SUFISMUS

von Josef Maria von der Ewigen Weisheit


ERSTES KAPITEL
Uwais al-Qaranī

أويس القرني Uwais al-Qaranī war ein islamischer Mystiker und Zeitgenosse des Propheten Muhammad. Er gilt als der erste Sufi überhaupt.
Der Überlieferung nach stammt Uwais aus dem Ort Qaran im Jemen, daher auch sein Name al-Qarani. Als er vom Propheten Muhammad und dessen Lehren hörte, bat er seine pflegebedürftige und blinde Mutter um Erlaubnis, diesen besuchen zu dürfen. Sie antwortete ihm, dass er ihr Einverständnis habe, den Propheten einmal zu sehen, um dann sofort nach Hause zurückzukehren, da sie zu diesem Zeitpunkt krank war und niemand sie in seiner Abwesenheit hätte pflegen können. Sollte der Prophet zu Hause sein, werde er ihn treffen; falls er nicht zu Hause sein sollte, soll er sofort wieder in den Jemen zurückkehren.
Also trat Uwais eine dreimonatige Fußreise an, um vom Jemen bis nach Medina, der Stadt des Propheten, zu gelangen. Als er am Haus Muhammads ankam, öffnete dessen Frau Aischa die Tür und sagte, ihr Ehemann sei nicht zu Hause, sondern auf der Rückkehr von einer Reise und würde erst einen Tag später ankommen.
Uwais mochte aber sein Versprechen gegenüber seiner Mutter nicht brechen. Deshalb gab er Aischa den Auftrag, seine Grüße dem Propheten zu übermitteln, und machte sich sofort wieder auf den Rückweg. Auf diese Weise kam Uwais al-Qarani nie dazu, den Propheten lebend zu treffen.
Später wurde in den Traditionen berichtet, dass Uwais al-Qarani nach dem Tod des Propheten Muhammad dessen "zweiter Mantel" zukam und er damit Ursprung einer unsichtbaren Linie der Übertragung sei. Der Überlieferung nach lebte er anschließend als Einsiedler in der Wüste. Auf ihn soll außerdem der älteste Sufiorden zurückgehen. Die Organisation Maktab Tarighat Oveyssi Shahmaghsoudi, laut eigener Aussage eine Schule des Islamischen Sufismus, sieht sich in der Tradition von Uwais al-Qarani mit einer direkten spirituellen Linie, die bis auf ihn zurückgehen soll. Es handelt sich dabei um eine internationale, ausbildende, gemeinnützige Organisation mit Zentren in aller Welt.


ZWEITES KAPITEL
Al-Hasan al-Basrī

Al-Hasan war der Sohn eines Sklaven, der ursprünglich Peroz hieß und während der Eroberungskriege in der Landschaft Maisan im Irak gefangengenommen und nach Medina gebracht worden war. In Medina wurde er von seiner Herrin bald freigelassen und heiratete Chaira, Hasans Mutter.
Nach der islamischen Überlieferung wuchs al-Hasan im Hidschaz auf. Nach der Schlacht von Siffin ließ er sich in Basra nieder, wo er wegen seiner Gelehrsamkeit und Frömmigkeit allgemein geschätzt wurde. In seinen jungen Jahren, zwischen 663 und 666, nahm er an mehreren Eroberungszügen muslimischer Truppen in den Iran teil. Im Jahre 666 trat er in Sistan in die Verwaltung ein. Der Statthalter übertrug ihm die Aufgabe, die dortige Steuerkasse aufzubauen. Er war ein politischer Gegner des zweiten Umayyadenkalifen Yazid I. (680-683), während dessen Herrschaft der zweite Bürgerkrieg den gesamten Irak, Syrien und den Hedschas erfasste. Während der Herrschaft von Abd al-Malik wirkte er in leitender Rolle an dem Projekt des al-Haddschadsch ibn Yusuf zur Kanonisierung des Korantextes mit. Als al-Haddschadsch den Regierungssitz nach Wasit verlegte, übte al-Hasan Kritik an dieser Entscheidung. Dadurch kam es zum Bruch mit dem Gouverneur. Unter dem Kalifen Umar ibn Abd al-Azīz (717-720) war al-Hasan kurze Zeit Qadi.
Al-Hasan hatte zahlreiche Schüler, darunter Qatda ibn Diama und die beiden Begründer der Mutazila, Wasil ibn Ata' und Amr ibn Ubaid.
Eigenständige Schriften al-Hasans haben sich nicht erhalten. Seine Beiträge zur Gestaltung der Jurisprudenz sind in einigen isoliert stehenden Fragmenten in der Hadith-Literatur überliefert. Seine Sprüche zur Frömmigkeit werden in späteren Prosaschriften und anthologischen Sammlungen, z. B. bei al-Mubarrad, zitiert. Ein bekannter Ausspruch von ihm lautet: „Mach aus der Welt eine Art von Brücke, die du überschreitest, sie aber nicht errichtest.“
Al-Hasans Lesevarianten zum Korantext sind in den späteren Qiraat-Werken überliefert, insbesondere in der ihm gewidmeten Mufrada des Abu Alī al-Hasan ibn Ali al-Ahwazi. Das früheste in seiner ursprünglichen Form heute noch erhaltene Werk, in dem die Auslegungen von al-Hasan al-Basri zum Koran konsequent berücksichtigt worden sind, ist das Kitab at-Tafsir des ägyptischen Gelehrten Abd Allah ibn Wahb, das bereits im 2. Jahrhundert der Hidschra (8. Jahrhundert n. Chr.) schriftlich überliefert wurde.
Al-Hasan betrachtete Willkür und Ungerechtigkeit der Obrigkeit als den Ausdruck von Gottes Willen, den man mit Geduld zu ertragen habe und gegen den man sich nicht erheben dürfe. Zugleich sprach er den Herrschern das Recht ab, ihre Unrechtstaten mit dem Qadar Gottes zu rechtfertigen.] Nach al-Hasan war es nicht erlaubt, zu behaupten, dass Gott der Schöpfer auch die schlechten Handlungen des Menschen hervorbringe, vielmehr sei der Sünder für seine Taten selbst verantwortlich. Nach einer Anekdote, die in der mutazilitischen Literatur überliefert wird, ging al-Hasan einmal an einem Räuber vorbei, den man gekreuzigt hatte, und fragte ihn: „Was hat dich dazu gebracht, dies zu tun?“ Der Räuber antwortete: „Die Vorherbestimmung Gottes und seine Vorsehung.“ Da sagte al-Hasan: „Du hast gelogen. Soll er etwa zuerst für dich vorherbestimmt haben, dass du stiehlst, und dann, dass du gekreuzigt wirst?" Daneben existieren noch zahlreiche andere von al-Hasan überlieferte Aussagen, die ihn als Vertreter einer Lehre des freien Willens ausweisen.
Al-Hasan war auch eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Koranwissenschaften. In einigen Fällen zeigen al-Hasans Lesevarianten Abweichungen beim Konsonantengerüst der einzelnen Wörter gegenüber dem uthmanischen Text.
In einzelnen Fällen lassen die Lesarten al-Hasans bestimmte dogmatische Positionen erkennen. So hat er sich an zwei Stellen (Sure 5,85 und Sure 48,18) für eine Lesart entschieden, die die Belohnung von Handlungen betont. In Sure 12,110 „Als dann die Gesandten schließlich die Hoffnung aufgaben und meinten, sie seien belogen worden (oder für Lügner erklärt worden), kam unsere Hilfe zu ihnen" waren die beiden passivischen Lesarten, für die sich al-Hasan entschied, notwendig, um die Vorstellung von der Unfehlbarkeit der Propheten zu sichern. Eine aktivische Lesung des Verbs "sie logen" hätte die Interpretation eröffnet, dass die Propheten von sich selbst meinten, dass sie gelogen hätten, was mit der in dieser Zeit sich durchsetzenden Vorstellung vom Prophetentum nicht vereinbar war. An mehreren Stellen des Korans sind auch zwei oder mehr Lesevarianten von al-Hasan zu einem Wort überliefert.
Von al-Hasan al-Basrī sind auch Lehrauffassungen zur Abrogation von Koranversen überliefert. So soll er zum Beispiel gelehrt haben, dass die in Sure 2,144 ausgesprochene Aufforderung, sich beim Gebet nach der Heiligen Kultstätte in Mekka auszurichten, die in Sure 2,115 gegebene Erlaubnis, in alle Richtungen beten zu dürfen, aufgehoben habe, und dass die Verse zu den Pflichterbteilen (Sure 4,11.12.176) das Gebot, zugunsten von Eltern und Verwandten eine letztwillige Verfügung zu treffen (Sure 2,180), abrogiert habe.


DRITTES KAPITEL
Rabia al-Adawiyya al-Qaysiyya

Die bekannten Lebensdaten wurden aus vielen verschiedenen hagiographischen Quellen zusammengestellt. Die Trennung der Fakten von den Legenden ist schwierig. Es lassen sich jedoch historische Eckdaten aufzeichnen. Rabʿa wurde während der Ära der Abbasiden in Basra geboren und höchstwahrscheinlich von ihrem sozio-religiösen Milieu beeinflusst. Basra beherbergte damals eine Schule für weibliche Asketen zu einer Zeit, als der Asketismus wachsenden Zuspruch erfuhr. Basra war zudem die Heimstätte des renommierten Asketen al-Hasan al-Basri, mit dem Rabia in den Legenden oft verbunden wird, den sie aber vermutlich nie getroffen hat. Dagegen gibt es keinen Anlass zu Zweifeln an der Erzählung ihres Zeitgenossen al-Dschahiz, nach der sie mit anderen Mystikerinnen verbunden war und eine asketische Lebensweise führte. Nach einigen Quellen war Rabia eine Sklavin des al-Atik-Clans, bis ihr Herr ihr die Freiheit schenkte, als er ihre großen spirituellen Fähigkeiten erkannte, worauf sie ihr Leben der beständigen Verehrung ihres Gottes widmete.
Rabias bekannteste Lehre ist die mystische Liebe und Kameradschaft zu Gott. Jeder wahre Liebende suche die Innigkeit mit seinem Geliebten, so auch der wahre Gläubige mit Gott. Dabei unterscheidet sie zwischen einer egoistischen und kurzzeitigen Liebe zu Gott, nur um dessen Gunst zu erhalten, und einer ihm würdigen und dauerhaften Liebe, nämlich die Liebe zur Schönheit Gottes. Wie alle Sufis suchte sie letztlich die Einheit mit dem Göttlichen.
Es existieren einige poetische Werke, die Rabia zugesprochen werden, viele davon sind jedoch von unbekannter Herkunft. Sie selber hinterließ keine schriftlichen Dokumente, die meisten Geschichten über sie sind aufgrund der literarischen Werke des bekannten Sufi Fariduddin Attar überliefert.
Über die Jahrhunderte hinweg wurde die Figur Rabia auf verschiedene Weise konstruiert und neu interpretiert, indem die jeweiligen Erzähler ihr Vermächtnis geformt und umgeformt haben. In der islamischen Welt entstanden aus Rabias legendärem Leben viele romantisierende Biographien. Einige ihrer Aussprüche wurden von al-Ghazali kommentiert. Besonders in sufistischen Kreisen erfreut sie sich reger Beliebtheit, hier hatten ihre Lehren auch durchaus gewichtigen Einfluss. Schon im Mittelalter fanden einige Legenden über sie auch im christlichen Europa Verbreitung.
Die Erzählungen von al-Dschahiz zeichneten das Bild einer sich selbst einschränkenden Asketin, die bekannt dafür war, allen weltlichen Dingen zu entsagen. Demnach galt ihre Liebe nur ihrem Gott allein. So wollte sie zölibatär leben und sich weder durch das Versprechen des Paradieses noch durch die Furcht vor dem Feuer der Hölle von ihm ablenken lassen.
Der persische Mystiker Fariduddin Attar beschrieb Rabia vier Jahrhunderte später als Besitzerin übernatürlicher Kräfte, eines sarkastischem Humors und einer tiefen Pietät. In einer Geschichte schrieb er ihr die Fähigkeit zu, auf ihrem Teppich durch den Himmel fliegen zu können. In einer anderen Geschichte erleuchtete sie die Dunkelheit mit ihren Fingern, die eines Nachts wie Laternen leuchteten. Als sie eine islamische Pilgerfahrt nach Mekka machte, sei die Kaaba wie durch ein Wunder zu ihr gekommen. Oft wurden ihr auch sarkastische Zurechtweisungen männlicher Schüler zugeschrieben, zu weltlich zu sein.
Der ägyptische Film Rabia al-Adawiyya von 1963 schilderte sie als schöne junge Sklavin, die von ihrem Herrn gezwungen wurde, orientalische Tänze aufzuführen, bis sie den Glauben zu Gott für sich entdeckte und ihr Leben dem Predigen und Beten widmete. Die berühmte ägyptische Sängerin Umm Kulthum nahm die Lieder für den Film auf und spielte in ihm mit. Der in Agfacolor gedrehte Film erzählt die Geschichte in romantischer und musikalischer Weise, wird noch immer häufig im ägyptischen Fernsehen gezeigt und ist aufgrund der Darstellung von Umm Kulthum, Nabila Ebeid (in der Rolle der Rabia) und Farid Shawqi in Ägypten sehr beliebt.
Anhänger Rabias glauben daran, dass ihr Grabmal sich auf dem Ölberg in Jerusalem in einer Moschee aus dem 17. Jahrhundert befindet, die in der Nähe einer Kirche ist, die dem Ort ein Denkmal setzt, an dem der im Islam als Prophet und im Christentum als Messias verehrte Jesus von Nazareth nach christlichem Glauben in den Himmel aufgestiegen ist.
Als Waisenkind verarmter Eltern wurde Rabia in die Sklaverei verkauft, wobei ihr Herr auch die sexuelle Verfügungsgewalt über sie besaß. Sie schlief oft wochenlang nicht und verbracht die Zeit im Fasten, im Gebet und in Meditation. Eines Nachts bemerkte ihr Herr einen hellen Lichtschein über ihrem Kopf, der das gesamte Haus erleuchtete. Darüber erschrocken ließ er sie frei, und sie begann in der Wüste ein abgeschiedenes Leben als Sufistin. Auch wenn sie später in die Stadt Basra zurückkehrte, blieb sie ihr gesamtes restliches Leben keusch und lehnte trotz legendärer Schönheit jedes Heiratsangebot ab.
Man sah Rabia in den Straßen von Basra mit einem Eimer Wasser in der einen Hand und einer Fackel in der anderen Hand. Als sie gefragt wurde, was dies zu bedeuten habe, antwortete sie: „Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern nur noch um seiner Ewigen Schönheit willen.“
Rabia wurde einmal gefragt: „Liebst Du Gott?“ Sie antwortete: „Ja.“ – „Hasst Du den Teufel?“ Sie antwortete: „Nein. Meine Liebe zu Gott lässt mir keine Zeit, den Teufel zu hassen.“
Als man Rabia einmal fragte, aus welchem Grund sie die Hilfe ihrer Freunde ausschlug, welche ihr eine Sklavin anbieten wollten, um ihr die Ausübung ihrer gottesdienstlichen Tätigkeiten zu ermöglichen, antwortete sie: „Ich würde mich schämen, Güter dieser Welt von demjenigen zu erbitten, dem sie gehören. Wie sollte ich sie dann von Leuten einfordern, denen sie nicht gehören?“
Ein Gebet, das ihr zugeschrieben wird, lautete wie folgt: „O Herr, wenn ich Dich aus Angst vor der Hölle liebe, verbrenne mich dort, und wenn ich Dich in der Hoffnung auf das Paradies liebe, schließe mich dort aus, doch wenn ich Dich aus Liebe zu Dir selbst liebe, entziehe mir nicht Deine göttliche Schönheit.“
Rabia soll kurz vor ihrem Tod ihren Freunden befohlen haben, sich zu entfernen und den Gottesboten den Weg freizugeben. Als ihre Freunde das Zimmer verließen, hörten sie Rabia das islamische Glaubensbekenntnis sprechen, worauf eine Stimme antwortete: „ O Seele, die du im Glauben Ruhe gefunden hast! Kehr zufrieden und wohlgelitten zu deinem Herrn zurück! Schließe dich dem Kreis meiner Diener an, und schließe dich in mein Paradies ein!“ (Koran, Sure 89, 27-30). Nach ihrem Tod soll man von ihr geträumt haben und sie befragt haben, auf welche Weise sie den Todesengeln Nakir und Munkar entronnen sei.


VIERTES KAPITEL
Dhū n-Nūn al-Misrī


Dhu n-Nun al-Misri war ein Sufi aus Ägypten. Seine Eltern waren Nubier aus Oberägypten.
Der Beiname Dhu n-Nun bedeutet „der mit dem Fisch“. Er wurde nicht nur als Mystiker verehrt, sondern auch als Magier angeklagt, weil er Bücher über Alchemie verfasst haben soll. Um das Jahr 840 herum war er während der Verfolgung der „Altgläubigen“ in Bagdad eingekerkert.
Durch seine poetischen Gebete führte er einen neuen Stil in die ernste und asketische Frömmigkeit der damaligen Sufis ein. Er vernahm – dem Koran-Wort getreu – aus allem Geschaffenen den Lobpreis Gottes und beeinflusste so die späteren Naturschilderungen persischer und türkischer Sufis.
Dhu n-Nun werden auch einige Definitionen der Erkenntnis Gottes zugeschrieben.
Eine bekannte Anekdote aus seinem Leben erzählt davon, dass er bei der Suche der muslimischen Frommen nach dem größten Namen Gottes gesagt haben soll: „Zeige mir den kleinsten!“



FÜNFTES KAPITEL
Bayazid Bistami

Bayazids Großvater war ein Zoroastrier aus Persien, der zum Islam konvertierte. Bayazid lebte nach Angaben frühislamischer Biographien in strenger Askese und Meditation. Wie bei vielen anderen Sufis war Hungern und Armut ein wichtiger Teil seines spirituellen Wegs. Neben Ibrahim ibn Adham ist er der einzige bekannte frühe Sufi, von dem auch ein zölibatäres Leben überliefert ist. Bayazid hat keine Bücher geschrieben, das Wesentliche seiner Lehre ist durch seine Schüler überliefert.
Bayazid glaubte als erster Sufi daran, die eigene Auflösung erreicht zu haben. Er habe sich aus seinem Ich geschält und die Vereinigung erreicht. Zeitweise habe er die Einheit zwischen dem Geliebten, dem Liebenden und der Liebe erreicht. Orientalisten sehen hier einen Einfluss aus indischen Lehren, speziell von dem indischen Philosoph Shankara. Zeitgenössische Sufis bezweifelten diesen Erfolg und bedauerten Bayazid für seinen Irrtum, darunter Dschunaid und al-Halladsch. Sie meinten, Bayazid sei nur an die Schwelle der Auflösung gekommen und dort stehengeblieben.
Der Grabturm seines Mausoleums in Bastam ist ein besonders charakteristisches Beispiel für einen Turmtyp des 11. bis 14. Jahrhunderts.
Bayazid bildet in vielen populären Texten als berauschter Sufi den Gegenpol zum nüchternen Sufi, der von seinem Zeitgenossen Dschunaid dargestellt wird. Beide Figuren gehören zu einer Auslegungstradition, die im 11. Jahrhundert begründet wurde. Der Rausch von Bayazid meint in diesem Kontext nicht ausschließlich Trunkenheit oder Drogenrausch, sondern kann auch als leidenschaftliche, liebende Ekstase verstanden werden. Bayazids unkontrollierte Berauschtheit wird in diesen Texten als eine funktionierende, aber doch minderwertige Form der Annäherung an Gott diskutiert, während der nüchterne Weg von Dschunaid als die überlegene Variante dargestellt wird. Es ist unklar, wie weit das Leben Bayazids mit diesen Anekdoten übereinstimmt, am wahrscheinlichsten ist, dass der Sufi von späteren Autoren sowohl wegen seiner bemerkenswerten Ekstasefähigkeit also auch wegen seiner auf hohem Niveau gescheiterten Einheit mit Gott für diese Rolle ausgewählt wurde.


SECHSTES KAPITEL
al-Dschunaid

Al-Dschunaid war ein Vertreter der Bagdader Mystik und gilt bis heute als eine der wichtigsten Autoritäten des Sufismus.
Al-Dschunaid war Sohn eines persischen Kaufmanns, der mit Flaschen oder Kristallen handelte. Seine Familie stammte aus der persischen Stadt Nahavand. Er wuchs in Bagdad im Haushalt seines Onkels auf, der ihn auch in die Mystik einführte. Sufische Lehren lernte er außerdem bei al-Harith al-Muhasibi kennen, mit dem er lange Spaziergänge durchführte. Er selbst war als Seidenhändler tätig, studierte daneben aber auch Islamisches Recht bei dem schafiitischen Gelehrten Abu Thaur. Mit zwanzig Jahren war seine juristische Ausbildung so weit abgeschlossen, dass er in dessen Namen Rechtsgutachten abgeben konnte.
Dschunaid sah im Sufismus einen Weg der ständigen Läuterung und des seelischen Kampfes. Er verurteilte manche andere Sufis scharf, die meinten, sich über Moral und religiöse Pflichten hinwegsetzen zu können oder die Vorschriften des Koran nicht mehr beachten zu müssen. Für Dschunaid waren Koran und Sunna die Grundlagen des Glaubens, und diese können durch keine mystische Erfahrung außer Kraft gesetzt werden. Außerdem galten für ihn für das Beschreiten des mystischen Wegs eine bestimmte Lebensweise als Voraussetzung: rituelle Reinheit, ständiges Gottesgedenken, periodisches Fasten, Klausur, Zeiten des Schweigens, Aufgeben des eigenen Besitzes und die Führung durch einen Sufi-Meister (sheikh).
Nach Dschunaid ist das Ziel des Sufismus nicht das Einheitserlebnis, sondern der Zustand nach der Rückkehr dieses Erlebnisses zum Bewusstsein seiner selbst. Nach dieser Rückkehr besitzt man die Klarheit der Gotteserkenntnis, das Leben ist dann ein Leben in Gott. Jedoch sagte Dschunaid, dass man nicht ein von Gott geleitetes Leben in einsamer Abgeschiedenheit führen solle. Vielmehr soll man fest in der Gemeinschaft der Mitmenschen stehen, um ihnen ein Vorbild zu sein und ihnen helfend zur Seite zu stehen. Er lehnte jedoch den Sufi Mansur al-Halladsch ab, der seiner Meinung nach die Geheimnisse des Sufipfades in aller Öffentlichkeit preisgab.
Dschunaid wird von verschiedenen Richtungen und Schulen als Meister angesehen, und die meisten spirituellen Ketten der späteren Sufiorden gehen auf ihn zurück.


SIEBENTES KAPITEL
Al-Halladsch

Eine der wichtigsten Quellen für das Leben von al-Halladsch ist der biographische Bericht seines Sohnes Hamd. Auf Grundlage dieses Textes und anderer Quellen wurde eine Chronologie seines Lebens erstellt.
Al-Halladsch wurde in der persischen Stadt Ṭur in der Provinz Fars (im Süden Irans) als Sohn eines Wollkämmers geboren. Sein Großvater war Zoroastrier gewesen. Als al-Halladsch noch ein Kind war, zog sein Vater nach Mesopotamien in die Stadt Wasit, um näher an den Zentren des Wollhandels leben und arbeiten zu können. Mit 16 Jahren begab er sich nach Tustar, wo er für zwei Jahre Schüler des Mystikers Sahl at-Tustari war. Im Jahr 875 verließ er die Stadt und zog über Basra nach Bagdad, wo er Schüler von Amr ibn Uthman al-Makki wurde und Umm al-Husain, die Tochter von Abu Yaqub al-Aqta, heiratete. Nach acht Monaten kam es zwischen Amr und seinem Schwiegervater zu Streitigkeiten, die al-Halladsch sehr belasteten. In diesem Zusammenhang besuchte er öfters al-Dschunaid, der ihm riet, Ruhe zu bewahren und den beiden weiter mit Respekt zu begegnen. 895 begab sich al-Halladsch auf Wallfahrt nach Mekka. Nach einem einjährigen Aufenthalt in der Heiligen Stadt kehrte er mit einer Gruppe sufischer Pilger zurück nach Bagdad und schloss sich erneut al-Dschunaid an.
897 brach al-Halladsch mit al-Dschunaid und kehrte in Begleitung seiner Frau nach Tustar zurück. Nach der Biographie seines Sohnes Hamd war der Anlass für den Bruch mit al-Dschunaid, dass al-Halladsch ihm eine Frage stellte, die al-Dschunaid als religiöse Anmaßung verstand. Nach der Darstellung eines Doxographen tat al-Hallädsch schon in Anwesenheit von al-Dschunaid seinen berühmten Ausspruch Ana al-ḥaqq, der deswegen besonders anstößig war, weil al-ḥaqq einer der koranischen Gottesnamen ist. Al-Dschunaid soll ihn für diesen Ausspruch schwer getadelt und ihm entgegengehalten haben, dass er nicht selbst al-ḥaqq sei, sondern nur durch al-ḥaqq existiere.
In den Jahren zwischen 899 und 902 reiste al-Halladsch durch Chorasan, Fars und Chusistan, hielt erste Predigten und schrieb verschiedene Werke. Erst in dieser Zeit wurde ihm der Titel „der Baumwollentkörner“ verliehen.
Nach einer weiteren Wallfahrt nach Mekka im Jahre 903 ließ sich al-Halladsch 904 mit mehreren Ehrenmännern der Stadt Ahwaz in Bagdad nieder. Unter den Sufis und auch der Bevölkerung Bagdads fiel al-Halladsch durch seine radikalen und schockierenden Äußerungen auf. Um das Jahr 909 griff ihn der Rechtsgelehrte Ibn Dawud wegen seiner Lehren an und äußerte: „Wenn das, was Gott seinem Propheten offenbart hat, und das, was uns der Prophet davon übermittelt hat, wahr ist, dann ist das, was al-Halladsch gelehrt hat, falsch.“ Seinen Urteilsspruch hatte er mit der Aussage abgeschlossen, dass es erlaubt sei, al-Halladsch zu töten. Halladsch, der daraufhin unter Polizeiaufsicht gestellt wurde, entkam nach Susa.
913 wurde al-Halladsch erneut gefangengesetzt, nach Bagdad verbracht und nach einem Prozess für drei Tage als „Agent“ an den Pranger gestellt. Die folgenden Jahre verbrachte er als Gefangener am Hof der Abbasiden, wobei es ihm zeitweise gelang, hier machtvolle Sympathisanten zu gewinnen. Im Jahre 921 eröffnete der abbasidische Wesir erneut den Prozess gegen ihn. Grundlage der Anklage waren Dokumente, aus denen hervorging, dass al-Halladsch den Vollzug bestimmter religiöser Übungen zu Hause als ausreichend betrachtete, um den Gläubigen von seiner Pflicht zur Wallfahrt nach Mekka zu entbinden. Der malikitische Kadi Ibn Yusuf urteilte in einem Fatwa, dass diese Lehre Ketzerei sei, die zwangsläufig die Todesstrafe nach sich ziehe. Auf der Grundlage dieses Fatwa wurde al-Halladsch am 26. März 922 öffentlich hingerichtet. Man setzte ihm eine Krone auf, schlug ihn halb tot und stellte ihn anschließend an einem Kreuz zur Schau. Er starb am Folgetag.
Zu den Schriften, die von al-Halladsch überliefert werden, gehören: 27 von seinen Schülern zusammengestellte Riwayat, die jeweils die Form eines Hadith haben; verschiedene Gedichte, die in dem Dīwan al-Ḥallaf zusammengestellt wurden; eine Anzahl von Logien; sein Kitab aṭ-Ṭawasin mit elf Kapiteln. Wichtige Themen des Kitab sind die Person Mohammeds, seine Himmelfahrt und seine Thronvision von Sure 53, 6–9 , der Fall Satans sowie der Tauhid.
Halladsch genießt sowohl bei den späteren Sufis als auch bei den Aleviten hohes Ansehen. Sein Ausspruch Ana al-ḥaqq wird im Sinne des sufischen Ideals der Eins-Werdung mit Gott, der Auflösung des Ichs in Gott interpretiert. Ein osmanisch-türkische Koranexeget berichtet in seinem Korankommentar, der andalusische Sufi Ibn Arabi habe bei einem Gebet in Cordoba eine Vision gehabt, in der er alle Propheten von Adam bis Mohammed sah. Der Prophet Hud habe sich daraufhin an ihn gerichtet und ihm erklärt, dass sich die Propheten alle versammelt hätten, um bei Mohammed Fürsprache für al-Halladsch einzulegen.
Al-Halladschs Schriften und Schicksal haben außer in wissenschaftlichen Publikationen, namentlich der Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel, auch in belletristischen Werken vielfältige Beachtung gefunden, so beispielsweise in Gedichten von Friedrich Rückert:
Halladsch, der in Bagdad
War ein Wunderthäter…



ACHTES KAPITEL
Adi ibn Musafir

Adi ibn Musafir war ein Nachkomme des umayyadischen Kalifen Marwan I. Er verbrachte seine Jugend in Bagdad, wo er bei dem Sufi-Meister Hammad ad-Dabbas studierte, der auch der Lehrer von al-Dschilani war. Nach verschiedenen Reisen ließ er sich in den Bergen von Hakkari nieder, wo er seine sufische Ausbildung bei al-Hulwani und anderen Scheichen fortsetzte.
Die von Adi begründete und nach ihm benannte Ordenstradition verbreitete sich über den ganzen Nahen Osten, insbesondere nach Syrien und Ägypten. Mit der Zeit schlossen sich auch die kurdischen Stämme aus der Umgebung von Hakkari seinem Orden an.
Von Scheich Adi sind vier Schriften erhalten: Die Glaubenslehre der Sunniten, Das Buch über die Bildung der Seele, Anweisungen des Scheich Adi an den Nachfolger, und Anweisungen an seinen Schüler, den führenden Scheich, und die übrigen Muriden. Sie weichen inhaltlich nicht von der traditionellen islamischen Lehre ab. Dies stimmt mit der Aussage des Gelehrten Ibn Taimiyya überein, der Scheich Adi als einen aufrichtigen Muslim beschrieb, der die Sunna des Propheten befolgte.
Scheich Adi starb 1162 kinderlos und wurde in Lalisch begraben. Der Orden wurde durch seinen Neffen weitergeführt. Innerhalb dieses Ordens war die Verehrung für den Scheich so stark, dass man sein Grab zur neuen Qibla machte. Aufgrund dessen wurde das Grab im Jahr 1414 durch aufgebrachte Muslime geschändet und seine Knochen entweiht. Später wurde das Grab wiedererrichtet.
Von den Jesiden wird Scheich Adi als Erneuerer ihrer Religion und gleichzeitig als Reinkarnation des Tausi Melek als Weltenauge angesehen, der kam, um den Jesiden in einer schwierigen Situation zu helfen. Aus jesidischer Sicht soll er zudem von der Geburt an ein Jeside gewesen sein und seine außerordentlichen spirituellen Fähigkeiten von Tausi Melek persönlich erhalten haben. Scheich Adis Großvater soll in den Bergen von Hakkari bis zu seiner Zwangsemigration nach Syrien gelebt haben. Die Jesiden weisen darauf hin, dass Scheich Adi bei einer Rede mit Scheich Schems, dem damaligen Oberhaupt aller Jesiden, versichert hat, dass er den Glauben der Scheich-Schems-Familie für sich akzeptiere.
Am Grab von Scheich Adi in Lalisch findet jedes Jahr im Oktober das jesidische „Fest der Versammlung“ statt.


NEUNTES KAPITEL
Muhyi Din Ibn Arabi

Ibn Arabi stammt aus einer berühmten Familie im maurischen Spanien. Sein Vater war ein einflussreicher Mann, zu dessen Freunden unter anderem der Philosoph und Arzt Averroes und al-Dschilani zählten. Die Familie pflegte aber nicht nur gute soziale und kulturelle Beziehungen, sondern es war auch eine starke Religiosität vorhanden. Einige Onkel Ibn Arabis waren ebenfalls Sufis.
Nach der Besetzung Murcias durch die Almohaden übersiedelte die Familie des damals achtjährigen Ibn Arabi nach Sevilla. Dort erhielt er eine traditionell-muslimische Erziehung: Er studierte den Koran und seine Auslegungen, die Tradition des Propheten Muhammad (Sunna), das islamische Gesetz (Scharia), arabische Grammatik und hörte Vorträge der berühmtesten Lehrer seiner Zeit.
Er wurde auch von zwei als heilig angesehenen Frauen erzogen, Schams Umm al-Fuqara aus Marchena und Munah Fatima bint Ibn al-Muthanna aus Cordoba. Beide waren zu der Zeit schon sehr alt, letztere über 90 Jahre.
Einige Jahre später verheiratete sich Ibn Arabi mit einer Frau namens Maryam bint Muhammad ibn Abdun. Diese war eine sehr beliebte und einflussreiche Person und teilte mit ihrem Ehemann den Wunsch, den Weg des Sufismus zu gehen.
Im Jahr 1193 verließ Ibn Arabi die iberische Halbinsel und reiste nach Tunis. Auf dieser Reise berichtete er, mehrere Erlebnisse mit Chidr, dem mythischen Gefährten von Moses und spirituellen Führer der Mystiker, gehabt zu haben. Von ihm persönlich habe er die Chirqa, das Gewand der Sufis, erhalten. Das Umhängen des Mantels ist ein Einweihungsritual, mit dem Sufi-Schüler von ihrem Meister initiiert werden.
Aufgrund der andauernden Kämpfe in Nordafrika entschied er sich noch im selben Jahr, nach Andalusien zurückzukehren. Dabei traf er auf dem Weg nach Sevilla in der Stadt Tarifa auf al-Qalafat, um mit ihm über die Verdienste der Armut und des Reichtums zu diskutieren.
In den Jahren 1195 und 1197 bereiste er Fès, wo sein Ruf eine große Anzahl an Schülern und Bewunderern anzog. Anschließend kehrte er in seine Geburtsstadt Murcia zurück; auf dem Weg dorthin verweilte er in Granada und besuchte die Sufi-Schule von Almeria, die von Ibn al-Arif gegründet wurde.
1202 unternahm Ibn Arabi eine weite Reise in den Orient, wobei er Alexandria, Kairo und schließlich Mekka besuchte, wo es nicht lange dauerte, bis sich die Nachricht seiner Ankunft in der ganzen Stadt verbreitete. Dort traf er auf die wichtigsten Persönlichkeiten des Sufismus jener Zeit, bis er 1205 Mekka verließ und nach Bagdad ging. Anschließend bereiste er ganz Ägypten, um danach 1207 erneut nach Mekka zu gehen.
Ibn Arabi besuchte auch die Stadt Konya (Türkei), wo seine Weisheit und Spiritualität bei den Einheimischen einen großen Eindruck hinterließen. Sein Aufenthalt in dieser Stadt ist für den östlichen Sufismus bis nach Indien von Bedeutung.
m Jahr 1223 beschloss Ibn Arabi, sich in Damaskus niederzulassen, wo er bis zu seinem Tod 1240 lebte.
Ibn Arabi betonte mehrmals, dass die Theologie als verschiedene Richtungen nur vorübergehend sei und er nicht ihr Befolger. Diese seien nur vorübergehende Einrichtungen, um zu einem höheren Ziel zu gelangen, wie dem Verzicht auf weltlichen Dinge. Speziell seine Interpretation des Tauhid machte ihn später zu einem Angriffspunkt seiner Gegner, insbesondere seine Lehre von der "Einheit des Seins". Sie geht von einer körperlichen Einheit zwischen Schöpfer und Schöpfung aus. Ar-Raniri wirft ihm in diesem Zusammenhang noch vor, die Erschaffenheit der Welt von Gott, die aus dem Koran hervorgeht, zu leugnen. Allgemeinhin bezeichnen seine Gegner die Theorie als kufr. Ibn Taimiyya vergleicht sie in diesem Zusammenhang mit der Dreifaltigkeit im Christentum.
Sufis, die den Tauhid anders interpretierten als ibn Arabi, stellten eine andere Lehre auf. Diese stellt fest, dass das "Wesen Gottes" nichts anderem gleicht und in keiner Einheit mit einer Schöpfung existiert. Die „Einheit mit Gott“ wird hier vielmehr damit erklärt, die Auflösung des eigenen Willens in Gottes Willen, die Aufgabe des eigenen Egos zu erlangen. Um dorthin zu gelangen, bedarf es einer großen Anstrengung (dschihad) als Kampf gegen das eigene Innere, das sogenannte „niedere Ego“. Als höchste Stufe gilt das „reine Ich“, das jedoch nur von wenigen Sufis erreicht werden könne.
Ibn Arabi vertrat ferner die Auffassung, dass Jesus, im Islam gemeinhin bekannt als Isa ibn Maryam, nicht, wie eine große Anzahl der islamischen Richtungen glaubt, mit dem Körper in den Himmel emporgehoben wurde. Allein die Seele Jesu sei von Gott in den Himmel emporgehoben worden und er also eines natürlichen Todes gestorben.
Ibn Arabi hat während seiner Reisen und in den letzten Jahren seines Lebens eine fast unübersehbare Menge von Werken verfasst, die fast alle islamischen Mystiker nach ihm mehr oder weniger stark beeinflusst haben. Man sagt, es gebe keine größere Liebeslyrik als die seine und kein Sufi habe mit dem inneren Sinn seines Lebens und seines Werkes die orthodoxen Theologen mehr beeindruckt als er.
Die Lehren Ibn Arabis bildeten schon zu seinen Lebzeiten, aber auch in den Jahrhunderten danach ein äußerst kontroverses Thema unter den muslimischen Gelehrten. Zahlreiche Gelehrte schrieben nach seinem Tod Kommentare zu seinen Werken und erklärten deren mystische Begrifflichkeit, darunter auch mehrere führende Gelehrte des frühen osmanischen Staates. Sie sahen in ihm den größten spirituellen Meister.
Andere muslimische Gelehrte, insbesondere solche aus dem Orthodoxen Islam, betrachteten Ibn Arabi als Ketzer oder sogar Apostaten. Es gibt nur wenige, die eine neutrale Haltung zu ibn Arabi bewahren, wie mancher Gelehrte der Deobandi. Im Mittelalter stammten die meisten Gegner ibn Arabis aus dem Lager der Hanbaliten, die der Athari-Theologie folgten, und aus dem Lager der Orthodoxen Maturidiyyah. Heute können insbesondere die Anhänger des Salafismus, die sich in ihren Ansichten stark an die Hanbaliten anlehnen, als Gegner des Mystikers betrachtet werden.


ZEHNTES KAPITEL
Fariduddin Attar

Attar ist unter den großen klassischen Dichtern Persiens der in Europa am wenigsten bekannte. Seinem radikalen Gottesbild widmet deshalb 2005 der deutsch-iranische Schriftsteller und Islamwissenschaftler Navid Kermani sein Buch Der Schrecken Gottes und vergleicht dessen Revolte gegen das Leid mit dem biblischen Hiob.
Bevor er zum Sufismus fand, war er Besitzer einer Drogerie, daher sein Rufname Attar („der Drogist“). Eine ähnliche oder ergänzende Deutung seines Namens ist, dass er als Arzt tätig war. Auch wenn seine Werke im Westen nicht sehr bekannt sind, so nimmt Attars Dichtung über Jahrhunderte hinweg Einfluss auf einige Mystiker sowohl östlicher als auch westlicher Herkunft. Außerdem gilt er als einer der wichtigsten Figuren des Sufismus. Er wirft ein neues Licht auf die Lehre, indem er den Pfad mit der Kunst eines Geschichtenerzählers beschreibt.
Eines der berühmtesten seiner 114 Werke sind „Die Vogelgespräche“. Dieses Epos berichtet von tausend Vögeln, die eine Reise durch sieben Täler zum Vogelkönig, dem Simurgh, unternehmen, eine gefährliche und beschwerliche Reise, bei der lediglich dreißig Vögel es ins letzte Tal schaffen. Dort erkennen die Vögel im König ihre eigene Identität; Attar benutzte hier ein Wortspiel, denn der Name des Vogelkönigs bedeutet simurgh, dies ist eine Sagengestalt. Wenn man den Namen aber si murgh schreibt, wird hieraus „dreißig Vögel“. Eine französische Teilübersetzung dieses Werks wurde im Jahr 1653 in Lüttich veröffentlicht. 1678 wurde es ins Lateinische übertragen.
Attars Werk Tadhkirat al-auliya ist eine Sammlung von Heiligenlegenden, deren Erzählungen alle späteren Generationen an Sufis tief beeinflussten. Sie beinhaltet auch eine Biographie des berühmten Mystikers al-Halladsch, die das Bild dieses Märtyrers in der späteren persischen, türkischen und indischen Poesie stark prägt.
Weitere bekannte Werke Attars sind Ilahiname, in dem ein König seine sechs Söhne von weltlichen Begierden abzuhalten versucht, und Musibatname („Das Buch der Leiden“), das von Erlebnissen während einer vierzigtägigen Klausur berichtet.
Der berühmte Sufi Dschalal ad-Din Rumi, der Attar in jungen Jahren begegnete, wurde von diesem in seine Lehren eingeweiht. Er bezeichnet Attar später als seine eigene Seele; und er bekennt, dass er alles, was er über die Wahrheit sagt, von Attar gelernt habe. Außerdem urteilt er über ihn: „Attar durchquerte die sieben Städte der Liebe, wir sind nur bis zur nächsten Straßenecke gekommen.“
Selbst der Tod Attars klingt wie eine Lehrgeschichte des Sufismus: Als er während des Mongolensturms im 13. Jahrhundert gefangengenommen wurde, bot jemand 1000 Silberstücke für ihn. Attar riet aber seinem mongolischen Besitzer, nicht auf den Handel einzugehen, da der Preis nicht stimme. Der Mongole beherzigte dies und verkaufte ihn nicht. Später kam ein weiterer Mann und bot einen Sack Stroh für Attar, der diesmal sagte, dass das genau sein Preis sei, denn mehr sei er nicht wert. Als der Mongole dies hörte, geriet er in Wut und schlug ihm den Kopf ab.