Welt halten, an das was ist oder was nicht ist. Für Tschuang Tse hingegen geht alles Sein und Nicht-Sein erst aus einem Noch-nicht-Sein hervor.
Dieses Noch-nicht-sein, welches der Ursprung aller Dinge ist, unterscheidet Tschuang Tse dabei sowohl vom Sein als auch vom Nichtsein. Dies daher, da das Nichtsein bloß vom Sein her vorgestellt wird, indem nämlich das Sein negiert wird. Das Noch-nicht-Sein hingegen entzieht sich jeder Darstellung, da es gerade nicht als ein Negiertes vorgestellt werden kann. Dabei ist es das Noch-nicht-Sein, welches erst die Gegensätze nährt. Eine Auffassung, die sich an das Tao Te King anlehnt: „Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe: auf dem Nichts daran beruht des Wagens Brauchbarkeit.“
Erst dem Noch-nicht-Sein entspringen die für unsere Lebensführung wichtigen Gegensätze von Sein und Nichtsein, die sich ausprägen als Leben und Tod, Gutes und Böses, Erfolg und Scheitern. Je mehr man sich jedoch an eines dieser Extreme klammert, umso stärker tritt das andere in den Vordergrund. Nicht nur aber was das Streben des Menschen betrifft, sondern auch was sein Verständnis der Welt angeht, so ist der Standpunkt von Sein oder Nichtsein zu vermeiden, denn erst auf dieser Ebene entstehen die Widersprüche.
Allein durch den Rückzug aus dem Standpunkt des Seins und des Nichtseins und den sich in ihnen ergebenden Gegensätzen, welche einen stets hin- und herwerfen, gelangt man zum ursprünglichen, vorausgehenden Standpunkt des Noch-nicht-Seins.
Nun führt jedoch das Fasten des Geistes keineswegs zu einer passiven Untätigkeit. Denn erst mit einem freien Selbst, das sich nicht an Sein und Nichtsein klammert, kann man dem entsprechen, was die Verhältnisse verlangen: Jeder Vorfall hat seine ihm angemessene Weise zu handeln, die sich nicht auf die eigenen Wünsche zurück beziehen lässt oder ihr Maß aus allgemeinen Regeln beziehen könnte. Diese Erkenntnis weist auf den innersten Widerspruch des Lebens selbst: Damit man die Welt so nehmen kann, wie sie ist, muss man zunächst frei von ihr sein. Das Fasten des Geistes wird somit zu einer ersten Bedingung, um gänzlich in die Welt zu treten und dem ewigen Wandel der Dinge frei zu folgen und zu entsprechen.
So verwandelt, sind es nicht mehr einzelne Dinge, an welche sich das Herz hängt. Der Geist ist kein absichtlicher, der sich auf Einzelnes richtet. Das wahre Selbst des Menschen ist also nicht die Summe unserer Wünsche und der absichtlich erfassten Gegenstände, es wird nicht durch die Außenwelt geprägt, sondern es liegt jenseits von diesen von außen an den Menschen herantretenden Bedürfnisse. Glück ist für Tschuang Tse daher der Zustand, in dem wir zu unserem wahren Selbst zurückkehren. Dies zu erreichen, ist eine der Aufgaben des Lebens, als Mittel hierzu dient das Fasten des Geistes. Erreicht man dieses Glück, so weiß man dies von sich aus: Es ist ein Zustand, in dem weder Kummer einen bedrückt, noch Freude einen überschwänglich werden lässt, sondern Kummer und Freude sind gleichermaßen so, wie sie sind, sie sind einfach da. Wer auf diese Weise das hungrig-begierige Selbst überwindet, der hat seine vom Himmel geschenkte Natur erlangt. Er wird nicht danach trachten, den Lauf der Dinge durch absichtliche Eingriffe seinen Vorstellungen zu unterwerfen oder ihn zu beschleunigen, sondern ist ein Gefährte des Himmels.
Hat man gefastet im Geist und das Reich von Entweder-Oder überwunden, Leidenschaften und Wünsche abgelegt, dann passt man in die Welt, wobei dies auch die Bedeutungen von Leichtigkeit und Glück hat:
„Wenn man die richtigen Schuhe hat, so vergißt man seine Füße; wenn man den richtigen Gürtel hat, vergißt man die Hüften. Wenn man in seiner Erkenntnis alles Für und Wider vergißt, dann hat man das richtige Herz; wenn man in seinem Innern nicht mehr schwankt und sich nicht nach andern richtet, dann hat man die Fähigkeit, richtig mit den Dingen umzugehen. Wenn man erst einmal so weit ist, dass man das Richtige trifft und niemals das Richtige verfehlt, dann hat man das richtige Vergessen dessen, was richtig ist.“
„Der Wissende nämlich spricht nicht, der Sprechende weiß nicht.“
Das Tao ist nicht auszusprechen, denn sagen lässt sich immer nur über die Dinge, die sind. Da das Tao aber kein Ding ist, kann nicht unvermittelt von ihm gesprochen werden, es kann nur darüber gesprochen werden, dass nicht über es gesprochen werden kann.
„Himmel und Erde entstehen mit mir zugleich, und alle Dinge sind mit mir eins. Da sie nun Eins sind, kann es nicht noch außerdem ein Wort dafür geben; da sie aber andererseits als Eins bezeichnet werden, so muß es noch außerdem ein Wort dafür geben. Das Eine und das Wort sind zwei; zwei und eins sind drei. Von da kann man fortmachen, dass auch der geschickteste Rechner nicht folgen kann, wieviel weniger die Masse der Menschen! Wenn man nun schon vom Nichtsein aus das Sein erreicht bis zu drei, wohin kommt man dann erst, wenn man vom Sein aus das Sein erreichen will! Man erreicht nichts damit. Darum genug davon!“
„Auf der ganzen Welt gibt es nichts Größeres als die Spitze eines Flaumhaares, und: Der Große Berg ist klein. Es gibt nichts, das ein höheres Alter hätte als ein totgeborenes Kind, und: Der alte Großvater Pong, der sechshundert Jahre gelebt hat, ist in frühester Jugend gestorben.“
Das Ziel solcher Passagen liegt darin, durch die Unmöglichkeit und Unsinnigkeit dieser Aussagen und des Kopfzerbrechens darüber den Relativismus zu überwinden. Der Relativismus wird nur durch das Anschmiegen an den Wandel der Dinge, an das Tao, überwunden, was sich in verschiedenen Stufen vollzieht:
„Es ist leicht, das Tao des Berufenen einem Manne kundzutun, der die entsprechende Begabung hat. Wenn ich ihn bei mir hätte zur Belehrung, nach drei Tagen sollte er so weit sein, die Welt überwunden zu haben. Nachdem er die Welt überwunden, wollte ich ihn in sieben Tagen so weit bringen, dass er außerhalb des Gegensatzes von Subjekt und Objekt stünde. Nach abermals neun Tagen wollte ich ihn so weit bringen, dass er das Leben überwunden hätte. Nach Überwindung des Lebens könnte er klar sein wie der Morgen, und in dieser Morgenklarheit könnte er das Eine sehen. Wenn er das Eine erblickte, so gäbe es für ihn keine Vergangenheit und Gegenwart mehr; jenseits der Zeit könnte er eingehen in das Gebiet, wo es keinen Tod und keine Geburt mehr gibt.“
Leben und Tod waren für Tschuang Tse wie zwei Welten, zwischen denen es kein Fenster gibt, durch welches man von der einen in die andere schauen könnte. Daher lässt sich auch nicht sagen, welche von beiden vorzuziehen ist, ein Kopfzerbrechen hierüber führt zu nichts. Eine humorvoll erkünstelte Geschichte spielt die Andersartigkeit der beiden Welten durch:
„Tschuang Tse sah einst unterwegs einen leeren Totenschädel, der zwar gebleicht war, aber seine Form noch hatte. Er tippte ihn an mit seiner Reitpeitsche und begann also ihn zu fragen: Bist du in der Gier nach Leben von dem Pfade der Vernunft abgewichen, dass du in diese Lage kamst? Oder hast du ein Reich zugrunde gerichtet und bist mit Beil oder Axt hingerichtet worden, dass du in diese Lage kamst? Oder hast du einen üblen Wandel geführt und Schande gebracht über Vater und Mutter, Weib und Kind, dass du in diese Lage kamst? Oder bist du durch Kälte und Hunger zugrunde gegangen, dass du in diese Lage kamst? Oder bist du, nachdem des Lebens Lenz und Herbst sich geendet, in diese Lage gekommen? Als er diese Worte gesprochen hatte, nahm er den Schädel zum Kissen und schlief. Um Mitternacht erschien ihm der Schädel im Traum und sprach: Du hast da geredet wie ein Schwätzer. Alles, was du erwähnst, sind nur Sorgen der lebenden Menschen. Im Tode gibt es nichts derart. Möchtest du etwas vom Tode reden hören? Tschuang Tse sprach: Ja. Der Schädel sprach: Im Tode gibt es weder Fürsten noch Knechte und nicht den Wechsel der Jahreszeiten. Wir lassen uns treiben, und unser Lenz und Herbst sind die Bewegungen von Himmel und Erde. Selbst das Glück eines Königs auf dem Throne kommt dem unseren nicht gleich. Tschuang Tse glaubte ihm nicht und sprach: Wenn ich den Herrn des Schicksals vermöchte, dass er deinen Leib wieder zum Leben erweckt, dass er dir wieder Fleisch und Bein und Haut und Muskeln gibt, dass er dir Vater und Mutter, Weib und Kind und alle Nachbarn und Bekannten zurückgibt, wärst du damit einverstanden? Der Schädel starrte mit weiten Augenhöhlen, runzelte die Stirn und sprach: Wie könnte ich mein königliches Glück wegwerfen, um wieder die Mühen der Menschenwelt auf mich zu nehmen?“
Über den Tod seiner Frau lässt eine Geschichte den Tschuang Tse sagen: „Als ich mich darüber besann, von wo sie gekommen war, da erkannte ich, dass ihr Ursprung jenseits der Geburt liegt; ja nicht nur jenseits der Geburt, sondern jenseits der Leiblichkeit; ja nicht nur jenseits der Leiblichkeit, sondern jenseits der Chi. Da entstand eine Mischung im Unfaßbaren und Unsichtbaren, und es wandelte sich und hatte Chi; das Chi verwandelte sich und hatte Leiblichkeit; die Leiblichkeit verwandelte sich und kam zur Geburt. Nun trat abermals eine Verwandlung ein, und es kam zum Tod. Diese Vorgänge folgen einander wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter, als der Kreislauf der vier Jahreszeiten. Und nun sie da liegt und schlummert in der großen Kammer, wie sollte ich da mit Seufzen und Klagen sie beweinen? Das hieße das Schicksal nicht verstehen. Darum lasse ich ab davon.“
Entsprechend gelassen sah Tschuang Tse auch seine eigene Beerdigung, welche Gleichgültigkeit den Konfuzianern mit ihren strengen Bestattungsriten ein Dorn im Auge sein musste. „Die wahren Menschen der Vorzeit kannten nicht die Lust an der Geburt und nicht den Abscheu vor dem Sterben. Gelassen gingen sie, gelassen kamen sie.“ Eines der letzten Kapitel erzählt vom Tod des Tschuang Tse:
„Tschuang Tse lag im Sterben, und seine Jünger wollten ihn prächtig bestatten. Tschuang Tse sprach: Himmel und Erde sind mein Sarg, Sonne und Mond leuchten mir als Totenlampen, die Sterne sind meine Perlen und Edelsteine, und die ganze Schöpfung gibt mir das Trauergeleit. So habe ich doch ein prächtiges Begräbnis! Was wollt ihr da noch hinzufügen? Die Jünger sprachen: Wir fürchten, die Krähen und Weihen möchten den Meister fressen. Tschuang Tse sprach: Unbeerdigt diene ich Krähen und Weihen zur Nahrung, beerdigt den Würmern und Ameisen. Den einen es nehmen, um es den andern zu geben: warum so parteiisch sein?“
Vom Himmel haben Menschen und Dinge ihre Form oder Gestalt. Das wichtigste Zitat hierzu stammt aus einem der bekanntesten Bücher des „Tschuang Tsei“, den „Herbstfluten“:
„Dass Ochsen und Pferde vier Beine haben, das heißt ihre himmlische Natur. Den Pferden die Köpfe zu zügeln und den Ochsen die Nasen zu durchbohren, das heißt menschliche Beeinflussung.“
Der Himmel ist so etwas wie die Natur der Dinge. Für den Menschen steht die Möglichkeit offen, dem Weg des Himmels zu folgen oder aber dem Weg des Menschen. Da davon ausgegangen wird, dass die Welt in ihrem Lauf auch ohne den Menschen geschieht, werden Eingriffe in die Natur und die natürliche Einstellung des Menschen als überflüssig angesehen: „Schwimmhäute zwischen den Zehen und ein sechster Finger an der Hand sind Bildungen, die über die Natur hinausgehen und für das eigentliche Leben überflüssig sind.“
Tschuang Tse fragt, wie es dem Menschen möglich sei, ein Leben so zu führen, dass es das Verhältnis von Himmel und Mensch nicht ins Ungleichgewicht bringt. Dazu muss zuvorderst zwischen beiden unterschieden werden können: „Das Wirken des Himmels zu kennen, und zu erkennen, in welcher Beziehung das menschliche Wirken dazu stehen muss: das ist das Ziel.“ Da aber alle Erkenntnis sich auf Äußeres bezieht, ergibt sich ein Problem: „Doch liegt hier eine Schwierigkeit vor. Die Erkenntnis ist abhängig von etwas, das außer ihr liegt, um sich als richtig zu erweisen. Da nun gerade das, wovon sie abhängig ist, ungewiss ist, wie kann ich da wissen, ob das, was ich Himmel nenne, nicht der Mensch ist, ob das, was ich menschlich nenne, nicht in Wirklichkeit der Himmel ist?“ Tschuang Tse verweist auf das Innere des Menschen, seine himmlische Natur, welche ihn den richtigen Weg erkennen lässt: „Es bedarf eben des wahren Menschen, damit es wahre Erkenntnis geben kann.“ Diese wahren Menschen zeichnen sich folgendermaßen aus: „Die wahren Menschen des Altertums scheuten sich nicht davor, wenn sie mit ihrer Erkenntnis allein blieben. Sie vollbrachten keine Heldentaten, sie schmiedeten keine Pläne. Die wahren Menschen des Altertums hatten während des Schlafens keine Träume und beim Erwachen keine Angst. Ihre Speise war einfach, ihr Atem tief. Die wahren Menschen der Vorzeit kannten nicht die Lust an der Geburt und nicht den Abscheu vor dem Sterben. Dadurch erreichten sie es, dass ihr Herz fest wurde, ihr Antlitz unbewegt und ihre Stirn einfach heiter.“
Ist durch diese Lebenshaltung der Weg des Himmels erkannt, so kann der wahre Mensch ihm folgen, ohne ihn zu verletzen. Er handelt ohne einzugreifen, sein Handeln ist „ohne Tun“: Wu wei.
Während für Konfuzius erst der gesellschaftliche Einsatz des Menschen die Ordnung der Welt garantieren konnte, sieht Tschuang Tse gerade in den von den Weisen aufgestellten Regeln die Ursache für die Unruhe und das Ungleichgewicht. Deshalb heißt es:
„Ich weiß davon, dass man die Welt leben und gewähren lassen soll. Ich weiß nichts davon, dass man die Welt ordnen soll. Sie leben lassen, das heißt, besorgt sein, dass die Welt nicht ihre Natur verdreht; sie gewähren lassen, das heißt, besorgt sein, dass die Welt nicht abweicht von ihrem wahren Te. Wenn die Welt ihre Natur nicht verdreht und nicht abweicht von ihrem wahren Te, so ist damit die Ordnung der Welt schon erreicht.“
Die Welt muss nicht erst eingerichtet werden, so dass der Mensch in ihr wohnen kann. Tschuang Tse verweist auf einen natürlichen Urzustand:
„Im goldenen Zeitalter, da saßen die Leute umher und wußten nicht, was tun; sie gingen und wußten nicht, wohin; sie hatten den Mund voll Essen und waren glücklich, klopften sich den Leib und gingen spazieren. Darin bestand die ganze Fähigkeit der Leute, bis dann die Weisen kamen und Umgangsformen und Musik zurechtzimmerten, um das Benehmen der Welt zu regeln, ihnen Moralvorschriften aufhingen und sie danach springen ließen.“
„Darum, wenn ein großer Mann gezwungen ist, sich mit der Regierung der Welt abzugeben, so ist am besten das Nicht-Handeln. Durch Nicht-Handeln kommt man zum ruhigen Abfinden mit den Verhältnissen der Naturordnung.“ Dabei meint das Nicht-Handeln nicht, dass man gar nichts tun soll. Vielmehr bezieht es sich darauf, nicht in das Walten des Tao einzugreifen, das von sich aus die Welt im geordneten Fluss hält. Die Haltung des Wu Wei wird anhand von drei Hauptpunkten verdeutlicht:
„Tse Gung war im Staate Tschu gewandert und nach dem Staate Dsin zurückgekehrt. Als er durch die Gegend nördlich des Han-Flusses kam, sah er einen alten Mann, der in seinem Gemüsegarten beschäftigt war. Er hatte Gräben gezogen zur Bewässerung. Er stieg selbst in den Brunnen hinunter und brachte in seinen Armen ein Gefäß voll Wasser herauf, das er ausgoss. Er mühte sich aufs äußerste ab und brachte doch wenig zustande. Tse Gung sprach: Da gibt es eine Einrichtung, mit der man an einem Tag hundert Gräben bewässern kann. Mit wenig Mühe wird viel erreicht. Möchtet Ihr die nicht anwenden? Der Gärtner richtete sich auf, sah ihn an und sprach: Und was wäre das? Tse Gung sprach: Man nimmt einen hölzernen Hebelarm, der hinten beschwert und vorn leicht ist. Auf diese Weise kann man das Wasser schöpfen, dass es nur so sprudelt. Man nennt das einen Ziehbrunnen. Da stieg dem Alten der Ärger ins Gesicht, und er sagte lachend: Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen benützt, so betreibt er all seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiss in den Regungen seines Geistes. Ungewissheit in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren Tao nicht verträgt. Nicht dass ich solche Dinge nicht kennen würde: aber ich schäme mich, sie anzuwenden.“
„Der Sumpffasan muß zehn Schritte gehen, ehe er einen Bissen Nahrung findet, und hundert Schritte, ehe er einmal trinkt; aber er begehrt nicht darnach, in einem Käfig gehalten zu werden. Obwohl er dort alles hätte, was sein Herz begehrt, gefällt es ihm doch nicht.“
„Gien Wu besuchte Dsie Yü, den Narren. Dsie Yü, der Narr, sprach: Was hat Mittagsanfang mit dir gesprochen? Gien Wu sprach: Er hat mir gesagt, dass, wenn ein Fürst in seiner eigenen Person die Richtlinien zeigt und durch den Maßstab der Gerechtigkeit die Menschen regelt, niemand es wagen wird, Gehorsam und Besserung zu verweigern. Dsie Yü, der Narr, sprach: Das ist der Geist des Betrugs. Wer auf diese Weise die Welt ordnen wollte, der gleicht einem Menschen, der das Meer durchwaten oder dem Gelben Fluß ein Bett graben wollte und einer Mücke einen Berg aufladen würde. Die Ordnung des Berufenen: ist das etwa eine Ordnung der äußeren Dinge? Es ist recht, und dann geht es, dass wirklich jeder seine Arbeit versteht. Der Vogel fliegt hoch in die Lüfte, um dem Pfeil des Schützen zu entgehen. Die Spitzmaus gräbt sich tief in die Erde, um der Gefahr zu entgehen, geräuchert oder ausgegraben zu werden. Sollten die Menschen weniger Mittel haben als die unvernünftige Kreatur, um sich äußerem Zwang zu entziehen?“
Die Haltung des Wu Wei zeigt sich jedoch nicht nur anhand eines milden und trotzdem schirmenden Herrschens oder im Unterlassen umfassender Eingriffe in den Weg des Himmels, sondern auch in den alltäglichen praktischen Dingen des Lebens. Dies verdeutlicht die Geschichte des Kochs Pong, in welcher die Anschmiegsamkeit an die Dinge und die Welt verdeutlicht wird:
„Der Koch legte Hand an, drückte mit der Schulter, setzte den Fuß auf, stemmte die Knie an: ritsch! ratsch! trennte sich die Haut, und zischend fuhr das Messer durch die Fleischstücke. Alles ging wie im Takt eines Tanzliedes, und er traf immer genau zwischen die Gelenke. Zum Fürsten sprach der Koch darüber: Als ich anfing, Rinder zu zerlegen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte ich es soweit gebracht, dass ich die Rinder nicht mehr ungeteilt vor mir sah. Heutzutage verlasse ich mich ganz auf den Geist und nicht mehr auf den Augenschein. Ich folge den natürlichen Linien nach, dringe ein in die großen Spalten und fahre den großen Höhlungen entlang. Ich verlasse mich auf die anatomischen Gesetze. Geschickt folge ich auch den kleinsten Zwischenräumen zwischen Muskeln und Sehnen. Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er schneidet. Ein stümperhafter Koch muß das Messer alle Monate wechseln, weil er hackt.“
Die Frage der Zeit bestand darin, wie die zwischenmenschlichen Beziehungen in Ordnung zu halten sind, also in der Frage der Moral. Während die Konfuzianer für eine strenge Einhaltung der Moral kämpften und die Fügung des Einzelnen unter die Gruppe, betont Tschuang Tse, dass moralische Regeln lediglich menschengemacht sind. Sie sind nur notwendig, weil die Menschen von ihrer ursprünglichen und friedlichen Natur abweichen. Allerdings führen sie nicht zu einem neuen geordneten Zustand, sondern stürzen die zwischenmenschlichen in nur noch weitere Verstrickungen, und die Menschen fallen vom Tao ab, sie vergessen den Weg des Himmels.
Selbst wenn es allerdings gelingen sollte, die Einhaltung aller Regeln politisch durchzusetzen, so ist damit noch nicht gewonnen, denn gerade nun droht die Gefahr des Missbrauchs:
„Sich gegen Diebe, die Kisten aufbrechen, Taschen durchsuchen, Kasten aufreißen, dadurch zu sichern, dass man Stricke und Seile darum schlingt, Riegel und Schlösser befestigt, das ist es, was die Welt Klugheit nennt. Wenn nun aber ein großer Dieb kommt, so nimmt er den Kasten auf den Rücken, die Kiste unter den Arm, die Tasche über die Schulter und läuft davon, nur besorgt darum, dass auch die Stricke und Schlösser sicher festhalten.“
„Wenn einer eine Spange stiehlt, so wird er hingerichtet. Wenn einer ein Reich stiehlt, so wird er Fürst!“
Als Grund für die räuberischen Fürsten und die nie endenden moralischen Verstrickungen sieht Tschuang Tse die Lehren der Weisen und Gelehrten an:
„Jede Ursache hat ihre Wirkung: Sind die Lippen fort, so sind die Zähne kalt. Weil der Wein von Lu zu dünn war, wurde Han Dan belagert. Ebenso: wenn Weise geboren werden, so erheben sich die großen Räuber. Darum muß man die Weisen vertreiben und die Räuber sich selbst überlassen; dann erst wird die Welt in Ordnung kommen.“
Tschuang Tse unterhält sich mit Hui Shi, einem Hauptvertreter der Sophistenschule:
„Tschuang Tse einst mit Hui Shi spazieren am Ufer eines Flusses. Tschuang Tse sprach: Wie lustig die Forellen aus dem Wasser herausspringen! Das ist die Freude der Fische. Hui Shi sprach: Ihr seid kein Fisch, wie wollt Ihr denn die Freude der Fische kennen? Tschuang Tse sprach: Ihr seid nicht ich, wie könnt Ihr da wissen, dass ich die Freude der Fische nicht kenne? Hui Shi sprach: Ich bin nicht Ihr, so kann ich Euch allerdings nicht erkennen. Nun seid Ihr aber sicher kein Fisch, und so ist es klar, dass Ihr nicht die Freude der Fische kennt. Tschuang Tse sprach: Bitte laßt uns zum Ausgangspunkt zurückkehren! Ihr habt gesagt: Wie könnt Ihr denn die Freude der Fische erkennen? Dabei wußtet Ihr ganz gut, dass ich sie kenne, und fragtet mich dennoch. Ich erkenne die Freude der Fische aus meiner Freude beim Wandern am Fluß.“
Die Welt ist immer schon so wie sie ist offenbar: Die Freude der Fische bedarf keiner Erklärung, keiner Rückführung auf einen Grund, welcher die Wahrheit versichert. Alle nachträglichen Versuche, sie diskursiv und argumentativ zu begründen, müssen scheitern, denn es gibt nichts, was zur Erkenntnis über die Freude der Fische hinzutreten könnte und diese so noch offenbarer machen könnte. Unsinnig hingegen ist es, das Offenbare abzulehnen und dann nach etwas anderem zu fragen, was dieses begründen könnte.
„Angenommen, ich disputierte mit dir; du besiegst mich, und ich besiege dich nicht. Hast du nun wirklich recht? Hab ich nun wirklich unrecht? Oder aber ich besiege dich, und du besiegst mich nicht. Habe ich nun wirklich recht und du wirklich unrecht? Hat einer von uns recht und einer unrecht, oder haben wir beide recht oder beide unrecht? Ich und du, wir können das nicht wissen. Wenn die Menschen aber in einer solchen Unklarheit sind, wen sollen sie rufen, um zu entscheiden? Sollen wir einen holen, der mit dir übereinstimmt, um zu entscheiden? Da er doch mit dir übereinstimmt, wie kann er entscheiden? Oder sollen wir einen holen, der mit mir übereinstimmt? Da er doch mit mir übereinstimmt, wie kann er entscheiden? Sollen wir einen holen, der von uns beiden abweicht, um zu entscheiden? Da er doch von uns beiden abweicht, wie kann er entscheiden?“
„Der Berufene hat die Wahrheit als innere Überzeugung, die Menschen der Masse suchen sie zu beweisen, um sie einander zu zeigen.“ Der Wille, sich gegenseitig zu überzeugen oder den anderen argumentativ auszustechen, ist schon in den Einzelegoismen verwurzelt. Das Tao selbst bedarf nicht des Beweises, denn so wie große Liebe nicht liebevoll ist, weil sie alles umfasst, ist alles im Tao inbegriffen. Selbst keine Eigenschaft von etwas, lässt es sich aber sprachlich nicht fassen und daher heißt es: „Sucht man mit Worten zu beweisen, so erreicht man nichts.“
Mit der ersten vollständigen Übersetzung ins Deutsche durch Richard Wilhelm traf das Werk im intellektuellen Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts auf großes Interesse. Karl Jaspers sah in Tschuang Tse einen der beeindruckendsten chinesischen Denker: „Die bewunderungswürdige Erfindungsgabe Tschuang Tse's, seine eindringenden Gedanken über die Welt und Wirklichkeit, über Sprache, über die mannigfachen psychologischen Zustände, sein Reichtum machen ihn zu einem der interessantesten chinesischen Autoren.“ Auch Hermann Hesse hat in seiner Auseinandersetzung mit asiatischer Philosophie und Literatur Bewunderung für Tschuang Tse empfunden: „Von allen Büchern chinesischer Denker, die ich kenne, hat dieses am meisten Reiz und Klang.“ Martin Heidegger, der schon früh im Dialog mit asiatischen Denkern stand, war ebenfalls durch die Schrift des Tschuang Tse beeinflusst. So lässt er sich zum Beispiel, als er 1930 nach einem Vortrag etwas zum Thema Intersubjektivität sagen möchte, das Buch Tschuang Tse bringen und liest daraus „Die Freude der Fische“ vor.
Komparativ angelegte Studien vergleichen Tschuang Tse mit westlichen Philosophen, wie Nietzsche oder Heidegger. Ein Hörspiel bringt Tschuang Tse in einen Dialog mit Meister Eckart.


VIERTES KAPITEL
MENZIUS


Geboren wurde Menzius in Zou, in einem Ort ganz in der Nähe des Geburtsortes von Konfuzius. Menzius' Vater starb schon sehr früh und seine Mutter erzog ihren Sohn daraufhin alleine. In China allbekannt ist die Geschichte, dass diese zweimal ihren Wohnsitz wechselte, damit der junge Menzius in einer möglichst förderlichen Umgebung aufwachsen konnte. Zunächst lebte die Familie neben einem Friedhof. Menzius spielte in der Nähe der Gräber und versuchte Bestattungen nachzuspielen. Die Mutter entschied sich daraufhin, in die Nähe eines Marktplatzes umzuziehen. Auch diese Umgebung des Geschäftemachens und des Marktgeschreis schien ihr aber auch für ihren Sohn unpassend. Letztendlich zog seine Mutter neben eine Schule.
Zur damaligen Zeit war es üblich, dass die Herrscher der einzelnen Reiche sich Gelehrte zur Unterhaltung an ihren Hof holten. Die Fürsten empfanden es als unterhaltsam, sich über philosophische Themen mit den Gelehrten auszutauschen. Ähnlich wie sein Vorbild Konfuzius reiste Menzius so von Reich zu Reich, um seine Ideen und Lehren zu verbreiten. Menzius versuchte dabei, die jeweiligen Fürsten zu beeinflussen, die seine Lehren umsetzen sollten. Menzius Philosophie hat dadurch einen sehr praktischen Anspruch.
Wie Konfuzius bereiste auch Menzius China für vierzig Jahre, um seinen Rat den Herrschern anzubieten. Er diente als Beamter von 319 bis 312 vor Christus Um seinen Verpflichtungen als Sohn nachzukommen, ließ er sein öffentliches Amt für drei Jahre ruhen, um den Tod seiner Mutter zu betrauern. Enttäuscht davon, dass seine Bemühungen um Reformen so geringen Einfluss hatten, zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück.
Menzius unterscheidet sich von seinem Vorgänger unter anderem durch die Aussage, dass eine ungerechte Herrschaft nicht geduldet, sondern auch durch die Untertanen beendet werden darf, dem Prinzip des Wechsels des Mandats. Menzius vertritt ein positives Menschenbild, nach seiner Überzeugung ist der Mensch von Natur aus gut, und nur die Umwelt und die Leidenschaften entfernen ihn davon. Radikal und modern sind seine Ansichten zum Umweltschutz. So lautet sein Rat an Herrscher:
„Verbietest Du den Gebrauch fein geknüpfter Netze in großen Teichen, dann werden dort mehr Fische und Schildkröten sein, als die Menschen essen können. Wenn Du Äxte und Hacken im Wald nur zur richtigen Saison erlaubst, dann wird man dort mehr Holz ernten, als die Menschen benötigen.“
Vor allem auf das Wirken von Menzius ist es zurückzuführen, dass sich der Konfuzianismus nach dem Tod des Konfuzius im Widerstreit mit anderen philosophischen Schulen wie dem Taoismus oder dem Mohismus durchsetzen konnte.
Während sich Konfuzius nicht explizit zum Wesen der menschlichen Natur geäußert hatte, ist dieses Thema eines der wichtigsten in Menzius' Philosophie.
Grundsätzlich geht Menzius davon aus, dass die menschliche Natur gut ist. Diese These sollte später von Xunzi kritisiert werden, der die Auffassung vertrat, der Mensch sei von Natur aus schlecht. Menzius begründet seine Hypothese zunächst mit der Feststellung, dass alle Menschen einander ähnlich seien, weil sie zur selben Art gehören. Er argumentiert dabei mit den menschlichen Sinnen. Alle Menschen hielten ähnliche Speisen für schmackhaft, die Augen empfänden alle ähnliche Dinge als schön und die Ohren hören ebenfalls alle gerne ähnliche Töne und Musik. Menzius schließt daran die rhetorische Frage an, ob es dann sein könne, dass die Menschen einzig in ihrem Geist so unterschiedlich seien.
Daraufhin versucht er zu erklären, warum die Menschen so ähnlich sind und erklärt Vernunft und Rechtschaffenheit als die dem zugrunde liegende Prinzipien.
Menzius fährt fort und erklärt, dass vier grundlegende menschliche Fähigkeiten in jedem Menschen wiederzufinden seien: Mitleid, Scham, Ehrerbietung und die Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse.
Alle vier wiederum führen jeweils zu einer der vier Tugenden des Menschen: Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit.
Als herausgehoben stellt sich das Mitleid dar, das zu den drei anderen Tugenden führt. Menzius stellt seine Behauptung, dass das Mitleid angeboren sei, mithilfe eines Bildes von einem Kind dar, das im Begriff ist, in einen Brunnen zu fallen. Er erklärt, dass jeder, der diese Szene sieht, sofort versuchen wird, das Kind zu retten. Dabei spielen Gedanken an eine mögliche Belohnung der Eltern oder ein höheres Ansehen im Dorf wegen der Rettungsaktion keine Rolle. Der Beobachter wird vielmehr spontan helfen wollen, ganz ohne Hintergedanken zu haben. Menzius schließt daraus, dass der Mensch dieses Gefühl von Geburt an hat. Er bezeichnet es als Fähigkeit des Mitleids.
Die allen gemeinsame gute Natur allerdings besteht von Geburt an. Äußere Einflüsse und Verhältnisse können aber zu Unterschieden führen und die ursprünglich guten Eigenschaften verändern. Dadurch werden die Menschen erst schlecht. Diese äußeren Umstände hängen mit der Zeit, den historischen Gegebenheiten und den wirtschaftlichen Verhältnissen zusammen.
Darüber hinaus verlieren die Menschen ihre angeborene Güte auch, wenn sie sie nicht ständig anwenden und üben. Auch erhält der Mensch eine gewisse moralische Erfrischung durch den Schlaf. Er regeneriert sich zumindest teilweise. Allerdings reicht diese Regeneration meistens nicht aus, um die schlechten Einflüsse, die sich über den Tag gesammelt haben, wieder auszugleichen. Menzius' Vorstellung von der Tugend hat gewisse Parallelen zum Sport. Ganz verlieren kann er sie zwar nicht, aber ein regelmäßiges Training ist zwingend erforderlich. Es ist dabei nötig, seine Wünsche und Leidenschaften zu zügeln. Handelt man so, erlangt man Gleichmut und Seelenruhe. Menzius behauptet, diese Tugend mit vierzig Jahren erreicht zu haben.
Bildung spielt bei Menzius die wohl wichtigste Rolle, um wieder zu einer guten moralischen Verfassung zurückzufinden, was er in der Aussage ausdrückt: „Das Ziel des Studiums ist kein anderes, es sucht nur nach dem verlorenen Herzen.“ Die Möglichkeit zum Lernen ist für ihn auch der einzige Unterschied des Menschen zum Tier. Erst dadurch wird der Mensch zum Menschen.
Bildung ist für Menzius nur rein moralische Bildung und hat somit nichts mit Vielwissen zu tun. Anhäufung von Wissen ist nicht in seinem Sinne. Schulen sind damit vielmehr moralische Erziehungsstätten.
Menzius stellt sich gegen den Utilitarismus der Mohisten. Er begründet dies ebenfalls mit seiner Theorie von den vier angeborenen Tugenden. Da sie von Beginn an da sind, dürfen sie auch nicht ausgeübt werden, um sich damit nur materiellen Profit zu erarbeiten. Menzius sieht die Sachlage andersherum: Wenn sich die Menschen tugendhaft nach dem Prinzip der Rechtschaffenheit verhalten, wird der Gewinn automatisch kommen, so wie ein Künstler in erster Linie ein Kunstwerk herstellt und die Ideen und Gefühle des Künstlers selbst ausdrückt, und nur quasi als Nebenprodukt gefällt es dann seinen Betrachtern.
Menzius definiert allerdings nirgendwo in seinem Werk den genauen Unterschied zwischen Gewinn und Rechtschaffenheit. Trotzdem kann man insgesamt von einer Einstellung gegen den puren Utilitarismus ausgehen, was am Beispiel seiner Äußerungen zu den Bestattungen deutlich wird. Während sich dabei die Mohisten mit eher simplen Begräbnissen zufriedengeben, spricht sich Menzius für eine größere Ehrung der Toten aus, denn nur diese stelle die Hinterbliebenen auch wirklich zufrieden.



ZWEITER TEIL
ISLAMISCHE PHILOSOPHIE


ERSTES KAPITEL
AL-KINDI

Al-Kindi war arabischer Abstammung und wurde von seinen vielen persischen Genossen und Kollegen deshalb „der arabische Philosoph“ genannt. Er selbst führt seinen Stammbaum auf die alten Kinda-Fürsten zurück, was darauf hindeutet, dass er aus einer wohlhabenden Familie stammte. Er wurde um 800 in Kufa geboren, wo sein Vater Statthalter war. Der erwähnte Reichtum seiner Ahnen führte einerseits zu einem sehr gebildeten Stamm, wovon al-Kindi in seiner Ausbildung profitierte, als auch später zu der Möglichkeit, sehr viele Übersetzer beschäftigen zu können. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er in Bagdad, das damals das kulturelle Zentrum der islamischen Welt schlechthin war und es ihm ermöglichte, sich mit den verschiedensten Kulturen und Lehren auseinanderzusetzen. So gilt er auch als einer der ersten großen Übersetzer, da er einen Großteil der Werke von Aristoteles, Platon und des Neuplatonismus übersetzen ließ. Al-Kindi selbst baute darauf seine eigenen Werke auf. Er hatte Zugang zum Hof des Kalifen. Zeitweise dürfte er auch in Ungnade gefallen sein, seine Bibliothek war eine Zeit lang konfisziert und das Fehlen seiner genauen Geburts- und Todesjahre deutet darauf hin, dass er in untergeordneter Stellung gestorben sein dürfte.
Bekannt war er aber nicht nur als Philosoph sondern auch als Arzt, Mathematiker, Physiker, Pharmakologe. Von Alchemie hielt er wenig. Er war Astrologe, Geograph und Prinzenerzieher am Hofe al-Mamuns. Lange Zeit galt er auch als Theologe, vor allem wegen seiner Versuche, Philosophie und Religion zu einen. Al-Kindi starb um das Jahr 870 herum.
Das philosophische Schaffen al-Kindis war vor allem durch seine vielen Übersetzungen geprägt, die er selbst korrigierte. Dem folgen auch Entwicklungen in seinen eigenständigen Werken. Zunehmend kenntlich wird eine Nähe zu Platon und der Tradition des Neuplatonismus, aber auch an Aristoteles, dessen Werke eine starke Stellung in ak-Kindi's Bibliothek einnehmen.
In seinem Hauptwerk „Über die Erste Philosophie“ sind die Einflüsse durch Aristoteles besonders deutlich. Es ist in vier Abschnitte geteilt: Im ersten Teil steckt er den Rahmen der Untersuchung ab und erklärt, dass die Aufgabe des Philosophen die Wahrheitssuche ist, also die Suche nach den Ursachen für Materie, Form, Gattung und Art der Dinge, in Anlehnung an Aristoteles' „Metaphysik“. Im zweiten Teil ändert sich die Perspektive, und al-Kindi erklärt, dass die Welt endlich ist und die Unendlichkeit der Welt nur eine Potenz ist. Er zeigt, dass die Dimensionen des Raumes endlich sind, so wie aber auch die Zeit endlich sei und also einen zeitlichen Anfang haben müsse. Im dritten Teil erklärt er die Existenz Gottes mit dem Argument, dass die Vielheit der sinnlich wahrnehmbaren Dinge auf der Existenz des ursprünglichen Einen beruhe, in Anlehnung an den Neuplatoniker Proklos. Im vierten Teil beschreibt Kindi Gott und bedient sich einer negativen Theologie im Sinne des späten Neuplatonismus, in Anlehnung an Proklos; der Text wird aber mit einer Wendung beschlossen: Der ferne und unbekannte Gott habe unsere Welt nicht von Ewigkeit her, sondern in der Zeit aus dem Nichts bewirkt, in Anlehnung an das religiöse Dogma der Schöpfung aus dem Nichts.
Seine eigentliche Philosophie war zunächst auf der Mathematik aufbauend; es finden sich Zahlenspiele in seinen Schriften. Nach ihm konnte niemand „Philosoph“ werden, der nicht Mathematik und Logik studiert habe. Die Welt ist bei ihm ein Werk Gottes, dessen Wirken von oben nach unten vermittelt wird: alles Höhere wirkt auf das Niedere ein, nicht aber das Verursachte auf seine Ursache. So entsteht eine durchgehende Ursächlichkeit in der Welt, deren Erkenntnis es ermöglicht, Zukünftiges vorherzusagen. Die Welt besteht aus dem göttlichen Geist, der materiellen Körperwelt und der Seele, die sich dazwischen befindet. Die menschliche Seele ist ein Ausfluss der Weltseele, in ihren Wirkungen an den Körper gebunden, ihrem geistigen Wesen nach aber frei. Die Seele ist in die Sinnenwelt herabgekommen, mit einer Ahnung ihres ursprünglichen Zustands und findet sich daher auf Erden nicht heimisch. Erlösung kann sie im Aufstieg in die geistige Welt finden, wo alle ihre wahren Bedürfnisse befriedigt werden. Dafür muss sie sich von allen materiellen und körperlichen Begierden befreien.
Als wesentlichstes eigenes Werk, also unabhängig von den Vorlagen durch den Islam oder die griechische Philosophie,) dürfte „Über den Intellekt“ gelten, das die meisten eigenen Konzepte aufweist. Es geht dabei um Aristoteles' Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Intellekt. Al-Kindi definierte: Der aktive Intellekt sei die Ursache und das universale Prinzip allen Intellekts und er sei die Spontaneität des Denkens und ohne Ruhe. Das Denken sei in drei Stufen aufgebaut: Der potentielle Intellekt (das Vermögen des Menschen zu denken), der erworbene Intellekt (das Vermögen des Menschen, etwas tun zu können, es aber gerade nicht auszuüben), der sichtbare Intellekt (das Vermögen des Menschen, das erworbene Wissen anzuwenden). Diese drei Stufen sind Formen des passiven oder rezeptiven Intellekts.
Ein weiteres wichtiges Werk al-Kindis sind die Definitionen der Begriffe. Im Rahmen seiner Übersetzungen entstand eine Schrift über die Definition des Begriffs „Philosophie“, die seine Philosophie auch wesentlich charakterisieren. Es ist eine Definition von sechs Gesichtspunkten: Etymologisch ist Philosophie die „Liebe zur Weisheit“; Philosophie ist das Bemühen, sich den göttlichen Taten anzugleichen und zwar nach Maßgabe des menschlichen Vermögens; Philosophie ist die Sorge um den Tod, nämlich zum einen die Sorge um den Austritt der Seele aus dem Körper und zum anderen die Sorge um das Abtöten der Begierden; Philosophie ist die Kunst der Künste und die Weisheit der Weisheiten; die Dinge sind entweder körperlich oder unkörperlich, der Mensch besteht aber aus Körper und Seele, und die Seele besteht aus Substanz, um seine Substanz zu kennen, muss der Mensch sich selbst erkennen, erkennt der Mensch alle seine drei Bestandteile, erkennt der die ganze Welt; Philosophie ist die Kenntnis der ewigen Universalien, ihres Wesens und ihrer Ursachen, soweit dies dem Menschen möglich ist.
Al-Kindi galt als erster islamischer Aristoteliker, auch wenn er im Unterschied zu Aristoteles von einer endlichen Welt ausging. Ein Fehler aber passierte bei seinen Übersetzungen. Die Enneaden Plotins werden irrtümlicherweise Aristoteles als „Theologie des Aristoteles“ zugeschrieben und in der islamischen Philosophie als „neuplatonischer Aristotelismus“ verwechselt. Dieser Fehler wird erst sehr viel später bemerkt werden und zieht sich ganz wesentlich durch die Geschichte der islamischen Philosophie.


ZWEITES KAPITEL
AVICENNA

Avicennas Vater war ein aus Balch stammender ismaelitischer Steuereintreiber, der sich im Dorf Afschana bei Buchara im persischen Samanidenreich niederließ und dort Avicennas Mutter Setara heiratete. Avicenna und ein Bruder wurden in Afschana geboren, anschließend zog die Familie nach Buchara.
Da seine Muttersprache Persisch war, lernte er zuerst Arabisch, die damalige Weltsprache. Danach wurden ihm zwei Lehrer zugewiesen, die ihm den Koran und die Literatur näher bringen sollten. Bereits im Alter von zehn Jahren konnte er den Koran auswendig und hatte viele Werke der Literatur studiert und sich dadurch die Bewunderung seiner Umgebung erworben. Während der nächsten sechs Jahre studierte er autodidaktisch Jura, Philosophie, Logik, Werke des Euklid und den Almagest. Von einem gelehrten Gemüsehändler lernte er indische Mathematik und Algebra. Er wandte sich im Alter von siebzehn Jahren der Medizin zu und studierte sowohl ihre Theorie als auch ihre Praxis. Er beschrieb die Heilkunst als nicht schwierig. Er vertiefte sich auch in metaphysische Probleme, besonders in die Werke des Aristoteles.
Da er sich im Alter von achtzehn Jahren bereits einen Ruf als Arzt erarbeitet hatte, nahm ihn der samanidische Herrscher Nuh ibn Mansur in seine Dienste auf. Zum Dank wurde ihm erlaubt, die königliche Bibliothek mit ihren seltenen und einzigartigen Büchern zu nutzen. So gelang es ihm, im Alter von 21 Jahren sein erstes Buch zu verfassen.
Er verlor 1002 seinen Vater und 1005 mit dem Aussterben der samanidischen Dynastie seine Anstellung. Wahrscheinlich verließ er Buchara bereits, als die Stadt 999 an die türkischen Qarachaniden fiel, und wanderte über Nischapur und Merv in Chorasan nach Choresm aus. Über das Oasengebiet südlich des Aralsees herrschte damals Ali ibn Mamun, dem Avicenna in Kath diente, bis er 1012 floh, um nicht in den Dienst des Sultans Mahmud von Ghazni treten zu müssen. Nach erneuter Wanderung durch verschiedene Städte Chorasans kam er noch 1013 nach Gorgan nahe dem Kaspischen Meer. Angezogen hatte ihn der Ruhm des dortigen Herrschers Qabus, der als Förderer der Wissenschaft galt. Der Fürst aus der Dynastie der Ziyariden war jedoch kurz vor Avicennas Ankunft ermordet worden. In Gorgan hielt er Vorlesungen in Logik und Astronomie, schrieb den ersten Teil des Qanun und traf seinen Freund und Schüler al-Dschuzdschani.
In Rayy, wo er sich 1014–1015 aufhielt und im Dienst der Buyiden stand, gründete Avicenna eine medizinische Praxis und verfasste dreißig kurze Werke. Als Rayy belagert wurde, floh er nach Hamadan. Dort behandelte er eine reiche Frau, wurde Leibarzt und medizinischer Berater des Buyiden Shams ad-Daula und stieg schließlich sogar zu dessen Wesir auf. Eine Meuterei von Soldaten führte zu seiner Absetzung und Verhaftung. Doch als der Emir wieder einmal an einer Kolik litt, soll Avicenna zur Behandlung herangezogen und nach erfolgreicher Heilung freigelassen und wieder in sein altes Amt eingesetzt worden sein.
Sein Leben in jener Zeit war äußerst anstrengend: Tagsüber war er mit Diensten für den Emir beschäftigt, während er einen großen Teil der Nächte mit Vorlesungen und dem Diktieren von Notizen für seine Bücher verbrachte. Studenten sammelten sich in seinem Haus, um Ausschnitte aus seinen zwei Hauptwerken zu lesen, dem Kitab al-Shifa und dem Qanun.
Nach dem Tod Shams ad-Daulas 1021 bot Avicenna dem Kakuyiden-Emir Ala ad-Daula Muḥammad von Isfahan seine Dienste an und wurde deswegen vom neuen Herrscher Hamadans in der nahen Burg Fardajan eingekerkert. Als Ala ad-Daula vier Monate später gegen Hamadan marschierte, kam Avicenna frei und zog zusammen mit seinem Freund al-Dschusdschani und zwei Sklaven nach Isfahan, wo ihn Ala ad-Daula willkommen hieß. Er verbrachte seine letzten Jahre im Dienst des Kakuyiden, den er in wissenschaftlichen und literarischen Fragen beriet. Ihm widmete er eine Zusammenfassung der Philosophie in persischer Sprache namens „Das Buch des Wissens für Ala ad-Daula“. Außerdem begleitete er ihn auf Kriegszügen. Freunde rieten ihm, sich zu schonen und ein gemäßigtes Leben zu führen, aber das entsprach nicht Avicennas Charakter: „Ich habe lieber ein kurzes Leben in Fülle als ein karges langes Leben“, antwortete er. Erschöpft durch seine harte Arbeit und sein hartes Leben starb Avicenna im Juni 1037 im Alter von 57 Jahren an Krebs. Angeblich wurde sein Ende durch eine übermäßige Gabe eines Medikaments durch einen Schüler beschleunigt. Er wurde in Hamadan begraben, wo noch heute sein Mausoleum steht.
Es wird behauptet, dass Avicenna 21 Hauptwerke und 24 Nebenwerke in Philosophie, Medizin, Theologie, Geometrie, Astronomie und anderen Gebieten vollendet hat. Andere Autoren schreiben Avicenna 99 Bücher zu: 16 über Medizin, 68 über Theologie und Metaphysik, 11 über Astronomie und 4 über das Drama. Die meisten von ihnen waren arabisch, aber auch in seiner Muttersprache Persisch schrieb er eine große Auswahl philosophischer Lehren und eine kurze Abhandlung über den Puls.
Avicenna beschäftigte sich auch mit Naturwissenschaften. In der Astronomie arbeitete er seinem Schüler al-Dschuzdschani zufolge an Ptolemäus’ Sternenmodell und vermutete, dass die Venus der Erde näher stehe als die Sonne. Die Astrologie lehnte er ab, weil ihre Brauchbarkeit nicht empirisch nachweisbar sei und sie mit der islamischen Theologie unvereinbar sei. Avicenna zitierte einige Passagen aus dem Koran, um dieses Urteil religiös zu untermauern. Als Chemiker erfand er die Wasserdampfdestillation, um Öle zu erzeugen. Andererseits stand er der damaligen Chemie, der Alchemie, skeptisch gegenüber und glaubte nicht an den Stein der Weisen. Alchemistisch erzeugtes Gold war, wie er schrieb, nur eine Imitation, und er bestritt die Gleichheit natürlicher und künstlicher Stoffe. Sie war in den frühen Übersetzungen oft der Meteorologie von Aristoteles beigefügt, da die Herausgeber sie für aristotelisch hielten, und übte einen beträchtlichen Einfluss auf die alchemistische Literatur aus als Gegenpol, demgegenüber man sich rechtfertigte. Einige der ihm später zugeschriebenen alchemistischen Schriften sind spätere Unterschiebungen, beeinflussten aber Bacon. In der Geologie gab er zwei Ursachen für die Entstehung von Bergen an: „Entweder entstehen sie durch das Aufbäumen von Erdschichten, wie es bei schweren Erdbeben geschieht, oder sie sind die Folge von Wasser, das neue Wege suchte und Täler heraus gewaschen hat, wo weichere Gesteinsschichten zu finden sind. Dies muss jedoch eine große Zeit in Anspruch nehmen, in der die Berge selbst geringer werden könnten.“ Auch in der Physik war Avicenna vielfältig tätig; so verwendete er Thermometer, um die Temperatur bei seinen Experimenten zu messen, und stellte eine Theorie über Bewegung auf. Darin befasste er sich mit der Kraft und der Bahnneigung eines Geschosses und zeigte, dass ein Geschoss sich in einem Vakuum ewig fortbewegt. In der Optik argumentierte er, dass die Lichtgeschwindigkeit endlich sei und gab eine Beschreibung des Regenbogens.
Avicenna beschäftigte sich ausgiebig mit philosophischen Fragen, sowohl mit Metaphysik als auch mit Logik und Ethik. Seine Kommentare zu Werken des Aristoteles enthielten konstruktive Kritik an dessen Auffassungen und schufen Voraussetzungen für eine neue Aristoteles-Diskussion. Avicennas philosophische Lehren werden sowohl von westlichen als auch von muslimischen Forschern als weiterhin aktuell eingeschätzt. Während westliche Wissenschaftler ihn oft als Rationalisten in der Nachfolge von Aristoteles sehen, neigen muslimische Forscher eher dazu, ihn als Mystiker zu betrachten.
Avicenna schrieb seine frühesten Arbeiten in Buchara unter dem Einfluss von al-Farabi. Das erste, ein "Kompendium über die Seele", ist eine kurze Abhandlung, die er den samanidischen Herrschern widmete und in der er sich mit neuplatonischem Gedankengut beschäftigte. Das zweite ist die „Philosophie für den Prosodisten“, in der er sich mit der Metaphysik des Aristoteles auseinandersetzt.
Nach seinem Aufbruch aus Buchara verfasste Avicenna weitere philosophische Werke, darunter das "Buch der Heilung", eine wissenschaftliche Enzyklopädie. Die Bedeutung des arabischen Titels ist etwa „Buch der Angemessenheit“. Das Buch behandelt Arithmetik, Astronomie, Geometrie, Logik, Musik, Naturwissenschaften, Philosophie und Psychologie. Es wurde sowohl von hellenistischen Denkern wie Aristoteles und Claudius Ptolemäus als auch von muslimischen Wissenschaftlern wie al-Farabi und al-Biruni beeinflusst. Das Werk stieß allerdings nicht überall in der islamischen Welt auf ungeteilte Zustimmung, es wurde, wie Ernst Bloch berichtet, immer wieder auch als ketzerisch verfolgt: „Avicennas philosophische Enzyklopädie wurde 1150 auf Befehl des Kalifen von Bagdad verbrannt; auch später wurde jedes erreichbare Exemplar vernichtet, vom Urtext gibt es nur Bruchstücke“.
Avicennas zweites Werk war das „Buch des Wissens für Ala ad-Daula“ auf Persisch, in dem er seinem Gönner eine Zusammenfassung seiner Philosophie auf der Grundlage des „Buchs der Heilung“ bietet.
Avicenna verfasste außerdem das „Buch der Ratschläge und Erinnerungen“, ein Werk, das sein Denken über eine Vielzahl von logischen und metaphysischen Themen vorstellt. Ein anderes Werk ist „Das Urteil“, das sich von den anderen Arbeiten durch seine Radikalität und seine Vermischung von aristotelischem Gedankengut und Neuplatonismus unterscheidet. Sein letztes Werk ist „Die östliche Philosophie“, es ist weitgehend verloren.
Die frühe islamische Philosophie, die sich noch eng am Koran orientierte, unterschied klarer als Aristoteles zwischen Wesen und Existenz. Avicenna entwickelte eine umfassende metaphysische Weltbeschreibung, indem er neuplatonisches Gedankengut mit aristotelischen Lehren verband. Das Verhältnis von Stoff und Form verstand er so, dass im Stoff (Materie) die Möglichkeiten der Formen (Essenz) bereits enthalten sind. Gott sei notwendig an sich, alles andere Sein notwendig durch anderes. „Gott ist das einzige Sein, bei dem Essenz (Wesen) und Existenz (Dasein) nicht zu trennen sind und das daher notwendig an sich ist.“ Alles andere Sein sei bedingt notwendig und lasse sich in Ewiges und Vergängliches unterteilen. Gott schuf durch seine geistige Tätigkeit die Weltschöpfung. Der Intellekt des Menschen habe die Aufgabe, den Menschen zu erleuchten. In der Frage der Ideen vertrat Avicenna auf Platon aufbauend die These, dass diese vor der Erschaffung der Welt bereits im Verstand Gottes sind, effektiv in der Natur zu finden sind und auch in der menschlichen Erkenntnis. Avicenna bestritt die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, Gottes Interesse an Einzelereignissen sowie eine Erschaffung der Welt in der Zeit.
Avicenna widmete sich der Logik sowohl in islamischer Philosophie als auch in Medizin mit großer Hingabe und entwickelte sogar ein eigenes logisches System, das auch als „Avicennische Logik“ bezeichnet wird. So war Avicenna wohl einer der ersten, die es wagten, Aristoteles zu kritisieren und von ihm unabhängige Abhandlungen zu verfassen. Besondere Kritik erhielt die Schule von Bagdad von ihm, da sie sich zu sehr auf Aristoteles begründete.
Avicenna hatte in Buchara einen Großteil seiner Ausbildung für den Koran und die islamische Religion verwendet. Es heißt, er habe bereits mit zehn Jahren den Koran auswendig gekannt. Zeitlebens war er ein frommer Muslim. Er verfasste fünf Abhandlungen über verschiedene Suren, die generell voll Respekt sind. Nur seine philosophischen Tätigkeiten brachten ihn manchmal in Konflikt mit der islamischen Orthodoxie: Ausgehend von der Seelenlehre des Aristoteles differenzierte er die drei Seelenvermögen weiter aus und ordnete sie der Weltseele unter. Damit widersprach er zentralen Glaubensinhalten, was ihm die Feindschaft sunnitischer Theologen einbrachte. Wie die christlichen Scholastiker nach ihm versuchte Avicenna, die griechische Philosophie mit seiner Religion, die Vernunft mit dem Glauben zu verbinden. So benutzte er philosophische Lehren, um die islamischen Glaubenssätze wissenschaftlich zu unterlegen. Obwohl er sowohl Religion als auch Philosophie als zwei notwendige Teile der ganzen Wahrheit auffasste, argumentierte er, dass die islamischen Propheten mehr Bedeutung als die antiken Philosophen haben sollten.
In der lateinischen Scholastik wurde Avicenna zu dem – nach Averroes – angesehensten Vertreter der Persischen Philosophie und Vermittler der aristotelischen Philosophie und Naturkunde. Seine Werke wurden an den Artistenfakultäten und von Theologen wie Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus rezipiert.
Dante versetzt in seiner Göttlichen Komödie Avicenna zusammen mit seinen beiden muslimischen Glaubensbrüdern Averroes und Saladin in das „edle Schloss“ (nobile castello) im Limbus der Hölle, wo ansonsten nur Personen der vorchristlichen heidnischen Antike, insbesondere Philosophen und Dichter der griechischen und römischen Welt, angesiedelt sind: er teilt dort mit ihnen das Schicksal, durch eine tugendhafte Lebensführung zwar der ewigen Verdammnis entgangen zu sein, da er sonst in einem der tieferen Kreise der eigentlichen Hölle zu strafen wäre, zugleich aber mangels Teilhabe am Sakrament der Taufe von der Erlösung ins Paradies ausgeschlossen zu sein und deshalb einen Zustand ohne Strafe, aber in ewiger Gottesferne, erleiden zu müssen. Dass er und seine beiden Glaubensbrüder im Unterschied zu ihren heidnischen Leidensgenossen der vorchristlichen Zeit die christliche Lehre bereits kannten und sich zur Taufe hätten entscheiden können, ihr Beharren in einem anderen Glauben folglich auf eigener Wahl beruhte und sie trotzdem nicht mit ihren übrigen Glaubensbrüdern zur Strafe in einem tiefer gelegenen Kreis der Hölle verdammt sind, bringt die besondere Wertschätzung zum Ausdruck, die Dante ihnen entgegenbrachte.



DRITTES KAPITEL
AVERROES

Averroes wurde 1126 in Cordoba in eine Juristenfamilie geboren. Er studierte Recht, Medizin und Philosophie und war auch darüber hinaus ein sehr gebildeter Mensch. Im Jahre 1168 soll er von Ibn Tufail dem Fürsten Abu Yaqub Yusuf I. vorgestellt worden sein, welcher ihn in einem Gespräch fragte, was denn die Ansicht der Philosophen über die Ewigkeit des Himmels sei. Averroes aber war eingeschüchtert und behauptete, sich nicht mit Philosophie zu beschäftigen. Also begann der Fürst ein Gespräch mit Ibn Tufail und zeigte dabei seine große Kenntnis der islamischen Philosophie und ihrer Fragestellungen. Averroes begann sich dann doch in das Gespräch einzumischen und bekam schließlich den Auftrag, alle Werke des Aristoteles neu zu ordnen und zu kommentieren, um dem Islam rein und vollständig die Wissenschaft zu geben. Er führte ein vielfältiges Leben, so war er Richter in Cordoba und Sevilla und wurde Leibarzt des mittlerweile zum Kalifen gewordenen Abu Yaqub. Jedoch hielt er auch diese Stellung nur kurz und wurde wieder Richter in seiner Heimatstadt. Das alle spanisch-arabischen Philosophen betreffende Umfeld der ungünstigen politischen Verhältnisse zu jener Zeit traf auch für Averroes zu, die islamischen Herrscher bedurften ihrer nicht als vielmehr der Unterstützung durch Theologen. Averroes' Aufforderungen an die Menschen, ihre Vernunft zu gebrauchen, brachten ihn in Konflikt mit den Sichtweisen der islamischen Orthodoxie. Unter Kalif Yaqub al-Mansur, dem Sohn und Nachfolger von Abu Yaqub, stand Averroes zunächst in der Gunst des Herrschers, doch bald fiel er in Ungnade. Der Kalif, der sich auf einem Feldzug in Spanien befand, meinte auf die Unterstützung orthodoxer Kräfte angewiesen zu sein. Daher wurde Averroes nach Lucena, einer Kleinstadt südlich von Cordoba, verbannt; seine Werke wurden verboten und ihre Verbrennung angeordnet. Doch schon nach drei Jahren holte ihn der Kalif an seinen Hof nach Marrakesch und machte alle Maßnahmen gegen ihn rückgängig. Bald darauf starb Averroes am 10. Dezember 1198.
Averroes war ein offener und kritischer Geist seiner Zeit. In seiner Beschäftigung mit Aristoteles ging er so systematisch wie nur möglich voran und interpretierte ihn wie niemand zuvor. Er schrieb Kommentare in mehreren Abstufungen, kürzere, mittlere und größere und machte sich als Kommentator des Aristoteles einen Namen. Sogar Dante erwähnt ihn in dieser Funktion in seiner Göttlichen Komödie. Aristoteles ist dabei für Averroes der vollkommene Mensch, der im Besitze der unfehlbaren Wahrheit gewesen sei und sich den Menschen nur einmalig gezeigt habe. Er sei die inkarnierte Vernunft gewesen. Des Averroes eigene Philosophie baut sehr auf Logik auf, wie es von einem großen Aristoteliker auch nicht anders zu erwarten wäre. Sie beginnt zunächst mit der Frage, ob man überhaupt philosophieren dürfe, ob es vom religiösen Gesetz her erlaubt, verboten, empfohlen oder notwendig sei. In Koran-Versen wie „Denkt nach, die ihr Einsicht habt!“ findet Averroes nicht nur die Aufforderung an die Muslime, über ihren Glauben nachzudenken, sondern auch, die bestmögliche Beweislage für ihr Denken zu finden, und diese sieht er eindeutig in der Philosophie und zumal in der aristotelischen Beweisführung gegeben. Aber auch Averroes schränkt ein, dass nicht alle Menschen sich mit Philosophie beschäftigen können, sondern nur jene, die einen starken Intellekt besitzen. In Reaktion auf al-Ghazali teilt er den Koran und dessen Exegese in seinem Werk „Die entscheidende Abhandlung“ in drei Gruppen ein: Klare und evidente Verse, die direkt und für jedermann verständlich sind; in ihrer Aussage klare Verse, die aber darüber hinaus auch von Personen mit starkem Intellekt interpretiert und reflektiert werden können; Verse, bei denen nicht klar ist, ob sie wörtlich oder im übertragenen Sinne zu verstehen sind und bei denen folglich auch die Meinung der Gelehrten abweichen kann.
Noch viel direkter greift er al-Ghazali dann aber in seiner Schrift „Die Inkohärenz der Inkohärenz“ an, der Titel ist in Anlehnung an al-Ghazali „Die Inkohärenz der Philosophen“ gewählt. Dort hatte al-Ghazali die Philosophen vor allem deswegen angegriffen, da sie Unglauben auf Grund von drei Dingen lehrten: Die Urewigkeit der Welt; das Wissen Gottes um die Einzeldinge nur auf allgemeine Weise; die mögliche Auferstehung des Menschen nur mit der Seele, nicht aber mit dem Leibe.
Averroes antwortete auf diese drei Punkte folgendermaßen: Der Koran sagt nirgends, dass die Welt aus dem Nichts geschaffen und in der Zeit entstanden sein soll. In den sechs Tagen der Schöpfung schwebte Gottes Thron dem Koran nach sogar über dem Wasser, woher davon auszugehen ist, dass die Welt schon existiert haben könnte. Solche Verse ordnet Averroes der dritten Gruppe der Koran-Verse zu, wegen deren Interpretation niemand des Unglaubens bezichtigt werden dürfe. Die Philosophen behaupten gar nicht, dass Gott kein Wissen um die Einzeldinge hätte. Sie betonen aber, dass es anders sei als das Wissen der Menschen und dass die Menschen also gar nicht wissen könnten, was Gott alles weiß. Ihr Wissen entstehe Schritt für Schritt, während Gottes Wissen von Ewigkeit her alle Dinge umfasse und daher eine Voraussetzung dafür sei, dass die Einzeldinge nacheinander entstehen. Auch leugnen die Philosophen die Auferstehung nicht und lehren nichts, was im Widerspruch zum Koran stünde. Auch jene Verse ordnet er der dritten Gruppe der Koran-Verse zu. Also dürfe niemand aufgrund einer anderen Interpretation des Unglaubens bezichtigt werden.
Hier setzt dann sein eigenes philosophisches System an. Allerdings gibt es hier keine eigenständigen Werke mehr, sondern seine Lehre erstreckt sich auf seine zahlreichen Kommentare zu griechischen Autoren, wiewohl er nicht des Griechischen mächtig war. Die Wahrheit sei nach Aristoteles verloren gegangen. Avicenna und anderen wirft er vor, Philosophie mit Theologie verbunden zu haben und somit die Philosophie für Leute wie al-Ghazali überhaupt erst angreifbar gemacht zu haben. Auch Averroes beschäftigte sich – wie fast alle islamischen Philosophen – mit dem Intellekt, der Vernunft. So habe nicht jeder Mensch seinen eigenen individuellen potenziellen Intellekt, der ihm die Glückseligkeit ermögliche. Denn es gebe nur einen universalen potenziellen Intellekt. Das Individuum verfüge aber nur über jene Tätigkeiten, die mit der körperlichen Existenz zusammenhängen, die von einer Seele koordiniert würden, einer Seele, die mit dem Körper verbunden sei und mit ihm vergehe. Die geistige Erkenntnis gehöre also nicht in den Bereich des Individuellen.


VIERTES KAPITEL
AL-GHAZALI

Nach dem Tod seines Lehrers al-Dschuwaini ging al-Ghazali an den Hof Nizam al-Mulks, des Wesirs der Seldschuken-Sultane, der ihn 1091 zum Professor in Bagdad ernannte. Er erwarb sich in dieser Stellung als höchstrangiger Lehrer der islamischen Gemeinschaft von Bagdad größtes Ansehen und war auch als politischer Berater gefragt.
Während der durch die Ermordung Nizam al-Mulks ausgelösten Wirren geriet al-Ghazali nach eigenem Bekunden in eine spirituelle Krise und wandte sich der islamischen Mystik, dem Sufismus, zu. Er gab seine Professur auf, spendete seinen Besitz den Armen und verließ Bagdad. Als Sufi führte er anschließend in Palästina und Syrien ein Wanderleben, bis er schließlich in seine Heimatstadt Tus zurückkehrte, wo er abgesehen von einer kürzeren Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als Professor bis zu seinem Tod ein zurückgezogenes Leben als sufischer Lehrer führte.
Al-Ghazalis Haltung zur Philosophie ist zwiespältig: Einerseits zeugen seine Werke von einer gründlichen Kenntnis der griechischen und islamischen Philosophie, andererseits lehnte er die Philosophie als eigenen Weg zur Wahrheit ab und warf Vorgängern wie Avicenna und al-Farabi vor, durch ihre unkritische Adaption der heidnischen aristotelischen und platonischen Philosophie den islamischen Glauben zu verderben. Besonders gegen die Emanations-Lehre, die das notwendige Hervorgehen der Welt aus Gott auf dem Weg über den Intellekt und in Verbindung damit auch die Ewigkeit der Welt lehrte, verteidigte er die durch die Koran-Offenbarung verbürgte göttliche Erschaffung und Zeitlichkeit der Welt, indem er den Philosophen das Recht absprach, ihr Prinzip der Kausalität auch auf den jenseitigen Gott anzuwenden.
Al-Ghazali versuchte in seinem Weltbild eine Synthese vom göttlichen Determinismus mit dem menschlichen freien Willen: Auf der obersten Stufe befindet sich der sich stets selbsterhaltende Gott. Auf unterster Ebene ist die materielle Welt, die von Gott vorherbestimmt ist. Dazwischen liegt die Welt der Menschen, deren Seele und Selbst durch den freien Willen geprägt ist. Gott gibt dem Menschen Ideen und Neigungen, aber die folgenden Taten obliegen einzig dem Menschen.
Er gab sich mit der bloßen Vernunft als Erkenntnisquelle nicht zufrieden und lehrte den Weg zu einem Gottesbewusstsein, das aus dem Herzen entspringt, um sich von den unislamischen Einflüssen des Verstandes zu lösen. Mit dieser Haltung ebnete er anti-rationalen Tendenzen in den geistigen Auseinandersetzungen seiner Epoche den Weg.
In seiner intellektuellen Autobiographie "Der Erretter aus dem Irrtum" machte al-Ghazali deutlich, dass er nach seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit den verschiedenen religiösen Wissenschaften den Sufismus als das religiöse System betrachtete, das den größten Heilsnutzen verspricht. So schrieb er hier:
„Ich wusste mit Gewissheit, dass die Ṣufis diejenigen sind, die auf dem Wege des erhabenen Gottes voranschreiten, besonders weil ihre Lebensweise die beste aller Lebensweisen, ihr Weg der richtigste aller Wege und ihre Gesinnung die reinste aller Gesinnungen ist. Ja sogar, wenn man die Vernunft aller Vernünftigen, die Weisheit aller Weisen und das Wissen der Gelehrten, denen sich die Geheimnisse der Offenbarung erschlossen haben, in sich vereinigte, um auch nur etwas von der Lebensweise und der Gesinnung der Ṣufis zu verändern und durch etwas Besseres zu ersetzen, so würde ihnen dieses nicht gelingen. Denn alle ihre Bewegungen und Ruhehaltungen, in ihrem Äußeren wie auch im Inneren, sind der Lichtnische der Prophetie entnommen. Hinter diesem Lichte der Prophetie gibt es kein anderes Licht auf Erden, von dem Erleuchtung erlangt werden kann.“
Durch Aussagen wie diese trug al-Ghazali maßgeblich zur allgemeinen Anerkennung des Sufismus im Islam bei. Al-Ghazali gab auch dem Dschihad durch die Neuinterpretation eines Koranverses eine neue, Bedeutung: Nicht der Kampf auf dem Schlachtfeld sei Dschihad, sondern der Kampf gegen das eigene sündige Ego.