DEUTSCHER KOMMUNISMUS

von Josef Maria von der Ewigen Weisheit

ERSTES KAPITEL
Karl Marx

Karl Marx wurde 1818 als drittes Kind des Anwaltes Heinrich Marx und von Henriette Marx in Trier geboren. Karl Marx war mütterlicherseits Cousin dritten Grades von Heinrich Heine, der auch aus einer jüdischen Familie stammte und mit dem Marx während seiner Pariser Zeit in engem Kontakt stand. Heinrich Marx stammte mütterlicherseits aus einer bedeutenden Rabbinerfamilie. 1812 schloss er sich dort der französischen Freimaurerloge „L’Etoile Hanséatique“ (Der Hanseatische Stern) an. Zwischen 1816 und 1822 konvertierte der Vater zum Protestantismus, da er als Jude unter der preußischen Obrigkeit sein unter napoleonischer Regierung angetretenes Amt als Advokat nicht hätte weiterführen dürfen. Die Mutter von Karl ließ sich erst am 20. November 1825 taufen, da sie fürchtete, ihre Familie, allen voran ihr Vater, würde dies missbilligen.
Von 1830 bis 1835 besuchte Karl Marx das Gymnasium zu Trier, wo er mit 17 Jahren das Abitur mit einem Durchschnitt von 2,4 ablegte. 1836 verlobte sich Marx in Trier mit Jenny von Westphalen.
1835 ging er zum Studium der Rechtswissenschaften und der Kameralistik nach Bonn. Dort trat er der „Landsmannschaft der Treveraner“ bei. Bekannt ist, dass er wegen „nächtlichen Lärmens und Trunkenheit“ verurteilt wurde und gegen ihn wegen „Tragens eines Säbels“ ermittelt wurde. In Bonn besuchte er unter andrem Vorlesungen August Wilhelm Schlegel. Marx schloss sich einem poetischen Kränzchen an, dem unter andren Emanuel Geibel angehörte.
Ein Jahr später wechselte er an die Friedrich-Wilhelms-Universität nach Berlin und besuchte juristische Vorlesungen. Er ließ aber das Jura-Studium gegenüber Philosophie und Geschichte in den Hintergrund treten. Hier stieß Marx zum Kreis der Jung- oder Linkshegelianer („Doctorclub“). Hegel, der 1831 starb, hatte zu seiner Zeit einen starken Einfluss auf das geistige Leben in Deutschland. Das hegelianische Establishment („Alt- oder Rechtshegelianer“) sah den preußischen Staat als Abschluss einer Serie von dialektischen Entwicklungen: eine effiziente Bürokratie, gute Universitäten, Industrialisierung und ein hoher Beschäftigungsgrad. Die Linkshegelianer, zu denen Marx gehörte, erwarteten weitere dialektische Änderungen, eine Weiterentwicklung der preußischen Gesellschaft, die sich mit Problemen wie Armut, staatlicher Zensur und der Diskriminierung der Menschen, die sich nicht zum lutherischen Glauben bekannten, zu befassen hatte.
Nach dem Tod seines Vaters Heinrich Marx am 10. Mai 1838 bekam Marx, weil er erst mit 25 Jahren volljährig wurde, einen gesetzlichen Vormund.
Am 15. April 1841 wurde Marx in absentia an der Universität Jena mit einer Arbeit zur Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie zum Doktor der Philosophie promoviert. Auf eine Professur rechnend, zog Marx hierauf nach Bonn; doch verwehrte die Politik der preußischen Regierung ihm – wie Ludwig Feuerbach und anderen – die akademische Laufbahn, galt Marx doch als ein führender Kopf der oppositionellen Linkshegelianer. Unter seinem Namen veröffentlichte er im Januar 1841 in der junghegelianischen Zeitschrift Athenäum zwei Gedichte unter dem Titel Wilde Lieder.
Um diese Zeit gründeten liberale Bürger in Köln die Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe als gemeinsames Organ der verschiedenen oppositionellen Strömungen von monarchistischen Liberalen bis zu radikalen Demokraten. Marx wurde ein Hauptmitarbeiter des Blattes, das 1842 erstmals erschien. Marx übernahm die Redaktion der Zeitung, welche von da an einen noch radikaleren oppositionellen Standpunkt vertrat. Marx, Arnold Ruge und Georg Herwegh gerieten zu dieser Zeit in einen politischen Dissens zu dem Kreis um ihren Berliner Korrespondenten Bruno Bauer, dem Marx vorwarf, das Blatt „vorwiegend als ein Vehikel für theologische Propaganda und Atheismus, statt für politische Diskussion und Aktion“ zu benutzen. Als Friedrich Engels, der als ein Freund und Parteigänger der Berliner Linkshegelianer galt, am 16. November 1842 die Kölner Redaktion besuchte und erstmals mit Marx zusammentraf, verlief die Begegnung daher relativ kühl.
Aufgrund der Karlsbader Beschlüsse unterlag das gesamte Pressewesen der Zensur, die hinsichtlich der Rheinischen Zeitung besonders streng war. Die preußische Obrigkeit schickte zunächst einen Spezialzensor aus Berlin. Als dies nicht half, musste jede Ausgabe in zweiter Instanz dem Kölner Regierungspräsidenten vorgelegt werden. Weil Marx’ Redaktion auch diese doppelte Zensur regelmäßig unterlief, wurde schließlich das Erscheinen der Zeitung 1843 untersagt. Marx trat als Mitarbeiter und Redakteur zurück, weil die Eigentümer hofften, durch Änderung der Linie des Blattes bei der Zensurbehörde eine Aufhebung des Verbotes erreichen zu können.
1843 heiratete Marx seine vier Jahre ältere Verlobte Jenny von Westphalen in Kreuznach. Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, von denen nur die drei Töchter Jenny, Laura und Eleanor das Kindesalter überlebten.
Im Oktober 1843 trafen Marx und seine Frau in Paris ein. Marx begann dort, zusammen mit Arnold Ruge, die Zeitschrift Deutsch-Französische Jahrbücher herauszugeben. Aufgrund seiner Tätigkeit begann auch der briefliche Kontakt mit Friedrich Engels, der zwei Artikel beigetragen hatte. Von der Zeitschrift erschien allerdings nur ein Doppelheft und dies auch nur in deutscher Sprache, weil Louis Blanc und Proudhon keine Artikel lieferten. Die Fortsetzung scheiterte aus verschiedenen Gründen. Marx begann, sich mit politischer Ökonomie zu beschäftigen und durch Kritik an den französischen Sozialisten einen eigenständigen Standpunkt zu entwickeln.
Ende 1843 lernte Marx in Paris Heinrich Heine kennen. Zeitlebens blieben sie freundschaftlich verbunden.
Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844 sind Marx’ erster Entwurf eines ökonomischen Systems, der zugleich die philosophische Richtung deutlich macht. Marx entwickelt dort erstmals ausführlich seine an Hegel angelehnte Theorie der „entfremdeten Arbeit“.
Allerdings beendete Marx diese sogenannten „Pariser Manuskripte“ nicht, sondern verfasste kurz darauf zusammen mit Friedrich Engels das Werk Die heilige Familie. Über die gemeinsame Arbeit an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern hatte sich mit Engels ein reger Briefwechsel entwickelt, der schließlich zu einer lebenslangen Freundschaft sowie einer engen politischen und publizistischen Zusammenarbeit führte. Deren erstes Ergebnis war die im März 1845 veröffentlichte Schrift Die heilige Familie, die sich als Streitschrift verstand, zu der Engels allerdings nur zehn Seiten beigetragen hat. Marx polemisiert hier gegen die Berliner Junghegelianer; einen wichtigen Angehörigen dieser Gruppe erwähnt er zunächst aber nicht: Max Stirner, dessen Buch Der Einzige und sein Eigentum im Oktober 1844 erschienen war und von Engels in einem Brief an Marx zunächst vorwiegend positiv eingeschätzt wurde.
Marx sah Stirners Buch kritischer als Engels und überzeugte diesen in einer Antwort auf den genannten Brief von seiner Auffassung. Gleichwohl schien er sich Stirners Kritik an Feuerbach partiell zu eigen zu machen und verfasste im Frühjahr 1845 seine berühmten, aber erst postum veröffentlichten Thesen über Feuerbach. Erst im Herbst 1845, nachdem Marx die Verteidigung Feuerbachs gegen die Kritik Stirners an ihm sowie Stirners Replik darauf gesehen hatte, entschloss er sich, selbst eine Kritik Stirners zu verfassen: das Kapitel „Sankt Max“ in der gemeinsam verfassten Streitschrift Die deutsche Ideologie, das aber erst nach Marx’ Tod veröffentlicht wurde.
Im ersten, der Kritik des junghegelianischen Religionskritikers Ludwig Feuerbach gewidmeten Kapitel der Deutschen Ideologie entwickeln Marx und Engels ein Modell des „praktischen Entwicklungsprozesses“ der menschlichen Geschichte, die sie im Gegensatz zu den Hegelianern nicht als Entwicklungsgang des Geistes, sondern als Geschichte menschlicher Praxis und der sozialen Beziehungen verstehen: „es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt“. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei der Moment der Teilung der Arbeit als des bestimmenden Faktors der geschichtlichen Entwicklung. Dem ebenfalls materialistisch argumentierenden Feuerbach werfen sie dabei vor, den Menschen als etwas Wesenhaftes, nicht aber als Subjekt sinnlich-praktischer Tätigkeit verstanden zu haben.
Die weiteren Kapitel der Deutschen Ideologie beinhalten eine scharfe Kritik der übrigen Junghegelianer als Vertreter einer – so Marx und Engels – wesentlich idealistischen Gesellschaftskritik. Auch den Vertretern des sogenannten „wahren Sozialismus“ ist ein Kapitel gewidmet. Zu Lebzeiten Marx’ wurde allerdings nur dieses Kapitel abgedruckt..
Marx’ und Engels’ in Abgrenzung gegen die zeitgenössischen sozialistischen und junghegelianischen Strömungen entworfene Grundlegung eines „historischen Materialismus“ stellt durch die Betonung der sozialen und materiellen Triebkräfte der Geschichte einen unmittelbaren Vorläufer der Soziologie dar.
Marx hatte sich außerdem an der Redaktion des in Paris erscheinenden deutschen Wochenblattes Vorwärts! beteiligt, das den Absolutismus der deutschen Länder – besonders Preußens – angriff, unter Marx’ Einfluss bald mit deutlich sozialistischer Ausrichtung. Die preußische Regierung setzte deswegen seine Ausweisung aus Frankreich durch, so dass Marx 1845 nach Brüssel übersiedeln musste, wohin Engels ihm folgte. Bei einer gemeinsamen Studienreise nach England 1845 knüpften sie Verbindungen zum revolutionären Flügel der Chartisten. Marx gab Anfang Dezember 1845 die preußische Staatsbürgerschaft auf und wurde staatenlos, nachdem er erfahren hatte, dass die preußische Regierung vom belgischen Staat seine Ausweisung erwirken wolle. Spätere Gesuche, seine Staatsbürgerschaft wiederherzustellen, blieben erfolglos.
In Brüssel veröffentlichte Marx 1847 die Schrift Misère de la philosophie. Réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon, eine Kritik der ökonomischen Theorie Pierre-Joseph Proudhons und darüber hinausgehend der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Außerdem schrieb er gelegentlich Artikel für die Deutsche-Brüsseler-Zeitung.
Anfang 1846 gründeten Marx und Engels in Brüssel das Kommunistische Korrespondenz-Komitee, dessen Ziel die inhaltliche Einigung und der organisatorische Zusammenschluss der revolutionären Kommunisten und Arbeiter Deutschlands und anderer Länder war; so wollten sie den Boden für die Bildung einer proletarischen Partei bereiten. Schließlich traten Marx und Engels in Verbindung mit Wilhelm Weitlings sozialistischem Bund der Gerechten, in dem sie 1847 Mitglieder wurden. Noch im selben Jahr setzte Marx die Umgründung zum Bund der Kommunisten durch und erhielt den Auftrag, dessen Manifest zu verfassen. Es wurde im Revolutionsjahr 1848 veröffentlicht und ging als Kommunistisches Manifest (Manifest der Kommunistischen Partei) in die Geschichte ein. Am 15. September 1850 stellte Marx den Antrag, die Zentralbehörde nach Köln zu verlegen und in London zwei Kreise des Bundes zu bilden. Der Beschluss wurde gegen eine einzige Gegenstimme angenommen. Am 17. September 1850 traten Marx, Engels, Liebknecht und andere aus dem Londoner Arbeiterbildungsverein aus.
Kurz darauf löste die französische Februarrevolution 1848 in ganz Europa politische Erschütterungen aus; als diese Brüssel erreichten, wurde Marx verhaftet und aus Belgien ausgewiesen. Da ihn inzwischen die neu eingesetzte provisorische Regierung der Französischen Republik wieder nach Paris eingeladen hatte, kehrte er dorthin zurück; nach Ausbruch der deutschen Märzrevolution ging Marx nach Köln. Dort war er einer der Führer der revolutionären Bewegung in der preußischen Rheinprovinz und gab die Neue Rheinische Zeitung, Organ der Demokratie, heraus, in der unter anderen erstmals die unvollendet gebliebene Schrift Lohnarbeit und Kapital abgedruckt wurde. Die Zeitung konnte am 19. Mai 1849 zum letzten Mal erscheinen, bevor die preußische Reaktion ihr Erscheinen unterband.
Marx kehrte zunächst nach Paris zurück, wurde aber schon einen Monat später vor die Wahl gestellt, sich entweder in der Bretagne internieren zu lassen oder Frankreich zu verlassen. Marx ging daraufhin mit seiner Familie ins Exil nach London, wo er vor allem anfangs in dürftigen Verhältnissen von journalistischer Tätigkeit sowie finanzieller Unterstützung vor allem von Engels überlebte, der Marx nach England folgte. Politisch widmete er sich der internationalen Agitation für den Kommunismus, theoretisch entwickelte er wesentliche Elemente seiner Analyse und Kritik des Kapitalismus.
In London erschien zunächst Marx’ Werk „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“; daran anknüpfend „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ zur Machtergreifung Napoleons III.
Von 1852 an war Marx Londoner Korrespondent der New York Daily Tribune und jahrelang deren Korrespondent für Europa. Die Artikel sind keine gewöhnlichen Berichte, sondern umfassende Analysen der politischen und ökonomischen Lage einzelner europäischer Länder, oft als ganze Artikelreihe.
Die Mitarbeit an der Tribune endete, als Charles Anderson Dana die Mitarbeit von Marx wegen inneramerikanischer Angelegenheiten am 28. März 1862 kündigte. 1859 schrieb Marx zahlreiche Artikel für die Arbeiterzeitung „Das Volk“. Marx wurde Korrespondent der Wiener Presse und stürzte sich in das Studium der politischen Ökonomie. 1861 versuchte er, auch mit gerichtlichen Mitteln und unterstützt von Ferdinand Lassalle, seine preußische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen, doch die preußische Regierung verweigerte dies. Während des Januaraufstands 1863 nahm Marx Kontakt zu polnischen Aufständischen auf und veranlasste den Deutschen Arbeiterbildungsverein in London, sich an der Unterstützung der Polen zu beteiligen.
In der Folge entstanden Marx’ ökonomische Hauptwerke. Als erste systematische Darstellung der marxschen ökonomischen Grundgedanken erschien 1859 Zur Kritik der politischen Ökonomie, das ursprünglich als erstes Heft zur Fortsetzung bestimmt war. Doch Marx war mit der Detailausführung des Gesamtplans noch nicht zufrieden, und so begann er seine Arbeit von neuem. Erst 1867 erschien der erste der drei Bände seines Hauptwerks Das Kapital.
Während er das Kapital ausarbeitete, bot sich Marx auch wieder Gelegenheit zu praktischer Tätigkeit in der Arbeiterbewegung: 1864 beteiligte er sich federführend an der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation („Erste Internationale“) und leitete sie bis zur faktischen Auflösung 1872. Marx entwarf die Statuten und das grundlegende Programm, die „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation“, das so disparate Sektionen wie deutsche Kommunisten, englische Gewerkschafter, Schweizer Anarchisten und französische Proudhonisten zusammenführte.
In den deutschen Staaten trieb Marx zunächst die Schaffung einer revolutionären sozialistischen Partei voran; dies geschah in Abgrenzung zum sozialreformerisch ausgerichteten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein des früheren Marx-Schülers Ferdinand Lassalle, mit dem er sich in den politischen Zielen entzweit hatte. Wilhelm Liebknecht stand seit seiner Übersiedlung nach Berlin 1862 in Kontakt mit Marx und Engels. Beide unterstützten ihn durch Beiträge in den Zeitungen Demokratisches Wochenblatt und Der Volksstaat. Wilhelm Liebknecht war 1869 Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die sich 1875 mit den Lassalleanern zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands vereinigte, der späteren Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).
Auch nach der Auflösung der Ersten Internationale blieb Marx in ständiger Verbindung mit fast allen wichtigen Personen der europäischen und amerikanischen Arbeiterbewegung, die sich oft mit ihm persönlich berieten.
An der Vollendung seiner stetig vorangetriebenen ökonomischen Arbeiten hinderte Marx seine zunehmende Kränklichkeit. In den Jahren von 1862 bis 1874 litt er an einer Hautkrankheit, die ihn stark behinderte. Um sicher nach dem Kontinent zu reisen, stellte Marx am 1. August 1874 einen Antrag auf die britische Staatsbürgerschaft, der aber am 17. August abgelehnt wurde mit der Begründung, er sei ein “notorius agitator, the head of the International Society, and an advocate of Communistic principles. This man has not been loyal to his own King and Country”.
Am 2. Dezember 1881 starb seine Frau Jenny Marx, am 11. Januar 1883 „die vom Mohr am meisten geliebte Tochter“ Jenny. Marx verstarb am 14. März 1883 im Alter von 64 Jahren in London und wurde am 17. März 1883 auf dem Highgate Cemetery beigesetzt. Friedrich Engels hielt eine Trauerrede. Die wissenschaftlichen Leistungen von Karl Marx hat Engels in seiner Grabrede in zwei wesentliche Entdeckungen zusammengefasst:
„Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: dass also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen – nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.
Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehrwerts war hier plötzlich Licht geschaffen.“



ZWEITES KAPITEL
Friedrich Engels

Engels war das erste von neun Kindern des erfolgreichen Baumwollfabrikanten Friedrich Engels und dessen Frau Elisabeth Franziska Mauritia Engels. Engels’ Vater entstammte einer angesehenen, seit dem 16. Jahrhundert im Bergischen Land ansässigen Familie und stand dem Pietismus nahe. Seine Mutter stammte aus einer Philologenfamilie. In seiner Geburtsstadt Barmen besuchte er die Städtische Schule. Im Herbst 1834 schickte ihn sein Vater auf das liberale Gymnasium zu Elberfeld. Der äußerst sprachbegabte Schüler begeisterte sich für humanistische Ideen und geriet in zunehmende Opposition zu seinem Vater. Auf dessen Drängen musste Engels zum 25. September 1837 das Gymnasium, ein Jahr vor dem Abitur, verlassen, um als Handlungsgehilfe im Handelsgeschäft seines Vaters in Barmen zu arbeiten. Im Juli 1838 reiste er nach Bremen, um dort im Hause des Großhandelskaufmanns und sächsischen Konsuls Heinrich Leupold seine Ausbildung bis April 1841 fortzusetzen. Er wohnte im Haushalt von Georg Gottfried Treviranus, Pastor an der Martini-Kirche.
Im weltoffenen Bremen hatte Engels Gelegenheit, neben seiner kaufmännischen Ausbildung die durch Presse und Buchhandel verbreiteten liberalen Ideen zu verfolgen. Er fühlte sich vor allem von den liberalen Dichtern und Publizisten des „Jungen Deutschland“ angesprochen und unternahm selbst literarische Versuche.
Noch im Frühjahr 1839 begann Engels, mit dem radikalen Pietismus seiner Geburtsstadt abzurechnen. In seinem Artikel Briefe aus dem Wuppertal, der 1839 im Telegraph für Deutschland erschien, schilderte er, wie der religiöse Mystizismus im Wuppertal alle Bereiche des Lebens durchdrang, und machte auf den Zusammenhang zwischen der pietistischen Lebenseinstellung und dem sozialen Elend aufmerksam.
Engels betätigte sich als Bremer Korrespondent des Stuttgarter Morgenblatts für gebildete Leser, ab 1840 bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Er schrieb zahlreiche Literaturkritiken, Gedichte, Dramen und verschiedene Prosaarbeiten. Darüber hinaus verfasste er Berichte zur Auswanderungsfrage und über die Schraubendampfschifffahrt. Wichtige Förderer seiner literarisch-politischen Interessen waren zu dieser Zeit Ludwig Börne, Ferdinand Freiligrath und insbesondere Karl Gutzkow. In dessen Telegraph für Deutschland erschienen von 1839 bis 1841 unter dem Pseudonym „Friedrich Oswald“ zahlreiche Beiträge von Engels.
Ab September 1841 leistete Engels seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger bei der Garde-Artillerie-Brigade in Berlin ab und besuchte dort Vorlesungen zur Philosophie an der Universität. Er näherte sich dem Kreis der Junghegelianer und schloss sich der Gruppe um Bruno und Edgar Bauer, den sogenannten „Freien“, an. Zur Jahreswende 1841/42 veröffentlichte Engels – unter dem Eindruck von Schellings Berliner Hegel-Vorlesungen – einen Artikel und zwei Broschüren, die sich gegen die Philosophie Schellings richteten.
Seit seinen Streitschriften gegen Schelling widmete Engels der Philosophie immer größere Aufmerksamkeit. Er studierte die Werke Hegels, beschäftigte sich ausführlich mit dem Stand der religionskritischen Forschungen und wandte sich zum ersten Mal der Philosophie der französischen Materialisten zu. Ab Mitte 1842 begann er, sich mit Ludwig Feuerbach (Das Wesen des Christentums) auseinanderzusetzen, der in seinen Werken die Religion sowie den Hegelschen Idealismus verwarf. Unter dem Eindruck dieser Studien entfernte sich Engels zunehmend vom Junghegelianismus und fing an, Positionen des Materialismus einzunehmen. Damit bekamen für ihn politische Tagesfragen ein immer stärkeres Gewicht. Seit April 1842 veröffentlichte er gegen den reaktionären Kurs des preußischen Staates gerichtete Artikel in der Rheinischen Zeitung, dem damals führenden Organ der oppositionellen bürgerlichen Bewegung in Deutschland.
Engels interessierte sich schon sehr früh für die prekäre Lage der Arbeiterschaft. Im bereits 1839 im Telegraph für Deutschland veröffentlichten Aufsatz Briefe aus dem Wuppertal beschreibt er unter anderem die Degenerationserscheinungen deutscher Industriearbeiter – wie die Verbreitung des Mystizismus und der Trunkenheit – und die Kinderarbeit in den Fabriken.
Daneben beschäftigte sich Engels in der Folgezeit stark mit den Junghegelianern, insbesondere mit David Friedrich Strauß. In den Jahren 1842/43 erschienen – unter dem Eindruck von Schellings Hegel-Vorlesungen in Berlin – Artikel und Broschüren zu Schelling und dessen Hegel-Kritik. Engels kritisiert darin den Versuch Schellings, die christliche Religion zu rechtfertigen, und verteidigt die Hegelsche Dialektik. Schellings Philosophie stelle einen Rückfall in die Scholastik und Mystik dar und sei der Versuch, die Philosophie wieder zur „Magd der Theologie“ zu erniedrigen.
Im November 1842 reiste Engels über Köln – wo er bei einem Redaktionsbesuch der Rheinischen Zeitung erstmals Karl Marx persönlich begegnete – nach Manchester, wo er im Stadtteil Chorlton-on-Medlock wohnte, um seine kaufmännische Ausbildung in der seinem Vater und dessen Partner Ermen gehörenden Baumwollspinnerei Ermen & Engels zu vollenden.
Im industriell viel weiter entwickelten England lernte Engels die Realität der dortigen Arbeiterklasse kennen, was seine politische Haltung veränderte und auf Lebenszeit prägte. Der Feudalismus war dort bereits überwunden, und die Widersprüche zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse traten für Engels offen zutage. Er suchte den Kontakt mit der sich formierenden englischen Arbeiterbewegung und lernte deren Kampfformen wie Streiks, Meetings und Gesetzesinitiativen kennen. Die irische Arbeiterin Mary Burns, Engels’ Lebensgefährtin, spielte dabei eine wichtige Rolle.
1843 nahm Engels in London Kontakt mit der ersten revolutionären deutschen Arbeiterorganisation, dem „Bund der Gerechten“, auf und begegnete dort führenden Mitgliedern. Gleichzeitig trat er mit den englischen Chartisten in Leeds in Verbindung und schrieb erste Artikel, die in den Zeitungen der Owenisten (The New Moral World) und Chartisten (The Northern Star) erschienen. In den Herbst 1843 geht seine Freundschaft mit dem Chartistenführer Julian Harney und dem Handelsgehilfen und Dichter Georg Weerth zurück, der später das Feuilleton der Neuen Rheinischen Zeitung in den Revolutionsjahren 1848/49 leiten sollte.
Bewegt von den zähen Kämpfen des englischen Proletariats, vertiefte sich Engels in das Studium der bestehenden Theorien der kapitalistischen Gesellschaft. Er griff zu den Werken der englischen und französischen Utopisten (Robert Owen, Charles Fourier, Claude-Henri de Saint-Simon) und der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie (Adam Smith, David Ricardo). Die Resultate seiner Studien veröffentlichte er in der Rheinischen Zeitung, in englischen Arbeitsblättern und in einer Schweizer Zeitschrift. Im Februar 1844 entstanden dann die Schriften Die Lage Englands und Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, die von Karl Marx und Arnold Ruge in Paris herausgegeben wurden. Er versuchte darin eine erste Antwort auf die Frage zu geben, welche Rolle die ökonomischen Bedingungen und Interessen für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft spielen.
Kurz nach seiner Ankunft in Manchester hatte Engels die irischen Arbeiterinnen Mary und Lizzie Burns kennengelernt, mit denen er zeitlebens in Liebe verbunden war; einen Tag vor Lizzies Tod ging er noch offiziell die Ehe mit ihr ein.
Mit Marx stand Engels seit seiner Mitarbeit an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern im regelmäßigen Briefwechsel. Bei seiner Rückreise nach Deutschland, Ende August 1844, besuchte er ihn in Paris für zehn Tage. Die beiden stellten fest, dass ihre Ansichten übereinstimmten, und beschlossen, weiterhin eng zusammenzuarbeiten.
Mit seiner Ankunft in England 1842, der Konfrontation mit dem Chartismus und den ersten historischen Auseinandersetzungen der Arbeiterbewegung verlagerte sich Engels’ Interesse auf die Analyse der sozialen und politischen Situation der Arbeiterschaft. Er kam zu der Überzeugung, dass der Kampf der materiellen Interessen der Hauptantrieb der gesellschaftlichen Entwicklung ist, welcher seinen politischen Ausdruck im Klassenkampf findet. Seine theoretischen Ansichten zu dieser Zeit kommen am besten in der Schrift Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie zum Ausdruck. Engels formuliert darin seine Kritik an der idealistischen und materialistischen Philosophie. Als zentrale Kategorie des Kapitalismus stellt er das Privateigentum heraus, das den Grund für die Entfremdung der Arbeit, für die Bildung von Monopolen und für die wiederkehrenden Krisen darstelle. Die Lösung der Probleme des Kapitalismus sieht Engels in einer rationellen Organisation der Produktion.
Nach seiner Rückkehr nach Barmen fand Engels veränderte Verhältnisse vor. Der Aufstand der schlesischen Weber im Juni 1844 hatte auch in anderen Teilen Deutschlands Arbeiterstreiks ausgelöst. Diese beeinflussten auch die bürgerlichen Kräfte in Rheinpreußen zur Opposition gegen die preußische Regierung. Um die oppositionellen Kräfte zu unterstützen, bemühte sich Engels, Verbindung zu den im Rheinland wirkenden Sozialisten aufzunehmen, deren führender Theoretiker Moses Hess war. Mit ihm und dem Maler und Dichter Gustav Adolf Koettgen entfaltete er ab dem Herbst 1844 in Elberfeld eine rege agitatorische Tätigkeit. In den Elberfelder Reden vom Februar 1845 propagierte Engels eine kommunistische Gesellschaft, worauf ihm von der Provinzialregierung alle öffentlichen Versammlungen verboten wurden. Er konzentrierte sich nun darauf, die Verbindungen zwischen den illegal arbeitenden sozialistischen Gruppen zu festigen, und pflegte seine internationalen Beziehungen, vor allem zu den englischen Sozialisten und Chartisten. Für die sozialistische Zeitschrift The New Moral World, an der er bereits in England mitgearbeitet hatte, schrieb er mehrere Artikel, in denen er über die Entwicklung sozialistischer Strömungen in Deutschland berichtete. Darüber hinaus bemühte er sich, die verschiedenen Gruppen für die von Marx und ihm vertretenen Ideen zu gewinnen und die vorherrschenden idealistischen und utopisch-sozialistischen Vorstellungen zu überwinden. Ein wichtiges Ereignis war dabei das Erscheinen der Heiligen Familie, ein Gemeinschaftswerk mit Marx, im Februar 1845. Die wissenschaftliche Öffentlichkeit in Deutschland reagierte darauf mit zumeist heftigen Angriffen auf das darin enthaltene materialistisch-sozialistische Ideengut. Um die Theorie vom Klassenkampf weiter voranzutreiben, arbeitete Engels seit seiner Ankunft in Barmen intensiv an seinem Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England, das im März 1845 erschien. Es wurde von den wichtigsten deutschen Zeitungen und Zeitschriften besprochen und fand bei den demokratischen Kräften des Bürgertums großes Interesse.
Im April 1845 übersiedelte Engels nach Brüssel, um Marx zu unterstützen, der unter dem Druck der preußischen Reaktion von der französischen Regierung aus Frankreich ausgewiesen worden und in das junge Königreich Belgien gezogen war. Noch im gleichen Jahr folgte ihm Mary Burns aus England. Marx und Engels bauten in Brüssel einen gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreis auf. Marx und Engels stellten fest, dass sich in der kommunistischen Bewegung Ideen ausbreiteten, die die Aufnahme ihrer neuen Erkenntnisse hemmten. Sie begannen daher mit der Arbeit an der Schrift Die deutsche Ideologie, die eine Kritik an Feuerbach und den „seitherigen deutschen Sozialismus“ umfasste. Nach sechs Monaten beendeten sie im Mai 1846 ihr Werk. Engels bemühte sich bis 1847 vergeblich um einen Verleger und verfasste als Ergänzung Anfang 1847 noch die Arbeit Die wahren Sozialisten. Nachdem sie aus ihrer Sicht die theoretischen Grundlagen für die künftige Umgestaltung der Gesellschaft gelegt hatten, sahen Marx und Engels ihre wichtigste Aufgabe darin, das europäische und zunächst das deutsche Proletariat für ihre Überzeugungen zu gewinnen. Sie widmeten sich nach 1846 immer stärker der praktischen Tätigkeit für die Bildung einer proletarischen Partei. Im Februar 1846 gründeten sie in Brüssel das Kommunistische Korrespondenz-Komitee, das die Verbindung zwischen den Kommunisten in den verschiedenen Ländern herstellen sollte. Im Laufe des Jahres 1846 kam es zur Gründung weiterer Komitees in zahlreichen europäischen Städten. Marx und Engels hielten diese zumeist kleinen Gruppen für die Basis, um ihre Ideen in die Arbeiterbewegung hineinzutragen und sich mit jenen weltanschaulichen Konzepten auseinanderzusetzen, die bis dahin die Vorstellungswelt der Arbeiter bestimmten. Dazu gehörten vor allem der utopische Kommunismus, die Lehren des französischen Sozialisten Proudhon und die Auffassungen des wahren Sozialismus.
Ende Januar 1847 traten Marx und Engels dem „Bund der Gerechten“ bei, der sich ihren Ideen inzwischen angenähert hatte. Sie arbeiteten nun energisch darauf hin, den „Bund“ in eine Partei der Arbeiterklasse umzuwandeln. Währenddessen schrieb Marx in Brüssel an seiner theoretischen Streitschrift Misère de la philosophie (Das Elend der Philosophie), die im Juli 1847 in Frankreich herauskam und eine Kritik an den Reformplänen Proudhons enthielt. Engels propagierte in Paris die in dem Buch behandelten theoretischen Fragen unter den deutschen Kommunisten und den Führern der französischen Sozialisten. Im Juni 1847 fand der erste der beiden Bundeskongresse des „Bundes der Gerechten“ statt, der sich nun in den „Bund der Kommunisten“ umbenannte, da für deren Mitglieder nicht mehr die „Gerechtigkeit“, sondern der Angriff auf „die bestehende Gesellschaftsordnung und das Privateigentum“ im Vordergrund stand. An die Stelle der alten Bundesdevise „Alle Menschen sind Brüder“ trat nun die revolutionäre Klassenlosung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. In Form von 22 Fragen und Antworten beschloss der Kongress den „Entwurf eines Kommunistischen Glaubensbekenntnis“.
Im August 1847 gründete Engels gemeinsam mit Marx den Brüsseler Deutschen Arbeiterverein. Anfang November 1847 verfasste Engels, beauftragt von den Pariser Mitgliedern des „Bundes der Kommunisten“, die Grundsätze des Kommunismus. Noch im selben Monat nahmen Marx und Engels am zweiten Kongress des „Bundes der Kommunisten“ in London teil, wo sie beauftragt wurden, das Programm des Bundes weiter auszuarbeiten, woraus Das Kommunistische Manifest entstand, das im Februar 1848 in London erschien. Im Hintergrund ihrer Arbeit stand die Erwartung, dass die bürgerliche Revolution von 1848 den proletarischen Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland nach sich ziehen werde. Aktiv wurde Engels auch in der Auseinandersetzung mit dem wahren Sozialismus.
Nach seiner Rückkehr von England nach Deutschland verfasste Engels Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Das 1845 erschienene Werk stellt Engels’ erste größere eigenständige Veröffentlichung dar. Es fiel in eine Zeit besonderer sozialer Spannungen in Deutschland (Weberaufstand). Engels wendet sich hier der sozialen Frage zu, ausgehend von den Verhältnissen in England, die er aus eigener Anschauung kannte. Er beschreibt die elenden Wohnquartiere der Arbeiter in den englischen Industriestädten und schildert die Arbeitssituation des Proletariats, weist auf Kinderarbeit, Berufskrankheiten und Sterblichkeitsraten hin. Schließlich informiert er über die zusätzliche Knebelung der Arbeiterfamilien durch den Zwang, bei den Unternehmern Lebensmittel einzukaufen und in den von ihnen bereitgestellten Wohnungen zu wohnen.
Die im September 1844 geschlossene Freundschaft mit Marx führte zunächst zu einer gemeinsamen Aufarbeitung ihrer philosophischen Vergangenheit. Ihre erste gemeinsame Schrift Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik markiert ihren Übergang vom Idealismus zum Materialismus. Marx und Engels rechnen darin mit ihren früheren junghegelianischen Gesinnungsgenossen ab. Bauers „kritischer Kritik“ werfen sie vor, dass in ihrem Zentrum nicht Menschen, sondern „Kategorien“ – Geist und Selbstbewusstsein – stehen und sie hinter das von Feuerbach erreichte Niveau zurückfalle, die den spekulativen Idealismus der Hegelschen Philosophie längst überwunden habe.
Als Antwort auf polemische Beiträge Bruno Bauers und Max Stirners in Wiegands Vierteljahresschrift entstand bis Mai 1846 die wohl wichtigste Schrift dieser Periode, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer u. Stirner, u. des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In der Schrift fassen Marx und Engels ihre Kritik an der junghegelianischen Philosophie zusammen, deren Forderung nach Bewusstseinsveränderung darauf hinauslaufe, das Bestehende nur anders zu interpretieren, es aber ansonsten anzuerkennen. Feuerbachs Materialismus, Bauers Philosophie des Selbstbewusstseins und Stirners individualistischer Anarchismus ließen trotz aller theoretischen Radikalität die praktischen Verhältnisse unangetastet bestehen. Daneben kritisieren sie den deutschen Sozialismus, der sich zwar kosmopolitisch gebe, aber „nationale Borniertheit“ zeige. Er sei von einer sozialen zu einer nur noch literarischen Bewegung verkommen und befriedige so einzig die Bedürfnisse des deutschen Kleinbürgertums.
Mit der Trennung von den Junghegelianern und Sozialisten radikalisierten sich die Positionen von Marx und Engels. 1847 wurden sie vom zweiten Kongress des Bundes der Kommunisten mit der Ausarbeitung des Manifests der Kommunistischen Partei beauftragt. Das Werk formuliert den Klassenkampf als Prinzip der bisherigen Geschichte und begreift den Aufstieg der modernen Bourgeoisie als Sieg einer revolutionären Klasse. Mit ihrem Sieg verliere aber die Bourgeoisie ihre revolutionäre Rolle und hemme die weitere Entwicklung der Produktivkräfte. Die Bourgeoisie habe in ihrem Kampf gegen den Feudalismus sämtliche überkommenden Verhältnisse der Menschen untereinander zerstört und an deren Stelle das reine Geldverhältnis gesetzt. Bedingung der von ihr geschaffenen kapitalistischen Gesellschaft sei die Lohnarbeit, ihre Konsequenz das Proletariat, das durch seine Arbeit das Kapital vermehre, ohne sich selbst Eigentum beschaffen zu können. Die Bourgeoisie produziere so „vor allem ihre eignen Totengräber“. Das Manifest schließt mit dem Kampfaufruf „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Es erlangte zwar keine unmittelbare politische Wirksamkeit, wurde jedoch später zur Grundlage sozialistischer und kommunistischer Parteiprogramme.
Nach dem Ausbruch der Märzrevolution in Wien und Barrikadenkämpfen in Berlin (März 1848) trafen sich Marx und Engels in Paris und arbeiteten dort die Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland aus, die als Flugblatt gedruckt wurden. Danach verließen beide Paris und trafen im April in Köln ein, um mit den Vorbereitungen zur Gründung der Neuen Rheinischen Zeitung zu beginnen; unter den Bedingungen der eben erkämpften Pressefreiheit erschien eine große Tageszeitung als das wirksamste Mittel, die politischen Ziele in aller Öffentlichkeit zu vertreten. Marx wurde Chefredakteur der neuen Zeitung, Engels sein Stellvertreter. Wegen drohender Verhaftung musste Engels im September 1848 Köln verlassen und fuhr in die Schweiz, um dort an der Organisation der Arbeitervereine mitzuwirken. Im Januar 1849 kehrte er nach Köln zurück, wo er in dem Presseprozess gegen die Neue Rheinische Zeitung vom Kölner Geschworenengericht freigesprochen wurde.
Im Mai 1849 unterstützte Engels zeitweise aktiv den Elberfelder Aufstand. Einen Monat später trat er in die badisch-pfälzische Armee ein und nahm als Adjutant Willichs an den revolutionären Kämpfen gegen Preußen in Baden im Gefecht in Gernsbach und der Pfalz teil. Hier begegnete er erstmals Johann Philipp Becker, dem Kommandeur der badischen Volkswehr, mit dem ihn später eine enge Freundschaft verband. Seine Kritik an der halbherzigen Politik der badischen Revolutionsregierung und dem letztlich unglücklichen Feldzug legte er später in seinem Werk Die deutsche Reichsverfassungskampagne nieder. Nach der Niederlage der Märzrevolution flüchtete Engels wie viele revolutionäre Emigranten über die Schweiz nach England.
Im September 1850 spaltete sich der Bund der Kommunisten. Zwei Monate später arbeitete Engels wieder bei Ermen & Engels in Manchester und übernahm später den Anteil seines Vaters, den er schließlich 1870 an Ermen verkaufte. Engels begann, Militärwesen zu studieren; aufgrund seiner praktischen militärischen Erfahrungen im Wehrdienst sowie den Kämpfen in Baden entwickelte er sich zum Militärexperten, was ihm den Spitznamen „General“ einbrachte. Ende 1850 begann er zudem, die russische und andere slawische Sprachen zu erlernen, und beschäftigte sich mit der Geschichte und Literatur der slawischen Völker. Seine Sprachstudien setzte er im Jahre 1853 mit dem Erlernen des Persischen fort. Engels beherrschte zwölf Sprachen aktiv und zwanzig passiv, darunter Altgriechisch, Altnordisch, Arabisch, Bulgarisch, Dänisch, Englisch, Französisch, Friesisch, Gotisch, Irisch, Italienisch, Latein, Niederländisch, Norwegisch, Persisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch, Schottisch, Schwedisch, Serbokroatisch, Spanisch, Tschechisch.
Auf das Jahr 1850 geht auch der Beginn des ständigen brieflichen Gedankenaustauschs mit Marx zurück. Unter dem Namen seines Freundes schrieb er ab 1851 bis 1862 regelmäßig für die Zeitschrift New York Daily Tribune. Von 1853 bis 1856 veröffentlichte er diverse Artikel über den Krimkrieg und andere internationale Ereignisse in der New York Daily Tribune und in der Neuen Oder-Zeitung.
Von 1857 bis 1860 arbeitete Engels an der von Charles Anderson Dana in New York herausgegebenen New American Cyclopaedia mit und erstellte eine Reihe von Militärartikeln sowie biographische und geographische Artikel. Zudem verfasste er zahlreiche Zeitungsartikel, unter anderem zu dem Krieg in Italien von 1859 auch für die Arbeiterzeitung Das Volk.
Ende der 1850er und Anfang der 1860er Jahre befasste sich Engels in zwei Schriften mit dem aufkommenden europäischen Nationalismus. Im April 1859 erschien in Berlin als anonyme Broschüre die Arbeit Po und Rhein, in der er sich gegen die österreichische Vorherrschaft in Italien wandte und die Überzeugung vertrat, dass nur ein unabhängiges Italien im Interesse Deutschlands liege. Für die Deutschen forderte er die „Einheit, die allein uns nach innen und außen stark machen kann“. Anfang 1860 veröffentlichte er ebenfalls anonym die Schrift Savoyen, Nizza und der Rhein, in der er sich gegen die Annexion Savoyens und Nizzas durch Napoleon III. aussprach und vor einer russisch-französischen Allianz warnte.
Während Engels zu Beginn der 1860er Jahre von einer Reihe von privaten Vorkommnissen erschüttert wurde – dem Tod seines Vaters, dem seiner Ehefrau Mary Burns und seines langjährigen Kampfgenossen Wilhelm Wolff, zogen zwei politische Ereignisse die Aufmerksamkeit von Engels und Marx auf sich. Den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) betrachteten beide als ein „Schauspiel ohne Parallele in den Annalen der Kriegsgeschichte“. Engels forderte von den Nordstaaten, den Krieg auf revolutionäre Weise zu führen und die Volksmassen stärker einzubeziehen. Er betonte, dass der Kampf für die Befreiung der Schwarzen die ureigenste Sache der Arbeiterklasse sei und auch die weißen Arbeiter so lange nicht frei sein könnten, wie die Sklaverei existiere. Im polnischen Aufstand gegen das zaristische Russland (1863) sah Engels eine wichtige Voraussetzung, den reaktionären Einfluss des Zarismus in Europa zu schwächen und die demokratische Bewegung in Preußen, Österreich und Russland selbst zu entfalten.
Nach dem Tod Ferdinand Lassalles 1864 arbeitete Engels nach Vorschlag Marx’ an der Zeitung des Social-Demokrat mit, um deren Mitglieder für eine revolutionäre Politik zu gewinnen. Im Februar 1865 stellten beide ihre Mitarbeit ein, da das Blatt immer deutlicher Bismarcks Nähe suchte. 1865 erschien in Hamburg die Broschüre Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, in der es Engels primär darum ging, gegen die Lassalleaner und den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein eine revolutionäre Position in Erinnerung zu rufen.
Nachdem Marx seit den 1850er Jahren an der Erstellung des Kapitals gearbeitet hatte, erschien der erste Band im September 1867. Engels hatte die langjährigen ökonomischen Studien von Marx überhaupt erst ermöglicht, indem er den „hündischen Commerce“ auf sich nahm und den Lebensunterhalt der Familie Marx zu einem großen Teil bestritt. Engels vermochte Marx auf allen Gebieten der ökonomischen Theorie zu beraten. Von größtem Wert war auch sein Rat in praktischen Fragen. Da für die Verbreitung der im Kapital enthaltenen Ideen zunächst noch keine Arbeiter-Zeitungen zur Verfügung standen, veröffentlichte Engels unter dem Deckmantel der Kritik in der bürgerlichen Presse mehrere Rezensionen zu Marx’ Werk. Im Jahr 1868 konnte er dann im von Wilhelm Liebknecht neu herausgegebenen Demokratischen Wochenblatt ohne die vorherigen Beschränkungen das Werk als das wichtigste Buch für die Arbeiterschaft würdigen.
Im Oktober 1870 zog Engels mit Lizzie Burns nach London in die Nähe der Marxschen Wohnung. Unterdessen war in Mitteleuropa der Deutsch-Französische Krieg ausgebrochen. Marx und Engels fiel es schwer, „sich mit dem Gedanken zu versöhnen, dass, anstatt für die Zerstörung des Kaiserreichs zu kämpfen, das französische Volk sich für seine Vergrößerung opfert“. Sie vertraten die Ansicht, dass der Krieg von Seiten Frankreichs ein dynastischer Krieg war, der die persönliche Macht Bonapartes sichern sollte. Die deutschen Arbeiter müssten daher den Krieg unterstützen, solange er ein Verteidigungskrieg gegen Napoleon III., den Hauptfeind der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands, bliebe. Von Ende Juli 1870 bis Februar 1871 verfasste Engels über den Verlauf des Krieges anonym 59 Artikel für die Londoner Tageszeitung Pall Mall Gazette, die aufgrund ihres militärischen Sachverstands in London großes Aufsehen erregten. Hatte Engels bis zur Niederlage Napoleons III. in seinen Artikeln noch die Ansicht vertreten, dass Deutschland sich gegen den französischen Chauvinismus verteidigte, so verwandelte sich danach der Krieg für ihn „langsam aber sicher in einen Krieg für die Interessen eines neuen deutschen Chauvinismus“.
Im Oktober 1870 wurde Engels auf Vorschlag von Marx zum Mitglied des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation gewählt. In der Folgezeit war er als korrespondierender Sekretär für Belgien, Spanien, Portugal, Italien und Dänemark tätig. Nach der Niederlage der Kommunarden der Pariser Kommune bildete der Generalrat ein Flüchtlingskomitee für die Pariser Flüchtlinge, die meist nach London strömten. Auf Engels’ Anstoß verfasste Marx die Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich, die für alle Mitglieder der „Internationale“ die Bedeutung des Pariser Kampfes herausstellen sollte; Engels übersetzte diese Schrift Mitte 1871 aus dem Englischen ins Deutsche.
Seit 1873 beschäftigte sich Engels intensiv mit philosophischen Problemen der Naturwissenschaften. Seine Absicht war, nach gründlichen Vorarbeiten ein Buch zu schreiben, in dem er eine dialektisch-materialistische Verallgemeinerung der theoretischen Erkenntnisse der Naturwissenschaften geben wollte. Inmitten dieser Studien erging von Liebknecht und Marx an ihn die Bitte, der „Dühringsseuche“ in Deutschland entgegenzuwirken. Dieser Aufgabe kam er 1876 bis 1878 mit der Schrift Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring) nach. Sie erschien zuerst im Vorwärts, dem Zentralorgan der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, 1878 in Buchform. 1878 verstarb seine Ehefrau Lydia Burns.
Nach dem Rückzug aus der Firma 1869 zielten Engels’ Veröffentlichungen auf die „begriffliche Präzisierung, historische Vertiefung und methodische Abgrenzung des wissenschaftlichen Sozialismus“. Von 1873 bis 1882 entstand das Fragment Dialektik der Natur. Engels wurde zu dem Werk motiviert durch die Kritik der aufkommenden Naturwissenschaften an der Philosophie Hegels und die Übertragung naturwissenschaftlicher Theorien auf die Gesellschaft. Engels will nachweisen, dass sich in der Natur dieselben Bewegungsgesetze entdecken lassen, die auch in der Geschichte gelten. Neben den Thesen von der Ewigkeit der Materie und der Bewegung formuliert er die drei Grundgesetze der Dialektik. Der Dialektik stellt Engels das „metaphysische“ Denken gegenüber, das sich an starren Kategorien statt an widersprüchlichen Prozessen orientiere. Anhand vieler Beispiele will Engels zeigen, dass die Natur nicht „metaphysisch“, sondern dialektisch strukturiert ist. In großer Detailtreue verarbeitet er dabei fast alle naturwissenschaftlichen Einsichten und Entdeckungen seiner Zeit.
In dem 1877/78 als Artikelserie im Vorwärts unter Mitarbeit von Karl Marx erschienenen Werk Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“) setzt sich Engels kritisch mit einigen Werken von Eugen Dühring auseinander. Seine Kritik richtet sich dabei gegen den dogmatisch-metaphysischen Charakter von Dührings Wirklichkeitsphilosophie und dessen Unfähigkeit, den „dialektischen“ Entwicklungsprozess der Welt zu verstehen. Gleichzeitig ist das Werk ein erster Versuch einer enzyklopädischen Zusammenfassung sowohl der Geschichte des Sozialismus als auch der Lehrmeinungen des Marxschen Kommunismus.
Der auf den Anti-Dühring aufbauende und 1880 zuerst erschienene Aufsatz Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft entwickelt die Grundsätze des Historischen Materialismus. Für Engels war der Frühsozialismus (Saint-Simon, Fourier, Owen) „utopisch“, weil er undialektisch an zeitlose Vernunftwahrheiten appellierte. Diesen Mangel habe Hegel behoben, indem er die gesamte Wirklichkeit als einen dialektischen Entwicklungsprozess ansah – allerdings in verkehrter Weise als die Entfaltung der „Idee“. Erst Marx machte durch seine Auffassung der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und der Entdeckung des „Mehrwerts“ als des „Geheimnisses der kapitalistischen Produktion“ den Sozialismus zur Wissenschaft. Er wies nach, dass die bürgerliche Gesellschaft an der Logik ihres Grundwiderspruchs von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung notwendig scheitern müsse. Während es die historische Aufgabe der Bourgeoisie war, die Produktivkräfte zu entwickeln, sei es jetzt die Aufgabe des Proletariats, deren gesellschaftliche Aneignung durchzusetzen.
Nach dem Tode von Marx 1883 wurde Engels zum Hauptberater des marxistisch beeinflussten Teils der internationalen, besonders der deutschen Arbeiterbewegung. Er nahm Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie und deren Erfurter Programm 1891.
Außerdem übernahm er die Bearbeitung und Herausgabe von Marx’ Werken sowie die Aufsicht neuer Übersetzungen. Unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes in Deutschland (1878–1890) brachte Engels noch im Jahre 1883 eine neue Auflage des ersten Bandes des Kapitals heraus. 1884 veröffentlichte er die unter anderem auf Marxschen Manuskripten basierende Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in der er die Gesellschaftsformation der Urgesellschaft und den Übergang zur Klassengesellschaft analysierte.
Dann begann Engels, die Marxschen Manuskripte zu ordnen und zu entziffern. 1885 veröffentlichte er Marx’ Das Elend der Philosophie und den zweiten Band des Kapitals. Es folgte die englische Übersetzung des ersten Bandes, die er gemeinsam mit seinem Freund Samuel Moore und Marx’ Schwiegersohn Edward Aveling vorbereitete. 1890 erschien die vierte, von Engels nochmals redigierte Fassung des ersten Bandes des Kapitals, worin er einige Fußnoten ergänzte, die den veränderten geschichtlichen Umständen Rechnung tragen sollten. Sehr schwierig gestaltete sich die Edition des dritten Bandes, für die Engels neun Jahre benötigte. Er nahm das Marxsche Manuskript von 1865 zur Grundlage, das er stark redigierte.
Neben der Edition des Kapitals publizierte Engels 1886 die Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1891 die 1875 von Marx verfasste Kritik des Gothaer Programms. Daneben führte er regen Schriftverkehr mit Sozialisten und Kommunisten in ganz Europa.
Engels starb am 5. August 1895 in London im Alter von 74 Jahren an Kehlkopfkrebs. Da seine Vorliebe für das Seebad Eastbourne bekannt war, wurde die Urne mit seiner Asche am 27. September 1895 fünf Seemeilen vor der dortigen Küste bei Beachy Head ins Meer versenkt.



DRITTES KAPITEL
Karl Liebknecht

Karl Liebknecht wurde 1871 in Leipzig geboren. Er war der zweite von fünf Söhnen Wilhelm Liebknechts und dessen zweiter Ehefrau Natalie. Sein älterer Bruder war Theodor Liebknecht, sein jüngerer Otto Liebknecht. Der Vater gehörte ab den 1860er Jahren mit August Bebel zu den Gründern und bedeutendsten Anführern der SPD und ihrer Vorläuferparteien. Karl wurde in der Thomaskirche evangelisch getauft. Seine Taufpaten waren Karl Marx und Friedrich Engels.
In den 1880er Jahren verbrachte Karl Liebknecht einen Teil seiner Kindheit in Borsdorf, am östlichen Stadtrand von Leipzig. Dort hatte sein Vater mit August Bebel eine Vorstadt-Villa bezogen, nachdem sie aufgrund des kleinen Belagerungszustandes, einer Bestimmung des zwischen 1878 und 1890 gegen die Sozialdemokratie gerichteten Sozialistengesetzes, aus Leipzig ausgewiesen worden waren.
1890 machte er an der Alten Nikolaischule in Leipzig sein Abitur und begann am 16. August 1890 an der Universität Leipzig Rechtswissenschaften und Kameralwissenschaften zu studieren. Als die Familie nach Berlin zog, setzte er dort am 17. Oktober 1890 an der Friedrich-Wilhelms-Universität sein Studium fort. Aus dieser Zeit stammt das sozialkritische Gedicht Hüte dich! Sein Abgangszeugnis datiert vom 7. März 1893. Am 29. Mai 1893 bestand er sein Referendarexamen.
Von 1893 bis 1894 leistete Liebknecht seinen Wehrdienst bei den Gardepionieren in Berlin ab. Er verkürzte die Zeit durch die Meldung als Einjährig-Freiwilliger.
Nach langer Suche nach einer Referendarstelle schrieb er seine Doktorarbeit „Compensationsvorbringen nach gemeinem Rechte“, die von der Juristischen und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg 1897 mit dem Prädikat magna cum laude ausgezeichnet wurde. Am 5. April 1899 bestand er seine Assessorprüfung mit „gut“.
Zusammen mit seinem Bruder Theodor und Oskar Cohn eröffnete er 1899 in der Berliner Chausseestraße 121 eine Rechtsanwaltskanzlei.
Im Mai 1900 heiratete er Julia Paradies, mit der er zwei Söhne (Wilhelm und Robert) und eine Tochter (Vera) hatte.
1904 wurde er gemeinsam mit seinem Kollegen Hugo Haase als politischer Anwalt auch im Ausland bekannt, als er neun Sozialdemokraten im „Königsberger Geheimbundprozess“ verteidigte. In anderen aufsehenerregenden Strafprozessen prangerte er die Klassenjustiz des Kaiserreichs und die brutale Behandlung von Rekruten beim Militär an.
1900 wurde Karl Liebknecht Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 1902 sozialdemokratischer Stadtverordneter in Berlin. Dieses Mandat behielt er bis 1913.
Er war aktives Mitglied der Zweiten Internationale und zudem einer der Gründer der Sozialistischen Jugendinternationale. Er wurde 1907 im Rahmen der ersten Internationalen Konferenz der sozialistischen Jugendorganisationen zum Vorsitzenden des Verbindungsbüros gewählt.
Für die Jugendarbeit der SPD veröffentlichte er 1907 die Schrift Militarismus und Antimilitarismus, für die er noch im selben Jahr wegen Hochverrats verurteilt wurde. In dieser Schrift führte er aus, der äußere Militarismus brauche gegenüber dem äußeren Feind chauvinistische Verbohrtheit und der innere Militarismus benötige gegen den inneren Feind Unverständnis und Hass gegenüber jeder fortschrittlichen Bewegung. Der Militarismus brauche außerdem den Stumpfsinn der Menschen, damit er die Masse wie eine Herde Vieh treiben könne. Die antimilitaristische Agitation müsse über die Gefahren des Militarismus aufklären, jedoch müsse sie dies im Rahmen der Gesetze tun. Letzteren Hinweis nahm ihm später das Reichsgericht im Hochverratsprozess nicht ab. Den Geist des Militarismus charakterisierte Liebknecht in dieser Schrift mit einem Hinweis auf eine Bemerkung des damaligen preußischen Kriegsministers General Karl von Einem, wonach diesem ein königstreuer und schlecht schießender Soldat lieber sei als ein treffsicherer Soldat, dessen politische Gesinnung fraglich und bedenklich sei. Am 17. April 1907 beantragte Karl von Einem bei der Reichsanwaltschaft, wegen der Schrift Militarismus und Antimilitarismus gegen Karl Liebknecht ein Strafverfahren einzuleiten.
Im Oktober 1907 fand bei großem Publikumsandrang der Hochverratsprozess gegen Liebknecht vor dem Reichsgericht unter dem Vorsitz des Richters Ludwig Treplin statt. Am ersten Verhandlungstag sagte Liebknecht, dass kaiserliche Befehle null und nichtig seien, wenn sie einen Bruch der Verfassung bezweckten. Dagegen betonte das Reichsgericht später in seinem Urteil, die unbedingte Gehorsamspflicht der Soldaten gegenüber dem Kaiser sei eine zentrale Bestimmung der Verfassung des Kaiserreichs. Als Liebknecht auf eine entsprechende Frage des Vorsitzenden antwortete, dass diverse Zeitungen sowie der ultrakonservative Politiker Elard von Oldenburg-Januschau den gewaltsamen Bruch der Verfassung fordern würden, schnitt dieser ihm das Wort mit der Bemerkung ab, das Reichsgericht könne unterstellen, dass Äußerungen gefallen seien, die er als Aufforderung zum Verfassungsbruch verstanden habe. Am dritten Verhandlungstag wurde er wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt.
Kaiser Wilhelm II., der ein Exemplar der Schrift Militarismus und Antimilitarismus besaß, wurde über diesen Prozess mehrfach telegrafisch informiert. Dem Kaiser wurde nach der Urteilsverkündung ein ausführlicher Prozessbericht übersandt, dagegen wurde Liebknecht das schriftliche Urteil erst am 7. November 1907 zugestellt. Seine Selbstverteidigung im Prozess brachte ihm große Popularität bei den Berliner Arbeitern ein, so dass er in einem Pulk zum Haftantritt geleitet wurde.
Um Karl Liebknecht in seiner wirtschaftlichen Existenz zu treffen, wurde beim Anwaltsgerichtshof der Provinz Brandenburg in Berlin beantragt, ihn aufgrund seiner Verurteilung wegen Vorbereitung zum Hochverrat durch das Reichsgericht aus der Anwaltschaft auszuschließen. Am 29. April 1908 lehnte der Anwaltsgerichtshof unter seinem Vorsitzenden Dr. Krause diesen Antrag ab. Zur Begründung führte er unter anderem aus, dass zwar die tatsächlichen Feststellungen des Reichsgerichts im Hochverratsprozess bindend seien, jedoch dies nicht zwingend eine ehrengerichtliche Bestrafung nach sich ziehe. Gegen dieses Urteil legte der Oberreichsanwalt am 7. Mai 1908 Einspruch ein. Am 10. Oktober 1908 lehnte daraufhin der Ehrengerichtshof in Anwaltssachen unter dem Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten Rudolf von Seckendorff es ab, Liebknecht aus der Rechtsanwaltschaft auszuschließen. Zur Begründung hieß es, dass schon das Reichsgericht in diesem Strafurteil eine ehrlose Gesinnung des Angeklagten verneint habe.
Im Jahr 1908 wurde er Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, obwohl er noch nicht aus der Festung Glatz in Schlesien entlassen worden war. Er gehörte zu den ersten acht Sozialdemokraten überhaupt, die trotz des Dreiklassenwahlrechts Mitglied im Preußischen Landtag wurden. Dem Landesparlament gehörte Liebknecht bis 1916 an.
Seine erste Frau Julia starb am 22. August 1911 nach einer Gallenoperation. Liebknecht heiratete im Oktober 1912 Sophie.
Im Januar 1912 zog er als einer der jüngsten SPD-Abgeordneten in den Reichstag ein. Liebknecht gewann – nach zwei vergeblichen Anläufen 1903 und 1907 – den „Kaiserwahlkreis“ Potsdam-Spandau-Osthavelland, der bis dahin eine sichere Domäne der Deutschkonservativen Partei gewesen war. Im Reichstag trat er sofort als entschiedener Gegner einer Heeresvorlage auf, die dem Kaiser Steuermittel für die Heeres- und Flottenrüstung bewilligen sollte. Er konnte außerdem nachweisen, dass die Firma Krupp durch die Bestechung von Mitarbeitern des Kriegsministeriums unerlaubterweise an wirtschaftlich relevante Informationen gekommen war.
In der ersten Julihälfte 1914 war Liebknecht nach Belgien und Frankreich gereist, mit Jean Longuet und Jean Jaurès zusammengetroffen und hatte auf mehreren Veranstaltungen gesprochen. Den französischen Nationalfeiertag verbrachte er in Paris. Über die unmittelbare Gefahr eines großen europäischen Krieges wurde er sich erst am 23. Juli – nach Bekanntwerden des österreichisch-ungarischen Ultimatums an Serbien – völlig klar. Ende Juli kehrte er über die Schweiz nach Deutschland zurück.
Als der Reichstag am 1. August, dem Tag der Verkündung der Mobilmachung und der Kriegserklärung an Russland, zum 4. August zusammengerufen wurde, stand für Liebknecht noch außer Frage, dass „die Ablehnung der Kriegskredite für die Mehrheit der Reichstagsfraktion selbstverständlich und zweifellos sei.“ Am Nachmittag des 4. August stimmte jedoch die sozialdemokratische Fraktion – nachdem es am Vortag in der vorbereitenden Fraktionssitzung zu „ekelhaften Lärmszenen“ gekommen war, weil sich Liebknecht und 13 weitere Abgeordnete entschieden gegen diesen Schritt aussprachen – geschlossen für die Bewilligung der Kriegskredite, die der Regierung die vorläufige Finanzierung der Kriegführung ermöglichten. Vor der Fraktionssitzung am 3. August hatten die Befürworter der Bewilligung nicht mit einem solchen Erfolg gerechnet und waren sich keineswegs sicher, überhaupt eine Mehrheit in der Fraktion zu erhalten; noch in der Sitzungspause nach der Rede des Reichskanzlers – unmittelbar vor der Abstimmung am 4. August – kam es in der Fraktion zu Tumulten, weil einige Bethmann Hollwegs Ausführungen demonstrativ beklatscht hatten. Liebknecht, der die ungeschriebenen Regeln der Partei- und Fraktionsdisziplin in den Jahren zuvor immer wieder gegen Vertreter des rechten Parteiflügels verteidigt hatte, beugte sich dem Beschluss der Mehrheit und stimmte der Regierungsvorlage im Plenum des Reichstags ebenfalls zu. Hugo Haase, der in der Fraktion wie Liebknecht gegen die Bewilligung aufgetreten war, erklärte sich aus ähnlichen Gründen sogar zur Verlesung der von den bürgerlichen Parteien mit Jubel aufgenommenen Erklärung der Fraktionsmehrheit bereit. Liebknecht hat den 4. August, den er als katastrophalen politischen und persönlichen Einschnitt empfand, privat und öffentlich immer wieder thematisiert und durchdacht. 1916 notierte er dazu:
„Der Abfall der Fraktionsmehrheit kam selbst für den Pessimisten überraschend; die Atomisierung des bisher überwiegenden radikalen Flügels nicht minder. Die Tragweite der Kreditbewilligung für die Umschwenkung der gesamten Fraktionspolitik ins Regierungslager lag nicht auf der Hand: Noch bestand die Hoffnung, der Beschluss vom 3. August sei das Ergebnis einer vorübergehenden Panik und werde alsbald korrigiert, jedenfalls nicht wiederholt und gar übertrumpft werden. Aus diesen und ähnlichen Erwägungen, allerdings auch aus Unsicherheit und Schwäche erklärte sich das Misslingen des Versuchs, die Minderheit für ein öffentliches Separatvotum zu gewinnen. Nicht übersehen werden darf dabei aber auch, welche heilige Verehrung damals noch der Fraktionsdisziplin entgegengebracht wurde, und zwar am meisten vom radikalen Flügel, der sich bis dahin in immer zugespitzterer Form gegen Disziplinbrüche oder Disziplinbruchsneigungen revisionistischer Fraktionsmitglieder hatte wehren müssen.“
Einer Erklärung Rosa Luxemburgs und Franz Mehrings, in der diese wegen des Verhaltens der Fraktion ihren Parteiaustritt androhten, schloss sich Liebknecht ausdrücklich nicht an, weil er sie „als Halbheit empfand: Dann hätte man schon austreten müssen.“ Rosa Luxemburg bildete am 5. August 1914 die Gruppe Internationale, in der Liebknecht mit zehn weiteren SPD-Linken Mitglied war und die eine innerparteiliche Opposition gegen die SPD-Politik des Burgfriedens zu bilden versuchte. Im Sommer und Herbst 1914 reiste Liebknecht mit Rosa Luxemburg durch ganz Deutschland, um – weitgehend erfolglos – Kriegsgegner zur Ablehnung der Finanzbewilligung für den Krieg zu bewegen. Er nahm auch Verbindung zu anderen europäischen Arbeiterparteien auf, um diesen zu signalisieren, dass nicht alle deutschen Sozialdemokraten für den Krieg seien.
In den ersten großen, von einer breiteren Öffentlichkeit beachteten Konflikt mit der neuen Parteilinie geriet Liebknecht, als er zwischen dem 4. und 12. September Belgien bereiste, dort mit einheimischen Sozialisten zusammentraf und sich über die von deutschen Militärs angeordneten Massenrepressalien informieren ließ. Liebknecht wurde daraufhin in der Presse – auch der sozialdemokratischen – des „Vaterlandsverrats“ und „Parteiverrats“ bezichtigt und musste sich am 2. Oktober vor dem Parteivorstand rechtfertigen.
Er war danach umso mehr entschlossen, bei der nächsten einschlägigen Abstimmung gegen die neue Kreditvorlage zu votieren und diese demonstrative Stellungnahme gegen die „Einigkeitsphrasen-Hochflut“ zur Grundlage einer Sammlung der Kriegsgegner zu machen. Im Vorfeld dieser Sitzung, zu der der Reichstag am 2. Dezember 1914 zusammentrat, versuchte er in stundenlangen Gesprächen auch andere oppositionelle Abgeordnete für diese Haltung zu gewinnen, scheiterte aber. Otto Rühle, der Liebknecht zuvor zugesichert hatte, ebenfalls offen mit Nein zu stimmen, hielt dem Druck nicht stand und blieb dem Plenum fern, Fritz Kunert, der auch schon am 4. August so gehandelt hatte, verließ kurz vor der Abstimmung den Saal. Liebknecht stand schließlich als einziger Abgeordneter nicht auf, als Reichstagspräsident Kaempf das Haus aufforderte, dem Ergänzungshaushalt durch Erheben von den Sitzen zuzustimmen. Bei der nächsten Abstimmung am 20. März 1915 votierte Rühle gemeinsam mit Liebknecht. Eine Bitte von etwa 30 anderen Fraktionsmitgliedern, während der Abstimmung mit ihnen gemeinsam den Saal zu verlassen, hatten beide zuvor abgelehnt.
Im April 1915 gaben Franz Mehring und Rosa Luxemburg die Zeitschrift Die Internationale heraus, die nur einmal erschien und sofort von den Behörden beschlagnahmt wurde. Liebknecht konnte sich an diesem Vorstoß nicht mehr beteiligen. Nach dem 2. Dezember 1914 hatten Polizei- und Militärbehörden darüber nachgedacht, wie Liebknecht „das Handwerk gelegt“ werden könne. Das Oberkommando in den Marken berief ihn Anfang Februar 1915 zum Dienst in ein Armierungs-Bataillon ein. Damit unterstand Liebknecht den Militärgesetzen, die ihm jegliche politische Betätigung außerhalb des Reichstages und des preußischen Landtages verboten. Er erlebte, jeweils beurlaubt zu Sitzungen des Reichstages und des Landtages, als Armierungssoldat den Krieg an der West- und Ostfront.
Es gelang ihm dennoch, die Gruppe Internationale zu vergrößern und die entschiedenen Kriegsgegner in der SPD reichsweit zu organisieren. Daraus ging am 1. Januar 1916 die Spartakusgruppe hervor (nach der endgültigen Loslösung von der Sozialdemokratie im November 1918 umbenannt in Spartakusbund). Am 12. Januar 1916 schloss die SPD-Reichstagsfraktion mit 60 gegen 25 Stimmen Liebknecht aus ihren Reihen aus. Aus Solidarität mit ihm trat Otto Rühle zwei Tage später ebenfalls aus der Fraktion aus. Im März 1916 wurden weitere 18 oppositionelle Abgeordnete ausgeschlossen und bildeten daraufhin die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft, der sich Liebknecht und Rühle allerdings nicht anschlossen.
Liebknecht hatte während des Krieges kaum eine Möglichkeit, sich im Plenum des Reichstages Gehör zu verschaffen. Die von ihm schriftlich eingereichte Begründung seiner Stimmabgabe am 2. Dezember 1914 nahm der Reichstagspräsident entgegen der üblichen Gepflogenheiten nicht in das amtliche Protokoll auf und lehnte es in der Folge unter verschiedenen Vorwänden ab, Liebknecht das Wort zu erteilen. Erst am 8. April 1916 konnte Liebknecht zu einer untergeordneten Etatfrage von der Rednertribüne aus sprechen. Dabei kam es zu einer im Reichstag bis dahin nicht gesehenen „wüsten Skandalszene“: Liebknecht wurde von „wie besessen“ tobenden liberalen und konservativen Abgeordneten niedergeschrien, als „Lump“ und „englischer Agent“ beschimpft und aufgefordert, das „Maul zu halten“; der Abgeordnete Hubrich entriss ihm die schriftlichen Notizen und warf die Blätter in den Saal, der Abgeordnete Ernst Müller-Meiningen musste von Mitgliedern der Sozialisten-Fraktion daran gehindert werden, Liebknecht körperlich zu attackieren.
Zur „Osterkonferenz der Jugend“ sprach Liebknecht in Jena vor 60 Jugendlichen zum Antimilitarismus und zur Änderung der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland. Am 1. Mai 1916 trat er als Führer einer Antikriegsdemonstration, die von Polizei umzingelt war, auf dem Potsdamer Platz in Berlin auf. Er ergriff das Wort mit den Worten „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“. Danach wurde er verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Der erste Prozesstag, eigentlich gedacht als Exempel gegen die sozialistische Linke, geriet zum Fiasko für die kaiserliche Justiz: Organisiert von den Revolutionären Obleuten fand in Berlin ein spontaner Solidaritätsstreik mit über 50.000 Beteiligten statt. Statt die Opposition zu schwächen, gab Liebknechts Verhaftung dem Widerstand gegen den Krieg neuen Auftrieb. Am 23. August 1916 wurde Liebknecht zu vier Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt, die er von Mitte November 1916 bis zu seiner Amnestierung und Freilassung am 23. Oktober 1918 im brandenburgischen Luckau ableistete. Hugo Haase, bis März 1916 SPD-Vorsitzender, setzte sich vergeblich für seine Freilassung ein. In Liebknechts Haftzeit fiel die Spaltung der SPD und die Gründung der USPD im April 1917. Die Spartakusgruppe trat nun in diese ein, um auch dort auf revolutionäre Ziele hinzuwirken.
Neben dem katholischen Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger vom Zentrum, der wie Liebknecht später von Rechtsextremisten ermordet wurde, war Liebknecht der einzige deutsche Parlamentarier, der öffentlich die massiven Menschenrechtsverletzungen der türkisch-osmanischen Verbündeten im Nahen Osten anprangerte, insbesondere den Völkermord an den Armeniern und das brutale Vorgehen gegen weitere nicht-türkische Minderheiten, insbesondere in Syrien und dem Libanon. Von der SPD und den liberalen Parteien wurde diese Praxis stillschweigend gebilligt und zum Teil sogar öffentlich mit strategischen Interessen Deutschlands und der angeblichen existenziellen Bedrohung der Türkei durch armenischen und arabischen Terrorismus gerechtfertigt.
Im Zuge einer allgemeinen Amnestie wurde Liebknecht begnadigt und am 23. Oktober 1918 vorzeitig aus der Haft entlassen. Er reiste sofort nach Berlin, um dort den Spartakusbund zu reorganisieren, der nun als eigene politische Organisation hervortrat. Bei seinem Eintreffen gab die Gesandtschaft des seit Ende 1917 nach der Oktoberrevolution unter kommunistischer Führung stehenden Russlands ihm zu Ehren einen Empfang.
Liebknecht drängte nun auf eine von den Revolutionären Obleuten, die den Januarstreik organisiert hatten, der USPD und dem Spartakusbund gemeinsam koordinierte Vorbereitung einer reichsweiten Revolution. Man plante einen gleichzeitigen Generalstreik in allen Großstädten und Aufmarsch von bewaffneten Streikenden vor den Kasernen von Heeresregimentern, um diese zum Mitmachen oder Niederlegen ihrer Waffen zu bewegen. Die Obleute, die sich an der Arbeiterstimmung in den Fabriken orientierten und eine bewaffnete Konfrontation mit Heerestruppen fürchteten, verschoben mehrfach den festgelegten Termin dafür, zuletzt auf den 11. November 1918.
Am 8. November griff die unabhängig von diesen Plänen vom Kieler Matrosenaufstand ausgelöste Revolution auf das Reich über. Daraufhin riefen die Berliner Obleute und die USPD ihre Anhänger für den Folgetag zu den geplanten Umzügen auf.
Am 9. November 1918 strömten Bevölkerungsmassen von allen Seiten ins Zentrum Berlins. Dort rief Liebknecht mittags im Berliner Tiergarten und nachmittags nochmals vor dem Berliner Stadtschloss eine „Freie Sozialistische Republik Deutschland“ aus und schwor die Kundgebungsteilnehmer auf die internationale Revolution ein. Kurz zuvor hatte der SPD-Politiker Philipp Scheidemann die Abdankung des Kaisers verkündet und eine „deutsche Republik“ ausgerufen, um Liebknecht zuvorzukommen.
Liebknecht wurde nun zum Sprecher der revolutionären Linken. Um die Novemberrevolution in Richtung einer sozialistischen Räterepublik voranzutreiben, gab er mit Rosa Luxemburg täglich die Zeitung Die Rote Fahne heraus. Bei den folgenden Auseinandersetzungen stellte sich jedoch bald heraus, dass die meisten Arbeitervertreter in Deutschland eher sozialdemokratische als sozialistische Ziele verfolgten. Eine Mehrheit trat auf dem Reichsrätekongress vom 16. bis 20. Dezember 1918 für baldige Parlamentswahlen und damit Selbstauflösung ein. Liebknecht und Luxemburg wurden von der Teilnahme am Kongress ausgeschlossen.
Seit Dezember 1918 versuchte Ebert, die Rätebewegung gemäß seinem Geheimabkommen mit dem General Wilhelm Groener mit Hilfe von kaiserlichem Militär zu entmachten, und ließ dazu immer mehr Militär in und um Berlin zusammenziehen. Am 6. Dezember 1918 versuchte er, den Reichsrätekongress militärisch zu verhindern, und, nachdem dies missglückte, Resolutionen zur Entmachtung des Militärs beim Kongress zu entschärfen. Am 24. Dezember 1918 setzte er kaiserliches Militär gegen die den revolutionären Kieler Matrosen nahestehende Volksmarinedivision ein, die eigentlich die Reichskanzlei schützen sollte und nicht ohne Sold zum Abrücken bereit war. Daraufhin traten die drei USPD-Vertreter am 29. Dezember aus dem Rat der Volksbeauftragten aus, so dass dieser gemäß der Vereinbarung bei seiner Gründung keine Legitimation mehr besaß. Er wurde dennoch von den drei SPD-Vertretern allein weitergeführt.
Daraufhin planten die reichsweit Zulauf erhaltenden Spartakisten die Gründung einer neuen, linksrevolutionären Partei und luden ihre Anhänger zu deren Gründungskongress Ende Dezember 1918 nach Berlin ein. Am 1. Januar 1919 stellte sich die Kommunistische Partei Deutschlands der Öffentlichkeit vor.
Ab dem 8. Januar nahm Liebknecht zusammen mit anderen KPD-Vertretern am Spartakusaufstand teil, mit dem die Revolutionären Obleute auf die Absetzung des zuvor rechtmäßig eingesetzten Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) reagierten. Sie versuchten, die Übergangsregierung Friedrich Eberts mit einem Generalstreik zu stürzen, und besetzten dazu mehrere Berliner Zeitungsgebäude. Liebknecht trat in die Streikleitung ein und rief gegen den Rat von Rosa Luxemburg zusammen mit der USPD zur Volksbewaffnung auf. KPD-Abgesandte versuchten erfolglos, einige in Berlin stationierte Regimenter zum Überlaufen zu bewegen. Nach zweitägigen ergebnislosen Beratungen trat die KPD aus dem Führungsgremium aus, dann brachen die USPD-Vertreter parallele Verhandlungen mit Ebert ab. Daraufhin setzte dieser das Militär gegen die Streikenden ein. Es kam zu blutigen Straßenkämpfen und Massenexekutionen hunderter Personen.
Nach den führenden Köpfen der jungen KPD wurde durch „zahlreiche Spitzeldienste diverser staatstragender Verbände“ intensiv gefahndet. Schon im Dezember waren in Berlin zahlreiche großformatige rote, gegen den Spartakusbund gerichtete Plakate angeschlagen worden, die in der Aufforderung „Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht!“ gipfelten. Handzettel gleichen Inhalts wurden hunderttausendfach verbreitet. Verantwortlich dafür war unter anderem die Antibolschewistische Liga Eduard Stadtlers. Im Vorwärts wurde Liebknecht wiederholt als „geisteskrank“ dargestellt. Der gesamte Rat der Volksbeauftragten unterzeichnete am 8. Januar ein Flugblatt, in dem angekündigt wurde, dass „die Stunde der Abrechnung naht“. Am 13. Januar druckte der Vorwärts ein Gedicht Artur Zicklers ab, das die Verszeilen enthielt:
„Vielhundert Tote in einer Reih –
Proletarier!
Karl, Rosa, Radek und Kumpanei –
Es ist keiner dabei, es ist keiner dabei!“
Unter Zivilisten und Militärangehörigen kursierten Gerüchte, die besagten, dass auf die „Spartakistenführer“ regelrechte Kopfgelder ausgesetzt worden seien. Am 14. Januar erschien in einem Mitteilungsblatt für die sozialdemokratischen Regimenter Reichstag und Liebe ein Artikel, in dem es hieß, dass „schon die nächsten Tage“ zeigen würden, dass nunmehr auch mit den „Häuptern der Bewegung Ernst gemacht wird.“
Liebknecht und Luxemburg hatten sich – da ihr Leben nun offenkundig in Gefahr war – nach dem Einmarsch der Noske-Truppen zunächst in Neukölln verborgen, waren nach zwei Tagen aber in ein neues Quartier in der Mannheimer Straße in Wilmersdorf ausgewichen. Der Wohnungsinhaber war Mitglied der USPD und gehörte dem Arbeiter- und Soldatenrat Wilmersdorf an, seine Frau war mit Rosa Luxemburg befreundet. In dieser Wohnung schrieb Liebknecht am 14. Januar seinen Artikel Trotz alledem!, der tags darauf in der Roten Fahne erschien. Am frühen Abend des 15. Januar drangen fünf Angehörige der Wilmersdorfer Bürgerwehr – einer von Zivilisten gebildeten bürgerlichen Miliz – in die Wohnung ein und nahmen Liebknecht und Luxemburg fest. Sicher ist, dass es sich nicht um eine mehr oder weniger zufällige Durchsuchung, sondern um einen gezielten Zugriff handelte. Gegen 21 Uhr wurde auch Wilhelm Pieck verhaftet, der die Wohnung nichtsahnend betreten hatte.
Liebknecht wurde zunächst zur Wilmersdorfer Cecilienschule transportiert. Von dort aus rief ein Angehöriger der Bürgerwehr direkt in der Reichskanzlei an und informierte deren stellvertretenden Pressechef Robert Breuer (Mitglied der Wilmersdorfer SPD) über die Ergreifung Liebknechts. Breuer kündigte einen Rückruf an, der aber nicht erfolgte. Angehörige der Bürgerwehr lieferten Liebknecht gegen 21.30 Uhr per Automobil bei ihrer vorgesetzten Dienststelle ab – dem Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Eden-Hotel an der Ecke Budapester Straße/Kurfürstenstraße, worauf unter anwesenden Hotelgästen und Militärs ein „kollektiver Erregungszustand“ ausgebrach. Liebknecht, der bis zu diesem Zeitpunkt seine Identität geleugnet hatte, wurde in Anwesenheit des faktischen Kommandeurs der Division anhand der Initialen auf seiner Kleidung identifiziert. Der Kommandeur entschied nach wenigen Minuten des Nachdenkens, Liebknecht und die gegen 22 Uhr eintreffende Rosa Luxemburg „erledigen“ zu lassen. Er rief in der Reichskanzlei an, um mit Noske das weitere Vorgehen zu besprechen. Noske forderte ihn auf, noch mit General von Lüttwitz Rücksprache zu halten und von diesem nach Möglichkeit eine formelle Anordnung zu erwirken. Der Kommandeur hielt das für ausgeschlossen. Daraufhin erwiderte Noske: „Dann müssen Sie selbst wissen, was zu tun ist.“
Mit der Ermordung Liebknechts beauftragte der Kommandeur eine Gruppe ausgewählter Marineoffiziere. Diese verließen gegen 22.45 Uhr mit Liebknecht das Hotel. Beim Verlassen des Gebäudes wurde Liebknecht von Hotelgästen bespuckt, beschimpft und geschlagen. Das Automobil fuhr in den nahegelegenen Tiergarten. Hier täuschte der Fahrer an einer Stelle, „wo ein völlig unbeleuchteter Fußweg abging“ eine Panne vor. Liebknecht wurde aus dem Auto geführt und nach wenigen Metern am Ufer des Neuen Sees „aus nächster Nähe“ von hinten erschossen.
Die Täter lieferten den Toten um 23.15 Uhr als „unbekannte Leiche“ in der dem Eden-Hotel gegenüberliegenden Rettungswache ein und erstatteten anschließend Meldung. Eine halbe Stunde später wurde die in einem offenen Wagen abtransportierte Rosa Luxemburg etwa 40 Meter vom Eingang des Eden-Hotels entfernt erschossen. Ihren Leichnam warf man zwischen Lichtenstein- und Corneliusbrücke in den Landwehrkanal. Ein Presseoffizier verbreitete anschließend ein Kommuniqué, in dem behauptet wurde, dass Liebknecht „auf der Flucht erschossen“ und Luxemburg „von der Menge getötet“ worden sei.
Liebknecht wurde am 25. Januar zusammen mit 31 weiteren Toten der Januartage beigesetzt. Die von der KPD zunächst geplante Bestattung auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain wurde sowohl von der Regierung als auch dem Berliner Magistrat untersagt. Stattdessen verwies man die Beisetzungskommission an den an der städtischen Peripherie gelegenen Armenfriedhof in Friedrichsfelde. Der Trauerzug entwickelte sich zu einer Massendemonstration, an der trotz massiver Militärpräsenz mehrere zehntausend Menschen teilnahmen.



VIERTES KAPITEL
Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburgs Geburtsdatum ist unsicher. Ihren Vornamen Rosalia verkürzte sie umgangssprachlich zu Rosa.
Sie war das fünfte und letzte Kind des Holzhändlers Eliasz Luxenburg und seiner Frau Line. Die Eltern waren Juden in der ländlichen Mittelstadt Zamość im von Russland kontrollierten Teil Polens. Die väterlichen Vorfahren waren als Landschaftsarchitekten, die mütterlichen Vorfahren als Rabbiner und Hebraisten nach Zamość gekommen. Über ein Drittel der Einwohner waren polnische Juden, meist Haskala-Vertreter mit hohem Bildungsstand. Die Eltern gehörten zu keiner Religionsgemeinschaft und politischen Partei, sympathisierten aber mit der polnischen Nationalbewegung und förderten die lokale Kultur. Sie besaßen ein Haus am Rathausplatz und bescheidenen Wohlstand, den sie vor allem für die Bildung ihrer Kinder einsetzten. Die Söhne besuchten wie der Vater höhere Schulen in Deutschland. Die Familie sprach und las zu Hause Polnisch und Deutsch, nicht Jiddisch. Besonders die Mutter vermittelte den Kindern die klassische und romantische deutsche und polnische Dichtung.
Rosa erhielt eine umfassende humanistische Bildung und lernte neben Polnisch, Deutsch und Russisch auch Latein und Altgriechisch. Sie beherrschte Französisch, konnte Englisch lesen und Italienisch verstehen. Sie kannte die bedeutenden Literaturwerke Europas, rezitierte Gedichte, war eine gute Zeichnerin, interessierte sich für Botanik und Geologie, sammelte Pflanzen und Steine und liebte Musik, besonders die Oper und die Lieder von Hugo Wolf. Zu ihren zeitlebens geachteten Autoren gehörte Adam Mickiewicz.
1873 zog die Familie nach Warschau. 1874 wurde ein Hüftleiden der Tochter irrtümlich als Tuberkulose diagnostiziert und falsch behandelt. Dadurch blieb ihre Hüfte deformiert, sodass sie fortan leicht hinkte. Mit fünf Jahren, während der vom Arzt verordneten fast einjährigen Bettruhe, lernte sie autodidaktisch Lesen und Schreiben. Mit neun Jahren übersetzte sie deutsche Geschichten ins Polnische, schrieb Gedichte und Novellen. Mit 13 Jahren schrieb sie in polnischer Sprache ein sarkastisches Gedicht über Kaiser Wilhelm I., der damals Warschau besuchte. Darin duzte sie ihn und forderte:
„Sage deinem listigen Lumpen Bismarck,
Tue es für Europa, Kaiser des Westens,
Befiehl ihm, daß er die Friedenshose
Nicht zuschanden macht“.
Ab 1884 besuchte Rosa das Zweite Frauengymnasium in Warschau, das nur in Ausnahmefällen polnische, noch seltener jüdische Mädchen aufnahm und in dem nur Russisch gesprochen werden durfte. Auch deshalb engagierte sie sich ab 1886 in einem geheimen Fortbildungskreis. Dort lernte sie die 1882 gegründete marxistische Gruppe „Proletariat“ kennen, die sich vom antizaristischen Terror der russischen Narodnaja Wolja abgrenzte, aber wie diese staatlich verfolgt und aufgelöst wurde. Nur im Untergrund arbeiteten einige Teilgruppen weiter, darunter die 1887 von Martin Kasprzak gegründete Warschauer Gruppe „Zweites Proletariat“. Dieser trat Rosa Luxemburg bei, ohne dies zu Hause und in der Schule zu verbergen. Dort las sie erstmals Schriften von Karl Marx, die damals illegal nach Polen gebracht und ins Polnische übersetzt wurden. 1888 bestand sie das Abitur als Klassenbeste und mit der höchsten Note „ausgezeichnet“. Die ihr zustehende Goldmedaille verweigerte die Schulleitung „wegen oppositioneller Haltung gegenüber den Behörden“. Im Dezember 1888 floh sie vor der Zarenpolizei, die ihre Mitgliedschaft im verbotenen „Proletariat“ entdeckt hatte, aus Warschau und schließlich mit Hilfe Kasprzaks aus Polen in die Schweiz.
Im Februar 1889 zog Rosa Luxemburg nach Oberstrass bei Zürich, weil im deutschsprachigen Raum nur an der Universität Zürich Frauen und Männer gleichberechtigt studieren durften. Ab Oktober 1889 belegte sie Philosophie, Mathematik, Botanik und Zoologie. 1892 wechselte sie in die Rechtswissenschaft, wo sie Völkerrecht, allgemeines Staatsrecht und Versicherungsrecht belegte. 1893 schrieb sie sich zudem in Staatswissenschaften ein. Dort belegte sie Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Finanzwissenschaft, Wirtschafts- und Börsenkrisen. Ferner studierte sie allgemeine Verwaltungslehre und Geschichtswissenschaft, hier vor allem Mittelalter und Diplomatie-Geschichte seit 1815. Sie studierte vor allem Adam Smith, David Ricardo und Das Kapital von Karl Marx. Sie war schon vor Studienbeginn überzeugte Marxistin.
Zürich war attraktiv für viele politisch verfolgte ausländische Sozialisten. Rosa Luxemburg fand rasch Kontakt zu deutschen, polnischen und russischen Emigrantenvereinen, die vom Schweizer Exil aus den revolutionären Sturz ihrer Regierungen vorzubereiten versuchten. Sie wohnte im Haus der Familie Carl Lübecks (SPD), der nach seiner Verurteilung im Leipziger Hochverratsprozess 1872 emigriert war. Durch ihn gewann sie Einblick in die Entwicklung der SPD. Sie lernte unter anderen die russischen Marxisten Pawel Axelrod und Georgi Plechanow kennen und bildete einen Freundes- und Gesprächskreis, der regelmäßige Kontakte zwischen emigrierten Studenten und Arbeitern pflegte.
Ab 1891 hatte sie eine Liebesbeziehung zu dem polnischen Marxisten Leo Jogiches. Er war bis 1906 ihr Partner und blieb ihr zeitlebens politisch eng verbunden. Er brachte ihr seine konspirativen Methoden bei und finanzierte ihr Studium mit. Sie half ihm beim Übersetzen marxistischer Texte ins Russische, die er in Konkurrenz zu Plechanow nach Polen und Russland schmuggelte. Plechanow isolierte Jogiches daraufhin in der russischen Emigrantenszene. Rosa Luxemburgs anfängliche Vermittlungsversuche schlugen fehl.
1892 gründeten mehrere illegale polnische Splitterparteien, darunter auch ehemalige „Proletariat“-Angehörige, die Polnische Sozialistische Partei (PPS), die Polens nationale Unabhängigkeit und Umwandlung in eine bürgerliche Demokratie anstrebte. Das Programm war ein Kompromiss aus verschiedenen Interessen, die aufgrund der Verfolgungssituation nicht ausdiskutiert worden waren. Im Juli 1893 gründeten Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Julian Balthasar Marchlewski und Adolf Warski die Pariser Exilzeitung „Arbeitersache“. Darin vertraten sie gegen das PPS-Programm einen streng internationalistischen Kurs: Die polnische Arbeiterklasse könne sich nur gemeinsam mit der russischen, deutschen und österreichischen emanzipieren. Nicht das Abschütteln der russischen Vorherrschaft in Polen, sondern die solidarische Zusammenarbeit zum Sturz des Zarismus, sodann des Kapitalismus und der Monarchie in ganz Europa müssten Vorrang erhalten.
Rosa Luxemburg war federführend für diese Linie. Als Zeitungsredakteurin durfte sie als polnische Delegierte am Kongress der 2. Internationale (1893) in der Tonhalle Zürich teilnehmen. In ihrem Bericht über die Entwicklung der Sozialdemokratie in Russisch-Polen seit 1889 betonte sie, Polens drei Teile seien ökonomisch mittlerweile so stark in die Märkte der Besatzerstaaten integriert, dass eine Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Nationalstaats ein anachronistischer Rückschritt wäre. Daraufhin focht der PPS-Delegierte Ignacy Daszyński ihren Delegiertenstatus an. Ihre Verteidigungsrede machte sie international bekannt: Sie erklärte, hinter dem innerpolnischen Streit stehe eine prinzipielle, alle Sozialisten betreffende Richtungsentscheidung. Ihre Gruppe vertrete den genuin marxistischen Standpunkt und somit das polnische Proletariat. Doch eine Kongressmehrheit erkannte die PPS als einzige legitime polnische Delegation an und schloss Rosa Luxemburg aus.
Daraufhin gründete sie mit ihren Freunden im August 1893 die Partei Sozialdemokratie des Königreiches Polen (SDKP). Der illegale Gründungsparteitag in Warschau vom März 1894 nahm ihren Leitartikel vom Juli 1893 als Parteiprogramm und die Arbeitersache als Presseorgan an. Die SDKP sah sich als direkte Nachfolgerin des „Proletariats“ und strebte in striktem Gegensatz zur PPS als Nahziel eine liberaldemokratische Verfassung für das ganze Russische Kaiserreich mit einer Gebietsautonomie für Polen an, um so eine gemeinsame polnisch-russische sozialistische Partei aufbauen zu können. Dazu sei eine enge, gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den russischen Sozialdemokraten, deren Einigung und die Einbindung in die Zweite Internationale unerlässlich. Ein unabhängiges Polen sei eine illusorische Fata Morgana, die das polnische Proletariat vom internationalen Klassenkampf ablenken solle. Die polnischen Sozialisten sollten den sozialdemokratischen Parteien der drei Teilungsmächte beitreten oder sich eng an sie anschließen. Es gelang ihr, die SDKP in Polen zu etablieren und später viele PPS-Anhänger zu ihr hinüberzuziehen.
Rosa Luxemburg leitete die „Arbeitersache“ bis zu deren Einstellung im Juli 1896 und verteidigte das SDKP-Programm im Ausland auch mit besonderen Aufsätzen. In Das unabhängige Polen und die Sache der Arbeiter schrieb sie: Sozialismus und Nationalismus seien nicht nur in Polen, sondern überhaupt miteinander unvereinbar. Nationalismus sei eine Ausflucht des Bürgertums: Bänden sich die Arbeiter daran, würden sie ihre eigene Befreiung gefährden, da das Bürgertum sich bei einer drohenden Sozialrevolution eher mit den jeweiligen Herrschern gegen die eigenen Arbeiter verbünden werde. Dabei verknüpfte sie polnische Erfahrungen stets mit denen anderer Länder, berichtete häufig über ausländische Streiks und Demonstrationen und versuchte so, ein internationales Klassenbewusstsein zu fördern. Seitdem war sie bei politischen Gegnern inner- und außerhalb der Sozialdemokratie verhasst und oft antisemitischen Angriffen ausgesetzt. So schrieben Angehörige der Gruppe Schwarze Hundert, ihr Gift rede den polnischen Arbeitern Hass auf das eigene Vaterland ein; dieser „jüdische Auswurf“ leiste ein „teuflisches Zerstörungswerk“ mit dem Ziel der „Ermordung Polens“.
Für den Kongress der Zweiten Internationale 1896 in London verteidigte Rosa Luxemburg ihre Linie in sozialdemokratischen Zeitungen wie dem Vorwärts und der Neuen Zeit. Sie erreichte eine Debatte darüber und fand unter anderen Robert Seidel, Jean Jaurès und Alexander Parvus als Unterstützer. Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht und Victor Adler dagegen lehnten ihre Position ab. Adler, Vertreter des Austromarxismus, beschimpfte sie als „doktrinäre Gans“ und versuchte, eine Gegendarstellung in der SPD zu verbreiten. Beim Kongress wollte die PPS Polens Unabhängigkeit als notwendiges Ziel der Internationale festlegen lassen und verdächtigte mehrere SDKP-Vertreter als zaristische Geheimagenten. Rosa Luxemburg und die SDKP wurden diesmal jedoch als eigenständige Vertreter der polnischen Sozialdemokratie zugelassen. Sie überraschte den Kongress mit einer Gegenresolution, wonach nationale Unabhängigkeit kein möglicher Programmpunkt einer sozialistischen Partei sein könne. Die Mehrheit stimmte einer Kompromissfassung zu, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker allgemein bejahte, ohne Polen zu erwähnen.
Nach dem Kongress schrieb Rosa Luxemburg Artikel für die Sächsische Arbeiterzeitung über Organisationsprobleme der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie und die Chancen der Sozialdemokratie im Osmanischen Reich. Sie plädierte für die Auflösung dieses Reichs, um so den Türken und weiteren Nationen zunächst eine kapitalistische Entwicklung zu gestatten. Marx und Engels hätten zwar zu ihrer Zeit recht gehabt, dass das zaristische Russland der Hort der Reaktion und mit allen Mitteln zu schwächen sei, doch die Bedingungen hätten sich geändert. Erneut widersprachen ihr führende Sozialdemokraten wie Kautsky, Plechanow und Adler öffentlich. So wurde sie weit über Polen hinaus als sozialistische Denkerin bekannt, mit deren Ansichten man sich auseinandersetzte.
Im Mai 1897 wurde Rosa Luxemburg in Zürich mit dem Prädikat magna cum laude zum Thema Polens industrielle Entwicklung promoviert. Mit empirischem Material aus Bibliotheken und Archiven von Berlin, Paris, Genf und Zürich suchte sie nachzuweisen, dass Russisch-Polen seit 1846 in den russischen Kapitalmarkt eingebunden und sein Wirtschaftswachstum vollständig von diesem abhängig sei. Damit wollte sie die Ansicht, die Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit Polens sei illusorisch, mit ökonomischen Fakten untermauern, ohne explizit marxistisch zu argumentieren. Nach der Veröffentlichung wollte Rosa Luxemburg darauf aufbauend eine Wirtschaftsgeschichte Polens verfassen; das von ihr öfter erwähnte Manuskript dazu ging verloren, wurde aber nach ihrer Aussage in Erläuterungen von Franz Mehring zu von ihm herausgegebenen Marx-Texten teilweise verarbeitet. Sie setzte ihren kompromisslosen Kampf gegen den Nationalismus in der Arbeiterbewegung zeitlebens fort. Diese Haltung isolierte sie anfangs fast völlig und brachte ihr viele erbitterte Konflikte ein, unter anderem seit 1898 in der SPD und seit 1903 mit Lenin.
Um die SPD und die Arbeiter im deutsch besetzten Teil Polens wirksamer für die SDKP zu gewinnen, beschloss Rosa Luxemburg 1897 gegen den Willen von Leo Jogiches, nach Deutschland zu ziehen. Um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, heiratete sie am 19. April 1898 den 24-jährigen Schlosser Gustav Lübeck, den einzigen Sohn ihrer Züricher Gastfamilie. Ab 12. Mai 1898 wohnte sie in der Cuxhavener Straße 2 und trat sofort in die SPD ein, die in der Arbeiterbewegung als fortschrittlichste sozialistische Partei Europas galt. Sie bot dem SPD-Bezirksvorsteher Ignaz Auer an, Wahlkampf für die SPD bei polnischen und deutschen Arbeitern in Schlesien zu machen. Durch ihre Sprachgewandtheit und erfolgreiche Wahlkampfreden erwarb sie rasch Ansehen in der SPD als gefragte Spezialistin für polnische Angelegenheiten. Bei den folgenden Reichstagswahlen errang die SPD in Schlesien erstmals Mandate und brach so die bisherige Alleinherrschaft der katholischen Zentrumspartei.
1890 waren im Kaiserreich nach zwölf Jahren die Sozialistengesetze aufgehoben worden. Dadurch gewann die SPD bei Wahlen weitere Reichstagssitze. Die meisten SPD-Abgeordneten wollten die neue Legalität der SPD bewahren und setzten sich immer weniger für einen revolutionären Umsturz, immer mehr für die allmähliche Erweiterung parlamentarischer Rechte und Sozialreformen im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung ein. Das Erfurter Programm von 1891 hielt die Sozialrevolution nur noch als theoretisches Fernziel fest und trennte den Alltagskampf für Reformen davon. Eduard Bernstein, Autor des praktischen Programmteils, rückte ab 1896 mit einer Artikelserie über „Probleme des Sozialismus“ in der Neuen Zeit vom Marxismus ab und begründete die später Reformismus genannte Theorie: Interessenausgleich und Reformen würden die Auswüchse des Kapitalismus mildern und den Sozialismus evolutionär herbeiführen, so dass die SPD sich auf parlamentarische Mittel beschränken könne. Kautsky, enger Freund Bernsteins und Redakteur der Neuen Zeit, ließ keine Kritiken an dessen Thesen abdrucken. Alexander Parvus, inzwischen Chefredakteur der Sächsischen Arbeiterzeitung, eröffnete daraufhin im Januar 1898 den Revisionismusstreit mit einer polemischen Artikelserie gegen Bernstein.
Am 25. September 1898 wurde Parvus des Landes verwiesen. Auf seinen dringenden Wunsch zog Rosa Luxemburg nach Dresden und übernahm die Chefredaktion der Sächsischen Arbeiterzeitung. Daher durfte sie beim folgenden SPD-Parteitag in Stuttgart (1898) zu allen Tagesthemen, nicht nur zum Thema Polen reden. Erstmals griff sie dort in die Bernsteindebatte ein, positionierte sich auf dem marxistischen Parteiflügel, betonte dessen Übereinstimmung mit dem Parteiprogramm und wies den Debattenstil zurück: Persönliche Polemik zeige nur das Fehlen von Sachargumenten. Der Parteivorstand um August Bebel vermied eine programmatische Entscheidung. In den Folgewochen veröffentlichte sie eine eigene Artikelserie gegen Bernsteins Theorie, die später in ihr Buch Sozialreform oder Revolution? einging. Darin vertrat sie eine konsequent klassenkämpferische Haltung: Echte Sozialreformen müssten das Ziel der sozialen Revolution stets im Auge behalten und ihm dienen. Sozialismus sei nur durch die Machtübernahme des Proletariats und Umwälzung der Produktionsverhältnisse zu erreichen.
Sie zog wieder nach Berlin und schrieb von dort aus regelmäßig gegen Entgelt anonyme Artikel für verschiedene SPD-Zeitungen über wichtige wirtschaftliche und technische Entwicklungen in aller Welt. Dafür recherchierte sie täglich in Bibliotheken, worauf sie ab Dezember 1898 zeitweise polizeilich überwacht wurde. Zu ihren engen Freunden gehörten Clara Zetkin, die inner- und außerhalb der SPD für eine selbstbestimmte internationale Frauenbewegung eintrat, und Bruno Schönlank, Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung. Dort wies sie mit der Artikelserie Miliz und Militarismus im Februar 1899 die Thesen von Max Schippel zurück: Dieser wollte das SPD-Ziel einer Volksmiliz als Alternative zum kaiserlichen Militär aufgeben und sah die vorhandenen stehenden Heere als unentbehrliche ökonomische Entlastung und Übergang zu einem künftigen „Volksheer“ an. Sie kritisierte Schippels Annäherung an den kaiserlichen Militarismus als logische Folge des Bernstein’schen Revisionismus und dessen mangelnder Bekämpfung in der SPD. Sie schlug vor, die internen Protokolle der SPD-Reichstagsfraktion zu veröffentlichen und beim nächsten Parteitag über Schippels Thesen zu diskutieren. Diesmal fand sie ein positives Echo beim Parteivorstand. Kautsky lud sie im März 1899 zu sich nach Hause ein und schlug ihr ein Bündnis gegen militaristische Tendenzen in der SPD vor. Wilhelm Liebknecht erlaubte ihr ein Referat über den aktuellen Kurs der Regierung und der SPD in Berlin. Bebel traf sich mit ihr, unterstützte ihre Forderungen, lehnte aber eine eigene Stellungnahme weiterhin ab, weil er Wahleinbußen für die SPD fürchtete. Damit hatte die Parteiführung sie als Dialogpartnerin anerkannt. Sie nutzte dies, um für mehr Akzeptanz der SDKP-Positionen zu werben.
Vom 4. bis 8. April 1899 antwortete Rosa Luxemburg auf Bernsteins neues Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie mit einer zweiten Artikelserie zum Thema Sozialreform oder Revolution? in der Leipziger Volkszeitung. Darin bejahte sie den Alltagskampf der SPD um Reformen als notwendiges Mittel zum Zweck der Abschaffung des ausbeuterischen Lohnsystems. Bernstein habe diesen Zweck aufgegeben und das Mittel des Klassenkampfs, die Reformen, zum Selbstzweck gemacht. Damit habe er im Grunde die Mission der SPD für historisch überholt erklärt. Die SPD gäbe sich selbst auf, würde sie dem folgen. Die Marx’sche Krisentheorie bleibe aktuell, da das Wachstum der Produktivkräfte im Kapitalismus zwangsläufig periodische Absatzkrisen erzeuge und Kredite und Unternehmerorganisationen diese Krisen nur auf zwischenstaatliche Konkurrenz verlagerten, aber nicht aufhöben. Sie forderte die „Revisionisten“ auf, die SPD zu verlassen, weil sie das Parteiziel aufgegeben hätten. Dafür fand sie viel Zustimmung in der SPD. Mehrere SPD-Wahlkreise beantragten den Ausschluss der Revisionisten.
Beim Reichsparteitag in Hannover (1899) bekräftigte Bebel als Hauptredner das Erfurter Programm, die freie und kritische Diskussion über die Marx’sche Theorie und lehnte den Ausschluss der Revisionisten ab. Rosa Luxemburg stimmte ihm weitgehend zu: Da die Revisionisten die SPD-Position ohnehin nicht bestimmten, sei ihr Ausschluss nicht notwendig. Es genüge, sie ideologisch in die Schranken zu weisen. Eine proletarische Revolution bedeute die Aussicht auf ein Geringstmaß an Gewalt; wieweit diese notwendig werde, bestimme der Gegner. Seit dieser innerparteilichen Auseinandersetzung war Rosa Luxemburg als scharfzüngige und intelligente Gegnerin der „Revisionisten“ bekannt, geachtet und zum Teil auch gefürchtet. Sie erfuhr als Jüdin aus dem Ausland viel Ablehnung in der SPD.
1900 starb ihr Vater. Auf ihr Verlangen zog Leo Jogiches zu ihr nach Berlin. Sie löste ihre Ehe mit Gustav Lübeck auf. 1903 wurde sie Mitglied im Internationalen Sozialistischen Bureau. Im Reichstagswahlkampf 1903 behauptete Kaiser Wilhelm II., er verstehe die Probleme der deutschen Arbeiter besser als jeder Sozialdemokrat. Darauf antwortete Rosa Luxemburg in einer Wahlkampfrede: „Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter spricht, hat keine Ahnung von den Tatsachen.“ Dafür wurde sie im Juli 1904 wegen „Majestätsbeleidigung“ zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, von denen sie sechs Wochen verbüßen musste. 1904 kritisierte sie in der russischen Zeitung Iskra erstmals Lenins zentralistisches Parteikonzept (Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie). Als Vertreterin der SPD und der SDKP setzte sie beim Kongress der Zweiten Internationale in Amsterdam klassenkämpferische gegen reformistische Positionen durch. 1905 wurde sie Redakteurin bei der SPD-Parteizeitung Vorwärts. Im Dezember 1905 reiste sie unter dem Pseudonym „Anna Matschke“ mit Leo Jogiches nach Warschau, um die russische Revolution 1905 zu unterstützen und die SDKP zur Teilnahme daran zu bewegen. Im März 1906 wurde sie verhaftet. Es gelang ihr, ein Kriegsgerichtsverfahren mit drohender Todesstrafe abzuwenden. Nach ihrer Freilassung gegen eine hohe Kaution reiste sie nach Petersburg und traf dort russische Revolutionäre, darunter Lenin.
In diesem Zusammenhang warfen polnische Nationalisten ihr öffentlich vor, sie lenke den „jüdischen“ internationalistischen Flügel der Sozialdemokratie, der eine Verschwörung zur Zerstörung Kongresspolens betreibe. Der Antisemit Niemojewski machte das Judentum für den Sozialismus verantwortlich. Rosa Luxemburg erreichte daraufhin, dass führende westeuropäische Sozialdemokraten (der Franzose Jean Jaurès sowie August Bebel, Karl Kautsky, Franz Mehring) gemeinsam den Antisemitismus als Ideologie des reaktionären Bürgertums verwarfen.
Sie warnte frühzeitig vor einem kommenden Krieg der europäischen Großmächte, griff immer stärker den deutschen Militarismus und Imperialismus an und versuchte, ihre Partei zu einem energischen Gegenkurs zu verpflichten. 1906 wurde sie auf Antrag der Staatsanwaltschaft Weimar wegen „Anreizung verschiedener Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten“ in einer SPD-Parteitagsrede zu zwei Monaten Haft verurteilt, die sie voll verbüßte. Ihre Erfahrungen mit der russischen Revolution verarbeitete sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland in der Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Um die „internationale Solidarität der Arbeiterklasse“ gegen den Krieg einzuüben, forderte sie darin von der SPD die Vorbereitung des Generalstreiks nach polnisch-russischem Vorbild. Zugleich setzte sie ihr internationales Engagement fort und nahm 1907 mit Leo Jogiches am fünften Parteitag der russischen Sozialdemokraten in London teil. Beim folgenden Kongress der Zweiten Internationale in Stuttgart brachte sie erfolgreich eine Resolution ein, die gemeinsames Handeln aller europäischen Arbeiterparteien gegen den Krieg vorsah.
Ab 1907 unterhielt sie eine mehrjährige Liebesbeziehung zu Kostja Zetkin, aus der etwa 600 Briefe erhalten sind.
Ebenfalls ab 1907 lehrte sie als Dozentin für Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie an der SPD-Parteischule in Berlin, 1911 kam noch das auf ihre Anregung hin eingeführte Unterrichtsfach „Geschichte des Sozialismus“ hinzu. Einer ihrer Schüler war der spätere KPD-Gründer und DDR-Präsident Wilhelm Pieck. Als die SPD sich beim Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, klar gegen den Kolonialismus und Imperialismus des Kaiserreichs aussprach, verlor sie bei der Reichstagswahl 1907 – den sogenannten „Hottentotten-Wahlen“ – rund ein Drittel ihrer Reichstagssitze. Doch den Generalstreik als politisches Kampfmittel lehnten SPD- und Gewerkschaftsführung weiterhin strikt ab. Darüber zerbrach 1910 Rosa Luxemburgs Freundschaft mit Karl Kautsky. Damals machten Berichte der New York Times über den Sozialistenkongress in Magdeburg sie auch in den USA bekannt.
1912 reiste sie als Vertreterin der SPD zu europäischen Sozialistenkongressen, darunter dem in Paris, wo sie und Jean Jaurès die europäischen Arbeiterparteien zu einer feierlichen Verpflichtung brachten, beim Kriegsausbruch zum Generalstreik aufzurufen. Als der Balkankrieg 1913 fast schon einen Weltkrieg auslöste, organisierte sie Demonstrationen gegen den Krieg. In zwei Reden in Frankfurt-Bockenheim am 25. September und in Fechenheim bei Frankfurt am Main am 26. September 1913 rief sie eine Menge von Hunderttausenden zu Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung auf: „Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: Nein, das tun wir nicht!“ Daher wurde sie der „Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze und Anordnungen der Obrigkeit“ angeklagt und im Februar 1914 zu insgesamt 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Ihre Rede vor der Frankfurter Strafkammer wurde später unter dem Titel Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse veröffentlicht. Vor dem Haftantritt konnte sie Ende Juli noch an einer Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros teilnehmen. Dort erkannte sie ernüchtert: Auch in den europäischen Arbeiterparteien, vor allem den deutschen und französischen, war der Nationalismus stärker als das internationale Klassenbewusstsein.
Am 2. August, in Reaktion auf die Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Russland und Frankreich vom Vortag, erklärten die deutschen Gewerkschaften einen Streik- und Lohnverzicht für die gesamte Dauer des bevorstehenden Krieges. Am 4. August 1914 stimmte die SPD-Reichstagsfraktion einstimmig und gemeinsam mit den übrigen Reichstagsfraktionen für die Aufnahme der ersten Kriegskredite und ermöglichte damit die Mobilmachung. Rosa Luxemburg erlebte diesen Bruch der SPD-Vorkriegsbeschlüsse als schweres, folgenreiches Versagen der SPD und dachte deswegen an Selbstmord. Aus ihrer Sicht hatte der Opportunismus, den sie immer bekämpft hatte, gesiegt und das Ja zum Krieg nach sich gezogen.
Am 5. August gründete sie mit Hermann Duncker, Hugo Eberlein, Julian Marchlewski, Franz Mehring, Ernst Meyer und Wilhelm Pieck die „Gruppe Internationale“, der sich wenig später auch Karl Liebknecht anschloss. Darin sammelten sich diejenigen Kriegsgegner der SPD, die deren Stillhaltepolitik komplett ablehnten. Sie versuchten, die Partei zur Rückkehr zu ihren Vorkriegsbeschlüssen und zur Abkehr von der Burgfriedenspolitik zu bewegen, einen Generalstreik für einen Friedensabschluss vorzubereiten und so auch einer internationalen proletarischen Revolution näherzukommen. Daraus ging 1916 die reichsweite „Spartakusgruppe“ hervor, deren Spartakusbriefe Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gemeinsam herausgaben.
Rosa Luxemburg musste am 18. Februar 1915 die Haftstrafe im Berliner Weibergefängnis antreten, die sie für ihre in Frankfurt am Main gehaltene Rede erhalten hatte. Ein Jahr später wurde sie entlassen. Schon drei Monate später wurde sie nach dem damaligen Schutzhaft-Gesetz zur „Abwendung einer Gefahr für die Sicherheit des Reichs“ zu insgesamt zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Juli 1916 begann ihre „Sicherungsverwahrung“. Drei Jahre und vier Monate verbrachte sie zwischen 1915 und 1918 im Gefängnis. Sie wurde zweimal verlegt, zuerst nach Wronke nahe Posen, dann nach Breslau. Dort sammelte sie Nachrichten aus Russland und verfasste einige Aufsätze, die ihre Freunde herausschmuggelten und illegal veröffentlichten. In ihrem Aufsatz Die Krise der Sozialdemokratie, erschienen im Juni 1916 unter dem Pseudonym Junius, rechnete sie mit der „bürgerlichen Gesellschaftsordnung“ und der Rolle der SPD ab, deren reaktionäres Wesen der Krieg offenbart habe. Lenin kannte diese Schrift und antwortete positiv darauf, ohne zu ahnen, wer sie verfasst hatte.
Im Februar 1917 weckte der revolutionäre Sturz des Zaren in Russland Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende. Die Provisorische Regierung setzte den Krieg gegen Deutschland jedoch fort. Dort kam es im März in vielen Städten zu monatelangen Protesten und Massenstreiks: zuerst gegen die Mangelwirtschaft, dann gegen Lohnverzicht und schließlich gegen den Krieg und die Monarchie. Im April 1917 erfolgte der Kriegseintritt der USA. Nun gründeten die Kriegsgegner, die die SPD ausgeschlossen hatte, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die rasch Zulauf gewann. Obwohl der Spartakusbund die Parteispaltung bis dahin abgelehnt hatte, trat er nun der neuen Linkspartei bei. Er behielt seinen Gruppenstatus, um weiterhin konsequent für eine internationale sozialistische Revolution werben zu können. Diesem Ziel folgten nur wenige USPD-Gründer.
Während die SPD-Führung erfolglos versuchte, die Oberste Heeresleitung (OHL) zu Friedensverhandlungen mit US-Präsident Woodrow Wilson zu gewinnen, ermöglichte diese Lenin die Durchreise aus seinem Schweizer Exil nach Sankt Petersburg. Dort gewann er die Führung der Bolschewiki und bot den Russen einen sofortigen Separatfrieden mit Deutschland an. Damit gewannen die Bolschewiki eine Mehrheit im Volkskongress, doch nicht in der Duma, dem russischen Nationalparlament. In der Oktoberrevolution besetzten sie es, lösten es auf und setzten die Arbeiterräte (Sowjets) als Regierungsorgane ein.
Rosa Luxemburg ließ sich fortlaufend über diese Ereignisse informieren und schrieb dazu den Aufsatz Zur russischen Revolution. Darin begrüßte sie Lenins Revolution, kritisierte aber zugleich scharf seine Strategie und warnte vor einer Diktatur der Bolschewiki. In diesem Zusammenhang formulierte sie den berühmten Satz: „Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden.“ Erst 1922 veröffentlichte ihr Freund Paul Levi diesen Aufsatz. Trotz ihrer Vorbehalte rief sie nun unermüdlich zu einer deutschen Revolution nach russischem Vorbild auf und forderte eine „Diktatur des Proletariats“, grenzte diesen Begriff aber gegen Lenins Avantgardekonzept ab. Sie verstand darunter die demokratische Eigenaktivität der Arbeiter im Revolutionsprozess, Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung und politische Streiks bis zur Verwirklichung sozialistischer Produktionsverhältnisse.
Im Januarstreik 1918 bildeten sich in vielen bestreikten Betrieben eigenständige Arbeitervertreter heraus, die revolutionären Obleute. Immer mehr Deutsche lehnten die Fortsetzung des Krieges ab. Nach dem Durchbruch der Triple Entente an der Westfront am 8. August 1918 beteiligte die kaiserliche Regierung auf Verlangen der Obersten Heeresleitung (OHL) am 5. Oktober erstmals den Reichstag an ihren Entscheidungen. Max von Baden wurde Reichskanzler, mehrere Sozialdemokraten traten in die Regierung ein. Diese bat die Entente um Waffenstillstandsverhandlungen. Die Spartakisten sahen diese Verfassungsänderung als Täuschungsmanöver zur Abwehr der kommenden Revolution und stellten am 7. Oktober reichsweit ihre Forderungen nach einem grundlegenden Umbau der Gesellschafts- und Staatsordnung.
Die Novemberrevolution erreichte am 9. November Berlin, wo Philipp Scheidemann eine deutsche, der vorzeitig aus dem Gefängnis entlassene Karl Liebknecht eine sozialistische Republik ausriefen. Rosa Luxemburg wurde am 8. November aus der Breslauer Haft entlassen und traf am 10. November in Berlin ein. Karl Liebknecht hatte bereits den Spartakusbund reorganisiert. Beide gaben gemeinsam die Zeitung Die Rote Fahne heraus, um täglich auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. In einem ihrer ersten Artikel forderte Rosa Luxemburg eine Amnestie für alle politischen Gefangenen und die Abschaffung der Todesstrafe. Am 18. November schrieb sie: „Der Bürgerkrieg, den man aus der Revolution mit ängstlicher Sorge zu verbannen sucht, läßt sich nicht verbannen. Denn Bürgerkrieg ist nur ein anderer Name für Klassenkampf, und der Gedanke, den Sozialismus ohne Klassenkampf, durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluß einführen zu können, ist eine lächerliche kleinbürgerliche Illusion.“ Sie trat damals für den Schutz der Berliner Kulturgüter gegen Plünderer ein und sorgte dafür, dass eine Wache für die Berliner Museumsinsel abgestellt wurde.
Ebert hatte sich am Abend des 10. November mit Ludendorffs Nachfolger, General Wilhelm Groener, im Ebert-Groener-Pakt heimlich auf eine Zusammenarbeit gegen Versuche einer Entmachtung der kaiserlichen Offiziere und weitergehenden Revolution verständigt und beorderte Anfang Dezember ehemalige Fronttruppen nach Berlin. Diese sollten unerwünschte Ergebnisse des geplanten Reichsrätekongresses vereiteln, der eine neue Verfassung und Wahlen vorbereiten sollte. Am 6. Dezember erschossen Soldaten dieser Truppen bei Straßenkämpfen demonstrierende Arbeiter. Am 10. Dezember zog die Garde-Kavallerie-Schützen-Division in Berlin ein. Rosa Luxemburg vermutete, dass Ebert diese Reichswehreinheiten gegen Berliner Arbeiter einzusetzen vorhatte, und forderte daraufhin im Artikel Was will der Spartakusbund? am 14. Dezember in der Roten Fahne alle Macht für die Räte, die möglichst gewaltlose Entwaffnung und die Umerziehung der heimgekehrten Soldaten.
Beim Reichsrätekongress vom 16. bis zum 20. Dezember waren nur zehn Spartakisten vertreten. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht erhielten kein Rederecht. Eine Mehrheit stimmte gemäß dem breiten Bevölkerungswillen für parlamentarische Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung am 19. Januar 1919 und die Selbstauflösung der Arbeiterräte. Eine Kontrollkommission sollte das Militär überwachen, eine Sozialisierungskommission sollte die vielfach geforderte Enteignung kriegswichtiger Großindustrie beginnen.
Infolge der Weihnachtskämpfe vom 24. Dezember verließen die Mitglieder der USPD am 29. Dezember den Rat der Volksbeauftragten. Am 1. Januar 1919 gründeten die Spartakisten und andere linkssozialistische Gruppen aus dem ganzen Reich die KPD. Diese nahm Rosa Luxemburgs Spartakusprogramm kaum verändert als Parteiprogramm an. Darin betonte sie, dass Kommunisten die Macht niemals ohne erklärten mehrheitlichen Volkswillen ergreifen würden. Ihre dringende Empfehlung, an den kommenden Parlamentswahlen teilzunehmen, um auch dort für eine Fortsetzung der Revolution zu werben, lehnte eine deutliche Parteitagsmehrheit ab.
Als Ebert am 4. Januar 1919 den Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) absetzte, Gustav Noske mit der Aufstellung und Herbeirufung von Freikorps beauftragte und dieser immer mehr Militär um Berlin zusammenzog, riefen Revolutionäre Obleute am 5. Januar zu einem Generalstreik auf und besetzten das Berliner Zeitungsviertel, um zum Sturz der restlichen Übergangsregierung aufzurufen. Während Karl Liebknecht sie unterstützte und die KPD erfolglos Berliner Regimenter zur Teilnahme zu bewegen versuchte, hielt Rosa Luxemburg diesen zweiten Revolutionsversuch für mangelhaft vorbereitet und verfrüht und kritisierte Liebknecht deswegen intern scharf. In Zeitungen kursierten seit Anfang Dezember Mordaufrufe gegen die Spartakusführer; Eduard Stadtler hatte damals mit Geldern der Deutschen Bank und von Friedrich Naumann eine „Antibolschewistische Liga“ gegründet, deren Antibolschewistenfonds ab 10. Januar 1919 Gelder der deutschen Wirtschaft erhielt. Damit wurden unter anderem die Anwerbung und Ausrüstung der Freikorps sowie Belohnungen zur Festsetzung und Ermordung von Spartakisten bezahlt. Der Vorwärts rief zur „Stunde der Abrechnung“ mit ihnen auf. Vermittlungsgespräche zwischen dem Revolutionskomitee und der Übergangsregierung scheiterten. Von Noske befehligte kaiserliche Truppen schlugen den sogenannten Spartakusaufstand vom 8. bis 12. Januar gewaltsam nieder und erschossen Hunderte von Aufständischen, darunter auch viele Unbewaffnete, die sich schon ergeben hatten. Die Spartakusführer mussten untertauchen, blieben aber in Berlin.
In ihren letzten Lebenstagen ging es Rosa Luxemburg gesundheitlich sehr schlecht, trotzdem verfolgte sie noch aktiv das revolutionäre Geschehen. In ihrer letzten Veröffentlichung in der Roten Fahne bekräftigte sie nochmals ihr unbedingtes Vertrauen in die Arbeiterklasse; sie werde aus ihren Niederlagen lernen und sich bald wieder zum „Endsieg“ erheben.
Am 15. Januar 1919 nahm eine „Bürgerwehr“, die über genaue Steckbriefe verfügte, sie und Karl Liebknecht in einer Wohnung der Mannheimer Straße 27 in Wilmersdorf fest und brachte sie in das Eden-Hotel. Dort residierte der Stab der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, der die Verfolgung von Spartakisten in Berlin organisierte. Die Gefangenen wurden nacheinander verhört und dabei schwer misshandelt. Kommandant Waldemar Pabst beschloss mit seinen Offizieren, sie zu ermorden; der Mord sollte nach einer spontanen Tat Unbekannter aussehen. Der am Haupteingang bereitstehende Jäger Otto Wilhelm Runge schlug Rosa Luxemburg beim Verlassen des Hotels mit einem Gewehrkolben zweimal, bis sie bewusstlos war. Sie wurde in einen bereitstehenden Wagen geworfen. Der Freikorps-Leutnant Hermann Souchon sprang bei ihrem Abtransport auf das Trittbrett des Wagens auf und erschoss sie mit einem aufgesetzten Schläfenschuss etwa an der Ecke Nürnberger Straße/Kurfürstendamm. Kurt Vogel ließ ihre Leiche in den Berliner Landwehrkanal in der Nähe der Lichtensteinbrücke werfen.



FÜNFTES KAPITEL
Clara Zetkin

Clara wurde als älteste Tochter von Josephine Vitale, deren Vater Jean Dominique durch die Französische Revolution 1789 und seine Teilnahme an Napoleons Kriegen geprägt war, und Gottfried Eißner, Sohn eines Tagelöhners und Dorfschullehrers von Wiederau, geboren. Ihre Mutter stand mit Pionierinnen der damals entstandenen bürgerlichen Frauenbewegung in Kontakt, insbesondere Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt, las Bücher von George Sand und gründete in Wiederau einen Verein für Frauengymnastik. Die Familie siedelte 1872 nach Leipzig über, um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen.
Ab 1874 hatte die in Leipziger Privatseminaren ausgebildete Volksschullehrerin Kontakte zur Frauen- und Arbeiterbewegung. Clara Eißner trat 1878 der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands bei, die 1890 in SPD umbenannt wurde. Wegen des Sozialistengesetzes (1878–1890), das sozialdemokratische Aktivitäten außerhalb der Landtage und des Reichstags verbot, ging sie 1882 zuerst nach Zürich, dann nach Paris ins Exil. Dort nahm sie den Namen ihres Lebenspartners, des russischen Revolutionärs Ossip Zetkin an, mit dem sie zwei Söhne hatte, Maxim Zetkin und Kostja Zetkin.
In ihrer Zeit in Paris hatte sie 1889 während des Internationalen Arbeiterkongresses einen bedeutenden Anteil an der Gründung der Sozialistischen Internationale.
Im Herbst 1890 kehrte die Familie nach Deutschland zurück und ließ sich in Sillenbuch bei Stuttgart nieder. Dort arbeitete Clara Zetkin als Übersetzerin und seit 1892 als Herausgeberin der Frauenzeitschrift Die Gleichheit.
Nach dem Tode Ossip Zetkins heiratete sie 1899 42-jährig in Stuttgart den 24-jährigen Kunstmaler Friedrich Zundel aus Wiernsheim. Nach zunehmender Entfremdung wurde die Ehe 1927 geschieden.
1907 lernte Clara Zetkin anlässlich des Internationalen Sozialistenkongresses in Stuttgart den russischen Kommunisten Lenin kennen, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband.
In der SPD gehörte sie zusammen mit ihrer engen Vertrauten, Freundin und Mitstreiterin Rosa Luxemburg wortführend zum revolutionären linken Flügel der Partei und wandte sich mit ihr um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in der Revisionismusdebatte entschieden gegen die reformorientierten Thesen Eduard Bernsteins.
Einer ihrer politischen Schwerpunkte war die Frauenpolitik. Hierzu hielt sie beim Gründungskongress der Zweiten Internationalen am 19. Juli 1889 ein berühmt gewordenes Referat, in dem sie die Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung nach Frauenwahlrecht, freier Berufswahl und besonderen Arbeitsschutzgesetzen für Frauen, wie sie um Helene Lange und Minna Cauer vertreten wurden, im Rahmen des herrschenden Systems kritisierte:
„Wir erwarten unsere volle Emanzipation weder von der Zulassung der Frau zu dem, was man freie Gewerbe nennt, und von einem dem männlichen gleichen Unterricht – obgleich die Forderung dieser beiden Rechte nur natürlich und gerecht ist – noch von der Gewährung politischer Rechte. Die Länder, in denen das angeblich allgemeine, freie und direkte Wahlrecht existiert, zeigen uns, wie gering der wirkliche Wert desselben ist. Das Stimmrecht ohne ökonomische Freiheit ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wechsel, der keinen Kurs hat. Wenn die soziale Emanzipation von den politischen Rechten abhinge, würde in den Ländern mit allgemeinem Stimmrecht keine soziale Frage existieren. Die Emanzipation der Frau wie die des ganzen Menschengeschlechtes wird ausschließlich das Werk der Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein. Nur in der sozialistischen Gesellschaft werden die Frauen wie die Arbeiter in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen.“
Damit erklärte Zetkin die fehlende Gleichberechtigung der Geschlechter zu einem Nebenwiderspruch der herrschenden sozialen und ökonomischen Bedingungen, den sie dem Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit unterordnete. Ihre Verschiebung der formalpolitischen Emanzipation der Frau auf die Zeit nach der Revolution vertiefte die Konflikte der deutschen Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg und führte zu langwierigen Auseinandersetzungen mit anderen, gemäßigteren Protagonistinnen auch innerhalb der sozialdemokratischen Frauenbewegung, etwa mit Lily Braun oder Luise Zietz.
Zetkin war von 1891 bis 1917 Herausgeberin der SPD-Frauenzeitung Die Gleichheit, in deren programmatischer Eröffnungsnummer sie sich erneut gegen die reformistische Vorstellung wandte, durch rechtliche Gleichstellung mit den Männern unter Beibehaltung des Kapitalismus einen Fortschritt für die Frauen erreichen zu wollen:
„Die Gleichheit geht von der Überzeugung aus, dass der letzte Grund der jahrtausendealten niedrigen gesellschaftlichen Stellung des weiblichen Geschlechts nicht in der jeweils von Männern gemachten Gesetzgebung, sondern in den durch wirtschaftliche Zustände bedingten Eigentumsverhältnisse zu suchen ist. Mag man heute unsere gesamte Gesetzgebung dahin abändern, dass das weibliche Geschlecht rechtlich auf gleichen Fuß mit dem männlichen gestellt wird, so bleibt nichtsdestoweniger für die große Masse der Frauen die gesellschaftliche Versklavung in härtester Form weiterbestehen: ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von ihren Ausbeutern.“
Später revidierte sie diese rigide Haltung und trat nun ebenfalls für das Frauenwahlrecht ein, das bereits seit 1891 zentraler Bestandteil des Parteiprogramms der SPD war.
1907 wurde ihr die Leitung des neu gegründeten Frauensekretariats der SPD übertragen. Beim Internationalen Sozialistenkongress, der im August 1907 in Stuttgart stattfand, wurde die Gründung der Sozialistischen Fraueninternationale beschlossen, mit Clara Zetkin als Internationaler Sekretärin. Auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz am 27. August 1910 in Kopenhagen initiierte sie gegen den Willen ihrer männlichen Parteikollegen, gemeinsam mit Käte Duncker, den Internationalen Frauentag, der erstmals im folgenden Jahr am 19. März 1911 begangen werden sollte (ab 1921 am 8. März).
Zusammen mit Franz Mehring, Rosa Luxemburg und sehr wenigen weiteren SPD-Politikern stimmte Zetkin 1914 kurz vor Beginn des Krieges gegen die Bewilligung der Kriegskredite. Sie blieb damit dem Grundsatz der Zweiten Internationale treu, keinen Angriffskrieg zu unterstützen und stand fortan im Widerspruch zur großen Mehrheit der im Reichstag vertretenen SPD. In der Zeit des Ersten Weltkriegs lehnte Zetkin mit Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring und wenigen anderen einflussreichen SPD-Politikern die Burgfriedenspolitik ihrer Partei ab. Neben anderen Aktivitäten gegen den Krieg organisierte sie 1915 in Bern die Internationale Konferenz sozialistischer Frauen gegen den Krieg. In diesem Zusammenhang entstand das maßgeblich von ihr ausformulierte Anti-Kriegs Flugblatt „Frauen des arbeitenden Volkes!“, das außerhalb der Schweiz polizeilich gesucht wurde. Wegen ihrer Antikriegshaltung wurde Clara Zetkin während des Krieges mehrfach inhaftiert, ihre Post beschlagnahmt und ihre Söhne, beide Ärzte im Militärdienst, schikaniert.
Sie war ab 1916 an der ursprünglich von Rosa Luxemburg gegründeten revolutionären innerparteilichen Oppositionsfraktion der SPD, der Gruppe Internationale oder Spartakusgruppe beteiligt, die am 11. November 1918 in Spartakusbund umbenannt wurde. 1917 schloss sich Clara Zetkin der USPD unmittelbar nach deren Konstituierung an. Diese neue linkssozialdemokratische Partei hatte sich aus Protest gegen die kriegsbilligende Haltung der SPD von der Mutterpartei abgespalten, nachdem die größer gewordene Gruppe der Kriegsgegner aus der SPD-Reichstagsfraktion und der Partei ausgeschlossen worden war. Nach der Novemberrevolution wurde – ausgehend vom Spartakusbund und anderen linksrevolutionären Gruppen – am 1. Januar 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gegründet, der auch Zetkin beitrat.
Von 1919 bis 1920 war Zetkin Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung Württembergs und dort eine unter den ersten 13 weiblichen Abgeordneten. Sie beteiligte sich ab dem 25. Juli 1919 am Sonderausschuss für den Entwurf eines Jugendfürsorgegesetzes. Am 25. September 1919 stimmte Zetkin gegen die Annahme der Verfassung des freien Volksstaates Württemberg.
Von 1920 bis 1933 war sie für die KPD im Reichstag der Weimarer Republik als Abgeordnete vertreten. Ab 1919 gab Clara Zetkin die Zeitschrift Die Kommunistin heraus. Von 1921 bis zu ihrem Tode war sie Präsidentin der Internationalen Arbeiterhilfe . In der KPD war Zetkin bis 1924 Angehörige der Zentrale, und von 1927 bis 1929 des Zentralkomitees der Partei. Des Weiteren war sie von 1921 bis 1933 Mitglied des Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale.
1925 wurde Zetkin außerdem zur Vorsitzenden der Roten Hilfe Deutschlands gewählt.
In der KPD saß Zetkin im Lauf ihrer politischen Tätigkeit, während der die dominierenden innerparteilichen Flügel mehrfach wechselten, oft zwischen den Stühlen, behielt jedoch zeitlebens einen bedeutenden Einfluss in der Partei. Im Allgemeinen wird sie von namhaften Historikern eher dem „rechten“ Flügel der KPD zugeordnet, vor allem, weil sie den ideologischen Vorgaben der Komintern und aus der Sowjetunion teilweise kritisch gegenüberstand.
So lehnte sie 1921 zusammen mit dem damaligen von März 1919 bis Februar 1921 amtierenden innerparteilich umstrittenen KPD-Vorsitzenden Paul Levi (Parteiausschluss Mitte 1921) die vom Komintern-Chef Grigori Jewsejewitsch Sinowjew befürwortete „Offensivstrategie“ als „Putschismus“ ab. Bei der entsprechenden von der KPD mehrheitlich unterstützten Kampagne war eine revolutionär ausgerichtete Arbeiterrevolte, die Märzaktion in der Provinz Sachsen, blutig gescheitert, wobei über hundert Menschen ums Leben gekommen waren. Anders als die Parteivorsitzenden Levi und Ernst Däumig blieb sie jedoch in der KPD und schloss sich nicht der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft an.
Am 21. Januar 1923, kurz nach dem Beginn der Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen infolge der von Deutschland nicht erfolgten Reparationszahlungen laut den Bestimmungen des Versailler Vertrags von 1919, warf Zetkin unter der Überschrift Um das Vaterland der Großbourgeoisie vor, ihr „Verrat“ sei schuld an der krisenhaften Zuspitzung der Situation der Weimarer Republik infolge von Hyperinflation und Reparationen. Mit dem Flugblatt „Zur Befreiung des deutschen Vaterlandes“ rief sie zum Sturz der Regierung und zur Bildung einer Arbeiterregierung auf. Diese nationalistisch anmutenden Töne, die kurzzeitig dazu führten, dass Zetkin von einigen Parteigenossen der Versuch vorgeworfen wurde, die bürgerlichen Parteien mit nationalen Parolen rechts überholen zu wollen, wurden zwei Tage später von der Parteizentrale korrigiert. Darauf rief die KPD zur Solidarität der Proletarier in Deutschland und in Frankreich auf und bekräftigte damit die internationalistische Ausrichtung der KPD.
Im Juni 1923 erregte Zetkin auf der Tagung des Exekutivkomitees der Komintern in Moskau mit ihren Thesen zum Klassencharakter des Faschismus, der im Jahr zuvor in Italien an die Macht gekommen war, Aufsehen. Der bei vielen Marxisten verbreiteten These, Mussolinis Diktatur sei als „bloßer bürgerlicher Terror“ und als Angstreaktion der Kapitalisten auf die Bedrohung durch die Oktoberrevolution zu verstehen, erteilte sie eine scharfe Absage. In Wahrheit habe der Faschismus …
„eine andere Wurzel. Es ist das Stocken, der schleppende Gang der Weltrevolution infolge des Verrats der reformistischen Führer der Arbeiterbewegung. Ein großer Teil der proletarisierten
und von der Proletarisierung bedrohten klein- und mittelbürgerlichen Schichten, der Beamten und bürgerlichen Intellektuellen hatte die Kriegspsychologie mit einer gewissen Sympathie für den reformistischen Sozialismus ersetzt. Sie erhofften vom reformistischen Sozialismus dank der Demokratie eine Weltwende. Diese Erwartungen sind bitter enttäuscht worden. So kam es, dass sie nicht bloß den Glauben an die reformistischen Führer verloren, sondern an den Sozialismus selbst.“
Den Nationalsozialismus bezeichnete sie als „Strafe“ für das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie in der Novemberrevolution.
Im April 1925 polemisierte Zetkin auf einer weiteren Tagung in Moskau gegen die zu der Zeit aktuelle KPD-Führung unter Ruth Fischer und Arkadi Maslow, denen sie „sektiererische Politik“ vorwarf. Damit half sie deren Absetzung vorzubereiten. Nachfolger wurde im Herbst 1925 Ernst Thälmann, den Stalin protegierte.
Zetkin lehnte die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik strikt ab, die sie als „Klassendiktatur der Bourgeoisie“ bezeichnete. Zugleich stand sie jedoch auch der stalinschen Sozialfaschismusthese kritisch gegenüber, die ein Bündnis mit der Sozialdemokratie gegen den Nationalsozialismus verhinderte. Als Alterspräsidentin des Deutschen Reichstages führte sie den Vorsitz auf der konstituierenden Sitzung des Reichstages am 30. August 1932 „in der Hoffnung trotz meiner jetzigen Invalidität das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin den ersten Rätekongreß Sowjetdeutschlands zu eröffnen.“ Trotz des vorausgehenden Wahlerfolgs für die KPD erkannte sie gleichwohl die Gefahr, die von der inzwischen stärksten Fraktion des Reichstags, der NSDAP, ausging, und rief in derselben Rede zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten auf:
„Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit müssen alle fesselnden und trennenden politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten.“
Nach der Machtergreifung durch die NSDAP unter Adolf Hitler und dem Ausschluss der KPD aus dem Reichstag infolge des Reichstagsbrands 1933 ging Clara Zetkin noch einmal, das letzte Mal in ihrem Leben, ins Exil, diesmal in die Sowjetunion, wo sie bereits von 1924 bis 1929 ihren Hauptwohnsitz gehabt hatte. Nach Angaben von Maria Reese, einer KPD-Abgeordneten des Reichstags, die sie dort unter Schwierigkeiten besuchte, lebte sie bereits parteipolitisch isoliert. Sie starb wenig später am 20. Juni 1933 im Alter von fast 76 Jahren. Ihre Urne wurde in der Nekropole an der Kremlmauer in Moskau beigesetzt. Stalin selbst trug die Urne zur Beisetzung.



SECHSTES KAPITEL
Ernst Thälmann

Von 1893 bis 1900 besuchte Thälmann die Volksschule. Rückblickend beschrieb er später Geschichte, Naturgeschichte, Volkskunde, Rechnen, Turnen und Sport als seine Lieblingsfächer. Religion hingegen mochte er nicht. Mitte der 1890er Jahre eröffneten seine Eltern ein Gemüse-, Steinkohlen- und Fuhrwerksgeschäft in Eilbek, einem Stadtteil von Hamburg. In diesem Geschäft musste er nach der Schule aushelfen. Seine Schularbeiten erledigte er am frühen Morgen vor dem Unterrichtsbeginn. Seine Erfahrungen im elterlichen Geschäft beschrieb er später so:
„Beim Einkaufen der Kunden im Geschäft bemerkte ich schon die sozialen Unterschiede im Volksleben. Bei den Arbeiterfrauen Elend, Not und teilweise Hunger bei ihren Kindern und geringe Einkäufe, bei den bemittelten Kunden größere Einkäufe.“
Trotz dieser Belastung war Thälmann ein guter Schüler, dem das Lernen viel Freude bereitete. Sein Wunsch, Lehrer zu werden oder ein Handwerk zu erlernen, erfüllte sich nicht, da seine Eltern ihm die Finanzierung verweigerten. Er musste daher weiter im Kleinbetrieb seines Vaters arbeiten, was ihm, nach eigenen Aussagen, großen Kummer bereitete. Durch das frühzeitige „Schuften“ im elterlichen Betrieb kam es zu vielen Auseinandersetzungen mit seinen Eltern. Thälmann wollte für seine Arbeit einen richtigen Lohn und nicht nur ein Taschengeld. Darum suchte er sich eine Arbeit als „Ungelernter“ im Hafen. Hier kam Thälmann bereits als Zehnjähriger mit den Hafenarbeitern in Kontakt, als sie vom November 1896 bis Februar 1897 im Hamburger Hafenarbeiterstreik die Arbeit niederlegten. Der Arbeitskampf wurde von allen Beteiligten erbittert geführt. Er selbst schrieb 1936 aus dem Gefängnis an seine Tochter, dass „der große Hafenarbeiterstreik in Hamburg vor dem Kriege der erste sozialpolitische Kampf“ gewesen sei, „der sich für immer in sein Herz“ eingeprägt habe. Der sozialpolitische Inhalt der Gespräche der Hafenarbeiter soll ihn sehr geprägt haben.
Anfang 1902 verließ er im Streit das Elternhaus und kam zunächst in einem Obdachlosenasyl unter, später in einer Kellerwohnung. Ab 1904 fuhr er als Heizer auf dem Frachter AMERIKA zur See, unter anderem in die USA. Hier war er 1910 in der Nähe von New York für kurze Zeit als Landarbeiter tätig. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg betätigte sich Thälmann als konsequenter Streiter für die Interessen der Hamburger Hafenarbeiter. Von 1913 bis 1914 arbeitete er als Kutscher für eine Wäscherei.
Anfang 1915 wurde er zum Kriegsdienst bei der Artillerie eingezogen und kam an die Westfront, an der er bis zum Kriegsende als Kanonier kämpfte. Zweimal kam er nach Verwundungen in Lazarette in Köln und Bayreuth. Er selbst gab an, an folgenden Schlachten und Gefechten teilgenommen zu haben: Schlacht in der Champagne, Schlacht an der Somme, Schlacht an der Aisne, Schlacht von Soissons, Schlacht von Cambrai und Schlacht bei Arras.
Thälmann erhielt im Krieg mehrere Auszeichnungen.
Die Eltern waren parteilos; im Unterschied zum Vater war die Mutter tief religiös. Nach der Geburt ihres Sohnes Ernst übernahmen die Eltern eine Kellerwirtschaft in der Nähe des Hamburger Hafens. Im März 1892 wurden die Eltern Thälmanns wegen Hehlerei zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, weil sie entwendete Waren gekauft oder für Schulden in Zahlung genommen hatten. Thälmann und seine jüngere Schwester wurden getrennt und in unterschiedliche Familien zur Pflege gegeben. Die Eltern wurden jedoch vorzeitig aus der Haft entlassen. Die Straftat seiner Eltern wurde noch 36 Jahre später im Wahlkampf gegen Ernst Thälmann verwendet. Den politischen Gegnern kam es gelegen, dass schon der Vater ein Zuchthäusler gewesen war.
Wenige Tage vor Beginn seines Kriegsdienstes heiratete er am 13. Januar 1915 Rosa Koch. Aus dieser Ehe ging die Tochter Irma Thälmann hervor. Irma war nicht die einzige Nachkommin ihres Vaters.
Thälmann wurde am 15. Mai 1903 Mitglied der SPD. Am 1. Februar 1904 trat er dem Zentralverband der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter Deutschlands bei, in dem er zum Vorsitzenden der Abteilung Fuhrleute aufstieg. 1913 unterstützte er eine Forderung von Rosa Luxemburg nach einem Massenstreik als Aktionsmittel der SPD zur Durchsetzung politischer Forderungen. Im Oktober 1918 desertierte Thälmann gemeinsam mit vier befreundeten Soldaten, indem er aus dem Heimaturlaub nicht mehr an die Front zurückkehrte, und trat Ende 1918 der USPD bei.
In Hamburg beteiligte er sich am Aufbau des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates. Ab März 1919 war er Vorsitzender der USPD in Hamburg und Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Gleichzeitig arbeitete er als Notstandsarbeiter im Hamburger Stadtpark, dann fand er eine gut bezahlte Stelle beim Arbeitsamt. Hier stieg er bis zum Inspektor auf. Ende November 1920 schloss sich der mitgliederstarke linke Flügel der USPD der Kommunistischen Internationale (Komintern) an und vereinigte sich damit mit deren deutscher Sektion, der KPD. Thälmann war der wichtigste Befürworter dieser Vereinigung in Hamburg. Auf sein Betreiben hin traten 98 Prozent der Mitglieder der Hamburger USPD der KPD bei.
Im Dezember wurde er in den Zentralausschuss der KPD gewählt. Am 29. März 1921 wurde er wegen seiner politischen Tätigkeit vom Dienst im Arbeitsamt fristlos entlassen, nachdem er unerlaubt seinem Arbeitsplatz ferngeblieben war. Er war einem Aufruf der KPD gefolgt, sich der März-Aktion anzuschließen. Im Sommer des Jahres 1921 fuhr Thälmann als KPD-Vertreter zum III. Kongress der Komintern nach Moskau und lernte dort Lenin kennen. Am 17. Juni 1922 wurde ein rechtsradikales Attentat auf seine Wohnung verübt, um Thälmann zu ermorden.
Thälmann war Teilnehmer und einer der Organisatoren des Hamburger Aufstandes vom 23. bis 25. Oktober 1923. Der Aufstand scheiterte, und Thälmann musste für eine Weile untertauchen. Später urteilte er in der Berliner Ausgabe des Parteiorgans Die Rote Fahne:
„Unsere Partei als Ganzes war noch viel zu unreif, um diese Fehler der Führung zu verhindern. So scheiterte im Herbst 1923 die Revolution am Fehlen einer ihrer wichtigsten Voraussetzungen: dem Bestehen einer bolschewistischen Partei.“
Das Scheitern des Aufstandes wurde vor allem den ehemaligen KPD-Vorsitzenden und „Rechtsabweichlern“ Heinrich Brandler und August Thalheimer vorgeworfen. Die fehlende Bolschewisierung sei schuld an der Niederlage gewesen. Zu einem ähnlichen Schluss kam Georgi Dimitrow nach dem gescheiterten „Antifaschistischen Septemberaufstand“ 1923 in Bulgarien.
Ab Februar 1924 war er stellvertretender Vorsitzender und ab Mai Reichstagsabgeordneter der KPD. Unter seiner Führung lehnte die Partei die Kritik Rosa Luxemburgs am Leninismus als Luxemburgismus ab, was sich in der unkritischen Solidarität mit Stalin bemerkbar machte. Die Entwicklung der bolschewistischen Partei in der Sowjetunion, die sich mehr auf Stalin und seine Interpretation des Kommunismus konzentrierte, machte sich auch unter ihm in der KPD bemerkbar. Den Posten im Reichstag hatte Thälmann bis zum Ende der Weimarer Republik inne. Im Sommer 1924 wurde er auf dem V. Kongress der Komintern in ihr Exekutivkomitee und kurze Zeit später ins Präsidium gewählt. Am 1. Februar 1925 wurde er Vorsitzender des Roten Frontkämpferbundes und am 1. September des Jahres Vorsitzender der KPD, als Nachfolger von Ruth Fischer, die kurze Zeit später als „ultralinke Abweichlerin“ aus der KPD ausgeschlossen wurde. Thälmann kandidierte bei der Reichspräsidentenwahl 1925 auch für das Amt des Reichspräsidenten. Obwohl er im ersten Wahlgang nur sieben Prozent der Stimmen bekommen hatte, hielt er seine Kandidatur auch für den zweiten Wahlgang aufrecht. In diesem Zusammenhang wurde Thälmann vorgeworfen, dass sein Wahlergebnis von 6,4 Prozent dem Kandidaten der bürgerlichen Partei, Wilhelm Marx (45,3 Prozent), fehlten und den Sieg des Monarchisten Paul von Hindenburg mit 48,3 Prozent ermöglichten. Im Oktober 1926 unterstützte Thälmann in Hamburg den dortigen Hafenarbeiterstreik. Er sah dies als Ausdruck der Solidarität mit einem englischen Bergarbeiterstreik, der seit dem 1. Mai anhielt und sich positiv auf die Konjunktur der Unternehmen im Hamburger Hafen auswirkte. Thälmanns Absicht war, dieses „Streikbrechergeschäft“ von Hamburg aus zu unterbinden. Am 22. März 1927 beteiligte sich Ernst Thälmann an einer Demonstration in Berlin, wo er durch einen streifenden Säbelhieb über dem rechten Auge verletzt wurde. 1928 fuhr Thälmann nach dem VI. Kongress der Komintern in Moskau nach Leningrad, wo er zum Ehrenmitglied der Besatzung des Kreuzers Aurora ernannt wurde.
Die Komintern setzte Thälmann am 6. Oktober nach innerparteilichen Streitigkeiten auf eine Intervention Stalins hin wieder in seine Parteifunktionen ein. Stalin verurteilte die Fraktionsbildung innerhalb der KPD, die Lenin schon in seinem Werk Was tun? kritisiert hatte und die bei den Mitgliedsparteien der Komintern verboten war, obgleich die Broschüre sich auf die besondere Rolle der Parteien im damaligen zaristischen System konzentrierte, da eine legale Parteiarbeit unmöglich erschien.
In den nachfolgenden Wochen wurde in den KPD-Bezirken in Sitzungen der Bezirksleitungen und Parteiarbeiterkonferenzen die Resolution der Komintern diskutiert und zur Abstimmung gestellt. Die parteiinterne Abstimmung ergab eine dominierende Majorität in der Partei.
Auf dem 12. Parteitag der KPD vom 9. bis 15. Juni 1929 in Berlin-Wedding ging Thälmann angesichts der Ereignisse des Blutmai, der sich dort zuvor zugetragen hatte, auf deutlichen Konfrontationskurs zur SPD. Neben innenpolitischem Engagement setzte er sich auch für außenpolitische und nationale Belange ein, insbesondere kritisierte er die Nationalsozialisten, die nicht für die Anträge der KPD stimmten, die einen Austritt aus dem Völkerbund und eine Beseitigung der Reparationslasten forderten. So schrieb er in einem Brief in der Neuen Deutschen Bauernzeitung Nr. 4 von 1931: „Die nationalsozialistischen und deutschnationalen Betrüger versprachen euch Kampf zur Zerreißung des Youngplanes, Beseitigung der Reparationslasten, Austritt aus dem Völkerbund, aber sie wagten nicht einmal, im Reichstag für den kommunistischen Antrag auf Einstellung der Reparationszahlungen, Austritt aus dem Völkerbund zu stimmen.“ In dem Brief betont er auch seine nationalen Absichten mit „Vorwärts zur nationalen und sozialen Befreiung!“ Am 13. März 1932 kandidierte er neben Adolf Hitler und Theodor Duesterberg für das Amt des Reichspräsidenten gegen Hindenburg. Wahlspruch der KPD war: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Gegen den stärker werdenden Nationalsozialismus propagierte er kurze Zeit später eine „Antifaschistische Aktion“ als „Einheitsfront von unten“, also unter Ausschluss der SPD-Führung. Dieses Vorgehen entsprach der Sozialfaschismusthese der Komintern. Die Zerschlagung der SPD blieb ein zentrales Ziel der KPD. Die Antifaschistische Aktion diente auch dazu, deren Führer als Verräter der Arbeiterklasse zu „entlarven“. Nach der Reichstagswahl im November 1932, bei der die NSDAP eine empfindliche Stimmeneinbuße verzeichnete, schienen die Nationalsozialisten auf einem absteigenden Ast. Thälmann verschärfte den Kampf der KPD gegen die Sozialdemokratie im Gegenzug abermals.
Als der NSDAP am 30. Januar 1933 die Macht übertragen wurde, schlug Thälmann der SPD einen Generalstreik vor, um Hitler zu stürzen, doch dazu kam es nicht mehr. Am 7. Februar des Jahres fand im Sporthaus Ziegenhals bei Königs Wusterhausen eine vom ZK einberufene Tagung der politischen Sekretäre, ZK-Instrukteure und Abteilungsleiter der KPD statt. Auf dem von Herbert Wehner vorbereiteten Treffen sprach Thälmann zum letzten Mal vor leitenden KPD-Funktionären zu der am 5. März 1933 bevorstehenden Reichstagswahl und bekräftigte die Notwendigkeit eines gewaltsamen Sturzes Hitlers durch das Zusammengehen aller linken und liberalen Parteien zu einer Volksfront.
Am Nachmittag des 3. März 1933 wurde Thälmann festgenommen. Dem war eine gezielte Denunziation vorausgegangen. In den Tagen zuvor hatten allerdings vier weitere Personen ihr Wissen über Thälmann an die Polizei weitergegeben. Die Unterkunftsmöglichkeit in der Lützower Straße hatte Thälmann schon seit einigen Jahren gelegentlich und nun wieder seit Januar 1933 genutzt; sie zählte zwar nicht zu den sechs illegalen Quartieren, die der Apparat für Thälmann vorbereitet hatte, galt aber nicht als polizeibekannt. Thälmann hatte am 27. Februar eine Sitzung des Politbüros in einem Lokal in der Lichtenberger Gudrunstraße geleitet und war bei seiner Rückkehr über den Brand des Reichstages und die schlagartig einsetzenden Massenverhaftungen kommunistischer Funktionäre informiert worden. In den nächsten Tagen verließ er die Wohnung nicht mehr und stand nur noch über Mittelsmänner mit der restlichen Parteiführung in Verbindung. Für den 3. März plante Thälmann den Wechsel in eines der vorbereiteten illegalen Quartiere, ein Forsthaus bei Wendisch Buchholz. Beim Packen der Koffer wurde er von der Polizei überrascht. Thälmanns Festnahme war rechtswidrig, da seine nach Artikel 40a der Reichsverfassung als Mitglied des Ausschusses zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gewährleistete Immunität auch durch die Reichstagsbrandverordnung nicht aufgehoben worden war. Erst am 6. März stellte ein Berliner Staatsanwalt „im Interesse der öffentlichen Sicherheit“ einen – formell ebenfalls rechtswidrigen – Haftbefehl aus, der dann einfach rückdatiert wurde.
Einige Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der die KPD stark verunsichernden Festnahme Thälmanns waren nach 1933 bereits Gegenstand von parteiinternen Untersuchungen. Zu diesen Auffälligkeiten zählte etwa, dass Thälmann trotz der offenen Verfolgung der Partei wochenlang ein- und dieselbe, für eine derartige Situation nicht vorgesehene Wohnung genutzt hatte, vor allem aber der erstaunliche Umstand, dass weder das Gebäude noch die Wohnung selbst von Angehörigen des Parteiselbstschutzes gesichert worden war. Dadurch liefen nach einigen Stunden auch noch Erich Birkenhauer, Thälmanns politischer Sekretär, und Alfred Kattner, der persönliche Kurier des Parteichefs, in die Arme der Polizei. Bei den KPD-Ermittlungen geriet insbesondere Hans Kippenberger ins Zwielicht, der als Leiter des Apparats die Verantwortung für die Sicherheit des Parteichefs trug und mit Blick auf die Ereignisse des 3. März auch ausdrücklich übernahm („eine Katastrophe und eine Schande vor der ganzen Internationale“). In den folgenden Jahren kam es dennoch wiederholt zu Vertuschungsversuchen und gegenseitigen Verdächtigungen der mittel- und unmittelbar beteiligten Personen, die noch durch gezielte Desinformation und vor allem durch weitere Verhaftungserfolge der Gestapo angeheizt wurden. Dieser war es gelungen, Kattner in der Haft „umzudrehen“ und mit dessen Hilfe am 9. November 1933 den Thälmann-Nachfolger John Schehr sowie am 18. Dezember auch Hermann Dünow, der Kippenberger abgelöst hatte, festzunehmen. Kattner, dem von der Gestapo obendrein eine tragende Rolle im geplanten Prozess gegen Thälmann zugedacht worden war, wurde am 1. Februar 1934 in Nowawes von Hans Schwarz, einem Mitarbeiter des Apparats, erschossen. Birkenhauer, dem Thälmann die Schuld an der Verzögerung seines Quartierwechsels und damit an seiner Festnahme gegeben hatte, und Kippenberger wurden im sowjetischen Exil hingerichtet, Hirsch kam in sowjetischer Haft ums Leben.
Die nationalsozialistische Justiz plante zunächst, Thälmann einen Hochverrats-Prozess zu machen. Hierfür sammelte sie intensiv belastendes Material, das die behauptete „Putschabsicht“ der KPD beweisen sollte. Ende Mai 1933 wurde Thälmanns „Schutzhaft“ aufgehoben und eine formelle Untersuchungshaft angeordnet. In diesem Zusammenhang wurde er vom Polizeipräsidium am Alexanderplatz in die Untersuchungshaftanstalt Moabit verlegt. Dieser Ortswechsel durchkreuzte den ersten einer Reihe von unterschiedlich konkreten Plänen, Thälmann zu befreien.
Thälmann wurde 1933 und 1934 mehrfach von der Gestapo in deren Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße verhört und dabei auch misshandelt. Bei einem Verhör am 8. Januar schlug man ihm vier Zähne aus, anschließend traktierte ihn ein Vernehmer mit einer Nilpferdpeitsche. Am 19. Januar suchte Hermann Göring den zerschundenen Thälmann auf und ordnete seine Rückverlegung in das Untersuchungsgefängnis Moabit an. Die in dieser Phase entstandenen Verhörprotokolle wurden bis heute nicht aufgefunden und gelten als verloren. Thälmann blieb unterdessen lange ohne Rechtsbeistand; der jüdische Anwalt Friedrich Roetter, der sich seiner angenommen hatte, wurde nach kurzer Zeit aus der Anwaltschaft ausgeschlossen und selbst in Haft genommen. 1934 übernahmen die Rechtsanwälte Fritz Ludwig (ein NSDAP-Mitglied) und Helmut R. Külz die Verteidigung Thälmanns. Vor allem Ludwig, der für ihn Kassiber aus der Zelle und Zeitungen und Bücher in die Zelle schmuggelte sowie die als Geheime Reichssache deklarierte Anklageschrift an Unterstützer im Ausland weiterleitete, vertraute Thälmann sehr. Über die Anwälte – daneben auch über Rosa Thälmann – lief ein Großteil der verdeckten Kommunikation zwischen Thälmann und der KPD-Führung. Mit Rücksicht auf das Ausland, vor allem aber, weil die Beweisabsicht der Staatsanwaltschaft erkennbar wenig gerichtsfest war und ein mit dem Reichstagsbrandprozess vergleichbares Desaster vermieden werden sollte, einigten sich die beteiligten Behörden im Laufe des Jahres 1935, von einer „justizmäßigen Erledigung“ Thälmanns Abstand zu nehmen. Am 1. November 1935 hob der II. Senat des Volksgerichtshofes die Untersuchungshaft auf, ohne das Verfahren als solches einzustellen, und überstellte Thälmann gleichzeitig als „Schutzhäftling“ an die Gestapo.
1936 erreichte die internationale Protestbewegung gegen die Inhaftierung Thälmanns einen Höhepunkt. Zu seinem 50. Geburtstag am 16. April 1936 bekam er Glückwünsche aus der ganzen Welt, darunter von Maxim Gorki, Heinrich Mann, Martin Andersen Nexö und Romain Rolland. Im selben Jahr begann der Spanische Bürgerkrieg. Die XI. Internationale Brigade und ein ihr untergliedertes Bataillon benannten sich nach Ernst Thälmann.
1937 wurde Thälmann von Berlin in das Gerichtsgefängnis Hannover als „Schutzhäftling“ überführt. Thälmann bekam später eine größere Zelle, in der er jetzt Besuch empfangen konnte. Dies war ein Vorwand, um Thälmann in der Zelle abzuhören. Allerdings wurde ihm die Information über das heimliche Abhören zugespielt. Um sich dennoch frei „unterhalten“ zu können, nutzten er und seine Besucher kleine Schreibtafeln und Kreide.
Als Deutschland und die Sowjetunion 1939 ihre Beziehungen verbessert hatten (Hitler-Stalin-Pakt), setzte Stalin sich offenbar nicht für Thälmanns Freilassung ein. Nach der Befreiung seiner Familie durch die Rote Armee erfuhren die Angehörigen sogar, dass Thälmanns Rivale Walter Ulbricht alle ihre Bitten ignoriert und nicht für die Befreiung von Thälmann Position bezogen hatte.
Anfang 1944 schrieb Ernst Thälmann in Bautzen seine heute noch erhaltene Antwort auf die Briefe eines Kerkergenossen.
Die genauen Umstände von Thälmanns Tod sind unklar.



SIEBENTES KAPITEL
Wilhelm Pieck

Pieck war der Sohn eines Kutschers. Er wuchs in Guben auf; sein Elternhaus stand im östlichen Teil der Stadt, dem nach 1945 polnischen Gubin. Nach Abschluss der Volksschule begann er 1890 eine Tischlerlehre und begab sich anschließend auf Wanderschaft. Dort kam der aus römisch-katholischem Hause stammende junge Mann erstmals in Kontakt mit der Arbeiterbewegung.
1894 wurde er Mitglied des gewerkschaftlichen Deutschen Holzarbeiterverbandes und 1895 trat er in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein. Seit 1896 arbeitete er als Tischler in Bremen. In der SPD wurde er 1897 Hauskassierer und 1899 Stadtbezirksvorsitzender. 1900 übernahm er die Funktion des Vorsitzenden der Zahlstelle Bremen des Holzarbeiterverbandes. 1904 wurde er in das Bremer Gewerkschaftskartell delegiert und 1905 als Vertreter der 4. Klasse in die Bremische Bürgerschaft gewählt, der er bis 1910 angehörte. 1905 war er auch Vorsitzender der Pressekommission und 1906 hauptamtlich Erster Sekretär der Bremer SPD. Pieck besuchte 1907/1908 die Reichsparteischule der SPD in Berlin, wo er unter den Einfluss Rosa Luxemburgs kam und 1910 Zweiter Sekretär des zentralen Bildungsausschusses der SPD wurde.
Während des Ersten Weltkrieges nahm er als entschiedener Gegner der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik an Konferenzen linker Sozialdemokraten teil. 1915 wurde er zum Kriegsdienst einberufen. Auch als Soldat agitierte er gegen den Krieg und wurde vor ein Kriegsgericht gestellt. Bevor es zu einem Urteil kommen konnte, floh Pieck 1917 in den Untergrund nach Berlin, und als Mitglied des Spartakusbundes ging er später nach Amsterdam ins Exil.
Nach dem Krieg 1918 kehrte er nach Berlin zurück und wurde Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Er nahm am Spartakusaufstand (5. bis 12. Januar 1919) teil und wurde am 15. Januar mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verhaftet. Luxemburg und Liebknecht wurden ermordet; Pieck wurde freigelassen. Piecks Entkommen hatte Verdächtigungen zur Folge, die 1929 den KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann veranlassten, Pieck vor ein Ehrengericht der Partei zu stellen. Die KPD gab die Entscheidung nicht bekannt. Das Gericht hatte unter dem Vorsitz Hans Kippenbergers getagt, der 1937 in Moskau nach einem Geheimprozess hingerichtet wurde. Viel später behauptete der Offizier Waldemar Pabst, der seinen Soldaten den Befehl zur Ermordung von Liebknecht und Luxemburg gegeben hatte, er habe Pieck freigelassen, weil er ihn ausführlich über militärische Pläne sowie Verstecke führender Mitglieder der KPD informiert hatte.
1921 wählte ihn die KPD ins Exekutiv-Komitee der Kommunistischen Internationale; so lernte er Lenin kennen. Zur gleichen Zeit wurde er als Nachrücker von Adolph Hoffmann Abgeordneter des Preußischen Landtags, dessen Mitglied er bis zu seiner Wahl in den Reichstag 1928 blieb.
1922 war er Mitbegründer der Internationalen Roten Hilfe und wurde 1925 Vorsitzender der Roten Hilfe Deutschlands. Seine internationale Tätigkeit brachte ihm die Wahl ins Präsidium des Exekutiv-Komitees der Kommunistischen Internationale 1931.
Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers im Januar 1933 und der einsetzenden Verfolgung deutscher Kommunisten nahm Pieck am 7. Februar 1933 an der Funktionärstagung der KPD im Sporthaus Ziegenhals bei Berlin teil. Am 23. Februar 1933 trat Pieck zur Vorbereitung der Märzwahlen auf der letzten Großkundgebung der KPD im Berliner Sportpalast als Hauptredner auf. Im Mai 1933 musste er nach Paris ins Exil gehen. Im August 1933 stand Piecks Name auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs.
Die KPD war nun nur noch im Untergrund oder aus dem Ausland heraus tätig. Nach der Ermordung von John Schehr im Februar 1934 wurde Pieck als dessen Stellvertreter mit dem Parteivorsitz beauftragt. 1935 wurde Pieck auf der Brüsseler Konferenz der KPD zum Parteivorsitzenden für die Dauer der Inhaftierung Thälmanns gewählt und verlegte sein Exil nach Moskau, wo er unter anderem für Radio Moskau arbeitete. Er überlebte den Großen Terror in den 1930er Jahren, dem ein großer Teil der nach Moskau geflüchteten deutschen Kommunisten zum Opfer fiel. 1943 gehörte er zu den Initiatoren des Nationalkomitees Freies Deutschland.
Nachdem Pieck gemeinsam mit Angehörigen der Gruppe Ulbricht und anderer KPD-Kader von Stalin Instruktionen erhalten hatte, kehrte er am 1. Juli 1945 nach Berlin zurück. Es war sein Auftrag, die Durchsetzung der hegemonialen Macht der Kommunisten bei der Errichtung einer staatlichen Struktur in der Sowjetischen Besatzungszone zu bewirken. Zunächst forcierte er den Prozess der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED (Sozialistischen Einheitspartei).
Im April 1946 wurde er gemeinsam mit Otto Grotewohl (SPD) Vorsitzender der SED und nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Oktober 1949 deren erster und einziger Präsident; er blieb dies bis zu seinem Tode 1960. Der eigentliche Machthaber der DDR war jedoch bereits Walter Ulbricht als Generalsekretär und Erster Sekretär des ZK der SED. Nach Piecks Tod wurde der Staatsrat der DDR als Nachfolgeorgan des Amtes des Präsidenten geschaffen.



ACHTES KAPITEL
Walter Ulbricht

Als erstes Kind des gelernten Schneiders Ernst August Ulbricht und dessen Ehefrau Pauline Ida wurde Walter Ulbricht 1893 in Leipzig geboren. Ulbrichts Elternhaus war aktiv sozialdemokratisch geprägt. Nach seiner Volksschulzeit begann er 1907 eine Lehre als Möbeltischler, die er 1911 erfolgreich abschloss.
Bereits 1908 trat Ulbricht dem Arbeiterjugendbildungsverein Alt-Leipzig bei, 1912 wurde er Mitglied der SPD. Als Jungfunktionär hielt Ulbricht Vorträge vor Jugendgruppen der SPD und übernahm ehrenamtliche Tätigkeiten beim Arbeiterbildungsinstitut sowie in der Leipziger Arbeiterjugendbewegung. Im Jahr 1913 wurde er zum engsten SPD-Funktionärskreis, der so genannten „Korpora“, zugelassen.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges verfasste und veröffentlichte Walter Ulbricht als Mitglied des linken Flügels der SPD unter Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zahlreiche Flugblätter mit Aufrufen zur Beendigung des Krieges. Auf einer Funktionärsversammlung der SPD „Groß-Leipzig“ im Dezember 1914 forderte Ulbricht, die Reichstagsabgeordneten der SPD sollten künftig gegen weitere Kriegskredite stimmen. Er wurde für seine Haltung persönlich angegriffen, der Antrag wurde abgelehnt.
Von 1915 bis 1918 diente Ulbricht als Soldat an der Ostfront und auf dem Balkan in Serbien und Mazedonien als Gefreiter; 1917/18 war er wegen Malaria im Lazarett in Skopje. Im Jahr 1917 trat er der USPD bei, einer Abspaltung der SPD. Obwohl er als Soldat nicht agitatorisch aktiv wurde, galt er den Militärbehörden als politisch verdächtig. Bei seiner Verlegung an die Westfront desertierte Ulbricht 1918 auf dem Transport, wurde wieder aufgegriffen und zu zwei Monaten Haft verurteilt. Kurze Zeit nach seiner Entlassung und erneuten Verwendung als Soldat in Brüssel wurde er wegen des Besitzes von gegen den Krieg gerichteten Flugblättern in Belgien erneut festgesetzt. Einem weiteren Militärgerichtsverfahren konnte Ulbricht sich bei Ausbruch der Novemberrevolution durch Flucht und Desertion entziehen.
Während der Novemberrevolution 1918 war Ulbricht Mitglied des Soldatenrates des XIX. Armeekorps in Leipzig. Seit 1920 war er Mitglied der KPD, stieg jedoch als Parteifunktionär rasch auf. So organisierte er den Parteibezirk Groß-Thüringen neu. Ende 1920 hielt er sich anlässlich des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (Komintern), für die er ab 1924 tätig war, erstmals in Moskau und Petrograd auf. Ulbricht vertrat das Organisationsprinzip der Betriebszellen im Gegensatz zur bisher üblichen Gliederung nach Wohnortgruppen. Von 1926 bis 1929 war er sächsischer Landtagsabgeordneter und ab 1928 für den Wahlkreis Westfalen-Süd auch Mitglied des Reichstags und kurz darauf auch im Zentralkomitee (ZK) seiner Partei und ab 1929 Politischer Leiter des KPD-Bezirks Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark. In dieser Funktion war er maßgeblicher Befürworter der Planung der Morde auf dem Berliner Bülowplatz im August 1931. Zwischenzeitlich war Ulbricht im Jahr 1928 Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) geworden. Im November 1932 war er einer der Mitorganisatoren des wilden Streiks bei der Berliner Verkehrsgesellschaft, hinter dem neben der KPD auch die NSDAP stand. Bei einer Massenkundgebung trat Ulbricht gemeinsam mit dem NSDAP-Gauleiter von Berlin Joseph Goebbels auf.
Nach der Machtübernahme der NSDAP im Januar 1933 nahm Ulbricht am 7. Februar 1933 an der geheimen Funktionärstagung der KPD im Sporthaus Ziegenhals bei Berlin teil. Er führte die Arbeit der KPD in der Illegalität weiter und wurde daher steckbrieflich gesucht, weswegen er nach Paris emigrierte.
Nach seinem Aufenthalt in Paris und Prag zog er im Jahr 1938 nach Moskau. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verteidigte Ulbricht den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mit dem Argument, das Hitlerregime werde unter anderem wegen der Stärke der Roten Armee nun im Gegensatz zu England notgedrungen einen friedlichen Weg einschlagen. „Die deutsche Regierung erklärte sich zu friedlichen Beziehungen zur Sowjetunion bereit, während der englisch-französische Kriegsblock den Krieg gegen die sozialistische Sowjetunion will“, so Ulbricht. Im Jahr 1940 verurteilte Walter Ulbricht in der von ihm herausgegebenen Stockholmer Zeitschrift Welt die Vorschläge anderer Widerständler, England im Krieg gegen Deutschland zu unterstützen. Er schrieb, dass fortschrittliche Kräfte nicht „den Kampf gegen den Terror und gegen die Reaktion in Deutschland führen“, nur um stattdessen dem „englischen Imperialismus“ zum Sieg zu verhelfen.
Unmittelbar nach Deutschlands Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 setzte die Kominternführung Ulbricht beim deutschsprachigen Programm von Radio Moskau ein. Im Schützengraben forderte er deutsche Soldaten in der Schlacht von Stalingrad über Megaphon zur Kapitulation und zum Überlaufen auf. In sowjetischen Kriegsgefangenenlagern versuchte er, deutsche Soldaten für den Aufbau einer deutschen Nachkriegsordnung im Sinne der KPD zu gewinnen. Er war 1943 Mitbegründer des „Nationalkomitees Freies Deutschland“. Nach einer Idee der politischen Abteilung der Roten Armee sollten kommunistische Emigranten und deutsche Kriegsgefangene im Sinne der Volksfronttaktik zusammenarbeiten.
Am 30. April 1945 kehrte Ulbricht als Chef der nach ihm benannten Gruppe Ulbricht in das zerstörte Deutschland zurück und organisierte in der Sowjetischen Besatzungszone die Neugründung der KPD und 1946 den Vereinigungsparteitag von KPD und SPD zur SED in Berlin. Von 1946 bis 1951 war Ulbricht Abgeordneter des Landtages der Provinz Sachsen. Im Landtag gehörte er der Fraktion der SED an und war Mitglied des Ausschusses für Recht und Verfassung und des Wirtschaftsausschusses.
Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurde er stellvertretender Vorsitzender im Ministerrat unter dem Vorsitzenden Otto Grotewohl, übertraf jedoch diesen und Staatspräsident Wilhelm Pieck an Macht. Nach dem III. Parteitag der SED wurde Ulbricht am 25. Juli 1950 vom ZK zum Generalsekretär des ZK der SED gewählt, einer Position, die 1953 in Erster Sekretär des ZK der SED umbenannt wurde.
Nachdem durch die strikte Ablehnung der Stalin-Noten und den Deutschlandvertrag deutlich geworden war, dass sich die westlichen Regierungen nicht davon abhalten ließen, den westdeutschen demokratischen Teilstaat aufzubauen, setzte Ulbricht im Juli 1952 den Aufbau des Sozialismus nach sowjetischem Muster in der DDR durch. Kurz zuvor hatte er sich diesen Kurs von Josef Stalin, dem eigentlichen Machthaber in der DDR, genehmigen lassen. Auf der II. Parteikonferenz der SED – Parteitage wurden erst wieder ab 1954 durchgeführt – erklärte Ulbricht:
„Die politischen und die ökonomischen Bedingungen der Arbeiterklasse sowie das Bewußtsein der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Werktätigen sind so weit entwickelt, daß der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe in der Deutschen Demokratischen Republik geworden ist.“
In der Folge wurde die Abriegelung der innerdeutschen Grenze forciert, die bereits Ende Mai 1952 vom Ministerrat beschlossen worden war. Auch die Kasernierte Volkspolizei, die erste Armee der DDR, war kurz vorher gegründet worden. Sie wurde später (1956) zur Nationalen Volksarmee ausgebaut. Das 1950 eingerichtete Ministerium für Staatssicherheit wurde gleichfalls ausgebaut und verschärfte seine Tätigkeit gegen echte und vermeintliche Staatsfeinde, insbesondere gegen die Jungen Gemeinden der Christen; die Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat wurde eingestellt. Die Länder wurden abgeschafft, seitdem wurde die DDR zentralistisch regiert. Die Verstaatlichung von Wirtschaftsbetrieben wurde vorangetrieben, wobei nach sowjetischem Vorbild ein besonderes Gewicht auf den Aufbau einer Schwerindustrie gelegt wurde. Diesem Ziel wurde der Ausbau der Konsumgüterindustrie nachgeordnet. Auch begann die Kollektivierung der Landwirtschaft, bei der Ulbricht indes auf Schwierigkeiten stieß: Erst 1960 waren alle Landwirte einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft beigetreten.
Nach dem Tod Josef Stalins am 5. März 1953 war die Position Ulbrichts zeitweise stark gefährdet, da er als Archetyp eines Stalinisten galt. Auch wurde ihm der um ihn betriebene Personenkult vorgeworfen, insbesondere im Zusammenhang mit seinem 60. Geburtstag am 30. Juni 1953, für den aufwändige Jubelfeiern geplant waren, auf die Ulbricht dann verzichtete. Der vor dem Geburtstag (unter Beteiligung namhafter Kulturschaffender) hergestellte Film Baumeister des Sozialismus – Walter Ulbricht blieb bis zum Ende der DDR unter Verschluss.
Paradoxerweise rettete ihn der Volksaufstand des 17. Juni 1953, der durch den von Ulbricht befohlenen forcierten Aufbau des Sozialismus mit ausgelöst worden war. Die Sowjetunion hätte seine geplante Absetzung als Schwächezeichen verstanden, jedoch wurde eine schon vorgestellte Briefmarke mit Ulbrichts Porträt für das Standardporto eines Briefes der DDR nicht ausgegeben. Die mangelnde Rückendeckung seiner innerparteilichen Rivalen seitens der Besatzungsmacht stärkte seine Position, so dass er den politischen Machtkampf innerhalb der SED für sich entscheiden konnte. 1960 wurde er Vorsitzender zweier neu geschaffener Gremien, des Nationalen Verteidigungsrates und des Staatsrates, der nach dem Tode Wilhelm Piecks das Amt des Präsidenten der DDR ersetzte. Ulbricht war damit Staatsoberhaupt der DDR und hatte die entscheidenden Herrschaftsfunktionen über Staat und Partei auf seine Person vereint. Innerparteiliche Kritiker wurden ab 1958 als „Fraktionsbildner“ diffamiert und politisch ausgeschaltet. Ulbricht hatte die Machtfülle eines Diktators besessen.
Der Bau der Berliner Mauer durch die DDR 1961 fand unter Ulbrichts politischer Verantwortung statt, nachdem er als Ergebnis harter Verhandlungen die Moskauer Staatsführung von der Notwendigkeit ihres Baues aus Sicht der DDR-Regierung (wegen der damaligen Abwanderung der gut Ausgebildeten und der Elite, des so genannten „Ausblutens“) überzeugt hatte.
Zunächst hatte er sich auf einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 bemüht, derartige Absichten öffentlich zu dementieren, auch indem er auf die Frage einer westdeutschen Journalistin einging.
Frage: „Ich möchte eine Zusatzfrage stellen. Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung einer freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?“
Ulbricht: „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Äh, mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen, und ihre Arbeitskraft dafür voll ausgenutzt wird, voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“
Obwohl nicht speziell nach der Art der Abriegelungsmaßnahmen gefragt wurde, war Ulbricht selbst damit der erste, der den Begriff „Mauer“ diesbezüglich in den Raum stellte. Ob er dies aus einer Unachtsamkeit heraus oder mit Absicht tat, konnte nie abschließend geklärt werden.
Zwei Monate später, am Sonntag, dem 13. August 1961, begannen nachts gegen 1 Uhr Streitkräfte der DDR, die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin sowie der zwischen West-Berlin und der DDR auf ihrer vollen Länge praktisch lückenlos und zur gleichen Zeit mit einem gewaltigen Aufwand an Menschen und Material abzuriegeln und Sperranlagen zu errichten.
Beim Aufbau der DDR forderte Ulbricht auf dem III. Parteitag der SED die Abkehr vom (westlichen, im Bauhaus in Weimar begründeten) Formalismus. Die Architektur habe der Form nach national zu sein. Diese gespaltene Haltung spiegelte sich in der Gründung einer Deutschen Bauakademie und der Zeitschrift Deutsche Architektur, sowie etlichen widersprüchlichen Abbruch- und Baumaßnahmen wider. Aus ideologischen Gründen und vor dem Hintergrund des Aufbaus sozialistischer Stadtzentren wurden während der Herrschaft Walter Ulbrichts in den 1950er und 1960er Jahren zahlreiche wiederaufbaufähige Kriegsruinen bedeutsamer und stadtbildprägender historischer Gebäude abgerissen. So wurden z. B. das Berliner Schloss (1950) und das Potsdamer Stadtschloss (1959) gesprengt. Etwa 60 Kirchenbauten, darunter einige intakte oder wiederaufgebaute, wurden gesprengt oder abgerissen, darunter 17 Kirchen in Ostberlin. Die Ulrichkirche in Magdeburg wurde 1956 gesprengt, die Dresdner Sophienkirche 1963, die Potsdamer Garnisonkirche am 23. Juni 1968 und die intakte 700 Jahre alte Leipziger Universitätskirche am 30. Mai 1968. Dabei kam es nach Bürgerprotesten gegen die Kirchensprengung auch zu Inhaftierungen. Viele der Neubauten wurden während der 1950er Jahre im Stil des Sozialistischen Klassizismus errichtet, zum Beispiel die Stalinallee in Berlin.
Ulbricht sah den Sozialismus als eigenständige längerdauernde Phase und setzte sich damit auch von anderen Ländern ab. Einen in diesem Sinne „nationalen Weg zum Sozialismus“ spiegeln auch die Verwendung von Elementen der früheren Uniform der Wehrmacht bei den NVA-Uniformen, nach preußischen Militärs benannte Orden der NVA wie dem Blücher- und dem Scharnhorst-Orden sowie der später unter Honecker nicht mehr gesungene Text der DDR-Hymne wider.
Nach dem Mauerbau 1961 öffnete sich die DDR zunächst nach innen, insbesondere gegenüber der Jugendkultur in der DDR. Ulbricht beabsichtigte eine möglichst umfassende eigene Jugendkultur der DDR zu schaffen, die weitgehend unabhängig von westlichen Einflüssen sein sollte. Bekannt wurde seine auf das „Yeah, Yeah, Yeah“ der Beatles anspielende Aussage „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“
Prägend für die Neugliederung der DDR war die Ausschaltung und Beseitigung der Selbstverwaltung durch Auflösung der fünf Länder und Neugliederung in 14 Bezirke, zu denen Ost-Berlin als „Hauptstadt der DDR“ hinzukam. Die Ende der 50er Jahre erhöhten Planzielerwartungen, die weiter forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft und die durch Drohungen Chruschtschows verschärfte Berlin-Krise machten die Lage der DDR prekär. Diese wurde durch das bekannteste durch Walter Ulbricht begonnene Bauwerk, die paradoxerweise dem ungeliebten Formalismus verhaftete Berliner Mauer, 1961 wieder stabilisiert.
Ulbricht versuchte seit 1963 mit dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung – später kurz Neues Ökonomisches System – eine größere Effizienz der Wirtschaft zu erreichen. Der gesamtheitliche Plan sollte bestehen bleiben, aber die einzelnen Betriebe sollten größere Entscheidungsmöglichkeiten bekommen. Es ging dabei nicht nur um den Anreiz durch eigene Verantwortung, sondern auch darum, dass konkrete Fragen vor Ort besser entschieden werden können.
Mit der Modernisierung des ökonomischen Systems gingen Reformen im gesellschaftlichen Bereich (etwa durch das Bildungsgesetz von 1965) einher. Die DDR nahm Züge einer „sozialistischen Leistungsgesellschaft“ an, in der nicht mehr nur politische Rechtgläubigkeit, sondern auch fachliche Qualifikationen über die berufliche und damit gesellschaftliche Stellung entscheiden sollte. Zunehmend rückten auch Fachleute in politische Führungspositionen auf. Verfassungsrechtlich wurden die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen 1968 in der zweiten Verfassung der DDR festgeschrieben.
Einer der Interessenschwerpunkte Ulbrichts war die wissenschaftliche Leitung der Wirtschaft und Politik, unter anderem mittels „Kybernetik“, Elementen der Psychologie und Soziologie, aber vor allem stärker auf naturwissenschaftlich-technischer Basis. Grundpfeiler dessen war eine umfassende Computerisierung und der Ausbau der Elektronischen Datenverarbeitung. Das NÖS sah auch die Verbindung der Ökonomie mit der Wissenschaft vor, was in der Praxis hieß, dass mehr und mehr Fachleute die wichtigen Entscheidungen trafen und einzelne Betriebe und Unternehmen eine größere Selbständigkeit erlangten. Im Frühjahr 1972 bestanden noch etwa rund 11.400 mittelständische Betriebe in der DDR, unter ihnen circa 6500 halbstaatliche Betriebe, die insbesondere Konsumgüter und Dienstleistungen anboten, was von vielen Mitgliedern der SED nicht gern gesehen wurde.
Schließlich kam es innerhalb der SED zu größerem Widerstand gegen das NÖS. Der Führer dieser Opposition, die sich der Unterstützung Breschnews erfreute, war Erich Honecker, der wiederum auf die Stimmen zahlreicher Parteimitglieder hoffen konnte und 1972 eine letzte große Verstaatlichungswelle durchsetzte.
Ulbricht ignorierte „Widersprüche im Sozialismus“, etwa bei den real vergleichsweise schlechten Beziehungen der DDR zu den kleineren „Bruderstaaten“. Sein dafür verwendeter Begriff „sozialistische Menschengemeinschaft“ wurde nach seinem Tod schnell fallengelassen. Wichtig und entscheidend für die DDR wie auch die politische Karriere Ulbrichts selbst war das Verhältnis zur Sowjetunion. Mit Hinweis auf die vergleichsweise großen wirtschaftlichen Erfolge propagierte Ulbricht Ende der 60er Jahre das „Modell DDR“ als Vorbild aller entwickelten realsozialistischen Industriegesellschaften und geriet darüber in ideologische Konflikte mit der KPdSU. Der Niederschlagung des Prager Frühlings stand Ulbricht wiederum positiv gegenüber. Dem tschechoslowakischen Botschafter hatte er vorher vorgeworfen, mit ihrer entschiedenen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit würde die tschechoslowakische KP den anderen sozialistischen Staaten in den Rücken fallen:
„Jetzt liefern Sie das Material für den psychologischen Krieg des Imperialismus gegen den Sozialismus. Jeden Tag bekommt die Weltpresse von Ihnen Material für den Kampf gegen das sozialistische Weltsystem. Während in Westdeutschland die Jugendlichen mutig auftreten, vom Imperialismus geschlagen und getötet werden, liefern Sie Material über den 'Terror der Kommunisten'. Das ist zuviel, das ist schlimmer als zu Zeiten Chruschtschows.“
Damit meinte Ulbricht die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und dem damit verbundenen Personenkult, gegen die er selbst sich verwahrte, da er seine Position gefährdet sah. Beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR und der militärischen Zerschlagung der Reformbewegung, die als „Konterrevolution“ oder „Sozialdemokratismus“ denunziert wurde, nahm die Nationale Volksarmee nicht teil, auch wenn die offizielle DDR-Propaganda bis Ende der 1980er Jahre behauptete, sie hätte an der Invasion teilgenommen.
Auf Ulbricht geht der Standpunkt der DDR-Führung zurück, dass es normale diplomatische Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland nur geben könne, wenn beide Staaten die volle Souveränität des jeweils anderen Staates anerkannten (Ulbricht-Doktrin). Dies stand im Gegensatz zur bundesdeutschen Hallstein-Doktrin, der zufolge die Bundesrepublik die Kontakte zu einem Staat abbricht, der die DDR anerkennt.
Ab 1969 kam es zu Streitigkeiten mit Mitgliedern des Politbüro der SED zur weiteren Wirtschafts- und Außenpolitik der DDR. Ulbricht war im Rahmen der Entspannungspolitik von Bundeskanzler Willy Brandt bereit, die Verhandlungen mit der Bundesrepublik über eine völkerrechtliche Anerkennung zurückzustellen. Er erhoffte sich von der neuen Entspannungspolitik der Bundesregierung wirtschaftliche Vorteile für die DDR. Da die Mehrheit im Politbüro nicht dieser Meinung folgte, kam es ab 1970 zur Schwächung seiner Position in der Partei. Offiziell wurde in der DDR bis 1989 behauptet, Ulbricht habe sich den deutschlandpolitischen Entspannungsbemühungen zwischen der neuen sozialliberalen Bundesregierung und der Sowjetunion widersetzt.
Die Unterstützung der sowjetischen Führung unter Leonid Breschnew verlor er aber bereits ab 1967, als er die These aufstellte, die DDR befinde sich auf dem Weg in das „entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus“ und dies stelle eine eigenständige Gesellschaftsform dar. Hierbei wollte er auch mit der KPdSU „gleichziehen“, die behauptete, sie habe in der Sowjetunion den Sozialismus bereits realisiert und befinde sich auf dem Weg zum Kommunismus. Damit stellte Ulbricht einen Monopolanspruch der KPdSU auf deren Auslegung der marxistisch-leninistischen Grundsätze in Frage und beanspruchte für die SED bzw. für die DDR, ein Vorbild für die anderen Ostblockstaaten bei der Verwirklichung des Sozialismus in einem industrialisierten Land zu sein. Dafür wurde er von der sowjetischen Parteiführung und Gesellschaftswissenschaftlern stark kritisiert.
Bei einem Gespräch zwischen Breschnew und Erich Honecker am 28. Juli 1970 in Moskau wurde vereinbart, dass Ulbricht die Macht in der DDR abzugeben habe. Bei der 14. Tagung des SED-Zentralkomitees vom 9. bis 11. Dezember 1970 wurde dann über die Wirtschaftspolitik diskutiert und die akuten Versorgungsprobleme, welche man für die schlechte Stimmung in der Bevölkerung gegenüber der SED verantwortlich machte, allein auf die Politik Ulbrichts geschoben. Zugleich wurden sein Führungsstil und seine Alleingänge in der Deutschlandpolitik kritisiert. Am 21. Januar 1971 schrieben dann 13 (der damals 20) Mitglieder und Kandidaten des Politbüros der SED einen siebenseitigen geheimen Brief an Breschnew. Mitverfasser dieses als „Geheime Verschlusssache“ deklarierten Briefes waren u. a. Willi Stoph, Erich Honecker und Günter Mittag. In diesem stellten sie dar, dass Ulbricht nicht mehr in der Lage sei, die wirtschaftlichen und politischen Realitäten richtig einzuschätzen und mit seiner Haltung gegenüber der Bundesrepublik eine Linie verfolge, die das zwischen der SED und der KPdSU abgesprochene Vorgehen empfindlich störe. Sie schlugen Breschnew vor, die Entmachtung Ulbrichts in der Art vorzunehmen, wie zwischen Honecker und ihm im Juli 1970 besprochen. Am 29. März 1971 reiste Ulbricht letztmals, ohne das zu wissen, an der Spitze einer SED-Delegation zum XXIV. Parteitag der KPdSU nach Moskau. In seiner Grußrede am 31. März 1971 erinnerte er die dortigen Delegierten daran, dass er zu den wenigen Anwesenden zähle, die Lenin noch persönlich gekannt hätten, und stellte die DDR als Modell für die industriell entwickelten sozialistischen Länder dar. Angesichts der bekannten Probleme in der DDR wurden seine Äußerungen jedoch von den Zuhörern in einer Mischung aus Skepsis und Empörung aufgenommen. Bei persönlichen Gesprächen legte Breschnew Ulbricht den Rücktritt nahe; er machte ihm klar, dass Ulbricht mit keiner weiteren Unterstützung durch die Sowjetunion zu rechnen habe und dass auch die Mehrheit des Politbüros der SED gegen ihn stand.
Am 3. Mai 1971 erklärte Ulbricht dann gegenüber dem Zentralkomitee der SED „aus gesundheitlichen Gründen“ seinen Rücktritt von fast allen seinen Ämtern. Wie bereits in den Absprachen mit Breschnew vorgesehen, wurde als Nachfolger der damals 58-jährige Erich Honecker nominiert. Dieser wurde dann auch auf dem VIII. Parteitag der SED (1971 in Ost-Berlin) zum Ersten Sekretär des ZK gewählt. Einzig das relativ einflusslose Amt des Vorsitzenden des Staatsrates behielt Ulbricht bis an sein Lebensende. Außerdem erhielt er das neu geschaffene Ehrenamt des „Vorsitzenden der SED“. Er starb am 1. August 1973 im Gästehaus der Regierung der DDR am Döllnsee, während der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten. Die Eröffnung der Weltfestspiele fand im ehemaligen „Walter-Ulbricht-Stadion“ in Ost-Berlin statt, das wenige Tage zuvor in „Stadion der Weltjugend“ umbenannt worden war. Die beginnende Tilgung seines Namens aus der DDR-Geschichtsschreibung und dem öffentlichen Leben durch Umbenennungen von Betrieben, Institutionen und Einrichtungen hatte Ulbricht schon 1972 mit der Entfernung seines Namens aus der Bezeichnung der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam erlebt.
Ulbricht erhielt ein Staatsbegräbnis: Der Staatsakt am frühen Nachmittag des 7. August 1973 fand im Festsaal des Staatsratsgebäudes statt, und Honecker hielt die Gedenkansprache. Auf einer Lafette wurde der Sarg Ulbrichts dann am späten Nachmittag durch ein Ehrenspalier der Nationalen Volksarmee in das Krematorium Berlin-Baumschulenweg überführt. Soldaten hatte entlang der Straße Aufstellung genommen, auch Werktätige waren aus Betrieben an die Strecke beordert worden. Am 17. September wurde Ulbrichts Urne im Rondell der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt.



NEUNTES KAPITEL
Erich Honecker

Sein Vater Wilhelm Honecker war Bergarbeiter und heiratete 1905 Caroline Catharina Weidenhof. Zusammen hatten sie sechs Kinder.
Erich Honecker wurde in Neunkirchen (Saar) geboren; seine Familie zog wenig später in den Neunkircher Stadtteil Wiebelskirchen. Er besuchte die evangelische Grundschule. 1922 wurde er noch vor seinem zehnten Geburtstag in der fünfzig Mitglieder zählenden kommunistischen Kindergruppe von Wiebelskirchen untergebracht, die auch seine Geschwister besuchten und der später in Jung-Spartakus-Bund umbenannt wurde. Nach der dritten Klasse wechselte er in die evangelische Hauptschule, die er 1926 nach der achten Klasse verließ, womit automatisch seine Mitgliedschaft im Jung-Spartakus-Bund endete.
Als Bergmannbauernfamilie nahmen die in ihrem Revier des Saarlandes familiär eng vernetzten Honeckers, die als Hausbesitzer und Vermieter, mit Obst- und Gemüsegarten und einer Agrarparzelle zu den wohlhabenderen Bergleuten in Wiebelskirchen zählten, eine materiell vergleichsweise gut gesicherte Position ein, die sich, konträr zu den späteren Darstellungen Erich Honeckers, von der Not der im Deutschen Reich verelendeten Arbeitermassen stark unterschied: Sie konnten ihren kleinen Besitz von Generation zu Generation weitergeben, besaßen hinter dem Haus Stallungen für eine Kuh und hielten Ziegen, Kaninchen und zeitweise ein oder zwei Schweine. Den Steckrübenwinter 1916/17, der zu einer reichsweiten Hungersnot führte, überstand die Familie Honecker durch ihre bescheidene Landwirtschaft, die die Ernährungslage der Familie während der Kriegsjahre aufbesserte, während der Vater Wilhelm Honecker als Matrose an der Front kaum eingesetzt wurde. Entgegen den Darstellungen Erich Honeckers war sein Vater nicht an der Revolution in Kiel beteiligt, und kehrte in Wahrheit nicht erst Ende 1918, sondern bereits Ende Juli 1917 als sogenannter „Reklamierter“ nach Wiebelskirchen zurück, nachdem die Oberste Heeresleitung den Abzug von 40.000 Bergarbeitern von der Front angeordnet hatte, weil deren ziviler Einsatz unter Tage wegen der zwischenzeitlich dramatischen Brennstoffknappheit wichtiger als ihr Dienst als Soldaten geworden war. Wilhelm Honecker trat auch nicht, wie von seinem Sohn behauptet, schon in Kiel der USPD bei, sondern erst nach seiner Heimkehr ins Saarland, wo die USPD erst Anfang 1918 entstanden war.
Die im Saargebiet paritätisch von SPD- und USPD-Vertretern gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte wurden bereits am 24. November von der ins Saargebiet einmarschierenden französischen Armee aufgelöst. Durch das im Versailler Vertrag integrierte Saarstatut wurde ein völkerrechtlich neues Gebilde geschaffen, das fünfzehn Jahre lang wirtschaftlich in das französische Zoll- und Währungsgebiet eingegliedert wurde, während das Saargebiet politisch von einer vom Völkerbund eingesetzten Regierungskommission beherrscht wurde. Die Familie Honecker behielt die deutsche Staatsbürgerschaft bei, stand aber dem katholischen Milieu fern, dem die Mehrheit der Saarbevölkerung angehörte, und wurde vom sich herausbildenden linksproletarischen Milieu angezogen.
Als Honecker nach der Schulzeit wegen der verschlechterten Wirtschaftslage keine Lehrstelle fand, drängten ihn seine Eltern zu Ostern 1926, eine anderweitige Beschäftigung auf dem ihm von der Kinderlandverschickung her bekannten Hof des Bauern Wilhelm Streich, im hinterpommerschen Neudorf, in der Nähe der Kreisstadt Bublitz, anzunehmen. Honeckers Memoiren zufolge habe er sich dort zwei Jahre lang nur für freies Essen und freie Kleidung aufgehalten, „um in der Landwirtschaft zu arbeiten“. Streich behandelte ihn jedoch fast als seinen künftigen Schwiegersohn, machte ihn zum Jungbauern, überantwortete Honecker infolge einer Kriegsverletzung schließlich die gesamte Feldbestellung und entlohnte ihn mit 20 Reichsmark monatlich. Im Frühjahr 1928 verzichtete Honecker auf die materiellen Verlockungen der in Aussicht gestellten Hofübernahme. Seine Gastfamilie kleidete ihn daraufhin neu ein, stattete ihn mit Geld aus und er kehrte nach Wiebelskirchen zurück. Da er als Landwirtschaftsgehilfe keine Anstellung fand, ließ er sich im Dachdeckergeschäft seines Onkels Ludwig Weidenhof, das dieser im Erdgeschoss seines Elternhauses betrieb, als Dachdeckergehilfe anlernen. Im Anschluss nahm er eine Lehre als Dachdecker beim Wiebelskirchener Dachdeckermeister Müller an.
Am 1. Dezember 1928 trat er dem Kommunistischen Jugendverband Deutschland bei. Der KJVD zählte zu dieser Zeit nur noch 200 Mitglieder in elf Ortsgruppen. In seiner späteren DDR-Kaderakte datierte er das KJVD-Eintrittsdatum auf 1926 zurück, um seine zweijährige Tätigkeit als Jungbauer in Hinterpommern in seiner politischen Kampfbiographie zu vertuschen. Er galt in den konkurrierenden Jugendverbänden der Sozialdemokratie und des Zentrums als „der Wortführer der Kommunisten“. 1929 wurde er in die Bezirksleitung des KJVD-Saar gewählt. Parallel absolvierte er diverse innerparteiliche Schulungen, um sich auf die Übernahme leitender Funktionen im KPD-Jugendverband vorzubereiten. Im Dezember 1929 beteiligte er sich in Dudweiler an einem zweiwöchigen Lehrgang der KJVD-Bezirksschule über marxistische Theorie und praktische Jugendarbeit. In seiner Freizeit widmete sich Honecker seinen Mitgliedschaften im örtlichen Spielmannszug und in der Jugendorganisation des Roten Frontkämpferbundes Roter Jungsturm, der später in Rote Jungfront umbenannt wurde. Im Kommunistischen Jugendverband war er zunächst Kassierer und später Leiter der Wiebelskirchener Ortsgruppe. Honecker schloss sich formell der KPD an, nachdem er bereits in verschiedenen Institutionen des kommunistischen Parteimilieus aktiv war. Das genaue Datum seines Parteieintritts konnte bis heute nicht ermittelt werden. Honecker selbst gab für seine Aufnahme in die KPD nach 1945 erst das Jahr 1930 und ein anderes Mal Herbst 1931 an. Schließlich verlegte er den Parteieintritt auf 1929, um 1979 von der SED für seine fünfzigjährige Parteimitgliedschaft geehrt werden zu können. Im Juli 1930 meldete sich Honecker mit 27 weiteren Auserwählten aus den verschiedenen KJVD-Bezirken beim Parteivorstand der KPD im Berliner Karl-Liebknecht-Haus, um an einem Vorbereitungslehrgang an der Reichsparteischule der KPD in Fichtenau teilzunehmen. In einem symbolischen Aufnahmeakt als „Genosse“, der sich völlig der Herrschaft der kommunistischen Lebenswelt und deren Partei unterwirft, bekam Honecker seinen neuen Parteinamen Fritz Molter zugeteilt, den er auch während der sich anschließenden konspirativen Kaderschulung in Moskau führte.
Seine Dachdeckerlehre brach Honecker nach zwei Jahren ohne Gesellenprüfung ab, weil er vom KJVD im Sommer 1930 zu einem einjährigen Studium an die Internationale Lenin-Schule nach Moskau delegiert wurde, einer vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale errichteten stalinistischen Kaderschmiede, die ihn zu einem von zirka 370 deutschen „Kursanten“ nominierte. Im Sommer 1931 absolvierte er das obligatorische, von der Kommunistischen Jugendinternationale eingerichtete Praktikum des Kurses, aus dem zahlreiche Kaderkräfte kommunistischer Machtapparate in Ostmitteleuropa nach 1945 hervorgingen. Während dieser Zeit nahm er mit 27 anderen Kursanten als „Internationale Stoßbrigade“ an einem Arbeitseinsatz in Magnitogorsk teil, wo seit 1929 ein Stahlwerk als künftiges Zentrum der sowjetischen Stahlgewinnung entstand. Honeckers Lehrer an der Lenin-Schule war Erich Wollenberg, der während des Großen Terrors, im Zuge der Wollenberg-Hoelz-Verschwörung durch das NKWD als Gegner Stalins verfolgt wurde. In der Ära der Schulleiterin Kirsanowa, die als „eiserne Stalinistin“ galt, wurde Honecker „Reinigungsritualen“ durch Anklage und Selbstanklage unterzogen, um seine Ich-Interessen, innerhalb eines geschlossenen Weltbildes, systematisch dem Kollektiv und den Interessen der Partei unterzuordnen. In seinen Sechs-Tage-Wochen hatte er ein rigides tägliches Arbeitspensum von zehn Stunden und mehr abzuleisten, das aus Unterricht und Selbststudium bestand und zu politisch-ideologischer Einheitlichkeit und mentaler Folgsamkeit erzog. Das Pensum einer Schulstunde umfasste 4–5 Seiten Marx oder Engels, 6–7 Seiten Lenin, 7–8 Seiten Stalin und 20 Seiten Belletristik. Bis zu seinem Lebensende blieb Stalin Honeckers prägendste politische Bezugsfigur.
Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 war die Arbeit der KPD in Deutschland nur noch im Untergrund möglich. Das Saargebiet jedoch gehörte nicht zum Deutschen Reich. Honecker wurde kurz in Deutschland inhaftiert, jedoch bald entlassen. Er kam 1934 ins Saargebiet zurück und arbeitete mit dem späteren ersten saarländischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann in der Kampagne gegen die Wiederangliederung an das Deutsche Reich. In dieser Zeit im Widerstand in den Jahren 1934 und 1935 arbeitete er auch eng mit dem KPD-Funktionär Herbert Wehner, später SPD, zusammen. Bei der Saarabstimmung am 13. Januar 1935 stimmten jedoch 90,73 Prozent der Wähler für eine Vereinigung mit Deutschland. Der Jungfunktionär floh, wie 4000–8000 andere Menschen auch, zunächst nach Frankreich.
Am 28. August 1935 reiste Honecker unter dem Decknamen „Marten Tjaden“ illegal nach Berlin, eine Druckerpresse im Gepäck, und war wieder im Widerstand tätig. Im Dezember 1935 wurde Honecker von der Gestapo verhaftet und zunächst bis 1937 im Berliner Zellengefängnis Lehrter Straße in Untersuchungshaft genommen. Er wurde im Juni 1937 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt; der ebenfalls angeklagte Bruno Baum wurde – auch durch Honeckers Aussagen – zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Honecker verbüßte seine Haftzeit während der Zeit des Nationalsozialismus im Zuchthaus Brandenburg-Görden. Aufgrund der gestiegenen Zahl der Bombenangriffe auf Berlin ab 1943 teilte man ihn einer Baukolonne zu, die mit LKW zu den beschädigten Gebäuden gefahren wurde, um die Bombenschäden zu reparieren. Als diese Transporte nach einem Jahr zu unsicher wurden, brachte man seine Baukolonne im Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin unter. Im März 1945 gelang Honecker gemeinsam mit einem Mitgefangenen während eines Bombenangriffs die Flucht aus dem Frauengefängnis. Er versteckte sich in der Wohnung der Gefängnisaufseherin Charlotte Grund, die in der Landsberger Straße 37 wohnte. Nachdem dort das Vorderhaus ausgebombt wurde, kehrte er, aufgrund der gestiegenen Entdeckungsgefahr, in das Gefängnis zurück, was offenbar durch die dienstverpflichteten Aufseherinnen organisiert wurde. Honecker wurde nach Brandenburg zurückverlegt. Nach der Befreiung des Zuchthauses durch die Rote Armee am 27. April ging Honecker nach Berlin. Seine mit den Mithäftlingen in Brandenburg nicht abgesprochene Flucht, sein Untertauchen in Berlin, die „Rückmeldung“, die Nichtteilnahme an dem geschlossenen Marsch der befreiten kommunistischen Häftlinge nach Berlin und die Verbindung mit einer Gefängnisaufseherin bereiteten Honecker später innerparteiliche Schwierigkeiten und belasteten sein Verhältnis zu ehemaligen Mithäftlingen. Gegenüber der Öffentlichkeit verfälschte Honecker das Geschehen in seinen Lebenserinnerungen und in Interviews.
Im Mai 1945 wurde Honecker eher zufällig von Hans Mahle in Berlin „aufgelesen“ und mit zur Gruppe Ulbricht genommen. Durch Waldemar Schmidt wurde er mit Walter Ulbricht bekannt gemacht, der ihn bis dahin noch nicht persönlich kannte. Bis in den Sommer hinein war über die zukünftige Funktion Honeckers noch nicht entschieden worden, da er sich auch einem Parteiverfahren stellen musste, welches mit einer strengen Rüge endete. Zur Sprache kam dabei auch seine Flucht aus dem Zuchthaus Anfang 1945. 1946 war er dann Mitbegründer der Freien Deutschen Jugend, deren Vorsitz er auch übernahm. Seit dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD im April 1946 war Honecker Mitglied der SED.
In der im Oktober 1949 gegründeten DDR, einer realsozialistischen Parteidiktatur, setzte Honecker seine politische Karriere zielstrebig fort. Als FDJ-Vorsitzender organisierte er die drei Deutschlandtreffen der Jugend in Berlin ab 1950 und wurde einen Monat nach dem ersten Deutschlandtreffen als Kandidat ins Politbüro des ZK der SED aufgenommen. Er war ein ausgesprochener Gegner kirchlicher Jugendgruppen. In den innerparteilichen Auseinandersetzungen nach dem Volksaufstand vom 17. Juni stellte er sich gemeinsam mit Hermann Matern offen an die Seite Ulbrichts, den die Mehrheit des Politbüros um Rudolf Herrnstadt zu stürzen versuchte. Am 27. Mai 1955 gab er den FDJ-Vorsitz an Karl Namokel ab. Von 1955 bis 1957 hielt er sich zu Schulungszwecken in Moskau auf und erlebte den XX. Parteitag der KPdSU mit Chruschtschows Rede zur Entstalinisierung mit. Nach seiner Rückkehr wurde er 1958 Mitglied des Politbüros, wo er die Verantwortung für Militär- und Sicherheitsfragen übernahm. Als Sicherheitssekretär des ZK der SED war er der maßgebliche Organisator des Baus der Berliner Mauer im August 1961 und trug in dieser Funktion den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze mit.
Auf dem 11. Plenum des ZK der SED, das im Dezember 1965 tagte, tat er sich als einer der Wortführer hervor und griff verschiedene Kulturschaffende wie die Regisseure Kurt Maetzig und Frank Beyer scharf an, denen er „Unmoral“, „Dekadenz“, „spießbürgerlichen Skeptizismus“ und „Staatsfeindlichkeit“ vorwarf. In diese Kritik bezog er auch die kulturpolitisch Verantwortlichen der SED mit ein, ohne sie allerdings namentlich zu nennen: Sie hätten „keinen prinzipiellen Kampf gegen die aufgezeigten Erscheinungen geführt.“ Das Plenum beendete die Ansätze einer kulturpolitischen Liberalisierung der DDR, die sich nach dem Mauerbau gezeigt hatten.
Während Walter Ulbricht mit dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung die Wirtschaftspolitik ins Zentrum gerückt hatte, deklarierte Honecker die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zur Hauptaufgabe. Nachdem er sich die Unterstützung durch die sowjetische Führung unter Leonid Breschnew vergewissert hatte, sammelte er Unterschriften im Politbüro für die Forderung nach Ulbrichts Absetzung. Als Ulbricht davon erfuhr, warf er Honecker aus dem Politbüro. Daraufhin wandte sich Honecker hilfesuchend an den sowjetischen Botschafter Abrassimov, und auf Breschnews Geheiß musste ihn Ulbricht wieder aufnehmen. Schließlich putschte sich Honecker mit sowjetischem Einverständnis an die Macht: Er wies seine Personenschützer an, Maschinenpistolen mitzunehmen, und fuhr mit ihnen zu Ulbrichts Sommerresidenz in Dölln. Dort ließ er alle Tore und Ausgänge besetzen, die Telefonleitungen kappen und zwang Ulbricht, ein Rücktrittsgesuch an das Zentralkomitee zu unterschreiben. Honecker wurde am 3. Mai 1971 als Nachfolger Ulbrichts Erster Sekretär (ab 1976 Generalsekretär) des Zentralkomitees der SED. Wirtschaftliche Probleme und Unmut in den Betrieben spielten eine große Rolle bei diesem Machtwechsel. Nachdem er 1971 auch im Nationalen Verteidigungsrat als Vorsitzender Ulbrichts Nachfolge angetreten hatte, wählte ihn die Volkskammer am 29. Oktober 1976 schließlich auch zum Vorsitzenden des Staatsrats; Willi Stoph, der diesen Posten seit 1973 innegehabt hatte, wurde erneut, wie vor 1973, Vorsitzender des Ministerrats. Damit hatte Honecker die Machtspitze der DDR erreicht. Von nun an entschied er gemeinsam mit dem ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen, Günter Mittag, und dem Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, alle maßgeblichen Fragen. Bis zum Herbst 1989 stand die „kleine strategische Clique“ aus diesen drei Männern unangefochten an der Spitze der herrschenden Klasse der DDR, der zunehmend vergreisenden Monopolelite der etwa 520 Staats- und Parteifunktionäre. Honecker erlangte gemeinsam mit diesen beiden eine Machtfülle wie kein anderer Herrscher in der jüngeren deutschen Geschichte, Ludendorff und Hitler eingeschlossen, weshalb man ihn als Diktator beschreiben muss. Unter Honecker entwickelte sich das Politbüro rasch zu einem Kollektiv von kritiklosen, unterwürfigen Vollstreckern und Ja-Sagern. Honecker beantwortete Eingaben von Bürgern immer schnell, weshalb man ihn in Anlehnung an den aufgeklärten Absolutismus als „obersten Kümmerer seines Staats“ bezeichnet.
Honeckers engster persönlicher Mitarbeiter war der ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda, Joachim Herrmann. Mit ihm führte er tägliche Besprechungen über die Medienarbeit der Partei, in denen auch das Layout des Neuen Deutschlands und die Abfolge der Meldungen in der Aktuellen Kamera festgelegt wurden. Auf schlechte Nachrichten über den Zustand der Wirtschaft reagierte er, indem er etwa 1978 das Institut für Meinungsforschung schließen ließ. Große Bedeutung maß Honecker auch dem Feld der Staatssicherheit bei, das er einmal in der Woche jeweils nach der Sitzung des Politbüros mit Erich Mielke durchsprach.
Während seiner Amtszeit wurde der Grundlagenvertrag mit der Bundesrepublik Deutschland ausgehandelt. Außerdem nahm die DDR an den KSZE-Verhandlungen in Helsinki teil und wurde als Vollmitglied in die UNO aufgenommen. Diese diplomatischen Erfolge gelten als die größten außenpolitischen Leistungen Honeckers.
Am 31. Dezember 1982 versuchte der Ofensetzer Paul Eßling, die Autokolonne Honeckers zu rammen, was in westlichen Medien als Attentat dargestellt wurde.
Innenpolitisch zeichnete sich anfangs eine Liberalisierungstendenz vor allem im Bereich der Kultur und Kunst ab, die aber weniger durch den Personalwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker hervorgerufen wurde, sondern Propagandazwecken im Rahmen der 1973 ausgetragenen X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten diente. Nur wenig später erfolgten die Ausbürgerung von Regimekritikern wie Wolf Biermann und die Unterdrückung innenpolitischen Widerstands durch das Ministerium für Staatssicherheit. Zudem setzte Honecker sich für den weiteren Ausbau der innerdeutschen Staatsgrenze mit Selbstschussanlagen und den rücksichtslosen Schusswaffengebrauch bei Grenzdurchbruchsversuchen ein. 1974 sagte er dazu, „es sind die Genossen, die die Schußwaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.“ Wirtschaftspolitisch wurde unter Honecker die Verstaatlichung und Zentralisierung der Wirtschaft vorangetrieben. Die schwierige wirtschaftliche Lage zwang zur Aufnahme von Milliardenkrediten von der Bundesrepublik Deutschland, um den Lebensstandard halten zu können.
Die Londoner Financial Times sah Honecker 1981 auf der Höhe seiner Popularität und stellt diesen Vergleich zum damaligen Bundeskanzler auf:
„Wenn Helmut Schmidt, der westdeutsche Kanzler, zu Deutschlands besten Rednern gehört, so muss Erich Honecker einer der am wenigsten begabten sein. Sich seiner hohen Singsang-Stimme auszusetzen, die die Litanei der ostdeutschen Kommunistischen Partei beschwört, ohne auch nur einen Hauch von Emotion in seinem Gesicht, kann eine sterbenslangweilige Erfahrung sein.“
1981 empfing er Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jagdhaus Hubertusstock am Werbellinsee. Honeckers Einschätzung, die DDR habe „wirtschaftlich Weltklasseniveau erreicht und gehöre zu den bedeutendsten Industrienationen der Welt“, kommentierte Schmidt später mit dem Verdikt vom „Mann von beschränkter Urteilskraft“. Trotz der Wirtschaftsprobleme brachten Honecker die 1980er Jahre vermehrte internationale Anerkennung, insbesondere als er am 7. September 1987 die Bundesrepublik Deutschland besuchte und durch Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn empfangen wurde. Auf seiner Reise durch die Bundesrepublik kam er nach Düsseldorf, Wuppertal, Essen, Trier, Bayern sowie am 10. September in seinen Geburtsort im Saarland. Hier hielt er eine emotionale Rede, in der er davon sprach, eines Tages würden die Grenzen die Menschen in Deutschland nicht mehr trennen. Diese Reise war seit 1983 geplant gewesen, wurde jedoch damals von der sowjetischen Führung blockiert, da man dem deutsch-deutschen Sonderverhältnis misstraute. 1988 war Honecker unter anderem auf Staatsbesuch in Paris. Sein großes Ziel, welches er aber nicht mehr erreichte, war ein offizieller Besuch in den USA. Er setzte deshalb in den letzten Jahren der DDR auf ein positives Verhältnis zum Jüdischen Weltkongress als möglichem „Türöffner“.
Auf dem Gipfeltreffen des Warschauer Paktes in Bukarest am 7. und 8. Juli 1989 im Rahmen des „Politisch-Beratenden Ausschusses“ der Staaten des Warschauer Paktes gab die Sowjetunion offiziell die Breschnew-Doktrin der begrenzten Souveränität der Mitgliedsstaaten auf und verkündete die „Freiheit der Wahl“: Die Beziehungen untereinander sollten künftig, wie es im Bukarester Abschlussdokument heißt, „auf der Grundlage der Gleichheit, Unabhängigkeit und des Rechtes eines jeden Einzelnen, selbstständig seine eigene politische Linie, Strategie und Taktik ohne Einmischung von außen auszuarbeiten“ entwickelt werden. Die sowjetische Bestandsgarantie für die Mitgliedsstaaten war damit in Frage gestellt. Honecker musste seine Teilnahme an dem Treffen abbrechen; am Abend des 7. Juli 1989 wurde er mit schweren Gallenkoliken in das rumänische Regierungskrankenhaus eingeliefert und dann nach Berlin ausgeflogen. Im Regierungskrankenhaus Berlin-Buch entfernte man ihm am 18. August 1989 die Gallenblase und einen Abschnitt des Dickdarms. Während der Operation wurde ein Nierentumor entdeckt, doch die Ärzte wagten es nicht, Honecker darüber zu unterrichten. Erst im September 1989 tauchte Honecker abgemagert und vergreist wieder im Politbüro auf. Währenddessen leitete Günter Mittag die wöchentlichen Sitzungen des Politbüros. Lediglich im August 1989 nahm er einige Termine wahr. So erklärte er am 14. August 1989 bei der Übergabe der ersten Funktionsmuster von 32-Bit-Prozessoren durch das Kombinat Mikroelektronik Erfurt:
„Den Sozialismus in seinem Lauf
Hält weder Ochs noch Esel auf.“
Aber in den Städten der DDR wuchsen Zahl und Größe der Demonstrationen, und auch die Zahl der DDR-Flüchtlinge über die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest und über die Grenzen der „sozialistischen Bruderstaaten“ nahm stetig zu, monatlich waren es mehrere Zehntausend. Die ungarische Regierung öffnete am 19. August 1989 an einer Stelle und am 11. September 1989 überall die Grenze zu Österreich. Allein hierüber reisten Zehntausende von DDR-Bürgern über Österreich in die Bundesrepublik aus. Die ČSSR erklärte den Zustrom der DDR-Flüchtlinge für inakzeptabel. Am 3. Oktober 1989 schloss die DDR faktisch ihre Grenzen zu den östlichen Nachbarn, indem sie den visafreien Reiseverkehr in die ČSSR aussetzte; ab dem nächsten Tag wurde diese Maßnahme auch auf den Transitverkehr nach Bulgarien und Rumänien ausgedehnt. Die DDR war dadurch nicht nur wie bisher durch den Eisernen Vorhang nach Westen abgeriegelt, sondern nun auch noch gegenüber den meisten Staaten des Ostblocks. Proteste von DDR-Bürgern bis hin zu Streikandrohungen aus den grenznahen Gebieten zur ČSSR waren die Folge.
Die Beziehung zwischen Honecker und dem Generalsekretär der KPdSU und Präsidenten der UdSSR Gorbatschow war schon seit Jahren gespannt: Honecker hielt dessen Politik der Perestroika und Kooperation mit dem Westen für falsch und fühlte sich von ihm speziell in der Deutschlandpolitik hintergangen. Er sorgte dafür, dass offizielle Texte der UdSSR, vor allem solche zum Thema Perestroika, in der DDR nicht mehr veröffentlicht oder in den Handel gebracht werden durften. Am 6. und 7. Oktober 1989 fanden die Staatsfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR in Anwesenheit von Michail Gorbatschow statt, der mit „Gorbi, Gorbi, hilf uns“-Rufen begrüßt wurde. In einem Vieraugengespräch der beiden Generalsekretäre pries Honecker die Erfolge des Landes. Gorbatschow wusste aber, dass die DDR in Wirklichkeit vor der Zahlungsunfähigkeit stand.
Am Ende einer Krisensitzung am 10. und 11. Oktober 1989 forderte das SED-Politbüro Honecker auf, bis Ende der Woche einen Lagebericht abzugeben, der geplante Staatsbesuch in Dänemark wurde abgesagt und eine Erklärung veröffentlicht, die Egon Krenz gegen den Widerstand Honeckers durchgesetzt hatte. Ebenfalls überwiegend auf Initiative von Krenz folgten in den nächsten Tagen Besprechungen und Sondierungen zu der Frage, Honecker zum Rücktritt zu bewegen. Krenz sicherte sich die Unterstützung von Armee und Stasi und arrangierte ein Treffen zwischen Michail Gorbatschow und Politbüromitglied Harry Tisch, der den Kremlchef am Rande eines Moskaubesuchs einen Tag vor der Sitzung über die geplante Absetzung Honeckers informierte. Gorbatschow wünschte viel Glück, das Zeichen, auf das Krenz und die anderen gewartet hatten. Auch SED-Chefideologe Kurt Hager flog am 12. Oktober 1989 nach Moskau und besprach mit Gorbatschow die Modalitäten der Honecker-Ablösung. Hans Modrow dagegen wich einer Anwerbung aus.
Die für Ende November 1989 geplante Sitzung des ZK der SED wurde auf Ende der Woche vorgezogen, dringendster Tagesordnungspunkt: die Zusammensetzung des Politbüros. Per Telefon versuchten Krenz und Erich Mielke am Abend des 16. Oktober, weitere Politbüromitglieder für die Absetzung Honeckers zu gewinnen. Zu Beginn der Sitzung des Politbüros vom 17. Oktober 1989 fragte Honecker routinemäßig: „Gibt es noch Vorschläge zur Tagesordnung?“ Willi Stoph meldete sich und schlug als ersten Punkt der Tagesordnung vor: „Entbindung des Genossen Honecker von seiner Funktion als Generalsekretär und Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär“. Honecker schaute zuerst regungslos, fasste sich aber rasch wieder: „Gut, dann eröffne ich die Aussprache.“ Nacheinander äußerten sich alle Anwesenden, doch keiner machte sich für Honecker stark. Günter Schabowski erweiterte sogar den Antrag und forderte die Absetzung Honeckers auch als Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates. Selbst Günter Mittag rückte von ihm ab. Alfred Neumann wiederum forderte die Ablösung von Mittag und von Joachim Herrmann. Erich Mielke machte Honecker für fast alle aktuellen Missstände in der DDR verantwortlich und drohte Honecker schreiend, kompromittierende Informationen, die er besitze, herauszugeben, falls Honecker nicht zurücktrete.
Nach drei Stunden fiel der einstimmige Beschluss des Politbüros. Honecker votierte, wie es Brauch war, für seine eigene Absetzung. Dem ZK der SED wurde vorgeschlagen, Honecker, Mittag und Hermann von ihren Funktionen zu entbinden. Bei der folgenden ZK-Sitzung waren 206 Mitglieder und Kandidaten anwesend. Lediglich 16 fehlten, darunter Margot Honecker. Das ZK folgte der Empfehlung des Politbüros. Die einzige Gegenstimme kam von der 81-jährigen Hanna Wolf, der früheren Direktorin der Parteihochschule „Karl Marx“. Öffentlich hieß es: „Das ZK hat der Bitte Erich Honeckers entsprochen, ihn aus gesundheitlichen Gründen von der Funktion des Generalsekretärs, vom Amt des Staatsratsvorsitzenden und von der Funktion des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR zu entbinden.“ Egon Krenz wurde per Akklamation einstimmig zum neuen Generalsekretär der SED gewählt. Am 20. Oktober 1989 musste auch Margot Honecker von ihren Ämtern zurücktreten.
Die Volkskammer der DDR setzte Mitte November 1989 einen Ausschuss zur Untersuchung von Korruption und Amtsmissbrauch ein, dessen Vorsitzender am 1. Dezember 1989 Bericht erstattete. Er warf den bisherigen SED-Machthabern umfassenden Missbrauch öffentlicher Ämter zu privaten Zwecken vor. Honecker habe zudem seit 1978 jährliche Zuwendungen von rund 20.000 Mark durch die Bauakademie der DDR erhalten. Die Staatsanwaltschaft der DDR leitete daraufhin strafrechtliche Ermittlungen gegen 30 ehemalige DDR-Spitzenfunktionäre ein, unter ihnen zehn Mitglieder des Politbüros. Die meisten davon kamen in Untersuchungshaft, so am 3. Dezember 1989 auch Honeckers Wandlitzer Nachbarn Günter Mittag und Harry Tisch wegen persönlicher Bereicherung und Vergeudung von Volksvermögen. Am selben Tag wurde Honecker vom ZK aus der SED ausgeschlossen. Er schloss sich daraufhin der neu gegründeten KPD an, deren Mitglied er von 1992 bis zu seinem Tod war.
Am 30. November 1989 wurde dem Ehepaar Honecker die Wohnung in Wandlitz gekündigt und am 7. Dezember 1989 durchsucht. Wegen der aufgeheizten Stimmung lehnten die Honeckers ein Wohnungsangebot am Bersarinplatz ab, beschwerten sich aber mehrfach, man habe sie obdachlos gemacht.
Am 5. Dezember 1989 wurde auch gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Honecker sei „verdächtig, seine Funktion als Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und seine angemaßte politische und ökonomische Macht als Generalsekretär des ZK der SED missbraucht“ und „seine Verfügungsbefugnisse als Generalsekretär des ZK der SED zum Vermögensvorteil für sich und andere missbraucht zu haben“. Federführend war bis Januar 1990 das Amt für Nationale Sicherheit der DDR, also der Nachfolger der Stasi, das hierzu einen „Maßnahmeplan im Ermittlungsverfahren gegen Erich Honecker“ erarbeitet hatte, später betrieb die Abteilung für Wirtschaftsstrafsachen beim Generalstaatsanwalt der DDR das Verfahren.
Am 6. Januar 1990 erfuhr Honecker nach einer erneuten Untersuchung durch eine Ärztekommission aus den Abendnachrichten der Aktuellen Kamera des DDR-Fernsehens, dass er Nierenkrebs hat. Am 10. Januar 1990 entfernte der Urologe Peter Althaus einen pflaumengroßen Nierentumor. Am Abend des 28. Januar 1990 wurde Honecker in seinem Krankenzimmer der Charité festgenommen, am nächsten Tag in das Haftkrankenhaus des Gefängnisses Berlin-Rummelsburg eingeliefert und nach einem Tag wegen Haftunfähigkeit entlassen.
Rechtsanwalt Wolfgang Vogel wandte sich im Auftrag Honeckers an die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg und bat um Hilfe. Pastor Uwe Holmer, Leiter der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal bei Bernau, bot daraufhin dem Ehepaar Unterkunft in seinem Pfarrhaus an. Althaus fuhr es noch am Abend des 30. Januar 1990 dorthin. Schon am selben Tag kam es zu Kritik und später zu Demonstrationen gegen die kirchliche Hilfe für das Ehepaar, da beide solche Christen, die sich nicht dem SED-Regime angepasst hätten, benachteiligt hätten. Das Ehepaar wohnte dennoch – abgesehen von einer Unterbringung in einem Ferienhaus in Lindow, die im März 1990 schon nach einem Tag wegen politischer Proteste abgebrochen werden musste – bis zum 3. April 1990 weiter bei Holmers. Dann siedelte das Ehepaar in das sowjetische Militärhospital bei Beelitz über. Bei erneuten Untersuchungen auf Haftfähigkeit stellten dort die Ärzte bei Honecker die Verdachtsdiagnose eines bösartigen Lebertumors. Am 2. Oktober 1990, dem Vorabend der Deutschen Wiedervereinigung, wurden die wirtschaftsstrafrechtlichen Ermittlungsakten im Fall Erich Honecker von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR an die der Bundesrepublik übergeben. Am 30. November 1990 erließ das Amtsgericht Tiergarten einen weiteren Haftbefehl gegen Honecker wegen des Verdachts, dass er den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze 1961 verfügt und 1974 bekräftigt habe. Der Haftbefehl war aber nicht vollstreckbar, da Honecker sich in Beelitz unter dem Schutz sowjetischer Stellen befand. Am 13. März 1991 wurde das Ehepaar mit einem sowjetischen Militärflugzeug von Beelitz nach Moskau, nach vorheriger Information des Bundeskanzlers Kohl durch den sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow, ausgeflogen.
Das Kanzleramt war durch die sowjetische Diplomatie über die bevorstehende Ausreise der Honeckers nach Moskau informiert worden. Die Bundesregierung beschränkte sich aber öffentlich auf den Protest, es liege bereits ein Haftbefehl vor, daher verstoße die Sowjetunion gegen die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und damit gegen Völkerrecht. Immerhin war zu diesem Zeitpunkt der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der Deutschland die volle Souveränität zuerkennen sollte, vom Obersten Sowjet noch nicht ratifiziert. Erst am 15. März 1991 trat der Vertrag mit der Hinterlegung der sowjetischen Ratifizierungsurkunde beim deutschen Außenminister offiziell in Kraft. Von diesem Augenblick an wuchs der deutsche Druck auf Moskau, Honecker zu überstellen.
Zwischen Michail Gorbatschow und Honecker bestand ohnehin ein seit Jahren stetig schlechter werdendes Verhältnis, die UdSSR befand sich in der Auflösung. Den Augustputsch in Moskau überstand Gorbatschow nur geschwächt. Der neue starke Mann, Boris Jelzin, Präsident der russischen Teilrepublik RSFSR, verbot die KPdSU, deren Generalsekretär Gorbatschow war. Am 25. Dezember 1991 trat Gorbatschow als Präsident der Sowjetunion zurück. Die russische Regierung unter Jelzin forderte Honecker im Dezember 1991 auf, das Land zu verlassen, da andernfalls die Abschiebung erfolge. Am 11. Dezember 1991 flüchteten die Honeckers daher in die chilenische Botschaft in Moskau. Nach Erinnerung Margot Honeckers hatten zwar auch Nordkorea und Syrien Asyl angeboten, von Chile erhoffte man sich aber besonderen Schutz: Nach dem Militärputsch von 1973 unter Augusto Pinochet hatte die DDR unter Honecker vielen Chilenen, auch dem Botschafter Clodomiro Almeyda, Exil in der DDR gewährt, und Honeckers Tochter Sonja war mit einem Chilenen verheiratet. In Anspielung auf die DDR-Flüchtlinge in den bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest wurde das Ehepaar Honecker ironisch „letzte Botschaftsflüchtlinge der DDR“ genannt. Chile allerdings wurde damals durch eine links-bürgerliche Koalition regiert, und die deutsche Bundesregierung äußerte, wenn Russland und Chile ihren Anspruch einlösen wollten, Rechtsstaaten zu sein, müsste Honecker, da mit Haftbefehl in Deutschland gesucht, in die Bundesrepublik überstellt werden. Am 22. Juli begründete der deutsche Botschafter Klaus Blech im russischen Außenministerium: „Nach Auffassung der deutschen Regierung verstößt die widerrechtliche Verbringung von Herrn Honecker gegen den Vertrag über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und gegen allgemeines Völkerrecht, weil sie dazu diente, eine wegen Anstiftung zur mehrfachen vorsätzlichen Tötung durch Haftbefehl gesuchte Person der Strafverfolgung zu entziehen.“
Allerdings war der bei Honecker bereits in Beelitz erhobene Verdacht auf Leberkrebs im Februar 1992 in Moskau durch eine Ultraschall-Untersuchung mit dem Befund „herdförmiger Befall der Leber – Metastase“ bestärkt worden. Drei Wochen später aber soll die grundsätzlich zuverlässigere Untersuchung durch ein Computertomogramm ergeben haben: „Werte für einen herdförmigen Befall der Leber wurden nicht festgestellt“. Nun wurde gegen Honecker verbreitet, er sei ein Simulant. Drei Tage später verkündete der russische Justizminister im deutschen Fernsehen, Honecker werde nach Deutschland überstellt, sobald er die Botschaft verlassen habe. Am 7. März 1992 hieß es, die chilenische Regierung korrigiere ihre Haltung im Fall Honecker, Botschafter Almeyda sei zur Berichterstattung nach Santiago beordert, man sei verärgert über seinen Versuch, mit offenbar manipulierten Berichten über den todkranken Honecker dessen Einreise nach Chile zu erreichen. Almeyda wurde von seinem Posten abberufen. Zwar protestierte am 18. März 1992 eine Gruppe von Ärzten aus dem russischen Parlament und machte geltend, es sei die März-Diagnose, die manipuliert worden sei. Aber für die Öffentlichkeit schien Honeckers altersgerecht guter Allgemeinzustand gegen eine Krebserkrankung zu sprechen. Im Juni 1992 sicherte der chilenische Präsident Patricio Aylwin schließlich Bundeskanzler Helmut Kohl zu, Honecker werde die Botschaft in Moskau verlassen. Die Russen ergänzten, sie sähen „keinen Grund“, von ihrer Entscheidung von Dezember 1991 abzurücken, „wonach Honecker nach Deutschland zurückzukehren hat“. Am 29. Juli 1992 wurde Erich Honecker nach Berlin ausgeflogen, wo er verhaftet und in die Justizvollzugsanstalt Moabit gebracht wurde. Margot Honecker dagegen reiste per Direktflug der Aeroflot von Moskau nach Santiago de Chile, wo sie zunächst bei ihrer Tochter Sonja unterkam und bis zu ihrem Tod am 6. Mai 2016 lebte.
Am 29. Juli 1992 wurde Honecker in Untersuchungshaft im Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten in Berlin-Moabit genommen.
Die Schwurgerichtsanklage vom 12. Mai 1992 warf ihm vor, als Vorsitzender des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR gemeinsam mit mehreren Mitangeklagten, unter anderem Erich Mielke, Willi Stoph, Heinz Keßler, Fritz Streletz und Hans Albrecht, in der Zeit 1961 bis 1989 am Totschlag von insgesamt 68 Menschen beteiligt gewesen zu sein, indem er insbesondere als Mitglied des NVR angeordnet habe, die Grenzanlagen um West-Berlin und die Sperranlagen zur Bundesrepublik auszubauen, um ein Passieren unmöglich zu machen. Insbesondere zwischen 1962 und 1980 habe er mehrfach Maßnahmen und Festlegungen zum weiteren pioniertechnischen Ausbau der Grenze durch Errichtung von Streckmetallzäunen zur Anbringung der Selbstschussanlagen und der Schaffung von Sicht- und Schussfeld entlang der Grenzsicherungsanlagen getroffen, um Grenzdurchbrüche zu verhindern. Außerdem habe er im Mai 1974 in einer Sitzung des NVR dargelegt, der pioniermäßige Ausbau der Staatsgrenze müsse weiter fortgesetzt werden, überall müsse ein einwandfreies Schussfeld gewährleistet werden und nach wie vor müsse bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden. „Die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben“, seien „zu belobigen“.
Diese Anklage ist durch Beschluss des Landgerichts Berlin vom 19. Oktober 1992 unter Eröffnung des Hauptverfahrens zugelassen worden. Mit Beschluss vom gleichen Tage wurde das Verfahren hinsichtlich 56 der angeklagten Fälle abgetrennt, deren Verhandlung zurückgestellt wurde. Die verbliebenen 12 Fälle waren Gegenstand der am 12. November 1992 begonnenen Hauptverhandlung. Ebenfalls am 19. Oktober 1992 erließ die Strafkammer einen Haftbefehl hinsichtlich der verbliebenen zwölf Fälle.
Eine zweite Anklageschrift vom 12. November 1992 legte Honecker zur Last, in der Zeit von 1972 bis Oktober 1989 Vertrauensmissbrauch in Tateinheit mit Untreue zum Nachteil sozialistischen Eigentums begangen zu haben. Es handelte sich hierbei um Vorgänge im Zusammenhang mit der Versorgung und Betreuung der Waldsiedlung Wandlitz. In diesem Zusammenhang erging am 14. Mai 1992 ein weiterer Haftbefehl.
Der von aller Welt mit Spannung erwartete Prozess hatte nach Ansicht vieler Juristen einen ungewissen Ausgang. Denn nach welchen Gesetzen der Staatschef der untergegangenen DDR eigentlich verurteilt werden konnte, war umstritten. Auch mussten die Politiker der alten Bundesrepublik befürchten, ihrem „vormaligen Bankettgesellen“ (so der DDR-Schriftsteller Hermann Kant), den sie noch 1987 in Bonn, München und anderen Städten mit allen protokollarischen Ehren empfangen hatten, im Gerichtssaal gegenübergestellt zu werden.
In seiner am 3. Dezember 1992 vor Gericht vorgetragenen Erklärung übernahm Honecker zwar die politische Verantwortung für die Toten an Mauer und Stacheldraht, doch sei er „ohne juristische oder moralische Schuld“. Er rechtfertigte den Bau der Mauer damit, dass aufgrund des sich zuspitzenden Kalten Krieges die SED-Führung 1961 zu dem Schluss gekommen sei, dass anders ein „dritter Weltkrieg mit Millionen Toten“ nicht zu verhindern gewesen sei, und betonte die Zustimmung der sozialistischen Führungen sämtlicher Ostblockstaaten zu dieser gemeinschaftlich getroffenen Entscheidung und verwies auf die Funktionen, die der DDR in seiner Amtszeit im UN-Weltsicherheitsrat trotz des Schießbefehls an der Mauer zugestanden worden seien. Im Weiteren führte er an, dass der Prozess gegen ihn aus rein politischen Motiven geführt werde, und verglich die 49 Mauertoten, deretwegen er angeklagt war, etwa mit der Anzahl der Opfer im von den USA geführten Vietnamkrieg oder der Selbstmordrate in westlichen Ländern. Die DDR habe bewiesen, „dass Sozialismus möglich und besser sein kann als Kapitalismus“. Öffentliche Kritik an Verfolgungen durch die Stasi tat er damit ab, dass auch der „Sensationsjournalismus“ in westlichen Ländern mit Denunziation arbeite und die gleichen Konsequenzen habe.
Honecker war zu dieser Zeit bereits schwer krank. Eine erneute Computertomographie am 4. August 1992 bestätigte die Moskauer Ultraschall-Untersuchung: Im rechten Leberlappen befand sich ein „fünf Zentimeter großer raumfordernder Prozess“, vermutlich eine Spätmetastase des Nierenkrebses, der Honecker im Januar 1990 in der Charité entfernt worden war. Unter Berufung auf diese Feststellungen stellten Honeckers Anwälte Nicolas Becker, Friedrich Wolff und Wolfgang Ziegler den Antrag, das Verfahren, soweit es sich gegen Honecker richte, abzutrennen, einzustellen und den Haftbefehl aufzuheben. Das Verfahren sei eine Nagelprobe für den Rechtsstaat. Ihr Mandant leide an einer unheilbaren Krankheit, die entweder durch Ausschaltung der Leberfunktion direkt oder durch Metastasierung in anderen Bereichen zum Tode führe. Seine Lebenserwartung sei geringer als die auf mindestens zwei Jahre geschätzte Prozessdauer. Es sei zu fragen, ob es human ist, gegen einen Sterbenden zu verhandeln.
Den gestellten Antrag lehnte die Strafkammer mit Beschluss vom 21. Dezember 1992 ab. Das Landgericht führte in seiner Begründung aus, dass kein Verfahrenshindernis bestehe. Zwar habe sich die Einschätzung der voraussichtlich eintretenden Verhandlungsunfähigkeit aufgrund der aktualisierten schriftlichen Gutachten zeitlich verdichtet. Die Prognose des Eintritts der Verhandlungsunfähigkeit sei jedoch im Hinblick auf die Schwere und Bedeutung des Tatvorwurfs und des sich daraus ergebenden Gewichts der verfassungsrechtlich gebotenen Pflicht zur Strafverfolgung noch immer zu ungewiss, als dass eine sofortige Einstellung des Verfahrens zwingend geboten erscheine.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde verwarf das Kammergericht durch Beschluss vom 28. Dezember 1992. Das Kammergericht kam jedoch zu dem Ergebnis, aufgrund der Stellungnahmen und Gutachten der medizinischen Sachverständigen sei davon auszugehen, dass infolge eines bösartigen Tumors im rechten Leberlappen Honeckers eine Verhandlungsfähigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr lange bestehen werde und Honecker mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Abschluss des Verfahrens nicht überleben werde. Das Kammergericht sah sich gleichwohl gehindert, das Verfahren selbst einzustellen, weil dies nach Beginn der Hauptverhandlung nur noch vom Landgericht durch Urteil ausgesprochen werden könne. Dementsprechend könne es auch den bestehenden Haftbefehl nicht aufheben, bevor das Landgericht über das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses entschieden habe.
Hiergegen erhob Honecker Verfassungsbeschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin. Honecker führte aus, die Entscheidungen verletzten sein Grundrecht auf Menschenwürde. Die Menschenwürde gelte als tragendes Prinzip der Verfassung auch gegenüber dem staatlichen Strafvollzug und der Strafjustiz uneingeschränkt. Die Fortführung eines Strafverfahrens und einer Hauptverhandlung gegen einen Angeklagten, von dem mit Sicherheit zu erwarten sei, dass er vor Abschluss der Hauptverhandlung und mithin vor einer Entscheidung über seine Schuld oder Unschuld sterben werde, verletze dessen Menschenwürde. Die Menschenwürde umfasse insbesondere das Recht eines Menschen, in Würde sterben zu dürfen.
Mit Beschluss vom 12. Januar 1993 entsprach der Verfassungsgerichtshof der Verfassungsbeschwerde Honeckers. Aufgrund der Feststellungen des Kammergerichts, wonach Honecker den Abschluss des Verfahrens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben werde, sei davon auszugehen, dass das Strafverfahren seinen gesetzlichen Zweck auf vollständige Aufklärung der Honecker zur Last gelegten Taten und gegebenenfalls Verurteilung und Bestrafung nicht mehr erreichen könne. Das Strafverfahren werde damit zum Selbstzweck, wofür es keinen rechtfertigenden Grund gäbe. Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls verletze den Anspruch Honeckers auf Achtung seiner Menschenwürde. Der Mensch werde zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen insbesondere dann, wenn sein Tod derart nahe sei, dass ein Strafverfahren seinen Sinn verloren habe.
Noch am selben Tage stellte das Landgericht Berlin das Verfahren ein und hob den Haftbefehl auf. Den hiergegen von der Staatsanwaltschaft und den Nebenklägern erhobenen Beschwerden half das Landgericht nicht ab. Der Antrag auf Erlass eines neuen Haftbefehls wurde mit Beschluss vom 13. Januar 1993 abgelehnt.
Am 13. Januar 1993 lehnte das Landgericht Berlin in Bezug auf die Anklageschrift vom 12. November 1992 die Eröffnung des Hauptverfahrens ab und hob auch den zweiten Haftbefehl auf. Nach insgesamt 169 Tagen wurde Honecker aus der Untersuchungshaft entlassen, was Proteste von Opfern des DDR-Regimes nach sich zog.
Honecker flog unmittelbar darauf nach Santiago de Chile zu Frau und Tochter Sonja, die dort mit ihrem chilenischen Ehemann Leo Yáñez und ihrem Sohn Roberto wohnte. Die mit ihm Angeklagten wurden dagegen am 16. September 1993 zu Freiheitsstrafen zwischen vier und siebeneinhalb Jahren verurteilt. Am 13. April 1993 wurde ein letzter zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennter und in Abwesenheit des Angeklagten fortgesetzter Prozess gegen Honecker vom Berliner Landgericht ebenfalls eingestellt. Am 17. April 1993, dem 66. Geburtstag seiner Frau Margot, rechnete Honecker in einer Rede mit dem Westen ab und bedauerte seine Genossen, die noch im Gefängnis in Moabit saßen und „dem Klassenfeind trotzten“. Er schloss seine Rede mit den Worten: „Sozialismus ist das Gegenteil von dem, was wir jetzt in Deutschland haben. Sodass ich sagen möchte, dass unsere schönen Erinnerungen an die DDR viel aussagen von dem Entwurf einer neuen, gerechten Gesellschaft. Und dieser Sache wollen wir für immer treu bleiben.“
In den letzten Monaten musste Honecker künstlich ernährt werden. Am 29. Mai 1994 starb er im Alter von 81 Jahren in Santiago de Chile. Nach der Trauerfeier wurde seine Urne nicht beigesetzt.



ZEHNTES KAPITEL
Gregor Gysi

Von 1954 bis 1962 besuchte Gysi die Polytechnische Oberschule, von 1962 bis 1966 die Erweiterte Oberschule (ab 1965 Schule mit mathematischem Schwerpunkt) in Berlin-Adlershof. Hier erwarb er 1966 das Abitur und legte gleichzeitig den Lehrabschluss zum Facharbeiter für Rinderzucht ab.
Gysi absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, das er 1970 als Diplom-Jurist beendete.
Ab 1971 war Gysi einer der wenigen freien Rechtsanwälte in der DDR. In dieser Funktion verteidigte er auch Systemkritiker und Ausreisewillige, darunter bekannte Personen wie Robert Havemann, Rudolf Bahro, Jürgen Fuchs, Bärbel Bohley und Ulrike Poppe. 1976 erfolgte seine Promotion zum Dr. jur. mit der Arbeit Zur Vervollkommnung des sozialistischen Rechtes im Rechtsverwirklichungsprozeß.
Von 1988 bis 1989 war er Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte in Ost-Berlin und gleichzeitig Vorsitzender der 15 Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR. Am 12. September 1989 war er zusammen mit dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel in Prag, um die DDR-Flüchtlinge in der deutschen Botschaft zur Rückkehr in die DDR aufzufordern. Im Herbst 1989, vor der politischen Wende in der DDR, setzte Gysi sich als Anwalt für die Zulassung des oppositionellen Neuen Forums ein.
Von August 2002 bis zu seiner Wiederwahl als Abgeordneter des Bundestages im Jahre 2005 war er wieder als Rechtsanwalt tätig.
Seit 1967 war Gysi Mitglied der SED. Als er 1989 in den Blickpunkt der Öffentlichkeit trat, arbeitete er an einem Reisegesetz mit. Am 4. November 1989 sprach Gysi vor 500.000 Menschen auf der Massenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz und forderte ein neues Wahlrecht sowie ein Verfassungsgericht. Seine Eloquenz und rhetorische Begabung ließen ihn schnell zu einem der Medienstars des Herbstes werden. Ab dem 3. Dezember 1989 gehörte er dem Arbeitsausschuss zur Vorbereitung des außerordentlichen Parteitages der SED an und war Vorsitzender eines parteiinternen Untersuchungsausschusses.
Auf dem Sonderparteitag am 9. Dezember 1989 wurde Gysi mit 95 Prozent der Delegiertenstimmen zum Vorsitzenden der SED gewählt. Am 16. Dezember 1989 sprach er sich auf dem Sonderparteitag der SED-PDS für eine Zusammenarbeit beider deutscher Staaten bei voller Wahrung ihrer Souveränität aus. Im Winter 1989/90 war Gysi als Parteivorsitzender der damaligen SED-PDS daran beteiligt, dass die Partei nicht aufgelöst wurde und das Parteivermögen sowie Arbeitsplätze innerhalb der Partei erhalten blieben. Den Parteivorsitz der PDS hatte Gysi bis zum 31. Januar 1993 inne. Danach wirkte er zunächst als stellvertretender Parteivorsitzender, dann als Mitglied im Parteivorstand weiter mit, bis er im Januar 1997 endgültig aus dem Parteivorstand ausschied.
Am 23. Dezember 2005 wurde er auch Mitglied der WASG, ebenso wie Oskar Lafontaine auch Mitglied in der Linkspartei PDS wurde. Damit machten beide demonstrativ von der Möglichkeit einer Doppelmitgliedschaft in der Linkspartei und in der WASG Gebrauch. Seit dem 16. Juni 2007 ist Gysi Mitglied der Partei Die Linke.
Gysi ist Mitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Dezember 2016 wurde er zum Vorsitzenden der Europäischen Linken gewählt.
Vorwürfe wegen Verschleierung des SED-Vermögens
Volkskammerwahlkampf 1990: „Die Klebekolonnen, die allerorten durch die Lande ziehen, um die Wahlkämfer ins rechte Licht zu rücken, haben offensichtlich nicht nur viel zu tun, sondern auch ein gerüttelt Maß Humor.“
Auf dem Sonderparteitag der SED im Dezember 1989 unterstützte Gregor Gysi den Fortbestand der SED unter neuem Namen („SED-PDS“) unter anderem mit dem Argument, eine Auflösung und Neugründung würde juristische Auseinandersetzungen um das Parteivermögen nach sich ziehen und sei eine ernste wirtschaftliche Bedrohung für die Partei. Später wurde ihm seitens der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR vorgeworfen, er sei aktiv an der Verschleierung des SED-Parteienvermögens beteiligt gewesen und habe im Putnik-Deal versucht, mit Hilfe der KPdSU SED-Gelder ins Ausland zu verschieben, um sie vor dem Zugriff staatlicher Stellen zu sichern.
Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages 1998 zum Verbleib des SED-Parteienvermögens gab an, dass Gysi bei seiner Befragung geschwiegen und damit zusammen mit weiteren PDS-Funktionären die Arbeit des Ausschusses behindert habe.
Von März bis Oktober 1990 war Gysi Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, dort Fraktionsvorsitzender der PDS. Als solcher wurde er am 3. Oktober 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages, aus dem er am 1. Februar 2002 ausschied, um das Amt des Wirtschaftssenators in Berlin anzutreten. Er war von 1990 bis 1998 Vorsitzender der PDS-Bundestagsgruppe, dann bis zum 2. Oktober 2000 Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion.
Von 2001 bis 2002 war er Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Am 17. Januar 2002 wurde Gysi Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen des Landes Berlin in dem vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) geführten Senat. Am 31. Juli 2002 trat er im Rahmen der Bonusmeilen-Affäre von allen Ämtern zurück.
Für die Bundestagswahl 2005 kehrte er als Spitzenkandidat der Linkspartei zurück. Er war Direktkandidat für den Wahlkreis 85 Treptow-Köpenick und führte die Landesliste der Linkspartei Berlin an. Bei der Wahl konnte er sich gegen seinen Konkurrenten Siegfried Scheffler von der SPD durchsetzen und zog mit 40 Prozent der abgegebenen Erststimmen direkt in den Bundestag ein. Gemeinsam mit Oskar Lafontaine wurde er zum Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion gewählt.
Auch bei der Bundestagswahl 2009 trat er als Spitzenkandidat der Berliner Landesliste an. Sein Erststimmen-Ergebnis in seinem Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick konnte er jedoch auf 44 Prozent verbessern und zog somit erneut per Direktmandat in den Bundestag ein. Nach dem Verzicht Oskar Lafontaines wurde Gysi am 9. Oktober 2009 mit 94 Prozent zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsfraktion der Linken bestimmt und 2011 mit 81 Prozent im Amt bestätigt.
Bei der Bundestagswahl 2013 gelang es Gysi – wiederum Spitzenkandidat der Berliner Landesliste – trotz leichter Einbußen von 2,6 Prozent sein Direktmandat mit 42 Prozent erneut zu verteidigen. Wie schon 2011 wies er Sahra Wagenknechts Ambitionen auf eine Doppelspitze in der Fraktion erfolgreich zurück und wurde am 9. Oktober 2013 auf einer Fraktionsklausur im brandenburgischen Bersteland erneut zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden gewählt. Aufgrund der regierenden Großen Koalition war er damit Oppositionsführer.
Am 7. Juni 2015 gab er bekannt, dass er nicht erneut für den Fraktionsvorsitz der Linken kandidieren werde. Entsprechend schied er am 12. Oktober 2015 aus beiden Ämtern aus. Seine Nachfolge im Fraktionsvorsitz und damit auch in der Oppositionsführung wurden Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht.
Im Januar 2012 wurde bekannt, dass Gregor Gysi als einer von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken unter Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz steht.
Nachdem diese Überwachung Anfang 2014 eingestellt worden war, stellte das Verwaltungsgericht Köln in einem Anerkenntnisurteil im September 2014 fest, dass die Personenakte Gysis zu vernichten sei.
Laut Abschlussbericht des Immunitätsausschusses des Deutschen Bundestages soll Gysi zwischen 1975 und 1986 für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR unter verschiedenen Decknamen, dabei hauptsächlich als „IM Notar“ gearbeitet haben, nachdem in einer früheren Version des Abschlussberichtes noch davon die Rede war, dass ein solcher Nachweis aufgrund der vorhandenen Unterlagen nicht erfolgen kann.
Im Abschlussbericht heißt es unter anderem, Gysi habe
„seine herausgehobene berufliche Stellung als einer der wenigen Rechtsanwälte in der DDR genutzt, um als Anwalt auch international bekannter Oppositioneller die politische Ordnung der DDR vor seinen Mandanten zu schützen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat er sich in die Strategien des MfS einbinden lassen, selbst an der operativen Bearbeitung von Oppositionellen teilgenommen und wichtige Informationen an das MfS weitergegeben. Auf diese Erkenntnisse war der Staatssicherheitsdienst zur Vorbereitung seiner Zersetzungsstrategien dringend angewiesen. Das Ziel dieser Tätigkeit unter Einbindung von Dr. Gysi war die möglichst wirksame Unterdrückung der demokratischen Opposition in der DDR.“
Die Feststellungen des Immunitätsausschusses hatten aber keine Auswirkungen auf Gysis Arbeit als Abgeordneter, der im Abschlussbericht selbst der Beschuldigung widersprach und auf „wesentliche Mängel und Fehler“ im Verfahren hinwies. Die PDS und die FDP stimmten dem Papier nicht zu.
Gysi legte erneut Klage gegen die Feststellung ein. Er bekannte sich zur Kooperation mit der Staatsanwaltschaft und dem Zentralkomitee der SED „im Interesse und mit Wissen seiner Klienten“ und ging mehrmals erfolgreich, gerichtlich gegen die Verbreitung der Behauptung, er wäre IM Gregor / IM Notar gewesen, vor. 1998 untersagte das Landgericht Hamburg dem Magazin Der Spiegel, weiterhin zu behaupten, Gregor Gysi habe für die Stasi-Spionageabteilung gearbeitet und dort den Decknamen IM Notar geführt, weil der Spiegel seine Behauptungen nicht habe beweisen können.
Nachdem das ZDF am 27. Mai 2008 ein Interview mit Marianne Birthler ausgestrahlt hatte, in dem sie Gysi eine Stasi-Tätigkeit vorwarf, ging Gysi mit einem Unterlassungsbegehren gegen den Sender vor.
Die Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Marianne Birthler, erklärte, es gäbe in ihrem Haus keine Zweifel daran, dass der IM nach Aktenlage „nur Gregor Gysi gewesen sein“ könne. Der ARD sagte sie, es gebe Erkenntnisse, dass Gysi „wissentlich und willentlich“ die Stasi unterrichtet habe.
Die erfolglose Klage richtete sich ferner gegen die Freigabe von Protokollen, ausweislich derer DDR-Staatschef Erich Honecker Gysi über dessen Vater ausrichten ließ, dieser solle im Rahmen der „juristisch konsequenten Verteidigung“ Havemanns als dessen Rechtsanwalt „ein Vertrauensverhältnis zu Havemann herstellen mit dem Ziel, dass dieser seine Außenpropaganda einstellt“. Dem liegt ein Tonbandbericht in Ich-Form über ein Gespräch bei, das Gysi 1979 mit Havemann führte. („Ich schlug ihm noch einmal vor, jegliche Veröffentlichungen im Westen zu unterlassen und sich allein auf die DDR zu beschränken.“) Die zunächst mit seiner anwaltlichen Schweigepflicht begründete Berufung zog Gysi später zurück.
Gysi bestreitet nach wie vor, als IM tätig gewesen zu sein: Er sei erstmals 1980 von der Stasi wegen der Möglichkeit einer inoffiziellen Mitarbeit überprüft und 1986 abschließend „zur Aufklärung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit nicht geeignet“ befunden worden. „Im September 1980 legte die Stasi einen Vorlauf an, um zu prüfen, ob ich als IM infrage käme. Wozu einen solchen Vorlauf im Jahr 1980, wenn ich angeblich 1979 bereits IM war?“ Er habe „erhebliche Verbesserungen für Havemann wie die Aufhebung des Hausarrestes oder die Verhinderung weiterer Anklagen erreicht“.
Havemanns Sohn Florian hat Gysi in der Angelegenheit ausdrücklich verteidigt. Am 28. Mai 2008 erklärte er in einem Interview: „Unabhängig von der Frage, ob Herr Gysi IM war, was ich nicht beurteilen kann, hat er im Sinne unseres Vaters gehandelt.“ Hingegen stellt Havemanns Frau Katja anhand der Stasi-Unterlagen Gysis Rolle ins andere Licht – und spricht dabei auch über ihre Gewissheit, dass er sich eindeutig hinter IM Gregor und IM Notar verbirgt.
Gysi hinterfragte die Glaubwürdigkeit der Akten: Die Bundesbeauftragte habe in einem anderen Fall erklärt, „dass sie die Diskrepanzen zwischen dem Akteninhalt und tatsächlichen Begebenheiten nicht untersuchen dürfe. Die Behörde sei auch nicht befugt, Unterlagen zu bewerten und auch nicht, Wahrheitsfeststellungen zu treffen.“
Am 28. Mai 2008 befasste sich der Bundestag auf Verlangen von CDU/CSU und SPD in der Aktuellen Stunde mit dem „Bericht aus den Unterlagen der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, über vertrauliche Gespräche, die Gregor Gysi 1979/1980 als DDR-Rechtsanwalt mit Mandanten geführt hat“. In der Debatte forderten Abgeordnete der CDU, SPD, Grüne und FDP sowohl Konsequenzen in Form einer Entschuldigung bei den Opfern als auch den Ämterverzicht Gysis.
Der Vorsitzende der Linksfraktion, Oskar Lafontaine, forderte als Konsequenz aus den Äußerungen von Marianne Birthler deren Entlassung. Birthler bekräftigte dagegen, dass die Aktenlage zweifelsfrei zeige, dass Gysi wissentlich und willentlich Informationen an die Stasi geliefert habe. Dies sei gemäß Stasi-Unterlagengesetz entscheidend, als Stasi-Spitzel zu gelten, „unabhängig davon, ob eine Verpflichtungserklärung existiere oder nicht“
Wegen neuer Hinweise hat die Staatsanwaltschaft Hamburg ihre Ermittlungen gegen Gysi ausgeweitet. Ermittelt wird wegen einer möglicherweise falschen eidesstattlichen Versicherung. Gysi hatte erklärt, „zu keinem Zeitpunkt über Mandanten oder sonst jemanden wissentlich und willentlich an die Staatssicherheit berichtet zu haben“.
Im Wahlkampf 2013 behauptete Gysi, in Deutschland gelte noch immer das Besatzungsstatut. So forderte Gysi im Interview mit dem Deutschlandfunk ein Ende der Besatzung Deutschlands und die Aufhebung des Besatzungsstatuts, damit Deutschland endlich als Land souverän werden könne. Im Jahr 2015 antwortete er auf die Frage, ob Deutschland noch besetzt sei, mit „nein“ und äußerte, dass die Bundesrepublik Deutschland ein souveräner Staat sei, sich aber nicht so benähme; nahm in diesen Zusammenhängen aber nicht zum Besatzungsstatut Stellung.
Gysi bezeichnet sich als ungläubig und ist konfessionslos.


ELFTES KAPITEL
Sahra Wagenknecht

Sahra Wagenknecht ist die Tochter einer Deutschen und eines Iraners, der als West-Berliner Student ihre in der DDR lebende Mutter kennenlernte. Ihr Vater gilt seit dem Ablauf seiner Aufenthaltsgenehmigung im Jahr 1972 als verschollen. Als sie zum ersten Mal Bundestagsabgeordnete wurde, änderte sie die amtliche Schreibung ihres Vornamens entsprechend der persischen Schreibweise ab, wie es der ursprünglichen Namensgebung der Eltern entsprach. Ihre Mutter war nach Wagenknechts Angaben gelernte Kunsthändlerin und arbeitete für den staatlichen Kunsthandel. Sahra wuchs zunächst bei ihren Großeltern in einem Dorf bei Jena auf; mit Schulbeginn zog sie zu ihrer Mutter nach Ost-Berlin. Während ihrer Schulzeit wurde sie Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und schloss 1988 die Erweiterte Oberschule „Albert Einstein“ in Berlin-Marzahn mit dem Abitur ab. Die in der DDR übliche militärische Ausbildung für Schüler empfand sie als extrem belastend: Sie konnte nichts mehr essen, was ihr von den Behörden als politischer Hungerstreik ausgelegt wurde. Als repressive Reaktion darauf durfte sie in der DDR nicht studieren. Als Begründung wurde genannt, sie sei „nicht genügend aufgeschlossen fürs Kollektiv“. Ihr wurde eine Arbeitsstelle als Sekretärin zugewiesen. Diese kündigte sie allerdings nach drei Monaten, was für DDR-Verhältnisse äußerst ungewöhnlich war. Sie erhielt fortan keinerlei staatliche Unterstützung mehr und bestritt ihren Lebensunterhalt mit dem Erteilen von Nachhilfestunden. Im Frühsommer 1989 trat Wagenknecht der SED bei, nach eigenen Angaben, um den in der Sackgasse steckenden Sozialismus umzugestalten und Opportunisten entgegenzutreten.
Nach der Wende studierte sie ab dem Sommersemester 1990 Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Studium in Berlin brach sie ab, da sie „an der Ostberliner Humboldt-Universität kein Verständnis mehr für ihr Forschungsziel fand“. Danach immatrikulierte sie sich an der niederländischen Reichsuniversität Groningen für den Studiengang Philosophie. Nach eigenen Angaben hatte sie zuvor alle Scheine bis auf die Abschlussarbeit in Berlin gemacht und erwarb im September 1996 in Groningen den akademischen Grad Magistra Artium mit einer Arbeit über die Hegelrezeption des jungen Marx. Diese Untersuchung wurde 1997 als Buch veröffentlicht.
Nach eigenen Angaben begann sie 2005 ihre Dissertation zum Thema „Die Grenzen der Wahlfreiheit. Sparentscheidungen und Grundbedürfnisse in entwickelten Ländern“ im Fach Volkswirtschaftslehre. Im August 2012 reichte sie ihre Arbeit an der Technischen Universität Chemnitz beim Professor für Mikroökonomie Helmedag ein, der unter anderem auch Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist. Zwei Monate später bestand sie ihre mündliche Prüfung zum Dr. rer. pol. mit der Gesamtbewertung magna cum laude. Im Oktober 2013 veröffentlichte der Campus-Verlag ihre Doktorarbeit über das Verhältnis von Einkommen und Rücklagen.
Von August 2012 bis August 2014 verfasste sie in der Tageszeitung Neues Deutschland regelmäßig Artikel in der Kolumne Der Krisenstab.
Ab 1991 war Wagenknecht Mitglied des Parteivorstandes der PDS. Zwischen 1995 und 2000 jedoch musste sie für fünf Jahre aus dem Vorstand ausscheiden, weil Gysi sie für so untragbar hielt, dass er mit seinem Rückzug gedroht hatte. Von 1991 bis 2010 war sie Mitglied der Leitung der vom Bundesamt für Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuften Kommunistischen Plattform (KPF), einem Zusammenschluss orthodox-kommunistisch orientierter Mitglieder und Sympathisanten innerhalb der Partei und blieb dies auch nach der Verschmelzung von WASG und PDS. Die von Wagenknecht als Sprecherin der KPF öffentlich vertretene „positive Haltung zum Stalinismusmodell“ bewertete der Parteivorstand als unvereinbar mit den Positionen der PDS. Wagenknecht war das einzige Vorstandsmitglied, das der Vorstandserklärung zum Mauerbau die Zustimmung versagte, weil die überfällige Mauer endlich das lästige Einwirken des Klassenfeindes beendet habe. Noch im Mai 2008 erklärte sie im Spiegel, dass sie den Begriff Diktatur für die DDR (die sie zuvor als „das friedfertigste und menschenfreundlichste Gemeinwesen, das sich die Deutschen im Gesamt ihrer Geschichte bisher geschaffen haben“ bezeichnet hatte) für unangemessen halte.
2000 wurde sie erneut in den Parteivorstand der PDS gewählt. Im März 2006 gehörte sie zu den Initiatoren der Antikapitalistischen Linken, einer gemeinsamen Gruppierung aus Mitgliedern der WASG und Linkspartei. Seit Juni 2007 ist Wagenknecht Mitglied des Parteivorstandes der Partei Die Linke und seit Oktober 2007 Mitglied der Programmkommission. Ihren innerparteilichen Vorstoß, eine Kandidatur für den Vize-Parteivorsitz der Linken beim ersten Parteitag der fusionierten Partei im Mai 2008 zu erwägen, beendete sie nach der Ablehnung durch den Parteivorsitzenden Lothar Bisky sowie durch den Fraktionsvorsitzenden der Linken im Deutschen Bundestag Gregor Gysi und erklärte in einer Pressemitteilung, nicht als stellvertretende Vorsitzende zu kandidieren. Sie wurde auf dem Parteitag mit 70 Prozent der Stimmen erneut in den Parteivorstand gewählt. Auf Vorschlag Gysis und des Parteivorstands wurde Wagenknecht auf dem Bundesparteitag der Linken Anfang Mai 2010 mit 75 Prozent der Stimmen zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt. Am 8. November 2011 wurde sie mit 62 Prozent der Stimmen zur 1. Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt.
Zur Bundestagswahl 1998 trat Wagenknecht in Dortmund als Direktkandidatin der PDS an. Sie errang in ihrem Wahlkreis 3,25 Prozent der Erst- und 2,2 Prozent der Zweitstimmen. Bei der Europawahl in Deutschland 2004 gelang Wagenknecht der Einzug ins Europaparlament. Vorausgegangen war eine parteiinterne Kampfabstimmung. Im Juli 2009 schied sie aus dem Europaparlament aus.
Bei der Bundestagswahl 2009 kandidierte Wagenknecht für das Direktmandat im Wahlkreis Düsseldorf-Süd. Am 18. März 2009 wurde sie dafür vom Kreisverband der Linken in Düsseldorf nominiert. Wagenknecht wurde vom Landesparteitag auf Platz 5 der Landesliste in Nordrhein-Westfalen gewählt. Sie erhielt am 27. September 2009 9,7 Prozent der Erststimmen. Über die Landesliste zog sie in den Bundestag ein.
Wagenknecht ist seit 2011 eine von zwei ersten Stellvertreterinnen des Vorsitzenden der Bundestagsfraktion. Im Januar 2012 wurde bekannt, dass Sahra Wagenknecht als eine von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken unter Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz stehe.
Am 6. März 2015 teilte sie in einer persönlichen Erklärung mit, im Herbst 2015 nicht zur Wahl für den Posten der Fraktionsvorsitzenden anzutreten. Nachdem der amtierende Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi am 7. Juni 2015 auf dem Bundesparteitag der Linken in Bielefeld seinen Rückzug von diesem Amt zum Herbst des Jahres angekündigt hatte, erklärte sich Wagenknecht wenige Tage später doch bereit, gemeinsam mit Dietmar Bartsch in einer Doppelspitze Gysis Nachfolge antreten zu wollen. Am 13. Oktober 2015 lösten Wagenknecht und Bartsch Gysi im Fraktionsvorsitz ab und fungieren seitdem gemeinsam als Oppositionsführer im 18. Deutschen Bundestag.
Wagenknecht zeigt eine Sympathie gegenüber der Wirtschaftspolitik der Staaten Kuba und Venezuela. Über eine Presseerklärung ließ sie mitteilen, „dass die andauernde Existenz des kubanischen Systems einen Hoffnungsschimmer für diejenigen in der sogenannten Dritten Welt bedeutet, die die Verlierer einer markt- und profitorientierten globalisierten Welt sind“. Ebenso verteidigte sie die vom venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez beschlossene Verstaatlichung der Ölförderanlagen des US-Konzerns ExxonMobil.
Anfang Juni 2015 unterzeichnete Wagenknecht zusammen mit 150 weiteren Prominenten aus Kultur und Politik einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin, in dem die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften gegenüber der zweigeschlechtlichen Ehe gefordert wurde.
Wagenknecht wies angesichts der Flüchtlingswelle im Januar 2016 auf „Kapazitätsgrenzen“ und „Grenzen der Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung“ hin, wofür sie in ihrer Partei und darüber hinaus scharf kritisiert wurde.
Weiter kritisierte sie die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin Angela Merkel als „planlos“, sie habe in Deutschland zu einem „völligen Staatsversagen“ geführt, „auf sozialem Gebiet ebenso wie auf dem der inneren Sicherheit“. Sie forderte eine stärkere Unterstützung des Bundes für die Länder und Kommunen, die den Großteil der Kosten für Flüchtlinge selbst tragen würden und an anderer Stelle kürzen müssten. Wagenknecht warnte davor, „die Armen gegen die Ärmsten auszuspielen“ und nannte als Beispiel drohende Nahrungsengpässe bei der offenen Tafel für Arme.
Wagenknecht bezeichnete die Fluchtursachenbekämpfung der Bundesregierung als „unglaubwürdig“, da Deutschland Waffen in Spannungsgebiete exportiere und Drohneneinsätze der USA „mit logistischer Unterstützung aus Deutschland“ geflogen würden. Die Außenpolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in Form einer Unterstützung der „Ölkriege der USA und ihrer Verbündeten“ seien der Grund für die Existenz und Stärke des Islamischen Staates. Merkel trage deshalb und durch ihre Grenzöffnung für Flüchtlinge sowie den Sparkurs bei der Polizei eine „Mitverantwortung“ für den Anschlag in Berlin. Beobachter attestierten ihr daraufhin zum wiederholten Male eine ideologische Nähe zur „Alternative für Deutschland“.
1992 lobte Wagenknecht in ihrem Artikel „Marxismus und Opportunismus“ Stalins Herrschaft in der Sowjetunion als „die Entwicklung eines um Jahrhunderte zurückgebliebenen Landes in eine moderne Großmacht während eines weltgeschichtlich einzigartig kurzen Zeitraums; damit die Überwindung von Elend, Hunger, Analphabetismus, halbfeudalen Abhängigkeiten und schärfster kapitalistischer Ausbeutung“.
Ihre Haltung zum Stalinismus wurde innerhalb der Linkspartei teilweise als zu unkritisch empfunden und unter anderem von Gregor Gysi und dem Bundestagsabgeordneten Michael Leutert kritisiert. Letzterer sprach sich 2008 gegen ihre Kandidatur als stellvertretende Parteichefin aus, weil sie sich zu wenig vom Stalinismus distanziere. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Kommunistischen Plattform sprach sich Wagenknecht 2008 in einer Stellungnahme gegen ein allgemeines Gedenken in Form eines Gedenksteins auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde mit der Aufschrift „Den Opfern des Stalinismus“ aus, da sich unter diesen auch Faschisten befunden hätten, drückte aber ihr Mitgefühl mit den unschuldigen Toten aus.
In einem Interview aus dem Jahre 2009 setzt sich Wagenknecht kritisch mit dem „repressiven politischen System der DDR“ auseinander, lehnt aber eine Charakterisierung der DDR als Unrechtsstaat ab, weil dies darauf hinauslaufe, die DDR auf eine Ebene mit der NS-Diktatur zu stellen. Die DDR sei kein demokratischer Staat gewesen, jedoch sei auch im heutigen kapitalistischen System keine echte Demokratie möglich.
Als der israelische Staatspräsident Schimon Peres am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus 2010 als Gast im Deutschen Bundestag sprach, erhoben sich die Abgeordneten Christine Buchholz, Sevim Dağdelen und Wagenknecht zum Schlussapplaus nicht von ihren Sitzen. Sie wurden deswegen öffentlich und parteiintern kritisiert, so erklärte der Berliner Landeschef der Linkspartei, Klaus Lederer, das Verhalten der Abgeordneten für „inakzeptabel“, Michael Leutert erklärte sie für „nicht wählbar“.
Auf dem Parteitag der Linken am 28. Mai 2016 wurde Wagenknecht von Aktivisten der „Antifaschistische Initiative Torten für Menschenfeinde“ mit einer Torte beworfen. Die Aktivisten rechtfertigten ihre Aktion damit, dass Wagenknecht wie die AfD „den Volkszorn in politische Forderungen“ übersetze. Ihre Parteikollegen verurteilten den Angriff und wiesen die Anschuldigungen zurück.
CDU-Generalsekretär Peter Tauber bezeichnete aufgrund der ausländerfeindlichen Positionen Sahra Wagenknecht und Frauke Petry von der AfD als „das doppelte Lottchen des Populismus in Deutschland“.