von Josef Maria von der Ewigen Weisheit
ERSTES KAPITEL
Ludwig XVI.
Ludwigs Eltern, Dauphin Ludwig Ferdinand und Maria Josepha von Sachsen, Tochter von Friedrich August II. Kurfürst von Sachsen und König von Polen, führten ein zurückgezogenes Familienleben in einem stillen Winkel von Versailles, abseits vom hektischen Hofleben. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass der Vater vom König keinen Zugang zu Regierungsgeschäften und Verantwortung erhielt.
Ludwig erhielt die Namen seiner beiden Großväter Ludwig-August und den Titel Herzog von Berry. Die Geburt fand unter Anwesenheit des Hofes statt. Ein üblicher Vorgang bei möglichen Thronfolgern, damit von verlässlichen Repräsentanten der Monarchie, in diesem Fall in Gestalt von drei Ministern, die Abkunft des Neugeborenen bezeugt werden konnte. Ein Te Deum wurde vom König, wie üblich für einen männlichen Nachkommen, angeordnet. Ludwig hatte zum Zeitpunkt seiner Geburt eine Schwester, Zephyrine, und einen lebenden Bruder, Louis Joseph Xavier, Herzog der Bourgogne. Ludwig stand hinter Ludwig XV., seinem 35-jährigen Vater und seinem 3-jährigen Bruder an dritter Stelle der Thronfolge. Es galt als unwahrscheinlich, dass Ludwig-August die Thronfolge antreten würde.
Die Aufsicht über die Kinder wurde bei Hof durch lukrative Posten sichergestellt. Die Amme für Säuglingspflege und Ernährung konnte den Säugling nicht mit genügend Milch versorgen. Da der gutbezahlte Posten aber durch Beziehungen zum Innenminister vergeben worden war, wurde sie gegen keine der sechs zur Verfügung stehenden Ersatz-Ammen ausgetauscht. Nach einem Monat wurden die Hintergründe entdeckt und die Amme ersetzt. Der Schweizer Arzt Tronchin, Leibarzt von Voltaire, wurde herangezogen und verordnete einen Kuraufenthalt auf dem Besitz Bellevue bei Meudon. Diese Maßnahme rettete dem Säugling das Leben. Die Aufgabe der Pflege und Erziehung bis zum Alter von sechs Jahren erfüllte Comtesse de Marsan, Schwester des Marschalls Rohan-Soubise und Gouvernante der Kinder von Frankreich.
Der traditionelle Übergang zum Status des Erwachsenen erfolgte im Alter von sechs Jahren. Damit verbunden waren umfangreiche medizinische Untersuchungen. Es wurde festgestellt, dass das Kind bis auf Kurzsichtigkeit normal und gesund sei.
Der neue Lebensmittelpunkt wurde in einen neuen Hausstand am Hof verlagert, zusammen mit seinem älteren Bruder Louis Joseph Xavier und den nachgeborenen Brüdern, den späteren Königen Ludwig XVIII. und Karl X. Dafür wurde eigens Personal zusammengestellt. Als Louis Joseph Xavier am 22. März 1761 an Tuberkulose starb, rückte Ludwig mit sechs Jahren hinter seinem Vater zum Thronfolger auf. Als sein Vater am 20. Dezember 1765 starb, wurde er mit elf Jahren selbst Thronfolger.
Die Eltern legten großen Wert auf eine universelle, umfassende Ausbildung, besonderes Interesse galt Geschichte, Religion, der Vermittlung von Gerechtigkeit und Regierungskunst.
Der für die Erziehung verantwortliche Herzog La Vauguyon wurde bei seiner Tätigkeit von Hauslehrern, wie Monseigneur Coetlosquet, Bischof von Limoges, und Abbé de Radonvilliers, einem Mitglied der Académie francaise, unterstützt. Die beiden Geistlichen standen den Jesuiten nahe. Der Vater und nach seinem Tod die Mutter überprüften die Lernerfolge ihrer Söhne. Der Vater bediente sich eines Jesuiten, Pater de Neuville. Dieser attestierte dem achtjährigen Berry weniger Lebhaftigkeit und Anmut als seinen Prinzenbrüdern. In Urteilsfähigkeit und Herzenseigenschaften stehe er ihnen aber in nichts nach. Gelobt wurden seine Kenntnisse in Latein und Geschichte und sein gutes Gedächtnis.
Die Erziehungsmethoden von La Vauguyon müssen auf Ludwig XVI. abschreckend gewirkt haben, denn als er als König einen Erzieher für seine Kinder auswählen musste, lehnte er den jungen La Vauguyon mit den Worten ab: „Es tut mir leid, Sie ablehnen zu müssen, aber Sie wissen doch, dass Sie und ich so schlecht wie möglich erzogen worden sind“.
Ludwigs Vorgänger als König war sein Großvater Ludwig XV. Als sein ältester Bruder starb, rückte Ludwig XVI. mit sechs Jahren zum nächsten Thronfolger nach seinem Vater auf. Als auch dieser starb, wurde Ludwig XVI. zum rechtmäßigen Nachfolger. Am 16. Mai 1770 heiratete der 15-jährige Kronprinz zur Festigung des französisch-österreichischen Bündnisses die ein Jahr jüngere habsburgische Prinzessin Marie Antoinette, Tochter des Kaisers Franz I. Stephan und der Kaiserin Maria Theresia.
Als sein Großvater Ludwig XV. am 10. Mai 1774 starb, wurde Ludwig XVI. mit 19 Jahren König. Er suchte zunächst einen Mentor und entschied sich für den 73-jährigen vormaligen Staatssekretär Graf von Maurepas. Die Krönung des Königs fand am 11. Juni 1775 in Reims statt. Das Volk begrüßte ihn bei seiner Thronbesteigung mit dem Beinamen „le désiré“, der Ersehnte, doch Ludwig XVI. lehnte diesen Namen aus Bescheidenheit ab.
Ludwig brachte es zustande, Frankreichs Position als Seemacht wieder zu stärken, indem er die Marine immens ausbaute. Diese konnte nun erneut mit jener Großbritanniens konkurrieren. Frankreich konnte sich damit im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer behaupten. 1777 wurde die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten anerkannt, 1778 trat Frankreich an der Seite der USA in den Krieg ein. Der anschließende heftige Seekrieg hatte seine Schwerpunkte in West- und Ostindien.
Durch Ludwigs militärische Intervention verhalf Frankreich den Amerikanern zur Unabhängigkeit und konnte 1783 auf der Siegerseite den Frieden von Paris vermitteln. Doch der Unabhängigkeitskrieg hatte ein gewaltiges Loch in die Staatsfinanzen gerissen, während er für Frankreich im Großen und Ganzen nur mit dem früheren Besitzstand endete.
Ludwig XVI. zeigte wenig Interesse, die Politik seines Bündnispartners Österreich zu unterstützen. Am 14. März 1778 bat Joseph II. den König angesichts eines drohenden österreichisch-preußischen Krieges um seine Vermittlung und fragte an, ob er im Falle einer preußischen Aggression bereit sei, Truppen zu stellen, wie im Vertrag von 1756 festgelegt. Am 30. März antwortete Ludwig, die Aufgabe eines Vermittlers gehe über seine Rolle hinaus, und im Falle einer preußischen Aggression könne er keine andere Position als die der Neutralität beziehen. Auch als Friedrich II. am 7. Juli 1778 in Böhmen einmarschierte, erklärte sich Ludwig nicht zugunsten Österreichs. Als 1784 ein Krieg zwischen Österreich und den Niederlanden drohte, warnte er vor den unberechenbaren Folgen und bot an zu vermitteln. Nach dem Friedensschluss schloss er sogar 1785 ein Bündnis mit Holland. Auch zögerte er trotz Marie Antoinettes Drängen, dem Plan des österreichischen Kaisers zuzustimmen, die Österreichischen Niederlande gegen Bayern zu tauschen.
In den ersten neun Jahren seiner Regentschaft war der König bei seinem Volk sehr populär. Der junge König setzte darauf, dass seine Beliebtheit das Funktionieren des Königtums garantiere, und so kam es, dass er einesteils den an ihn gestellten Anforderungen weit nachgab, zum Beispiel die Wiedereinsetzung der Parlamente, in der Meinung, dadurch das Beste seines Volkes zu fördern, andererseits sich keiner der gegeneinander mit immer wachsender Erbitterung streitenden Parteien anschloss und ihr durch sein Ansehen den Sieg verschaffte.
Ihm war es als einzigem König im 18. Jahrhundert gelungen, einen Krieg gegen England zu gewinnen. Aber genau dieser Sieg sollte sich als Mitursache seines Untergangs herausstellen. Es waren die Kosten des Krieges für die Staatskasse unerschwinglich und steigerten die Staatsverschuldung ins Unermessliche. Zum Anderen brachten die in Amerika eingesetzten Soldaten das Gedankengut der Amerikanischen Revolution unter das französische Volk. Außerdem betrieben die Adligen, allen voran der Herzog von Orléans, genannt Philippe Égalité, und die von Ludwig 1774 zurückgerufenen Parlamente, eine harte Oppositionspolitik gegen die Monarchie. Hinzu kam die zunehmende Unbeliebtheit der Königin beim Volk, die unter anderem durch die Halsbandaffäre 1785 in Misskredit geriet. Der aufsehenerregende Prozess zeigte erstmals ein selbstbewusstes Parlament. Außerdem gab es widrige Umstände wie zwei schlechte Ernten und einen harten Winter mit Versorgungsproblemen für die Bevölkerung. Alle diese Faktoren mündeten in die Ereignisse des Jahres 1789.
Als die in der Öffentlichkeit stark beachteten Debatten der Notabeln-Versammlung zur Lösung des Staatsdefizites kein Ergebnis brachten und auf eine Beschränkung der königlichen Macht hinauszulaufen schienen, beschloss Ludwig am 25. Mai 1787, sie aufzulösen. Auf Vorschlag von Étienne Charles de Loménie de Brienne hieß er zudem in der Nacht vom 14. auf den 15. August das Parlament, sich nach Troyes zurückzuziehen. Mit diesem Ereignis begannen die persönlichen Angriffe gegen den König. Am 26. August ernannte er Brienne zum leitenden Minister, ein Titel, den er bis dahin noch niemandem verliehen hatte. Zur Reformpolitik der neuen Regierung gehörte das Edikt von Versailles, das erste Ansätze zu einer religiösen Toleranz beinhaltete.
Brienne versuchte, den zögernden König zur Einberufung der Generalstände zu bewegen, um die drängenden Finanzprobleme zu lösen. Am 19. November 1787 verlangten bei einer feierlichen Parlamentssitzung mehrere Redner nachdrücklich, die Generalstände bereits 1788 oder 1789 einzuberufen. Als der König ausweichend antwortete, warf ihm der Herzog von Orléans vor, sein Verhalten sei ungesetzlich. Daraufhin ließ Ludwig seinen Cousin auf dessen Schloss verbannen, außerdem verbannte er zwei weitere Parlamentarier.
Um finanzielle Reformen zu verabschieden, berief der König 1789 die Generalstände ein, die seit 1614 nicht mehr zusammengetreten waren. Die Feierlichkeiten begannen am 4. Mai, wobei der König ohne besondere Bekundung der Freude begrüßt wurde. Am nächsten Tag erschien er zur Eröffnung der Generalstände. In seiner kurzen Ansprache erwähnte er nur das Problem der Staatsschuld und warnte vor einem übertriebenen Wunsch nach Neuerungen.
Am 17. Juni erklärten sich die Abgeordneten des Dritten Standes zur Nationalversammlung. Der König hielt sich zu dieser Zeit in Marly auf und konnte sich nicht dazu entschließen, dem Vorschlag des Finanzministers Necker zu folgen und den Forderungen des Dritten Standes entgegenzukommen. Dessen Bestrebungen gipfelten am 20. Juni im Ballhausschwur. Am 21. Juni hielt der König eine Rede an die Generalstände. Die Beratungen des Dritten Standes seien nichtig, ungesetzlich und wider die Grundsätze des Königreiches. Andererseits erklärte er sich bereit, die individuelle Freiheit, die Pressefreiheit und die Abstimmung der Generalstände nach Köpfen statt nach Ständen anzuerkennen.
Bei seiner Rückkehr nach Versailles fand er Neckers Rücktrittserklärung vor. Gleichzeitig zeigte sich erstmals eine aufgebrachte Menschenmenge vor dem Schloss und ergoss sich in Höfe und Säle. Auf dringende Bitten des Königs sah sich Necker veranlasst, seinen Rücktritt wieder rückgängig zu machen, und am 27. Juni ersuchte der König in einem Schreiben den Klerus und den Adel, sich dem Dritten Stand anzuschließen. Am selben Tag gab er jedoch auch den Befehl, Truppen am Rande der Hauptstadt zusammenzuziehen. Rings um Paris sammelten sich die Regimenter, und Ludwig ernannte am 30. Juni Victor-François de Broglie zum Generalmarschall der Truppen. Am 10. Juli erklärte Ludwig auf das Ersuchen der Versammlung hin, die Truppen seien da, um ihn zu schützen. Am 11. Juli entließ er Necker, am 13. Juli stellte er ein neues Kabinett zusammen mit de Broglie als Kriegsminister. Am Nachmittag des 13. Juli inspizierten der König und die Königin ausländische Regimenter, die kurz zuvor eingetroffen waren.
Am 14. Juli erfolgte in Paris der Sturm auf die Bastille. Etwas später erschien der König überraschend in der Nationalversammlung und kündigte an, er werde seine Truppen zurückziehen. Viele erleichterte Abgeordnete geleiteten ihn daraufhin zum Schloss und riefen: „Es lebe der König!“. Dessen ungeachtet wurde am 16. Juli in einer Sitzung des Staatsrates der Plan diskutiert, Versailles zu verlassen und fern der Hauptstadt den Kampf gegen die Revolution aufzunehmen. Der König entschied sich jedoch zu bleiben und rief abermals Necker zurück. Als Zeichen seines guten Willens fuhr er am 17. Juli in die Hauptstadt, um den Neuerungen seine Zustimmung zu geben.
Am 29. Juli traf Necker, der in Basel von seiner Rückberufung erfahren hatte, in Versailles ein. Bei seiner Begrüßung durch den König erklärte er, seine Stellung gebiete Eifer für den König, er schulde aber keine Dankbarkeit. Am 25. August, dem Tag des heiligen Ludwig, kamen wie üblich die Schöffen, Offiziere und Marktweiber der Stadt nach Versailles, um ihre Glückwünsche zu überbringen, diesmal jedoch in Begleitung der Nationalgarde und des Magistrates.
Da der König zögerte, die Beschlüsse der Nationalversammlung zu unterschreiben und am 14. September das Régiment de Flandre nach Versailles verlegte, wuchs das Misstrauen erneut. Am 21. September bat Mirabeau im Namen der Nationalversammlung den König, er möge erklären, warum er die Truppen gerufen habe. Am 23. September traf das Regiment mit 1100 Infanteristen in Versailles ein. Am 1. Oktober veranstaltete die 600 Mann starke Leibwache des Königs mit dessen Zustimmung ein Bankett mit 210 Gedecken für das „Régiment de Flandre“, bei dem auch die königliche Familie erschien. Am 3. und 4. Oktober gab es erneut Bankette für das Regiment Flandern.
Die Berichte über diese Gelage lösten in Paris, wo hungernde Menschen vor den Bäckereien Schlange standen, Empörung aus. Am 4. Oktober riefen Demagogen wie Marat und Danton das Volk zu den Waffen. Am 5. Oktober brach dennoch der König zur Jagd in den Wäldern von Meudon auf. Zahlreiche aufgebrachte Bürger, darunter viele Weiber (Poissarden) und Nationalgardisten strömten unterdessen nach Versailles. Gegen drei Uhr am Nachmittag kam der König zurück und beriet mit seinen Ministern, was zu tun sei. Er empfing eine Delegation der Weibern, die nach Brot schrien, schickte sie in die Küche und versprach, dass es an Brot nicht fehlen werde. Mounier bat den König, jetzt die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu unterschreiben, doch der König war unentschlossen. Als er befahl, die Kutschen anzuspannen, stürzte sich die Menge auf die Wagen, zerschnitt das Geschirr und führte die Pferde weg. Der König sah sich genötigt, nun die Dekrete zu unterschreiben. Das aufgebrachte Volk schien beruhigt, und der König verbrachte noch einmal eine Nacht im Schloss.
Am frühen Morgen des 6. Oktober jedoch drang noch vor Tagesanbruch eine mit Spießen und Messern bewaffnete Horde in das Schloss ein. Als die Menge nach dem König rief, überredete ihn La Fayette, er möge sich dem Volk zeigen. Die königliche Familie zeigte sich auf dem Balkon, während La Fayette zu der Menge sprach. Die Menge schrie: „Nach Paris! Nach Paris!“ Tatsächlich sah sich der König gezwungen, mit seiner Familie nach Paris in den Palais des Tuileries umzuziehen. Die königliche Familie saß dabei, umgeben von einer dichtgedrängten Menge, in einer Kutsche, der die Köpfe von zwei getöteten Leibwächtern vorangetragen wurden. Um neun Uhr abends traf der König im Rathaus ein und zeigte sich mit seiner Familie einer jubelnden Menschenmenge auf dem Balkon, um zehn Uhr kam er in den Tuilerien an.
In diesem anfänglichen Stadium der Revolution erließ die Nationale Versammlung am 10. Oktober 1789 anlässlich der Diskussion über die Art, Gesetze zu verkündigen, die neue Formel Ludwigs: „Ludwig, durch die Gnade Gottes und das konstitutionelle Gesetz des Staates König der Franzosen“. Ab diesem Zeitpunkt trug Ludwig also den Titel Roi des Français. Zwischen „Roi des Français“ und „Roi de France“ gibt es nicht nur einen grammatischen, sondern einen fundamentalen Bedeutungs- und Statusunterschied: Als „Roi de France“ schulden die Franzosen ihm Treue und gehören ihm, während er als „Roi des Français“ den Franzosen gehört und ihnen Treue schuldet.
Ludwig selbst war lange Zeit populär und stand den Reformen der Revolution zunächst aufgeschlossen gegenüber. Dies hatte er bereits mit der Abschaffung der Folter bekundet, auch schuf er öffentliche Arbeitsplätze, indem er beispielsweise Notleidende, die für einen gerechten Lohn arbeiten sollten, Sümpfe entwässern ließ. Doch die in der Revolution geforderte Volkssouveränität war ein deutlicher Bruch mit den gültigen Prinzipien der Monarchie. Entsprechend wurde die Revolution von der herrschenden Elite Frankreichs und den übrigen europäischen Herrschern abgelehnt.
Nach und nach wurden aus Versailles Möbel und andere Gegenstände in die zuvor größtenteils leerstehenden Tuilerien gebracht. Bälle, Jagden, Theater und Konzerte gab es hier nicht mehr. Am 4. Februar 1790 verkündete Ludwig vor der Nationalversammlung feierlich, er und die Königin nähmen die Verfassung vollständig an. Am 6. Juni 1790 durfte die Königsfamilie mit Erlaubnis der Nationalversammlung nach Saint-Cloud reisen. Der König unternahm wieder lange Jagdpartien, es wurden Komödien gespielt, Konzerte gegeben und Spazierfahrten unternommen. Am 14. Juli reiste er nach Paris zurück, um am Föderationsfest auf dem Champ de Mars teilzunehmen. Der König schwor auf Nation und Gesetz, aber nicht wie gewünscht am Vaterlands-Altar in der Mitte des Platzes. Wieder zurück in Saint-Cloud nahm er den abermaligen Rücktritt Neckers entgegen, der die Finanzkrise nicht hatte lösen können, und bildete ein neues Kabinett aus Anhängern La Fayettes. Ende Oktober kehrte das Königspaar nach Paris zurück, wo es eisig empfangen wurde. Am 13. November zog der Pöbel zu den Tuilerien, und der König flüchtete ins Dachgeschoss, doch die postierte Nationalgarde konnte die Menge abdrängen. Am 28. Februar 1791 hingegen zogen Adlige, mit Degen, Jagdmessern und Pistolen bewaffnet, zu den Tuilerien, um das Königspaar vor Angriffen zu schützen. La Fayette entwaffnete sie im Beisein des Königs.
Obwohl die königliche Familie die Erlaubnis erhalten hatte, über Ostern ein paar Tage in Saint-Cloud zu verbringen, wurde sie von der Nationalgarde mit aufgepflanzten Bajonetten über zwei Stunden in ihrer Karosse am Losfahren gehindert und von einer wütenden Menge beschimpft. Der König kehrte schließlich in das Schloss zurück.
Als der Druck auf Ludwig und seine Familie immer größer wurde, unternahm er in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 1791 die Flucht nach Varennes in die Österreichischen Niederlande. Die Flucht endete vorzeitig in dem kleinen Ort Varennes, nachdem Ludwig anhand seines Konterfeis auf einer Münze von dem Sohn eines Postmeisters erkannt worden war. Die königliche Familie wurde anschließend von Angehörigen der Nationalgarde nach Paris zurückgeführt und der König kurzfristig von seinen Ämtern suspendiert. Ludwig war nun faktisch in Gefangenschaft, auch wenn er noch einige seiner Privilegien genießen konnte. In einer Befragung durch drei Abgeordnete am 25. Juni hinsichtlich seiner Flucht wurde er schonend behandelt, zumal er seine Verbundenheit mit der Verfassung beteuerte. Gleichzeitig knüpfte er wieder Kontakte zu den europäischen Fürstenhöfen. Am 13. Juli verkündete die Kommission zur Aufklärung der „Entführung“ Ludwigs, dem König sei nichts vorzuwerfen. Das Ergebnis der Kommission wurde angenommen und der König für unantastbar erklärt. Da sie zu diesem Zeitpunkt keine Alternative zur geplanten Einführung der konstitutionellen Monarchie in der Verfassung sahen, einigten sich die Abgeordneten der Nationalversammlung darauf, den Fluchtversuch als „Entführung“ auszugeben, und beließen Ludwig im Amt. Daraufhin begehrten die Gegner des Königs auf, und es kam am 17. Juli 1791 zum Massaker auf dem Marsfeld.
Am 27. August erklärten der österreichische Kaiser Leopold II. und König Friedrich Wilhelm II. von Preußen in der Pillnitzer Deklaration ihr Ziel, „den König von Frankreich in die Lage zu versetzen, in vollkommener Freiheit die Grundlage einer Regierungsform zu befestigen, welche den Rechten der Souveräne und dem Wohle Frankreichs entspricht.“
Von äußeren Kräften bedrängt, „akzeptierte“ der König die Verfassung des 3. September 1791. Am 14. September schwor der König in der Reithalle, dem Tagungsort der Nationalversammlung, der neuen Verfassung die Treue. Frankreich wurde zur konstitutionellen Monarchie. Der König galt nun nicht mehr als Herrscher von Gottes Gnaden, sondern als erster Repräsentant des Volkes. Den Gesetzen der Nationalversammlung hatte er durch seine Unterschrift Rechtskraft zu verleihen, allenfalls konnte er durch sein aufschiebendes Veto ihr Inkrafttreten hinauszögern.
Mit fröhlicher Miene nahm der König an den Feierlichkeiten des 18. September teil. In offener Kutsche fuhr das Königspaar am Abend über die Champs-Élysées, und zuweilen ertönte der Ruf: „Es lebe der König!“ Das Vertrauen der meisten Abgeordneten in seinen guten Willen hatte Ludwig durch seinen Fluchtversuch indes nachhaltig erschüttert. Das Ereignis gab republikanischen Gruppierungen in der Nationalversammlung starken Auftrieb. Als der König Ende 1791 sein Veto gegen zwei Dekrete einlegte, verstärkte sich das Misstrauen.
Am 20. April 1792 legte er der Nationalversammlung die Kriegserklärung gegen Österreich vor. Heimlich sandte er jedoch den Journalisten Jacques Mallet-du-Pan zum Kaiser und zu den deutschen Fürsten und ließ ihnen mitteilen, er wolle den Konflikt zum Anlass nehmen, um seine Macht wiederherzustellen.
Bald kam es zu schweren Rückschlägen in Belgien, wo Truppen ihre adeligen Offiziere im Bunde mit dem Feind wähnten und ihnen den Gehorsam verweigerten. Am 18. Mai beschworen die versammelten Generäle den König in Valenciennes, so schnell wie möglich um Frieden zu bitten. Dieser hingegen legte wieder gegen zwei Dekrete sein Veto ein, entließ am 12. Juni seine girondistischen Minister und berief ein gemäßigtes Ministerium. Am 20. Juni drang eine bewaffnete Menschenmenge in das Schloss ein und verlangte vom König, sein Veto zurückzunehmen. Stattdessen erklärte er der aufgebrachten Ansammlung stundenlang, die Jakobinermütze auf dem Haupt, er werde von seinen Entscheidungen nicht abgehen. Das eine Veto richtete sich gegen das Dekret, zum Schutz der Hauptstadt ein Lager für 20.000 Mann der Nationalgarde zu errichten, das andere gegen den Beschluss, alle Priester, die von den Bürgern denunziert würden, zu deportieren. Gegen zehn Uhr abends leerten sich allmählich die Höfe und Parkanlagen.
Am 11. Juli erklärte die Nationalversammlung „das Vaterland in Gefahr“. Am 14. Juli, dem Jahrestag des Sturmes auf die Bastille, legte der König am Altar des Vaterlandes den Eid auf die Verfassung ab. Am 25. Juli 1792 veröffentlichte Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig ein Manifest, in dem er der Stadt Paris und ihren Bewohnern „eine beispiellose und für alle Zeiten denkwürdige Rache“ androhte, sollten sie Ludwig oder seiner Familie etwas antun. Dies Manifest wurde von den Revolutionären als Beweis einer Kollaboration von Ludwig XVI. mit den Feinden Frankreichs verstanden. Ludwigs Erklärung, er werde alles tun, dass Frankreich im Krieg den Sieg davontrage, überzeugte nicht mehr. Als die Nationalversammlung es ablehnte, über die Absetzung des Königs zu beraten, beschlossen die Sektionen der Hauptstadt, den Aufruf der Jakobiner zu befolgen und die Monarchie gewaltsam zu stürzen.
Nach dem Sturm auf die Tuilerien am 10. August 1792 wurde der König mit seiner Familie am 13. August 1792 im Kloster der Feuillanten verhaftet und im Temple eingekerkert. Bei der zwei Stunden dauernden Überführung saß die königliche Familie in einer von nur zwei Pferden gezogenen Hofkarosse, die von Nationalgardisten begleitet wurde, während von allen Seiten Spottverse und Beschimpfungen erschollen. Da er nicht mehr König war, wurde er von nun an nur noch Bürger Louis Capet angesprochen.
Anlässlich der ersten Sitzung des Nationalkonvents wurde am 21. September 1792 die Republik ausgerufen und der König offiziell entthront. Als Ludwig das entsprechende Dekret vorgelesen wurde, ließ er sich nichts anmerken. Am nächsten Tag erfuhr er, dass die französischen Truppen in der Kanonade von Valmy die Preußen zurückgeschlagen hätten.
Am 29. September wurde Ludwig in den großen Wehrturm gebracht, in den man drei Wochen später auch die übrigen Familienmitglieder einquartierte. Die Haftbedingungen wurden ständig verschärft, und schließlich entdeckte man beim König eine Schatulle, die viel belastendes Material enthielt. Aus diesen Papieren ging hervor, dass der König in Kontakt mit Emigranten gestanden hatte, heimlich mit Österreich verhandelte und Politiker der Revolution bestochen hatte.
Am 3. Dezember nahm der Konvent ein Dekret an, in dem der König vorgeladen wurde. Ihm wurde ab dem 11. Dezember vor dem Nationalkonvent in der Salle du Manège der Prozess gemacht. Robespierre betonte vor dem Konvent: „Wenn nicht der König schuldig ist, dann sind es die, die ihn abgesetzt haben“. Somit konnte nach Robespierres Darstellung der Konvent, der Ankläger und Richter in einer Person war, den König gar nicht freisprechen, da dies einer Selbstanklage gleichgekommen wäre.
Die Abstimmung zog sich über mehr als 24 Stunden vom 16. bis zum 17. Januar 1793 hin. Ein Antrag der Girondisten, über Schuld oder Unschuld des ehemaligen Königs das Volk abstimmen zu lassen, wurde mit 426 zu 278 Stimmen abgelehnt. Mit 387 zu 334 Stimmen sprach der Konvent ihn schuldig der „Verschwörung gegen die öffentliche Freiheit und die Sicherheit des gesamten Staates“ . Eine Aussetzung der Todesstrafe wurde mit 380 zu 310 Stimmen abgelehnt.
Am Vormittag des 21. Januar 1793 wurde Ludwig auf der Place de la Révolution vom Henker mit einer Guillotine enthauptet.
Am 16. Oktober 1793 wurde nach einem kurzen Prozess auch seine Frau Marie-Antoinette auf dem Revolutionsplatz guillotiniert. Sein überlebender Sohn Louis Charles starb im Alter von zehn Jahren im Temple-Gefängnis.
Ludwig wurde zunächst auf dem Friedhof de la Madeleine beigesetzt und 1815 in die Basilika Saint-Denis überführt.
ZWEITES KAPITEL
Jean-Jacques Rousseau
Rousseaus Vater Isaac lebte von 1672-1748 und war ein Uhrmacher und Forscher, dessen protestantische Vorfahren aus Glaubensgründen von Frankreich in die damals unabhängige Stadtrepublik Genf ausgewandert waren.
Von 1705 bis 1711 lebte Isaac Rousseau in Konstantinopel, wo er als Uhrmacher des Sultans am Serail Genfer Uhren reparierte. Sein Cousin Jacques Rousseau, Vater des französischen Orientalisten Jean-François Xavier Rousseau, folgte ihm von Genf zwischenzeitlich als Hofjuwelier nach Konstantinopel.
Rousseaus Mutter Suzanne Bernard war Tochter eines Genfer evangelischen Pastors. Das Paar lebte bei Jean-Jacques Rousseaus Geburt im Haus ihres Vaters im Zentrum von Genf.
Die Mutter starb 1712 in Genf, neun Tage nach Rousseaus Geburt, am Kindbettfieber. In der Folge übernahm eine jüngere Schwester des Vaters den Haushalt. Sie kümmerte sich liebevoll um das oft kränkelnde und empfindsame Kind. Eine andauernde körperliche Belastung wird oft als einer der Gründe für die empfindliche Gereiztheit angesehen, die Rousseau zeit seines Lebens charakterisierte.
Der Vater förderte schon früh die Leselust seines Sohnes, indem er nächtelang gemeinsam mit ihm las, unter anderem die Biographien Plutarchs, die lebenslang Rousseaus Lieblingslektüre bildeten. 1718 zogen Vater und Sohn in das ärmere Handwerkerviertel St. Gervais auf der anderen Rhone-Seite.
1722 änderte sich die Situation des Zehnjährigen drastisch. Der Vater flüchtete nach einer Rauferei mit einem Offizier, in dessen Verlauf er diesen mit einem Degenstich verletzt hatte, aus Genf vor der drohenden Gefängnisstrafe. Den Sohn ließ er in der Obhut seines Schwagers, Gabriel Bernard, zurück. Während der nächsten zwei Jahre lebte Rousseau bei Pfarrer Lambercier in Bossey, wo er Unterricht erhielt. Mit zwölf ging er zunächst bei einem Gerichtsschreiber mit Namen Masseron (ein für Rousseau schmählich endender Aufenthalt), ein Jahr später bei einem Graveur namens Abel Ducommun in die Lehre. An der letzteren Tätigkeit fand er zwar mehr Gefallen als an der vorigen; Leselust und Träumereien erschwerten jedoch Freundschaften unter den Altersgenossen und führten immer wieder zu Bestrafungen. 1726 heiratete Rousseaus Vater ein zweites Mal; seitdem zeigte er nur noch ein geringes Interesse an dem Jungen.
Als Rousseau im März 1728 bei der späten Rückkehr von einem Sonntagsausflug das Stadttor verschlossen fand, was davor bereits zweimal geschehen war und ihm jeweils eine Prügelstrafe eingebracht hatte, folgte er einer schon länger gehegten Idee und ging auf Wanderschaft. In Savoyen lernte er nach einigen Tagen einen katholischen Geistlichen kennen, der den Kontakt zu Madame de Warens in Annecy vermittelte. Sie war soeben aus der Schweiz nach Savoyen ausgewandert und Katholikin geworden; in Annecy lebte sie unter dem Schutz der katholischen Geistlichkeit. Madame de Warens nahm Rousseau auf, schickte ihn aber auf kirchlichen Ratschlag hin schon drei Tage später nach Turin. Dort ließ er sich nach vierteljähriger Unterweisung im Hospiz der Katechumen katholisch taufen. Die Reise dorthin unternahm er in Begleitung eines Bauernpaars zu Fuß. Seinen Lebensunterhalt verdiente er in Turin als Diener, später als Sekretär in adligen Häusern.
Ein Jahr später kehrte er zu Madame de Warens zurück. Ihrem Vorschlag folgend, trat er für kurze Zeit in das Priesterseminar von Annecy ein. Anschließend vermittelte sie ihn an den Leiter der Dom-Musikschule, da er ihr während der Hausmusikstunden als talentierter Sänger aufgefallen war. Der Schulleiter nahm ihn bei sich auf und unterrichtete ihn in Chorgesang und Flöte. Es folgten einige fruchtbare Monate, in denen Rousseau die Grundlagen seiner Musikkenntnisse erwarb.
Als sein Lehrer eine neue Stelle in Lyon antrat, begleitete Rousseau ihn zunächst, kehrte dann aber nach Annecy zurück. Da jedoch Madame de Warens nach Paris gereist war, ging Rousseau erneut auf Wanderschaft. Das führte ihn unter anderem nach Lausanne, Nyon, wo er auch den Vater besuchte, ins preußische Neuchâtel und im Sommer 1731 zum ersten Mal nach Paris. In Neuchâtel versuchte er sich erfolglos als Musiklehrer. Während seiner Wanderschaft litt Rousseau immer wieder große Armut. Sie zwang ihn zum Betteln, brachte ihn aber auch mit den notleidenden Bauern in Verbindung.
Im April 1731 begegnete Rousseau auf einem Spaziergang in Boudry einem italienisch sprechenden Mann „mit einem großen schwarzen Bart und einem veilchenfarbenen Gewand nach griechischer Art“, der angab, als „griechisch-katholischer Prälat und Archimandrit von Jerusalem“ in Europa Mittel für die Wiederherstellung des Heiligen Grabs in Jerusalem zu sammeln. Rousseau ließ sich dazu bewegen, den vermeintlichen „Archimandriten“ als Sekretär und Dolmetscher zu begleiten. Sie sammelten zunächst Geld in Freiburg sowie Bern und reisten anschließend nach Solothurn zum französischen Gesandten weiter. Bei diesem handelte es sich um den Marquis Jean-Louis d'Usson de Bonnac, der zuvor Botschafter im Osmanischen Reich gewesen war und den angeblichen Prälaten und Archimandriten als Schwindler enttarnte. Da Rousseau bei Marquis de Bonnac einen guten Eindruck erweckt hatte, konnte er sich einige Tage in der Residenz aufhalten und dann mit Empfehlungsbriefen und hundert Franken Reisegeld nach Paris reisen.
In Paris erhielt Rousseau sich, indem er in den Dienst eines jungen Schweizers eintrat. Nachdem er aber erfahren hatte, dass Madame de Warens sich wieder in Savoyen aufhielt, diesmal in Chambéry, kehrte er zu seiner dreizehn Jahre älteren „Mama“, wie er sie nannte, zurück. Sie nahm ihn nun wie einen Ziehsohn auf und vermittelte ihm eine Schreiberstelle im Katasteramt, die er jedoch 1732, nach acht Monaten, wieder aufgab, um als Musiklehrer zu arbeiten.
Es folgten fünf glückliche Jahre, die für seine fast gänzlich autodidaktisch erworbene Bildung sehr wichtig waren. Er las, musizierte, experimentierte und begann zu schreiben. Die Gastgeberin führte den anfänglich Widerstrebenden auch in die Liebeskunst ein, hatte allerdings mit dem bei ihr als Faktotum beschäftigten Claude Anet neben Rousseau noch einen weiteren Liebhaber. 1735 pachtete Madame de Warens das vor den Toren Chambérys gelegene Anwesen Les Charmettes. Dieser Ort verkörperte für Rousseau in den kommenden drei Jahren das „Ideal eines geordneten und glücklichen Lebens“.
Im Sommer 1736 erlitt er durch einen Explosionsunfall bei chemischen Experimenten eine Augenverletzung, weswegen er sich im Herbst zu einem Arzt nach Montpellier begab. Als er Anfang 1738 zurückkehrte, hatte Madame de Warens mit ihrem neuen Sekretär und Hausverwalter Jean-Samuel-Rodolphe Wintzenried ein Verhältnis begonnen. Zwar bot sie Rousseau ein erneutes Dreiecksverhältnis an, doch dies lehnte er ab. Dennoch blieb er weitere zwei Jahre bei ihr, bis er im Frühjahr 1740 eine Stelle als Hauslehrer bei der Familie Mably in Lyon antrat.
Nachdem er im Frühjahr 1741 noch einmal nach Les Charmettes zurückgekehrt war, reiste er im Sommer 1742 nach Paris, um ein von ihm entwickeltes, auf Zahlen basierendes Notensystem von der Académie des sciences patentieren zu lassen. Er durfte es dort präsentieren, bekam ein Zertifikat und ließ Anfang 1743 seine Präsentation als Dissertation sur la musique moderne im Druck erscheinen. Auch lernte er den Komponisten Jean-Philippe Rameau kennen, der Rousseaus System zwar für die ihm eigene Exaktheit lobte, gleichzeitig aber geltend machte, es sei der abstrakteren Notenschrift, die den Verlauf der Melodie veranschauliche, unterlegen. Auch sonst setzte sich Rousseaus Notationssystem nicht durch.
Immerhin erhielt er Zugang zum bekannten literarischen Salon von Madame Dupin und lernte führende Köpfe der Stadt kennen. Auch begann er, die Oper Die galanten Musen zu komponieren. Im Sommer 1743 reiste er nach Venedig, wo er für den neuen französischen Gesandten als Gesandtschaftssekretär arbeitete. Rousseau zerstritt sich jedoch mit seinem Herrn und kehrte schon im Herbst 1744 nach Paris zurück.
In Paris machte Rousseau 1745 die Bekanntschaft verschiedener Mäzene, so die des Alexandre Le Riche de La Pouplinière, mit dessen Hilfe er seine fertiggestellte Oper aufführen ließ. Vor allem knüpfte er Kontakte zu anderen jungen Intellektuellen, darunter Denis Diderot, Étienne Bonnot de Condillac und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, den Herausgebern der 1746 von Diderot initiierten Encyclopédie. Es folgten weitere literarische Versuche. Zeitlebens blieb seine Existenz durch große materielle Unsicherheit bestimmt.
Ebenfalls 1745 begann er ein festes Verhältnis mit der Wäscherin Thérèse Levasseur, die im Folgejahr ihr erstes Kind gebar. Auf sein Drängen hin übergab sie dieses einer Einrichtung für „Findelkinder“. Auch die vier später geborenen Kinder verschwanden in Waisenhäusern. Rousseaus unväterliches Verhalten wird bis heute als schwerster Einwand gegen seine Persönlichkeit erhoben; auch schon seinerzeit, so etwa von Voltaire. Insbesondere Rousseaus Glaubwürdigkeit als pädagogischer Theoretiker wird von hier aus in Frage gestellt. Rousseau selbst führte eine ganze Reihe von Entschuldigungsgründen an: „Hätte ich sie der Frau von Epinay oder der Frau von Luxembourg überlassen, die sich sei es aus Freundschaft, sei es aus Edelmut oder aus irgend einem andern Grunde später ihrer haben annehmen wollen, wären sie wohl zu gesitteten und gebildeten Leuten erzogen worden? Ich weiß es nicht; aber davon bin ich überzeugt, daß man sie zum Hasse, vielleicht zum Verrat ihrer Eltern getrieben hätte; es ist hundertmal besser, dass sie sie gar nicht gekannt haben.“ Sein wichtigstes Argument war, dass seine Arbeit schlecht oder gar nicht bezahlt sei, weshalb Thérèse weitgehend allein für den Lebensunterhalt der beiden habe aufkommen müssen und sich nicht zusätzlich mit Kindern habe belasten können.
1749 war ein entscheidendes Jahr für Rousseau. Zu Jahresbeginn beauftragte ihn d’Alembert mit der Abfassung musikologischer Artikel für die Encyclopédie. Im Herbst besuchte er den in der Festung Vincennes inhaftierten Diderot und las unterwegs in der Zeitschrift Mercure de France die Preisfrage der Académie von Dijon: „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu läutern?“. Er verneinte in seiner Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste eindeutig die Frage, da – wie er später in seiner staatstheoretischen Schrift Du contrat social weiter ausführte – der Mensch im Naturzustand unabhängig und frei lebe, in der auf Konventionen beruhenden Gesellschaft aber ein gefesselter Sklave sei: „Der Mensch ist frei geboren, und liegt überall in Ketten.“ Künste und Wissenschaften verschleiern nur das Schicksal des modernen Menschen, die Zivilisationsgeschichte wird wie in seinen anderen philosophischen Schriften zu einer Geschichte des Niedergangs. Die nach Luxus strebende zeitgenössische europäische Gesellschaft sah er in die sittliche Dekadenz abgleiten. Der Discours lief den Vorstellungen vieler Intellektueller der Zeit zwar völlig entgegen, stieß bei anderen jedoch auf Interesse. Rousseau erhielt 1750 den ersten Preis und wurde, auch dank der Diskussion, die er auslöste, über Nacht europaweit bekannt. Seine Einkünfte stiegen, und er konnte mit Thérèse in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Allerdings gab das Paar 1751 auch ein drittes Neugeborenes im Findelhaus ab.
Ende 1752 wurde mit großem Erfolg seine Oper „Der Dorfwahrsager“ zunächst vor dem Hof und 1753 auch in Paris aufgeführt. Als Rousseau dem König vorgestellt werden sollte, entzog er sich der Ehrung und versäumte damit die Zuweisung einer jährlichen Pension. Nach dem Erfolg der Oper wurde vom Théâtre Français auch seine Komödie Narcisse, ein Jugendwerk, angenommen.
Statt sich zu etablieren, begab sich Rousseau nun sogar in eine Art fundamentaler Opposition, da er mit seiner Oper im Buffonistenstreit als Retter der konservativen französischen Partei dastand, was er keinesfalls wollte. Noch 1754 begann er eine zweite kritische Preisschrift. Daneben erregte er den Zorn nicht nur des Opernorchesters (das eine Rousseau-Puppe erhängte) mit seiner Lettre sur la musique française, in der er den französischen Musikstil zugunsten des italienischen herabsetzte. 1754 reiste er (mit einer Zwischenstation bei Madame de Warens) nach Genf, nahm die Staatsbürgerschaft der Genfer Republik wieder an und kehrte zum Protestantismus zurück.
1755 publizierte er, vorsichtshalber in Amsterdam, seine Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, die wiederum die Antwort auf eine Preisfrage der Académie de Dijon war: „Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und lässt sie sich vom Naturrecht herleiten?“. Rousseau, der ärmliche Kleinbürger, erklärt hierin die soziale Ungleichheit zunächst grundsätzlich aus der geschichtlichen Tatsache der Vergesellschaftung des Menschen – wodurch jeder sich mit jedem vergleicht und Neid sowie Missgunst erwachsen –, sodann aus der Etablierung des Privateigentums: Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.
In der Folge erklärt Rousseau die soziale Ungleichheit aus der Herausbildung der Arbeitsteilung und der dadurch ermöglichten Aneignung der Erträge der Arbeit vieler durch einige wenige, die anschließend autoritäre Staatswesen organisieren, um ihren Besitzstand zu schützen. Rousseau wurde mit dieser wahrhaft revolutionären Schrift einer der Begründer des europäischen Sozialismus.
Anfang 1756 lehnte er den Bibliothekarsposten ab, den ihm die Stadt Genf angeboten hatte. Stattdessen siedelte er um nach Montmorency nördlich von Paris als Gast der vielseitig interessierten, selbst schriftstellernden Madame d’Épinay, einer Freundin von Diderot. Mit diesem und dem Kreis der Philosophen um ihn verfeindete er sich allerdings 1758, als er auf den kritischen Artikel „Genf“, den d’Alembert für die Encyclopédie verfasst hatte, mit der Lettre à d’Alembert sur les spectacles reagierte, worin er, der einstige Theaterautor, das Theater, dieses Lieblingskind der Aufklärung, als unnütz und potentiell unsittlich anprangerte.
Von April 1756 bis Dezember 1757 fand er in einer Einsiedelei) unweit des Schlosses von Madame Louise d’Épinay, dem Château de la Chevrette in Deuil-la-Barre, Zuflucht.
Danach, bis zum 8. Juni 1762, fand er Unterkunft beim Marschall von Montmorency-Luxembourg, Charles François de Montmorency, sowie bei dessen Frau Madeleine Angélique de Neufville, die gesellschaftliche Salons veranstaltete.
In Montmorency, wo er 1758 ein Häuschen mietete und vorübergehend auch Gast des hochadligen Duc de Luxembourg war, schrieb er innerhalb von knapp sechs Jahren seine bei den Zeitgenossen erfolgreichsten und wirksamsten Werke: erstens den empfindsamen Briefroman Julie oder Die neue Heloise, der die letztlich unmögliche Liebe des bürgerlichen Intellektuellen Saint-Preux zu der adligen Julie d’Étanges darstellt und von Rousseaus Leidenschaft für die Schwägerin von Madame d’Épinay, Madame d’Houdetot, inspiriert war; zweitens den Bildungsroman Émile, in dem er dafür eintritt, einerseits Kinder ihre Kindheit durchleben zu lassen und von korrumpierenden gesellschaftlichen Einflüssen fernzuhalten (negative und natürliche Erziehung) und andererseits sie dazu anzuleiten, die Gesetzmäßigkeiten der Natur anhand ausgewählter Lehrszenen selbst zu entdecken und die Strukturen, Werte sowie Normen der Gesellschaft in der arbeitsteilig gegliederten Gesellschaft selbst zusammen mit dem Mentor zu erleben und im Gespräch zu bedenken (kritische Sozialisation); schließlich drittens die staatstheoretische Schrift Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes, die die Rechte der Individuen gegenüber dem Staat, aber auch dessen Ansprüche gegenüber den Individuen zu definieren und zu begründen versucht und den heute so wichtigen Begriff der Volkssouveränität prägt, auf dem die Legitimität von Volksentscheiden und allgemeinen Wahlen gründet.
Während Julie oder Die neue Heloise sofort nach seinem Erscheinen Anfang 1761 ein großer Erfolg war und eine Welle von Briefromanen in ganz Europa auslöste (darunter Goethes Werther), wurde der Contrat social nach seinem Erscheinen im April 1762 verboten, ebenso Émile, als es Ende Mai erschien. Die Sorbonne verurteilte das Buch Anfang Juni, das Parlement von Paris verbot es wenige Tage danach und erließ einen Haftbefehl gegen den Autor. Stein des Anstoßes war vor allem das im Émile im 4. Buch als Einschub enthaltene „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“. In diesem Text trägt Rousseau zunächst eine Philosophie von Erkenntnis und Moral vor, in der die Stellungnahme des eigenen Herzens und Gewissens eine alles beherrschende Rolle spielt. Es folgt der Entwurf einer „natürlichen Religion“, verbunden mit einer scharfen Kritik jeglicher Religion, die sich auf Offenbarung gründet. Neben den französischen Autoritäten, darunter der Erzbischof von Paris Christophe de Beaumont, waren insbesondere die calvinistischen Oberen in Genf entrüstet. Sie verboten das Buch noch im Juli und erließen ebenfalls Haftbefehl gegen seinen Autor. In Genf wie in Paris wurden Exemplare des Émile verbrannt, in Genf auch des Gesellschaftsvertrags.
Rousseau, der sofort geflüchtet war, fand Aufnahme bei einem Freund, Daniel Roguin, in Yverdon, wurde aber sehr rasch ausgewiesen.Im Juli wandte er sich über den Gouverneur Keith der damaligen preußischen Exklave Neuchâtel an Friedrich den Großen, der ihm Asyl und etwas später sogar Bürgerrecht gewährte. Rousseau ließ sich nieder im neuenburgischen Städtchen Motiers, wohin er Thérèse nachholte und wo er begann, sich als Armenier zu kleiden. Noch vor Ende 1762 datiert eine erste Verteidigungsschrift Rousseaus, ein offener Brief an den Pariser Erzbischof, der im August den Émile ebenfalls verurteilt hatte.
Anfang 1763 stellte er in Motiers sein wohl noch in Montmorency begonnenes Dictionnaire de la musique fertig. 1764 begann er mit botanischen Studien.
1765 lebte Rousseau vom 12. September bis zum 25. Oktober auf der St. Petersinsel im Bieler See, die, wie er bekennt, glücklichsten Monate seines Daseins. Er zog sich in die Natur zurück, suchte auf der Insel Einsamkeit, begann ihre Pflanzen zu erfassen und verfasste eine Flora Petrinsularis; gleichzeitig besuchten ihn dort Berühmtheiten aus ganz Europa. Der Berner Geheime Rat wies ihn aus.
Ende 1765 fühlte er sich auch in Motiers unwillkommen und verfolgt, nicht zuletzt vielleicht, weil er begonnen hatte, sich als Armenier zu kleiden. Er nahm deshalb eine Einladung des Philosophen David Hume an und ließ sich einen Durchreise-Pass für Frankreich ausstellen. Unterwegs konnte er feststellen, dass er inzwischen durchaus auch Sympathisanten hatte. Bei einem Aufenthalt in Straßburg wurde er mit einer Aufführung des Dorfwahrsagers geehrt, in Paris war er Gast des Prince de Conti und empfing in dessen Haus Besuche.
Das Jahr 1766 und die erste Jahreshälfte 1767 verbrachte er überwiegend in England, anfangs bei Hume, mit dem er sich aber zerstritt und der ihn attackierte. Immerhin fand er auch in England Sympathisanten vor, die den König bewogen, ihm eine Pension zu gewähren. 1767 und 1768 lebte er an verschiedenen Orten Frankreichs, unter anderem auf einem Schloss von Conti. Da der Haftbefehl des Pariser Parlaments nicht aufgehoben war, reiste er unter einem Decknamen und gab Thérèse als seine Schwester aus. 1769 und 1770 lebten sie auf einem Bergbauernhof in der südostfranzösischen Dauphiné, nachdem sie im August 1768 dort geheiratet hatten.
Ab 1763 verfasste Rousseau eine ganze Reihe kürzerer und längerer autobiografischer Texte, darunter seine 1765–1770 geschriebenen, später berühmt gewordenen Confessions (Die Bekenntnisse), die erst posthum publiziert wurden. Darin schildert er auch intime Details aus seinem Leben sowie eigene Verfehlungen. Vor allem diese Schrift begründete die Untergattung der selbstentblößenden Autobiografie. Den Titel wählte er in Anlehnung an den der Confessiones des Augustinus von Hippo.
Im Frühjahr 1770 verließ er seinen Bergbauernhof Richtung Paris. Bei einem Aufenthalt in Lyon ließ der Vorsteher der Kaufmannschaft ihm zu Ehren seinen Dorfwahrsager und sein lyrisches Kleindrama Pygmalion aufführen, in dem er es offenbar als erster in der Geschichte dieses Stoffes wagte, den Künstler sein Kunstwerk ohne göttliche Hilfe beleben zu lassen. Ab Juni lebte er wieder, zurückgezogen und von den Behörden geduldet, mit Thérèse in Paris. Er wurde hin und wieder zu Lesungen eingeladen und, da seine Ideen sich nun weiter verbreiteten, sammelten sich Bewunderer um ihn, darunter ab 1771 der später sehr bekannte Autor Bernardin de Saint-Pierre.
Etwa seit 1762 war Rousseau den nervlichen Belastungen aufgrund der zahlreichen Verunglimpfungen und Verfolgungen nicht mehr gewachsen. Seine Ängste und Abwehrhandlungen nahmen teilweise wahnhafte Züge an.
1772–1775 verfasste Rousseau den autobiografischen Dialog Rousseau juge de Jean-Jacques. 1774 gab er sein Dictionnaire des termes d’usage en botanique in Druck. 1776–1778 schrieb er sein letztes längeres Werk, die in lyrischer Prosa gehaltenen Träumereien des einsamen Spaziergängers, die auf ebenfalls neue Art Gegenwartsmomente zum Ausgangspunkt von autobiografischen Rückblicken machen und mit ihrem Einfangen von Naturstimmungen als eine Vorbereitung der Romantik gelten.
Im Mai 1778 folgte er einer Einladung des Marquis René Louis de Girardin auf dessen Schlösschen Ermenonville. Als er den Tod kommen fühlte, sprach er darüber freimütig und ohne Scheu zu seiner Frau, und als sie in Tränen ausbrach, sagte er: „Warum weinst Du? Es ist ja mein Glück, ich sterbe in Frieden. Niemand wollte ich Leid antun und rechne mit der Gnade Gottes“. Er ließ das Fenster öffnen, sah in den schönen Tag hinein und sagte: „Wie rein und lieblich ist der Himmel, keine Wolke trübt ihn. Ich hoffe, der Allmächtige nimmt mich da hinauf zu sich.“
In Ermenonville starb er wenig später, wahrscheinlich an einem Schlaganfall. Er wurde auf der „Insel der Pappeln“ im Schlosspark, dem heutigen Parc Jean-Jacques Rousseau, begraben. Seine Witwe Thérèse wohnte noch etwa ein Jahr in dem für ihn bestimmten Haus.
DRITTES KAPITEL
Denis Diderot
Diderot war das zweitälteste Kind des wohlhabenden jansenistischen Messerschmiedemeisters Didier Diderot aus Langres (Champagne) und dessen Ehefrau Angélique Vigneron, der dreizehnten Tochter eines Gerbers. Sein Großvater Denis Diderot heiratete am 20. Juni 1679 Nicole Beligné, eine Tochter des Messerschmiedemeisters François Beligné. Das Paar hatte insgesamt neun Kinder, unter ihnen der Vater von Denis Diderot.
Denis Diderot wurde am 5. Oktober 1713 geboren und schon am nächsten Tag in der Église paroissiale Saint-Pierre-Saint-Paul zu Langres nach römisch-katholischem Ritus getauft. Diderot hatte noch fünf jüngere Geschwister, von denen jedoch zwei im Kindesalter starben. Zu seiner Schwester Denise Diderot hatte er zeitlebens ein sehr gutes Verhältnis, er nannte sie Soeurette. Zu seinem jüngeren Bruder Didier-Pierre Diderot,einem späteren Geistlichen und Stiftsherrn von Langres, war seine Beziehung konfliktbeladen. Eine weitere Schwester, Angélique Diderot, trat dem Ursulinen-Orden bei.
Ab seinem 12. Lebensjahr bereiteten seine Eltern ihn auf das Priestertum vor. Am 22. August 1726 erhielt er vom Bischof von Langres die Tonsur und damit die niederen Weihen. Er hatte jetzt das Recht, sich als Abbé zu bezeichnen und geistliche Kleidung zu tragen. In näherer Zukunft sollte er die Kanonikus-Pfründe seines Onkels mütterlicherseits, des Kanonikus Charles Vigneron an der Kathedrale Saint-Mammès de Langres, übernehmen. Langres war ein wichtiges Zentrum des Jansenismus.
In Langres besuchte Diderot eine Jesuitenschule.
In Paris wurde Diderot zunächst am Lycée Louis-le-Grand aufgenommen, dann wechselte er an das jansenistisch orientierte Collège d’Harcourt. Das Kolleg-Studium beendete er am 2. September 1732 mit dem Grad eines Magister Artium. Er unterließ es, das geplante Theologiestudium anzuschließen, schloss aber sein Studium an der Sorbonne am 6. August 1735 als Bakkalaureus ab.
Ab 1736 war Diderot als Anwaltsgehilfe bei dem ebenfalls aus Langres stammenden Advokaten Louis Nicolas Clément de Ris tätig. Als er 1737 diese Stelle aufgab, beendete sein Vater die regelmäßigen Geldzuwendungen. Diderot lebte jetzt vier Jahre von schriftstellerischen Aufträgen, so schrieb er Predigten für Geistliche und arbeitete als Hauslehrer bei einem reichen Finanzier, nebenbei lernte er Englisch. Es war eine Zeit chronischer Geldnot. Zeitweise half ihm der Karmelit Frater Angelus oder seine Mutter, die sogar ihre Dienstmagd Hélène zu Fuß nach Paris schickte, um ihn finanziell zu unterstützen. Auch ein Monsieur Foucou aus Langres, ein Freund seines Vaters, der sich als Künstler und Dentist in Paris betätigte, hat Diderot häufiger mit Geld ausgeholfen.
Diderot begeisterte sich für das Theater und führte bald das Leben eines Bohémien. An Mathematik stark interessiert, lernte er den Mathematiker und Philosophen Pierre Le Guay de Prémontval kennen und besuchte 1738 dessen Vorlesungen, ebenso die von Louis-Jacques Goussier. Andere Bekannte aus dieser Zeit waren der Literat Louis-Charles Fougeret de Monbron, der spätere Kardinal François-Joachim de Pierre de Bernis und der spätere Polizeipräfekt von Paris Antoine de Sartine.
Seit 1740 schrieb Diderot Artikel für den Mercure de France und die Observations sur les écrits modernes. In dieser Zeit besuchte er auch Anatomie- und Medizinvorlesungen bei César Verdier.
Im Jahr 1740 lebte Diderot zunächst in einem Haus in der Rue de l’Observance im heutigen 6. Arrondissement, unweit der École de médecine, eine Etage unter dem deutschen Kupferstecher Johann Georg Wille. Wille beschrieb ihn als einen „sehr umgänglichen jungen Mann“, der „ein guter Schriftsteller und wenn möglich, ein noch besserer Philosoph sein wollte“. Noch im selben Jahr zog er mehrfach um, so in die Rue du Vieux-Colombier, ebenfalls im 6., und in die Rue des Deux-Ponts im heutigen 4. Arrondissement.
Später übernahm Diderot Übersetzertätigkeiten aus dem Englischen in das Französische. Englisch lernte er mittels eines lateinisch-englischen Wörterbuchs. 1742 übersetzte er die Geschichte Griechenlands von Temple Stanyan. Robert James hatte Anfang der 1740er Jahre das dreibändige englische Lexikon A medicinal dictionary geschrieben. Der französische Arzt Julien Busson überarbeitete und erweiterte es zu einem sechsbändigen Werk, Dictionnaire universel de médicine, welches zwischen 1746 und 1748 von Diderot, François-Vincent Toussaint und Marc-Antoine Eidous ins Französische übertragen und von Busson gegengelesen wurde.
Ferner übersetzte Diderot 1745 Shaftesburys Untersuchung über die Tugend. Die Ideen Shaftesburys beeinflussten die französische Aufklärung stark. Für Diderot waren die Abneigung gegen dogmatisches Denken, die Toleranz und die an humanistische Ideale angelehnte Moral besonders wichtig. Diderot las mit großem Interesse die Essais von Michel de Montaigne.
In diesen Jahren befreundete Diderot sich mit anderen jungen Intellektuellen, wie d’Alembert, Abbé Étienne Bonnot de Condillac und Melchior Grimm. Er verkehrte im Café de la Régence und im Café Maugis, das auch von Jean-Jacques Rousseau besucht wurde; im Juli 1742 lernte Diderot ihn kennen. Rousseau, Condillac und Diderot trafen sich zeitweise einmal wöchentlich in einem Restaurant in der Nähe des Palais Royal, dem Panier fleuri.
Anne-Antoinette Champion, genannt Nanette, lebte 1741 mit ihrer Mutter in der Rue Boutebrie, wo die beiden Frauen von Weißnäherei und Spitzenklöppelei lebten. Diderot wohnte zu dieser Zeit in einem kleinen Zimmer desselben Hauses. Als er 1743 die besitzlose, bekennend katholische Nanette heiraten wollte und wie üblich seinen Vater um Erlaubnis bat, ließ dieser ihn Kraft seiner väterlichen Autorität in einem Karmeliterkloster bei Troyes einsperren. Diderots Antipathie gegen die Kirche und die Institution Kloster liegt wohl auch in dieser Erfahrung begründet, eine Antipathie, die sich später noch steigerte, als seine jüngste Schwester freiwillig ins Kloster ging und dort psychisch erkrankte. Diderot konnte nach einigen Wochen fliehen, er kehrte nach Paris zurück und heiratete Anne-Toinette Champion heimlich am 6. November 1743. Das Verhältnis von Anne-Toinette zum Schwiegervater normalisierte sich später, spätestens 1752 war es ein freundliches.
Die Familie wohnte zunächst in der Rue Saint-Victor im heutigen 5. Arrondissement, 1746 zog sie in die Rue Traversière, im April gleichen Jahres weiter in die Nummer 6 Rue Mouffetard ebenfalls 5. Arrondissement. In der Nähe wohnte der Polizeioffizier François-Jacques Guillotte, der ein Freund Diderots wurde.
Seit 1747 wohnte die Familie Diderot in der Nummer 3 Rue de l’Estrapade, von 1754 bis 1784 dann im 4. und 5. Stockwerk eines Hauses in der Rue Taranne heute am 7. Arrondissement und 6. Arrondissement liegend.
In seinem Essay Regrets sur ma vieille robe de chambre ou Avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune beschrieb Diderot sein Arbeitszimmer im vierten Stockwerk. Ein Stuhl aus Strohgeflecht, ein einfacher Holztisch und Bücherbretter aus Tannenholz, an den Wänden einfache italienische Farbtapeten, zusätzlich rahmenlose Kupferstiche, einige Alabasterbüsten von Horaz, Vergil und Homer. Der Tisch war bedeckt mit Druckbögen und Papieren. Im fünften Stockwerk, unter dem Dachgeschoss hatte er die Redaktion der Enzyklopädie eingerichtet. Bei einem Freund, dem Juwelier Étienne-Benjamin Belle, in Sèvres, Nummer 26 Rue Troyon, mietete Diderot im November 1767 ein zusätzliches Appartement. Dorthin zog er sich bis kurz vor seinem Tode regelmäßig zum Arbeiten zurück. Sein letztes Domizil – hier verbrachte er die letzten Tage seines Lebens – lag in der Nummer 39 Rue de Richelieu im heutigen 2. Arrondissement von Paris.
Das Paar hatte vier Kinder, von denen drei sehr früh starben, Angélique, Jacques François Denis, Denis-Laurant sowie Marie-Angélique. Marie-Angélique heiratete am 9. September 1772 den Industriellen Abel François Nicolas Caroillon de Vandeul. Er war der Sohn von Diderots Jugendliebe Simone la Salette und ihrem Ehemann Nicolas Caroillon.
Diderot hatte zwei Enkel, Marie Anne, früh verstorben, und den späteren Politiker Denis-Simon Caroillon de Vandeul, der Eugénie Cardon heiratete. Dieser Ehe entstammen die drei Urenkel Diderots, Abel François Caroillon de Vandeul, Marie Anne Wilhelmine Caroillon de Vandeul und Louis Alfred Caroillon de Vandeul.
Ein interessantes Faktum ist, dass sein Bruder Didier-Pierre Diderot von 1743 bis 1744 ebenfalls zum Studieren in Paris lebte. Er besuchte ein Katholisches Priesterseminar und studierte zusätzlich noch Jurisprudenz. Am Freitag den 9. Dezember 1746 beendete er sein Studium und ging zurück nach Langres. Denis’ Verhältnis zu seinem Bruder Didier-Pierre Diderot war immer schwierig. Die Einladung zur Hochzeit Marie-Angéliques beantwortete dieser rüde und kam nicht. Am 14. November 1772 kam es zum endgültigen Bruch zwischen den Brüdern.
Seine Frau, die Mutter seiner Kinder, war die Seele seines Hauses, und Diderot tolerierte auch ihre strenge Gläubigkeit. Während der Zeit dieser Ehe führte er aber daneben weitere intime Beziehungen: Ab 1745 war er mit Madeleine de Puisieux liiert, einer „Abenteurerin“, wie emanzipierte und unverheiratet lebende Frauen (meist besserer Herkunft und Bildung) genannt wurden. Im Jahr 1755 lernte Diderot Sophie Volland kennen, die ihm eine lebenslange Gefährtin und Seelenfreundin wurde, beide führten einen regen „empfindsamen“ Briefwechsel. Es war das Jahr des Erdbebens von Lissabon, das die Theodizee-Diskussion neu aufwarf. Vom Frühjahr 1769 bis 1771 hatte Diderot dann eine weitere intime Beziehung mit Jeanne-Catherine Quinault, die er bereits seit 1760 kannte. Im August 1770 traf er sich mit ihr und ihrer Tochter in Bourbonne-les-Bains und kurte dort mit ihnen im Thermalbad. Kurz danach schrieb er Die beiden Freunde aus Bourbonne.
Diderot verkehrte weiter mit Pariser Intellektuellen, im Café Procope, auch im Café Landelle. So lernte er Alexis Piron kennen. Über diesen Kreis kam er in Kontakt zur Salonnière und Schriftstellerin Louise d’Épinay sowie zu Paul Henri Thiry d’Holbach. Er wurde Teil des Coterie holbachique.
Im Café de la Régence am Place du Palais-Royal spielte Diderot regelmäßig Schach. Mit François-André Danican Philidor, dem besten Spieler dieser Zeit, war er befreundet; beider Familien trafen sich regelmäßig. Philidors Schachlehrer François Antoine de Legall, einem regelmäßigen Besucher des Cafés, setzte Diderot in „Rameaus Neffe“ ein literarisches Denkmal.
Diderots philosophische Ansichten hatten sich inzwischen weit von den christlichen Ideen des Vaterhauses entfernt. Seine Zweifel daran, sein Übergang zu einem von der Vernunftn geprägten Theismus wurden 1746 öffentlich mit dem zu Ostern verfassten Essay Pensées philosophiques. Dieser machte ihn, obgleich anonym erschienen, einer größeren Leserschaft bekannt. Das religionskritische Werk wurde vom Pariser Parlement verurteilt und öffentlich verbrannt. Die weitere Entwicklung seiner Positionen hin zu einem eindeutigen Materialismus markieren La promenade du sceptique und der Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden, später dann die Pensées sur l’interprétation de la nature.
Ab 1747 folgte die intensive Arbeit an der Encyclopédie. Im Jahre 1749 wurde sie jedoch unterbrochen.
Der Kriegsminister Frankreichs, Marc-Pierre d’Argenson, forderte am 22. Juli 1749 den Generalleutnant der Polizei Nicolas René Berryer auf, einen königlichen Haftbefehl für Diderot auszustellen. Am 24. Juli 1749, um halb acht Uhr morgens, wurde Diderot von Joseph d’Hémery, Kommissar und Inspektor der königlichen Zensurbehörde, verhaftet. Er wurde verhört und in die Festung Vincennes gebracht.
Diderot wurde die Veröffentlichung der Pensées philosophiques und des Briefes über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden, in denen er seine materialistische Position dargelegt hatte, sowie das Arbeiten an weiteren gegen die Religion gerichteten Schriften zur Last gelegt. Schon zwei Jahre zuvor war er vom Pfarrer seiner Gemeinde Saint-Médard, Pierre Hardy de Lévaré, als „gottloser, sehr gefährlicher Mensch“ beschrieben worden. Eine gewisse Rolle soll auch gespielt haben, dass eine einflussreiche Frau, Madame Dupré de Saint-Maur, sich für eine herabsetzende Äußerung Diderots rächen wollte.
Rousseau besuchte ihn regelmäßig im Gefängnis. Die Buchhändler, an zügiger Arbeit an der Encyclopédie interessiert, beschwerten sich über die Verhaftung. Diderot selbst intervenierte brieflich bei René Louis d’Argenson und Nicolas René Berryer. Am 3. November 1749 wurde er entlassen. Er musste sich hierfür schriftlich verpflichten, keine blasphemischen Schriften mehr zu veröffentlichen. Um den Fortgang der Encyclopédie nicht zu gefährden, ließ er daher in den folgenden Jahren vieles unpubliziert.
Die Erfahrung seiner Inhaftierung prägte sich Diderot tief ein und ließ ihn künftig mit größerer Vorsicht vorgehen. Viel später, am 10. Oktober 1766, bekannte Diderot in einem Brief an Voltaire, bezogen auf seine Arbeit an der Encyclopédie, dass seine Seele voller Angst vor einer möglichen Verfolgung sei, er aber dennoch nicht fliehen werde, da eine innere Stimme ihm befehle, weiter zu machen, teils aus Gewohnheit, teils aus Hoffnung, dass schon am nächsten Tage alles anders aussehen könne.
1747 übernahm Diderot die Leitung der Arbeit an der Encyclopédie als Herausgeber, zunächst gemeinsam mit d’Alembert, ab 1760 mit Louis de Jaucourt. Den Gesamtplan zu entwerfen, Autoren zu gewinnen und deren Zusammenarbeit zu organisieren, um das Druckprivileg und gegen die Zensur zu kämpfen und außerdem noch mehr als 3000 Artikel selbst zu schreiben, war Arbeit für Jahre. Wo nötig erweiterte Diderot hierfür seinen Wissensbereich. So besuchte er von 1754 bis 1757 regelmäßig die Chemievorlesungen Guillaume-François Rouelles. Bei den unausweichlichen Kämpfen wurde Diderot auch durch die Freimaurer unterstützt.
Diderot schrieb in dieser Zeit außerdem Romane und Erzählungen, Stücke für das Theater, er arbeitete an einer Theatertheorie und zur Erkenntnistheorie. Vieles hiervon wurde zunächst nicht publiziert, manches kam jedoch durch Abschriften bereits an die Öffentlichkeit. Ein wichtiger Mitarbeiter wurde ihm hierbei Jacques-André Naigeon, auch als Sekretär d’Holbachs tätig, der Texte redigierte und bearbeitete und auch für die Encyclopédie schrieb. Er gab später, 1798, eine erste, wenn auch unvollständige, Werkausgabe heraus.
Trotz all dieser Arbeit nahm Diderot am regen gesellschaftlichen Leben der Philosophen teil – der kritisch eingestellten Pariser Intellektuellen, wie Condillac, Turgot, Helvétius und d’Holbach –, ebenso besuchte er adlige Salons. Seit dem Winter 1752/53 hatte er auch Briefkontakt zu Madame de Pompadour, die dem Journal von Marc-Pierre d’Argenson zufolge 1752 Verbindung zu den Enzyklopädisten aufgenommen hatte. Später empfing sie einige von ihnen, auch Diderot, zu informellen Diners und Gesprächen.
Spannungen gab es jedoch. So beklagte Diderot sich 1757 bei Grimm über eine Einladung durch d’Holbach auf das Château du Grand Val: er zweifle, ob er ihr folgen solle, sei der Baron doch ein despotischer und launischer Mensch. Später hielt er sich allerdings mehrfach dort auf, ebenso auf dem Château de la Chevrette in Deuil-la-Barre, dem Besitz von Louise d’Épinay. In Briefen an Sophie Volland schilderte Diderot seinen Tagesablauf im Grand-Val: Neben Lesen, Nachdenken und Schreiben, Spaziergang und Gesprächen mit d’Holbach, allgemeiner Konversation und den Mahlzeiten gehörten auch Tric Trac und Piquet dazu.
Im Juli 1765 beendete Diderot die Arbeit an der Encyclopédie. Fast 20 Jahre hatten er und seine Familie von den Zahlungen der Verleger und Buchhändler gelebt, Rechte auf Tantiemen besaß er nicht. So kamen nun lediglich Einnahmen aus dem väterlichen Erbe aus Langres. Dmitri Alexejewitsch Golizyn und Grimm retteten die Situation. Sie vermittelten den Verkauf von Diderots Bibliothek an Katharina II. von Russland, sie wurde nach seinem Tod nach Sankt Petersburg transportiert, für 16.000 Livre. Katharina II. besoldete ihn zudem zeitlebens als Bibliothekar seiner eigenen Bibliothek mit 1000 Livre pro Jahr und stattete ihn mit Geld für Neuanschaffungen aus. 1773 fuhr Diderot für einige Monate an den Hof von Sankt Petersburg.
Das Geld ermöglichte es seiner Tochter Marie-Angélique, ab 1765 Cembalo-Unterricht zu nehmen, zunächst bis 1769 bei der Pianistin Marie-Emmanuelle Bayon Louis, dann bei dem Musiktheoretiker und Komponisten Anton Bemetzrieder. Dieser machte sie 1771 zu einer Hauptperson seines musikalischen Lehrwerks, den Leçons de Clavecin, et Principes d’Harmonie.
Diderots Bibliothek ging (wie auch die Voltaires) in die 1795 gegründete Russische Nationalbibliothek ein. Mit deren Beständen wurde sie jedoch später zerstreut, eine begleitende Aufstellung ging verloren. Sie konnte nur lückenhaft über die Register der Diderot mit Büchern versorgenden Verleger rekonstruiert werden.
Die Zarin Katharina II. hatte Denis Diderot schon im Jahr 1762 nach Russland eingeladen, dort sollte er die Enzyklopädie vollenden. Diderot sagte ab, blieb aber mit dem General und Schulreformer Iwan Iwanowitsch Bezkoi in Verbindung, um eventuell später eine zweite redigierte Ausgabe der Enzyklopädie in Russland zu veröffentlichen. Als Diderot 1773 nach Russland aufbrach, war die Enzyklopädie fertiggestellt, seine Tochter verheiratet und er seiner Mäzenin zu Dank verpflichtet. Am 11. Juni 1773 verließ Diderot Paris zu seiner einzigen längeren Reise mit dem Ziel Sankt Petersburg.
Die Reise ging zunächst über Den Haag in das Herzogtum Kleve, wo er seinen späteren Reisebegleiter Alexei Wassiljewitsch Naryschkin traf. In Den Haag wohnte er bis zum 20. August 1773 bei dem russischen Botschafter Dmitri Alexejewitsch Fürst von Gallitzin und seiner Ehefrau Amalie von Gallitzin. Nach krankheitsbedingter Pause fuhr Diderot weiter ins Kurfürstentum Sachsen. Über Leipzig und Dresden ging es, unter Vermeidung der preußischen Residenzen Potsdam und Berlin, weiter nach Königsberg, Memel, Mitau, Riga und Narva. Am 8. Oktober 1773 erreichte Diderot den Zarensitz an der Newa.
In Sankt Petersburg kam Diderot, krankheitsgeschwächt, zunächst bei Naryschkin und dessen älteren Bruder Semjon unter. Dort hütete er zunächst noch das Bett.
Vom 15. Oktober 1773 an wurde Diderot von der Zarin – mitunter dreimal pro Woche – zu regelmäßigen Audienzen empfangen. Als Vertreterin des aufgeklärten Absolutismus versprach sie sich davon Anregungen für ihre Reformpolitik. Sie hatte bereits mit Voltaire korrespondiert und sich gerade den französischen aufklärerischen Denkern als nahestehend empfohlen, seit sie 1767 ihre umfangreiche Instruktion über Rechtsgrundsätze an die russische gesetzgebende Kommission veröffentlicht hatte, in der sie sich insbesondere an die Schriften Montesquieus sehr stark angelehnt hatte. Aufgabe der neu gebildeten Kommission war, ein System einheitlicher Rechtsprechung für das gesamte Russische Reich zu schaffen.
Diderot hatte während seines Aufenthaltes kaum Gelegenheit, die Verhältnisse im Zarenreich genau und direkt kennenzulernen, so dass seine Empfehlungen gemeinhin abstrakt bleiben mussten. Den Inhalt seiner Gespräche mit der Zarin legte er in den Entretiens avec Catherine II nieder. Er unterstützte etwa das Bemühen um eine einheitliche Rechtsprechung, kritisierte aber nachdrücklich die autokratische, absolutistische Monarchie.
Die Gespräche und Erfahrungen in Sankt Petersburg ließen Diderot später, besonders in seiner Auseinandersetzung mit der Instruktion der Zarin unter dem Titel Observations sur l’instruction de l’impératrice de Russie, deutlich abrücken von der in Gesetze gegossenen „monarchie pure“, wie sie Katharina II. vorschwebte. Er propagierte Glück und Freiheit als Ziele aller Gesellschaften und als Aufgabe, der sich Herrscher wegbereitend zu stellen hätten. Er forderte die vollständige Beseitigung der Leibeigenschaft und ein Ende des kirchlichen politischen Machteinflusses. Weiter erwartete Diderot, am Leitbild der Volkssouveränität orientiert, von der Kaiserin eine deutliche Selbstbeschränkung ihrer absoluten Macht.
Dies erfuhr die Zarin erst nach Diderots Tod. Vor seiner Abreise beauftragte sie ihn, einen Plan zur Reform des russischen Erziehungssystems zu entwickeln, um die Ideen der französischen Aufklärung im Zarenreich zu verbreiten. Diderot schrieb den Plan des gesamten Schulwesens für die russische Regierung oder einer öffentlichen Erziehung in allen Wissenschaften. Darin forderte er etwa, die akademische Ausbildung dürfe sich nicht einzig an der unmittelbaren Verwendbarkeit durch die Krone oder an der Staatsräson orientieren. Grimm brachte die Abhandlung nach Russland.
Gegenüber Louis-Philippe de Ségur, dem französischen Gesandten in Sankt Petersburg von 1783 bis 1789, äußerte die Zarin: Hätte sie alle Ideen und Vorstellungen Diderots in das politische Handeln einfließen lassen, wäre das gesamte Zarenreich auf den Kopf gestellt worden. Und sie sagte Diderot zum Ende seines Aufenthaltes in Russland, dass sie mit größtem Vergnügen seine brillanten Ausführungen hörte, dass sie aber im Unterschied zu ihm nicht mit Papier sondern mit Menschen arbeite.
Am 1. November 1773 wurde Diderot zusammen mit Grimm auf Order der Zarin hin als membre étranger in die Russische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Die anwesenden Akademiker zeigten hierüber „eine sehr gedämpfte Begeisterung“. Diderot legte der Akademie einen Katalog mit 24 Fragen zur Naturgeschichte Sibiriens vor. Erik Gustavovich Laxmann war beauftragt, sie zu beantworten.
Während seines Aufenthaltes in Sankt Petersburg bemühte Diderot sich, die russische Sprache zu erlernen. Er wurde oft in die Paläste der russischen Aristokraten eingeladen.
Am 5. März 1774 begann die Rückreise mit der Postkutsche. Über Hamburg, Osnabrück ging es wieder nach Den Haag, wo er am 5. April eintraf und dann einige Zeit verweilte. Erst am 21. Oktober 1774 war er wieder in Paris.
In seiner Abhandlung Essai sur la vie de Sénèque et sur les règnes de Claude et de Néron von 1778 verteidigte Diderot die Zarin gegen den Vorwurf, sie sei ähnlich der Julia Agrippina, welche ihren Ehemann, den römischen Kaiser Claudius, ermordete, eine Gattenmörderin an Peter III. von Russland gewesen.
Diderots gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich seit der Rückkehr aus Russland zusehends. Herz- und Kreislaufprobleme machten ihm zu schaffen, er litt unter geschwollenen Beinen und Kurzatmigkeit. 1774 schrieb er an Sophie Volland, er erwarte in zehn Jahren sein Ende. Häufiger als früher zog es ihn in sein Ausweichquartier in Sèvres oder auf das Landgut Château de Grand-Val seines Freundes d’Holbach.
Ein letztes Mal sollte Diderot nur knapp einer erneuten Inhaftierung entgehen. Im Jahr 1782 erschien im damaligen unabhängigen Fürstentum Bouillon der Essai sur les règnes de Claude et de Néron. Laut Lenoir verlangte König Ludwig XVI. Diderots Bestrafung. Diderot wurde vorgeladen, konnte aber die Vorwürfe entkräften, zumal man ihm seitens der Administration eine gewisse Sympathie entgegenbrachte. Er vollzog einen rhetorischen Kniefall und beschwichtigte seine Ankläger noch durch einen Widerruf. Diderot traf sich in der Folgezeit regelmäßig mit dem Polizeileutnant Lenoir zum Gedankenaustausch, war dieser doch ein liberaler Geist und Logenmitglied der Freimaurer.
Im Februar, dem Winter 1784, starb Diderots langjährige Freundin Sophie Volland mit 67 Jahren und im April seine Enkelin Marie Anne Caroillon de Vandeul, Minette, im Alter von zehn Jahren. Am 19. Februar 1784 erlitt er einen plötzlichen Zusammenbruch, möglicherweise einen Herzinfarkt, begleitet von einer Herzinsuffizienz. Er starb am Samstag, dem 31. Juli 1784, beim Mittagessen. Bei der Obduktion am Folgetag wurden eine vergrößerte Leber und ein vergrößertes Herz gefunden. Anne-Antoinette Diderot, die Ehefrau, und der Schwiegersohn Abel François Nicolas Caroillon de Vandeul organisierten die Bestattung in der Pfarrkirche St-Roch in Paris. Hierzu wurde dem Priester diskret ein Betrag von 1800 Livre als Spende zugesichert. Bei der Zeremonie sollen 50 Priester anwesend gewesen seien. Denis Diderot wurde im Ossuarium unterhalb des Hauptaltars beigesetzt.
VIERTES KAPITEL
Sturm auf die Bastille
Erbaut wurde sie als Bastille Saint-Antoine im 14. Jahrhundert unter König Karl V. als befestigtes östliches Tor und als ein Eckpfeiler der Befestigungsanlagen der Hauptstadt gegen Angriffe der englischen Truppen, die während des Hundertjährigen Krieges in Frankreich herumzogen. Seit der Zeit Ludwigs XIII. diente sie als Staatsgefängnis mit 80 teils unterirdisch liegenden Kerkern. Berühmte Häftlinge waren 1717/1718 und 1726 der Schriftsteller Voltaire und 1784–1789 der Marquis de Sade.
Die Bastille besaß acht Zinnentürme mit eigenen Namen: Feldseite von Norden nach Süden: Eckturm, Kapellenturm, Schatzturm, Grafschaftsturm; Stadtseite von Norden nach Süden: Brunnenturm, Freiheitsturm, Bertaudièreturm, Basinièreturm. Zwischen Basinièreturm und Grafschaftsturm lag südlich der Eingang mit Zugbrücke. Zwischen Kapellen- und Schatzturm war das zugemauerte ehemalige Stadttor zu sehen. Das Gebäude besaß außerdem einen Festungsgraben, der mit Wasser gefüllt war.
Eines der interessantesten Dokumente aus dem Innenleben der Bastille ist René Auguste Constantin de Rennevilles 1715 veröffentlichter Bericht „Inquisition Françoise“ über seine elfjährige Gefangenschaft. Renneville beschreibt darin ausführlich verschiedene Zellen und die je nach Status unterschiedlichen Haftbedingungen. Die Gefangenen erhielten eine Pension des Königs. Das Gefängnis selbst funktionierte als vom Staat verpachtetes kommerzielles Unternehmen. Wenn bei längerer Haft Gefangene verarmten oder von ihren Familien nicht mehr unterstützt wurden, wurden sie in immer tiefer gelegenen Zellen untergebracht. Die unmenschlichsten Haftbedingungen herrschten in den Kellern. Haftstrafen in der Bastille waren gefürchtet, da mit ihnen der Entzug jedweder Öffentlichkeit verbunden war. Eine größere Chance, sich zu verteidigen und in der Außenwelt um Sympathien zu werben, hatten Straftäter am Pranger.
Anne-Marguerite Petit du Noyer zugeschrieben wird der Bericht einer spektakulären Flucht aus der Bastille, der 1719 als Die sogenannte Hölle der Lebendigen erschien.
Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 wurde zum Symbol für die französische Revolution. Teilweise wird dieses Ereignis auch als Beginn der Revolution interpretiert. Eine wirkliche Erstürmung hat es aber nicht gegeben, da ihr Kommandant der Aufforderung zur Übergabe nachkam. Zudem saßen hierin nur noch sieben Häftlinge, bewacht von einem Kommandanten, dem 80 Kriegsveteranen und 32 Soldaten assistierten.
Im Juli 1789 befand sich das Volk von Paris in Unruhe: Einerseits setzte es große Hoffnungen in die Generalstände, andererseits war es durch die hohen Brotpreise vom Hunger bedroht. Seit dem 10. Juli wurden Zollhäuser rund um Paris in Brand gesteckt, in der Hoffnung, dass die Waren in der Stadt billiger würden, wenn keine Akzise erhoben würde.
Am 11. Juli entließ der König den Finanzminister Jacques Necker, der beim Volk beliebt war. Außerdem hatte er Truppen in Versailles zusammengezogen, eine deutliche Drohung für die Nationalversammlung.
Am 12. Juli erreichte die Nachricht von der Entlassung Neckers Paris. Agitatoren im Palais Royal heizten die Stimmung weiter an; der berühmteste Redner war hier Camille Desmoulins, der die Patrioten aufforderte, sich als Erkennungszeichen Kastanienblätter an die Hüte zu stecken.
Am Tag darauf kam es zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und dem Kavallerieregiment „Royal Allemand“. In den darauf folgenden Tagen wurden Waffenhandlungen geplündert und am 14. Juli belagerte eine Menschenmenge, die sich zuvor im Hôtel des Invalides Waffen beschafft hatte, die Bastille, um an die dort gelagerten Munitionsvorräte zu gelangen. Der Kommandant ließ bei der ersten Ansammlung der Menschenmenge vor der Zugbrücke auf die bewaffnete Menschenmenge schießen. Mehr als 90 Personen fanden den Tod. Nach erneutem Aufmarsch mit verbesserter Bewaffnung (Kanonen) und nach der Kapitulation der Wachmannschaft stürmte die Menge das Gefängnis und befreite die Gefangenen: vier Urkundenfälscher, zwei Geisteskranke und den adligen Schriftsteller Marquis de Sade, den seine Familie wegen seines wüsten Lebenswandels in der Bastille hatte festsetzen lassen (andere Quellen berichten, dass er einige Tage zuvor in die Irrenanstalt in Charenton-le-Pont verlegt wurde, da er von seiner Zelle aus einer demonstrierenden Menschenmenge zurief: „Sie töten die Gefangenen hier drinnen!“).
Der Kommandant wurde auf dem Weg zum Rathaus trotz Zusicherung des freien Geleits wegen seines Schießbefehls von einem Metzger geköpft, ein Wachsoldat wurde ebenfalls umgebracht. Ein Adeliger, Jacques de Flesselles, Oberhaupt des Pariser Magistrats, der den Kommandanten retten wollte, wurde ebenfalls geköpft. Die Köpfe trug man anschließend unter dem Jubel der Bevölkerung auf Heugabeln durch die Straßen der Hauptstadt. Es waren die ersten adligen Opfer der Revolution.
Der Sturm auf die Bastille war Anlass zur Aufstellung einer Nationalgarde unter Marquis de La Fayette, damit die Nationalversammlung ergebene Truppen zur Verfügung hatte. Außerdem wurde der königliche Gouverneur von Paris abgesetzt; an seine Stelle trat der Generalrat der Commune, ein Gremium, das bei der Radikalisierung der Revolution eine Rolle spielte.
Obwohl keine bedeutenden Gefangenen befreit wurden und die militärische Bedeutung des Sieges über die aus Veteranen und Invaliden bestehende Wachmannschaft gering war, wurde der Sturm auf die Bastille in der Folge zum Mythos und zu einem einschneidenden Ereignis verklärt, was vermutlich auf die hohe Symbolwirkung eines ersten Sieges über eine Befestigung der Monarchie zurückzuführen ist.
So ist der 14. Juli noch heute der Nationalfeiertag in Frankreich, allerdings nicht wegen des Sturmes auf die Bastille, sondern vor allem wegen des ein Jahr später gefeierten Föderationsfestes, als der König und Vertreter aller Stände und aller Departemente einen feierlichen Treueeid auf die Nation leisteten.
Von der Bastille ist heute nichts mehr zu sehen. Unter der Leitung eines Bauunternehmers begann bereits zwei Tage nach dem Sturm, am 16. Juli 1789, der Abriss der Festung als Symbol des Ancien Régime, der sich bis in den Oktober 1790 hinzog. Man ließ nur einen 50 Zentimeter hohen Mauerrest stehen, der später komplett entfernt wurde.
Aus Steinen der Bastille ließ der Bauunternehmer detailgetreue Modelle des ehemaligen Gefängnisses meißeln, die in die 83 neuen Departement-Hauptstädte geliefert und dort mit Pomp als Trophäen eingeweiht wurden. Aus den eisernen Schlössern der Zellen und den Ketten und Fußkugeln der Gefangenen ließ er. 60.000 Medaillen mit Freiheitsmotiven prägen. Der „patriote“ verbreitete auch ungezählte eigene und fremde Lieder, Pamphlete, Plakate, Zeitungen, Bilder (überwiegend Karikaturen) und Flugblätter zum revolutionären Geschehen. Jährlich richtete er zur Hinrichtung des ehemaligen Königs Ludwig XVI. ein Schweinekopfessen aus.
FÜNFTES KAPITEL
Jean Paul Marat
Marat wurde am 24. Mai 1743 als zweites von acht Kindern in Boudry im Fürstentum Neuenburg geboren, das als zugewandter Ort mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft assoziiert war und zu dieser Zeit von der preußischen Königsfamilie der Hohenzollern regiert wurde. Sein Vater wurde bei der Registrierung seines Sohnes als „Jean Mara“ eingetragen, in den Bibliographien wird er auch „Jean-Baptiste Mara“ genann. 1753 zog die Familie nach Yverdon, wo der Vater in einer Tuchfabrik als Zeichner arbeitete. 1755 zog man nach Neuchâtel weiter, wo der Vater nunmehr als Fremdsprachenlehrer tätig wurde. Hier fügte er seinem Namen das Schluss-„t“ an. Den dadurch französisch klingenden Nachnamen „Marat“ übernahm nun auch der Sohn Jean Paul. In der Literatur wird der Vater je nach Sprache Giovanni Mara, Juan Salvador Mara oder Jean Marat genannt. Er war in Cagliari auf Sardinien geboren; seine Mutter, Louise Cabrol, stammte aus der ebenfalls mit der Eidgenossenschaft verbundenen Stadtrepublik Genf.
Durch eine Hautkrankheit (mit einem heftigen Juckreiz verbunden) bedingt, litt Marat unter Entstellungen. Als er sechzehn Jahre alt wurde, verließ er die Schweiz und wanderte allein nach Bordeaux nahe der französischen Atlantikküste aus, wo er Medizin studierte. Um sein Auskommen zu sichern, arbeitete er für den vornehmen Reeder Jean-Paul Nairac. 1762 zog er nach Paris, wo er drei Jahre blieb und an der Universität Vorlesungen in Medizin, Physik und Philosophie besuchte. Wegen seiner Erfolge bei der Heilung von Gonorrhoe konnte er sich als Arzt einen Namen machen.
Danach zog es ihn nach England. Zehn Jahre lang praktizierte er als Arzt in London, Newcastle und Dublin. In England wurde er Freimaurer; am 15. Juli 1774 stellte man ihm ein Großlogen-Zertifikat aus, das von James Heseltine, dem Großsekretär, unterzeichnet war. Später wurde er Mitglied der Loge La Bien Aimee in Amsterdam. Etwa im Jahr 1762 schrieb Jean Paul Marat sein erstes Buch „Polnische Briefe“, das aber nicht veröffentlicht wurde. Auch der 1771 in London fertiggestellte Roman „Die Abenteuer des jungen Grafen Potowski – ein Herzensroman“ blieb zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht]. Der Roman enthält auch Gedanken zum Strafrecht, die Marat später in seinem „Plan einer Strafgesetzgebung“ wieder aufgriff.
Marats erstes veröffentlichtes Werk erschien 1772 als „Eine Untersuchung über die menschliche Seele“. Es wurde 1773 erneut publiziert als Teil seiner Abhandlung „Eine Philosophische Studie über den Menschen“. Ein Jahr später veröffentlichte Marat in England eines seiner berühmtesten Werke: „Ketten der Sklaverei“. Am 30. Juni 1775 erhielt Marat einen akademischen Titel in Medizin an der St. Andrews University in Schottland.
Im Juni 1777 kehrte er wieder nach Frankreich zurück und wurde Arzt bei der Leibgarde des Grafen von Artois, des jüngsten Bruders Ludwigs XVI.
Dort führte er einige Experimente mit Feuer, Licht und Elektrizität durch. Er schrieb Bücher über die Elektrizität, das Feuer, das Licht, die Optik, wobei er mit seinem hitzköpfigen Stil so heftige Gegenkritiken auf sich zog, dass Johann Wolfgang von Goethe sich veranlasst sah, ihn in Schutz zu nehmen. 1779 veröffentlichte er ein Buch über seine neuen Erkenntnisse im Bereich der Physik. Weitere Bücher über Physik, Theorie der Politik, Recht und Physiologie folgten in den folgenden Jahren. Im Jahre 1783 beendete Marat seine medizinische Laufbahn und widmete sich ganz den Naturwissenschaften.
Gleichzeitig mit seinen naturwissenschaftlichen Studien befasste er sich mit Politik und Recht und beteiligte sich an einem 1777 von der Société économique de Berne veranstalteten Wettbewerb zur Reform des Strafrechts mit einem 1780 herausgegebenen Plan einer Kriminalgesetzgebung. Die erste Auflage wurde durch die Zensurbehörde beschlagnahmt, die weiteren Auflagen blieben unbeachtet.
Im Juli 1788 fühlte sich Marat sterbenskrank und schrieb deshalb sein Testament. Er bat einen Freund, den Uhrmacher Abraham Louis Breguet, ihn am Totenbett seelisch zu unterstützen und alle seine Manuskripte an eine Akademie für Wissenschaften zu schicken. Angeblich erzählte ihm Abraham am Totenbett von den revolutionären Ereignissen. Dies soll bei ihm einen so großen Eindruck hinterlassen haben, so sagt der Mythos, dass sich sein Gesundheitszustand besserte und er fortan die Revolution mit voller Kraft und allen Mitteln unterstützte. Im Februar 1789 veröffentlichte er eine „Opfergabe an das Volk“, in der er sich an den Dritten Stand richtet, um dessen Position gegenüber „unseren Feinden“ mit einer neuen Verfassung zu stärken. Die Schrift blieb unbeachtet, eine Ergänzung wurde beschlagnahmt.
Im Juli oder August 1789 versuchte er es erfolglos mit einer ersten Zeitung, dem Moniteur patriote („Patriotischer Anzeiger“). Mehr Erfolg hatte er mit der ab 12. September 1789 herausgegebenen Zeitung Publiciste Parisien („Pariser Blatt“), die er von der 6. Nummer an in Ami du Peuple („Freund des Volkes“) umbenannte. Diese Zeitung war eine stark beachtete Zeitung Frankreichs, die manchmal zweimal am Tag erschien, und sich als die Stimme des revolutionären Volkes verstand. Marat griff darin mit scharfen Worten alle gemäßigten Girondisten in der Nationalversammlung an.
Er bezeichnete alle wirklichen oder angeblichen Gegner der Revolution als Verräter und Volksfeinde, veröffentlichte deren Namen in seiner Zeitung und lieferte sie damit der Rache des Volkes aus. Dies führte dazu, dass am 6. Oktober 1789 ein Haftbefehl des Châtelet-Gerichts gegen ihn erlassen wurde. Man versuchte, ihn zu verhaften, was am 12. Dezember 1789 auch gelang; jedoch wurde er nach einem Verhör wieder freigelassen. Als man im Januar 1790 zweimal erneut – teils unter Aufbietung hunderter von Soldaten – versuchte, ihn zu verhaften, floh er nach England, kehrte aber im Mai 1790 wieder nach Frankreich zurück. Nun befürwortete er die Enthauptung von 600 Gegnern. Im September 1790 forderte er 10.000 Opfer, im Januar 1791 sogar 100.000. Er wurde von den Behörden gesucht, schaffte es aber, seine Zeitung weiter herauszugeben und sich trotzdem in Paris verborgen zu halten. Erst im Dezember 1791 nahm er „endgültig“ Abschied von seinen Lesern, um nach London abzureisen, wurde aber schon im Februar 1792 wieder in Paris gesehen. Nach dem Sturz der Monarchie im August 1792 schloss sich Marat den Jakobinern an und wurde, mit großer Unterstützung des Volkes, ein einflussreicher Delegierter im Nationalkonvent wie auch für eine Wahlperiode der Präsident des Klubs der Jakobiner.
Die Septembermassaker 1792 an Unabhängigen und Royalisten hat er in seinem Ami du Peuple publizistisch gefördert.
Nachdem die jakobinische Bergpartei die gemäßigten Girondisten verdrängt hatte, beschloss Charlotte Corday, eine Anhängerin der Girondisten, Marat zu ermorden. Sie fuhr in einer Postkutsche nach Paris, wo sie ein Küchenmesser erstand. Eigentlich wollte sie Marat am 14. Juli, dem Jahrestag des Sturms auf die Bastille, in aller Öffentlichkeit erstechen. Doch Marat war wegen seiner Hautkrankheit an das Haus gebunden. Unter dem Vorwand, dass sie einige Girondisten aus ihrer Heimatstadt Caen, einer Hochburg der Konterrevolution, denunzieren wolle, suchte sie Marat am 13. Juli 1793 auf. Marats Lebensgefährtin Simone Évrard ließ sie jedoch nicht ein. Sie fuhr zurück in ihr Hotel, kündigte ihren Besuch schriftlich an und kehrte noch am selben Tag zurück zu Marats Wohnung, ohne Antwort erhalten zu haben.
Im Badezimmer stach sie ihm nach einem kurzen Gespräch heftig in Hals und Brust, wobei sie so stark zustieß, dass eine große Schlagader riss und Marat sofort bewusstlos wurde. Der Komponist Guillaume Pierre Antoine Gatayes hatte den Leblosen aufgefunden, und einen herbeieilenden Redakteur des Ami du Peuple hatte Charlotte Corday niedergeschlagen, woraufhin sie festgenommen wurde. Zu keinem Zeitpunkt leistete sie Widerstand. Am 17. Juli 1793 wurde sie guillotiniert. Durch ihre Tat wurde Marat zunächst zu einem noch größeren Helden und Märtyrer. Seine Mörderin erlangte durch ihre Hinrichtung den Status einer Märtyrerin der Konterrevolution.
Jean Paul Marat wurde am 16. Juli 1793 unter den Bäumen des Kreuzganges des ehemaligen Couvent des Cordeliers beigesetzt, Ende September 1794 exhumiert und im Panthéon bestattet.
Das Attentat bildet den Stoff des schrecklichen Dramas „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ vom schwedischen Kommunisten Peter Weiss.
SECHSTES KAPITEL
Maximilien de Robespierre
Robespierre wurde als erstes von vier Kindern des angesehenen Advokaten Maximilien-Barthélémy-François de Robespierre heutigen Département Pas-de-Calais am 6. Mai 1758 geboren. Seine Geschwister waren Charlotte, Henriette Robespierre und Augustin. Die Familie väterlicherseits stammte ursprünglich aus dem katholischen Irland, war aber aufgrund religiöser Verfolgung unter dem Protestanten Heinrich VIII. nach Frankreich ausgewandert. Seine Mutter war Jacqueline Margarethe Carrault, die Tochter eines wohlhabenden Brauers. Im Juli 1764, als er gerade sechs Jahre alt war, verstarb seine Mutter im Kindbett. Am 6. November 1777 starb sein Vater in München; einige Jahre zuvor hatte er Arras aus ungeklärten Gründen verlassen und war nur noch sporadisch in den Ort zurückgekehrt. Am Collège von Arras galt Robespierre als Musterschüler und erlangte eines von vier Stipendien für das renommierte Pariser Collège Louis le Grand, das er ab 1769 besuchte. Nach zwölf Jahren des Studiums, aufgeteilt in sieben Jahre allgemeiner Studien und vier Jahre rechtswissenschaftlicher Studien, legte Robespierre 1780 sein Examen als Anwalt ab und wurde 1781 Lizenziat. In den Jahren 1772 und 1774 galt Robespierre als Klassenbester, 1775 wurde er zudem als bester Schüler der Universität ausgezeichnet und ausgewählt, die Begrüßungsrede beim Besuch von Ludwig XVI. zu halten. Noch als Student hatte er den von ihm verehrten Jean-Jacques Rousseau in dessen Sterbejahr 1778 besucht und gesprochen.
1781 ließ sich Robespierre in seiner Heimatstadt Arras als Anwalt nieder. Hier übernahm Robespierre verschiedenste Fälle und erarbeitete sich währenddessen einen Ruf als „Anwalt der Armen“. Widersprüchlich zu dieser Position steht Robespierres juristische Karriere in Arras, die er mit Gutheißen und fortwährender Unterstützung der Mächtigen machte. Nationale Bekanntheit erreichte er 1783 durch den sogenannten „Blitzableiterfall“, in welchem er einen Mann, der sein Haus mit einem Blitzableiter versehen hatte, gegen Vorurteile der Gefährdung der Allgemeinheit verteidigte und ihn stattdessen als Förderer der wissenschaftlichen Erkenntnis darstellte. Kurze Zeit war Robespierre auch als Richter an einem bischöflichen Patrimonialgericht tätig, legte sein Amt jedoch bald nieder, da er einen Verbrecher zum Tode verurteilen sollte, er jedoch zum damaligen Zeitpunkt noch ein strikter Gegner der Todesstrafe war.
Nach seiner Aufnahme in die Akademie von Arras 1783 publizierte Robespierre Flugschriften und Pamphlete, in denen er sich gegen die Privilegien des Adels und der Geistlichkeit aussprach, gleichzeitig Sippenhaft verurteilte und sich für die Rechte unehelich geborener Kinder und von Frauen sowie Menschenrechte im Allgemeinen einsetzte. 1786 wurde er zum Vorsitzenden der Akademie gewählt.
Schließlich sah er in Paris die Möglichkeit, durch sein politisches Engagement die Gesellschaftsform des monarchistischen Frankreichs nach der Staatstheorie seines geistigen Mentors Jean-Jacques Rousseau umzugestalten: 31-jährig wurde er gleich zum Delegierten des dritten Standes für die Stadt Arras in die Versammlung der Generalstände gewählt, die von Ludwig XVI. 1789 ursprünglich dazu einberufen worden war, das Steuerproblem des Staates zu lösen.
Am 17. Juni 1789 erklärten sich die Vertreter des dritten Standes (Bürger und Bauern) zur Nationalversammlung. Nach dem Beitritt der Vertreter des Klerus und des Adels schafften die Vertreter der drei Stände die Privilegien der Priester und Adligen ab. Dies war die Geburtsstunde der Französischen Revolution.
In der Nationalversammlung fiel Robespierre mit radikalen Forderungen auf, die aber zunächst von der gemäßigteren Mehrheit nicht geteilt wurden. So setzte er sich unter anderem für Pressefreiheit, die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien, die Aufhebung der Todesstrafe, die Beseitigung der Privilegien des Klerus sowie die Abschaffung des Zölibats ein. Außerdem war er gegen das aufschiebende Veto-Recht des Königs in der ersten Verfassung von 1791 und sprach sich für das allgemeine Wahlrecht für alle Männer aus. Für die Wahl der Volksvertreter dürften keine anderen Kriterien gelten als „die der Tugend und der Begabung“. Zudem forderte er eine Beschränkung von deren Amtszeit. Im August 1789 hatte Robespierre bereits einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet, welcher eine „ruhige Beratung“ in der Versammlung garantieren sollte, so dass „ein jeder ohne Furcht vor Störungen seine Meinung darlegen“ könne.
Bald galt Robespierre als radikaler Demokrat und trat dem linken „Club der Jakobiner“ bei, der sich regelmäßig in Paris traf. Im März 1790 wurde er zu deren Präsident und zum stellvertretenden Sekretär der Nationalversammlung gewählt. Im Oktober wurde er auch zum Richter am Distriktgericht von Versailles gewählt.
Bis 1791 war Robespierre trotz seiner radikalen Forderungen ein Anhänger der konstitutionellen Monarchie. Allerdings war er gleichwohl der Ansicht, dass der König nicht das Recht haben sollte, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Dieser würde nämlich im Zweifel immer ein Interesse daran haben, seine eigenen Machtbefugnisse zu erweitern, die Vertreter der Nation würden hingegen ein Interesse daran haben, den Krieg zu verhindern. Er änderte jedoch seine Meinung im Juni 1791, als Ludwig XVI. mit der Flucht nach Varennes heimlich versuchte, Frankreich zu verlassen, um die Revolution von außen zu zerstören. Ludwig wurde nach Paris zurückgebracht und blieb König. Er bemühte sich jedoch weiterhin, die Revolution mit Hilfe der anderen Königreiche rückgängig zu machen, wodurch er sowohl Robespierre und die Jakobiner als auch die Girondisten weiter gegen sich aufbrachte. Allerdings war für Robespierre die Revolution weniger durch einen Krieg mit den anderen europäischen Nationen gefährdet als durch die Helfer des Königs in Paris und die Konterrevolutionäre. Im Juni 1791 wurde Robespierre zum öffentlichen Ankläger am Kriminalgericht von Paris gewählt. Ende des Jahres war er nicht mehr Abgeordneter der Nationalversammlung, da er zuvor die Begrenzung der Amtszeit durchgesetzt hatte. Im April 1792 legte Robespierre auch sein Amt als Ankläger am Kriminalgericht von Paris nieder, um sich seinen Ruf als „der Unbestechliche“ zu bewahren.
Nach dem Tuileriensturm am 10. August 1792 wurde der König von der Nationalversammlung für abgesetzt erklärt. Am selben Tag wurde Robespierre Mitglied der Kommune von Paris. Im September 1792 befanden sich die Armeen der Preußen und der Österreicher auf dem Vormarsch. Paris war bedroht und die zum Kampf bereiten Pariser fühlten sich von den Anhängern des Königs bedroht. Unter den in den Gefängnissen einsitzenden Königstreuen und jenen, die dafür gehalten wurden, richteten sie daher ein Blutbad an. Diesem Septembermassaker fielen über tausend Menschen zum Opfer.
In dieser aufgeheizten Stimmung wurde Robespierre mit 338 von 525 Stimmen zum Mitglied der neuen Volksvertretung, des Nationalkonvents, gewählt. Gegen den König wurde Anklage wegen Hochverrats erhoben. Während die Girondisten und Danton Partei für den König ergriffen, schloss sich Robespierre in einer Rede der Forderung von Louis Antoine de Saint-Just nach des Königs Hinrichtung an, da der König eine zu große Gefahr für die Revolution darstelle. Er erklärte den König zum Verräter Frankreichs und zum Verbrecher an der Menschheit. Der Nationalkonvent sprach sich am 18. Januar 1793 bei 361 zu 334 Stimmen für die sofortige Hinrichtung Ludwigs XVI. aus. Am 21. Januar wurde Ludwig XVI. durch die Guillotine enthauptet.
Robespierre war es, der 1792 in einem Brief verkündete, dass es darum gehe, auf den Trümmern des Thrones die heilige Gleichheit einzurichten. Die Gleichheit des Vermögens, von der die Armen träumten, meinte er nicht. Dies erklärte er im April 1793 vor dem Nationalkonvent und versicherte den Reichen, dass er ihre Schätze auf keinen Fall anrühren wolle. Diese Gleichheit war auch nicht für Frauen vorgesehen. Olympe de Gouges wurde 1793 verhaftet und unter anderem für ihre Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, in der sie die volle rechtliche, politische und soziale Gleichstellung beider Geschlechter forderte, hingerichtet.
Am 27. Juli 1793 wurde Robespierre vom Nationalkonvent zum Mitglied des zwölfköpfigen Wohlfahrtsausschusses berufen. In der Folgezeit unterstützte Robespierre alle Maßnahmen gegen sogenannte „Feinde der Revolution“, was ihm seinen Ruf als „Blutrichter“ der Französischen Revolution eintrug.
Am 30. März 1794 ließ der Wohlfahrtsausschuss Danton und dessen Anhänger verhaften und am 5. April auf der Guillotine hinrichten, weil sie angeblich Teil einer „Verschwörung des Auslands“ seien mit dem Ziel, die Monarchie wiederherzustellen. Im Nationalkonvent war zunächst Kritik an den Verhaftungen laut geworden, die Robespierre aber mit Drohungen zum Schweigen brachte:
„Ich behaupte, dass, wer immer in diesem Augenblick zittert, schuldig ist, denn die Unschuld hat von der öffentlichen Überwachung nichts zu befürchten.“
Insgesamt waren es in jenem April 258 Hinrichtungen auf Geheiß des Ausschusses. Im Juni 1794 gab es 688 Hinrichtungen, denn der von Robespierre und Saint-Just dominierte Wohlfahrtsausschuss erließ am 10. Juni 1794 ein neues Gesetz, nach dem Angeklagten kein Rechtsbeistand zukommen durfte und jeder ohne einen Mehrheitsbeschluss des Konvents vor das Revolutionstribunal gebracht werden konnte. Ihn unterstützten dabei seine engsten Vertrauten, unter anderem Couthon und Saint-Just, der allerdings zunächst gegen dieses Gesetz gewesen war. Jedoch überzog Robespierre im Wohlfahrtsausschuss seinen Machtanspruch und verlor endgültig seinen Rückhalt im Konvent.
In seiner gesamten politischen Tätigkeit bemühte sich Robespierre, die Ideale Rousseaus zu verwirklichen. Gemäß Jean-Jacques Rousseau erzeugen alle Mitglieder einer Gemeinschaft in freiwilliger Übereinkunft einen Gemeinwillen. Der Gemeinwille orientiert sich am Gemeinwohl und hat dabei immer Recht. Er gilt absolut, auch wenn Einzelne ihn ablehnen. Er ist nicht einfach der Wille der Mehrheit, sondern derjenigen, die tugendhaft und im Besitz der Wahrheit sind. Jeder, der den Gemeinwillen angreift, stellt sich außerhalb der aufgeklärten Gemeinschaft.
Für Robespierre bedeutete dies, dass die Gegner der Republik nur die Wahl zwischen einer Änderung ihrer Überzeugungen und dem Tod haben durften. Je grausamer die Regierung gegenüber den Verrätern auftrete, desto wohltätiger sei sie gegenüber den braven Bürgern, ließ Robespierre 1793 verlauten. Die Terrorherrschaft war demzufolge ein notwendiges Übel, um das Volk für den von Rousseau empfohlenen Gesellschaftsvertrag bereit zu machen. Ohne Tugend, meinte Robespierre, sei Terror verhängnisvoll, ohne Terror die Tugend machtlos.
In den 15 Monaten zwischen dem 10. März 1793, der Gründung des Revolutionstribunals, und dem 10. Juni 1794 hatte das Revolutionstribunal 1579 Todesurteile verhängt. In den nur 49 Tagen zwischen der Einführung des Dekretes zur Verurteilung ohne Rechtsbeistand und dem Sturz Robespierres am 27. Juli 1794 wurden 1376 Personen verurteilt. Seit dem Frühjahr 1794 propagierte Robespierre auch den „Kult des Höchsten Wesens“, der im Mai 1794 in der Verfassung verankert wurde.
Am 26. Juli erschien Robespierre für eine Rede vor dem Parlament. Diese Rede dauerte etwa zwei Stunden. Robespierre bekräftigte seine Überzeugung, nur der Terror gegen das Verbrechen verschaffe der Unschuld Sicherheit. Er konnte aber keinen programmatischen Entwurf für einen Weg aus der politischen Krise aufzeigen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die militärische Lage stabilisiert, die Wirtschaft erholte sich, der Wohlfahrtsausschuss hatte sich als faktische Zentralgewalt etabliert. Terror war gerade in den letzten Monaten nur noch als Mittel der Machterhaltung und teilweise zur Beseitigung persönlicher Gegner und Rivalen gebraucht worden. Robespierres Programm lief aber auf eine immer weitere Verschärfung des Terrors hinaus. Er spielte auf Verräter an, die mit aller Härte bestraft werden müssten. Er kenne sie, doch Namen nennen wolle er nicht. Damit kündigte er eine neue „Säuberungswelle“ an.
Nun konnte jeder im Konvent betroffen sein. Nach dem Dekret, welches auch Konvents-Mitglieder der ungeschützten Willkür des Terrors aussetzte, waren nach dieser Ankündigung kaum noch Befürworter für die Erhaltung der Macht Robespierres zu finden. In der folgenden Nacht traf eine Koalition von unterschiedlichen Politikern zusammen. Viele befürchteten, als Verräter bezeichnet und hingerichtet zu werden. Andere strebten selbst nach der Macht und wollten die Politik nach ihren Vorstellungen gestalten. Manche sahen durch ihn die Revolution verraten. Robespierre selbst hatte mit seiner zunehmend irrationalen Politik zu dieser Koalition beigetragen.
Am nächsten Tag, dem „9. Thermidor“, debattierte das Parlament über den Wohlfahrtsausschuss. Man wollte dem blindwütigen Terror ein Ende setzen und seinen Führer entmachten. Robespierre wollte sich verteidigen, doch seine Worte gingen im Stimmentumult unter. Schließlich wurde die Verhaftung von Robespierre, Saint-Just und Georges Couthon gefordert und einstimmig beschlossen. Robespierre wurde abgeführt, die von Robespierre und seinen Anhängern etablierten Maßnahmen, die „Verdächtige“ weitgehend rechtlos stellten, wandten sich gegen sie selbst. Es gelang ihm jedoch, sich zu befreien und sich mit aus dem Kerker befreiten Freunden im Rathaus zu versammeln.
Nach dem von Léonard Bourdon geführten Sturm der Nationalgarde auf das Stadthaus wurde Robespierres Unterkiefer von einer Kugel zerschmettert. Einige seiner Kameraden, die sich mit ihm verschanzt hatten, begingen Selbstmord, indem sie sich erschossen oder aus dem Fenster sprangen. Der schwerverletzte Robespierre wurde notdürftig ärztlich behandelt. Ob er versucht hatte, sich durch einen Schuss in den Mund das Leben zu nehmen, oder ob er von einer verirrten Kugel getroffen wurde, ließ sich nie eindeutig klären.
Am 28. Juli 1794 wurden Robespierre und 21 seiner Anhänger ohne vorherigen Prozess durch die Guillotine enthauptet; in den Tagen darauf folgten noch 83 weitere Anhänger.
SIEBENTES KAPITEL
Comte de Mirabeau
Mirabeaus Vater war der französische Volkswirt und Schriftsteller Victor Riquetti, Marquis de Mirabeau.
Mit drei Jahren erlitt Mirabeau einen heftigen Pockenanfall, der sein Gesicht entstellte. Von seinem Vater erhielt er weder Zuwendung noch finanzielle Unterstützung und ging als junger Mann zum Militär. Er wohnte seit 1771 in Paris, wo er 1772 Marie Emilie de Marignane heiratete. Auf Anzeige seines Vaters wurde er von Ludwig XV. von seinen Besitzungen verbannt und 1775 verhaftet.
In der Haftzeit – während der er das Gefängnis Château de Joux verlassen durfte – lernte er Marie Thérèse de Monniers kennen. Beide verliebten sich ineinander und flüchteten in die Schweiz. Er wurde wegen Ehebruchs in Abwesenheit zum Tode verurteilt und 1777 wiederum verhaftet. Es gelang ihm, sein Todesurteil annullieren zu lassen. Er musste aber bald wieder ins Exil gehen, nachdem er sich in einen Prozess zwischen seinen Eltern eingeschaltet hatte. Vom Januar 1786 bis zum Januar 1787 hielt er sich zweimal für mehrere Monate in Potsdam und Berlin auf. In Braunschweig ist er Mitglied der Illuminaten mit dem Ordensnamen Adramelech oder Leonidas geworden. Danach hielt er sich in Holland auf, wo er in Amsterdam Freimaurer wurde. Später zog er nach London.
Während der Anfangszeit der Französischen Revolution war Mirabeau Abgeordneter und Wortführer des Dritten Standes in den Generalständen. 1790 wurde er Präsident des Jakobinerclubs und hielt 1791 den präsidialen Vorsitz der Nationalversammlung.
Mirabeau starb am 2. April 1791 plötzlich, sodass man einen Giftmord vermutet. Er wurde in einem Staatsbegräbnis im Panthéon beigesetzt.
Heinrich von Kleist schildert Mirabeau in seinem Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ sehr anschaulich:
„Mir fällt jener Donnerkeil des Mirabeau ein, mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen auseinanderzugehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? Ja, antwortete Mirabeau, wir haben des Königs Befehl vernommen. – Ich bin gewiß, dass er, bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen er schloß: Ja, mein Herr, wiederholte er, wir haben ihn vernommen. – Man sieht, dass er noch gar nicht recht weiß, was er will. Doch was berechtigt Sie (fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf) uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation. – Das war es, was er brauchte! Die Nation gibt Befehle und empfängt keine. – Um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen: Und damit ich mich ihnen ganz deutlich erkläre (und erst jetz findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt) so sagen Sie Ihrem Könige, dass wir unsere Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden. – Worauf er sich, selbstzufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte.“
ACHTES KAPITEL
Marie Antoinette
Sie erblickte am 2. November 1755 als letzte Tochter und fünfzehntes Kind von Kaiserin Maria Theresia und Kaiser Franz I. Stefan von Lothringen in Wien das Licht der Welt und erhielt die Namen Maria Antonia Josepha Johanna, Erzherzogin von Österreich. Sie wurde nach der Jungfrau Maria, dem heiligen Antonius von Padua, dem heiligen Josef und dem heiligen Johannes benannt.
Kaiserin Maria Theresia hatte bis zu der Entbindung des vorletzten Kindes nie unter Problemen während und nach den Geburten ihrer Kinder gelitten. Doch während der Geburt von Maria Antonia traten zum ersten Mal Komplikationen auf, so dass um das Leben der Mutter gefürchtet werden musste. Die schwere Entbindung und das Erdbeben von Lissabon, das am 1. November 1755 stattgefunden und zahlreiche Menschenleben gefordert hatte, wurden als schlechte Vorzeichen für den weiteren Lebensweg der Erzherzogin gedeutet, zumal der König und die Königin von Portugal die Taufpaten des Kindes waren. Maria Antonia (die französische Version ihres Namens erhielt sie erst bei ihrer Hochzeit) entwickelte sich zu einem Mädchen, die mit ihrem fröhlichen Verhalten die Erzieher beeindruckte. Schon sehr früh zeigte sie einen Hang zur Unruhe und mied oft die Unterrichtsstunden, um sich zu zerstreuen. Die Erzherzogin zeigte keinerlei Neigung, sich zu konzentrieren oder sich ihren Aufgaben zu widmen.
Maria Antonia verbrachte ihre Kindheit im Kreis einer großen Familie, die liebevoll und sittlich war. Sie musste schon mit drei Jahren genauso wie die anderen weiblichen Familienmitglieder engste Korsetts tragen, die ihr oft schwere Atemprobleme bereiteten. Die Erziehung beruhte wie bei ihren Geschwistern von frühester Kindheit an auf einem Schulungsprogramm, das Maria Theresia speziell für ihre Kinder ausgearbeitet hatte. Der Stundenplan für Maria Antonia enthielt Tanz- und Musikunterricht (Cembalo, Harfe und Gesang − ihr Gesangslehrer war Gluck), Theateraufführungen, Geschichte, Malen, Rechtschreibung, Staatskunde, Mathematik und Fremdsprachen. Die Mädchen wurden zudem in Handarbeiten und in der klugen und höflichen Konversation unterwiesen.
Maria Theresia verfolgte das ehrgeizige Ziel, die politischen Beziehungen Österreichs zu den ausländischen Staaten und die Stellung Österreichs in Europa zu verbessern, und versuchte, die kaiserlichen Kinder vorteilhaft zu verheiraten. Sie schmiedete sehr früh Heiratspläne für ihre 14 Kinder. In ständiger Furcht vor Friedrich II. von Preußen und vor Russland konzentrierte sie sich bei diesen Eheplänen vor allem auf die Erweiterung der familiären Verbindungen zu den damals in Frankreich, Spanien, Neapel-Sizilien und Parma regierenden Bourbonen. Sowohl Maria Antonia wie auch ihre Geschwister heirateten Personen, die ihre Mutter für sie ausgesucht hatte.
Als erstes Heiratsprojekt aus einer Reihe von geplanten Verbindungen zwischen Bourbonen und Habsburgern fand die Vermählung zwischen Erzherzog Joseph, dem späteren Kaiser Joseph II., mit Maria Isabella von Bourbon-Parma statt. Als Nächstes ehelichte Josephs Bruder Leopold, der spätere Kaiser Leopold II., Prinzessin Maria Ludovika von Spanien. Der dritte Sohn, Erzherzog Ferdinand Karl, wurde mit der Erbin von Modena, Herzogin Beatrix von Modena-Este, verheiratet.
Im Vergleich zu der reibungslosen Realisierung der Heiratsprojekte ihrer Söhne wurde Maria Theresia bei den Eheverhandlungen ihrer Töchter mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Die älteste Tochter, Erzherzogin Maria Anna, blieb aufgrund ihrer schlechten Gesundheit unverheiratet. Das kurz vor der Verwirklichung stehende Heiratsprojekt zwischen der hübschen Erzherzogin Marie Elisabeth von Österreich und dem französischen König Ludwig XV. von Frankreich scheiterte an einer Pockenerkrankung der Erzherzogin. Während sich Erzherzogin Maria Christine von Österreich ihren Ehemann, Herzog Albert von Sachsen-Teschen, selbst wählen durfte, wurde Erzherzogin Maria Amalia von Österreich gegen ihren Willen mit Herzog Ferdinand I. von Bourbon-Parma verheiratet. Erzherzogin Johanna Gabriele und ihre Schwester Erzherzogin Maria Josepha starben beide an den Pocken, sodass Erzherzogin Maria Karolina von Österreich den Platz als Braut von König Ferdinand I. von Neapel-Sizilien einnahm.
Im Zuge dieser traditionellen Heiratspolitik der Habsburger wurde frühzeitig eine Eheschließung zwischen Maria Antonia und dem Dauphin Louis-Auguste ins Auge gefasst. Die Vermählung zwischen der österreichischen Erzherzogin und dem französischen Dauphin sollte das letzte und zugleich ehrgeizigste Heiratsprojekt aus einer Reihe von Eheschließungen zwischen Habsburgern und Bourbonen sein und den Frieden zwischen Frankreich und Österreich besiegeln. Nach langwierigen Verhandlungen ersuchte 1769 König Ludwig XV. von Frankreich um die Hand der Erzherzogin Maria Antonia für seinen Enkel und Erben, den Dauphin. Nachdem der Heiratsvertrag unterzeichnet worden war, analysierte Maria Theresia die Erziehung ihrer Tochter Maria Antonia und bemerkte gravierende Mängel in der Allgemeinbildung und in der Beherrschung der französischen Sprache. Erst jetzt wurden Erzieher, Tanz- und Sprachlehrer engagiert, die die österreichische Erzherzogin innerhalb kürzester Zeit auf das Amt einer französischen Königin vorbereiten sollten. Von nun an bestand die Kaiserin darauf, dass ihre Tochter bis zu ihrer Abreise das Schlafgemach mit der Mutter teilte. Ihr Französischlehrer lobte ihre Freundlichkeit, ihre Intelligenz und ihre musikalischen Fertigkeiten, jedoch sei sie ansonsten weitgehend ungebildet. Die Faulheit und insbesondere die Leichtfertigkeit der Prinzessin mache es ihm schwer, sie zu unterrichten.
Am 19. April 1770 fand die Vermählung in der Augustinerkirche in Wien statt. In den folgenden Tagen wurde die Abreise von Maria Antonia vorbereitet, und Maria Theresia versuchte, das weinende Kind mit den Worten zu beruhigen: „Seien Sie gut zu dem französischen Volk, damit man sagen kann, ich hätte ihm einen Engel geschickt.“
Das vierzehnjährige Mädchen verabschiedete sich am 21. April 1770 von ihrer Mutter und von den Geschwistern in Wien und trat mit einem imponierenden Brautzug seine Reise nach Frankreich an. Sie fuhr die Donau entlang, und über München und Augsburg gelangte sie unter anderem nach Ulm und Freiburg im Breisgau. Danach erfolgte am 7. Mai die „Übergabe“ auf „neutralem Gebiet“, einer unbewohnten Rheininsel vor Straßburg. Im Rahmen dieser Übergabe musste sich das junge Mädchen von allen österreichischen Freunden und Bekannten trennen und vollständig entkleiden. Anschließend wurde sie mit französischen Gewändern bekleidet. An diesem Tag wurde aus der österreichischen Erzherzogin Maria Antonia die französische Dauphine Marie Antoinette.
In Straßburg und in Saverne war Marie Antoinette Gast von Kardinal Louis de Rohan, der später eine wichtige Rolle in der Halsbandaffäre spielen sollte. Erst am 16. Mai 1770 fand die eigentliche Vermählung von Marie Antoinette und dem Dauphin im Schloss Versailles statt, und die Dauphine wurde offiziell am französischen Hof eingeführt. Ein Fest anlässlich der Hochzeit folgte dem anderen, Empfänge, Bälle, Theaterveranstaltungen. Als Abschlussveranstaltung war am 30. Mai 1770 ein riesiges Volksfest geplant, das auf der Place Louis Quinze stattfand: mit Musik, Feuerwerk, Wein, Brot und Fleisch auf Staatskosten. Die Menschenmassen drängten sich auf dem und rund um den Platz, wo sich riesige, unzulänglich abgesicherte Baugruben für Prachtbauten befanden. Feuerwerkskörper, die krachend und zischend in der Menschenmenge explodierten, lösten eine Panik aus. Die Festbesucher flüchteten nach allen Seiten, stießen und drängten, viele stürzten in die Baugruben oder wurden zu Tode getrampelt. Das mangelhaft organisierte Fest forderte 139 Tote und hunderte Verletzte. Die Toten wurden auf dem Friedhof cimetière de la Madeleine bestattet – 23 Jahre später wurde hier der Leichnam der Königin in einem Massengrab verscharrt.
Am französischen Hof fiel die junge und unerfahrene Marie Antoinette meist negativ auf. Als erste Hofdame wurde ihr die sittenstrenge Madame Noailles zugewiesen, doch Marie Antoinette fühlte sich von der älteren Dame bevormundet und bezeichnete sie zumeist als Madame l’Étiquette. Der Prinzessin waren die französischen Sitten fremd, und sie stützte sich fast ausschließlich auf den österreichischen Botschafter, den Grafen von Mercy-Argenteau. Dieser war ihr von Maria Theresia als Mentor beigegeben und sollte zugleich Maria Theresia auf dem Laufenden halten. So entstand die berühmte Korrespondenz Mercy-Argenteaus, eine wertvolle Chronik von Marie Antoinettes Leben, ihrer Heirat 1770, bis zum Tode Maria Theresias im Jahr 1780.
In ihren ersten drei Ehejahren stand sie nicht nur unter dem Einfluss von Mercy, sondern auch unter dem von drei unverheirateten Töchtern des Königs, Adelaide, Madame Victoire und Madame Sophie. Diese benutzten die naive und gutmütige Dauphine für ihre diversen Ränkespiele, die vornehmlich gegen die Mätresse des Königs gerichtet waren, die für die drei Damen eine Persona non grata war. Beeinflusst durch die sogenannten Tanten hegte Marie Antoinette eine große Abneigung gegen die Mätresse Ludwigs XV., Madame Dubarry. Obwohl diese viele Verbindungen am Hofe hatte, weigerte sich die Dauphine, mit ihr zu sprechen, und der Dubarry war es nicht gestattet, das Wort an die künftige Königin zu richten. Erst nachdem die Kronprinzessin dem schriftlichen Rat ihrer Mutter folgte, sich bei Hofe anzupassen, sprach sie nach zwei Jahren der Dubarry gegenüber die berühmten Worte „Il y a bien du monde aujourd’hui à Versailles“. Das waren die ersten und die letzten Worte, die die Dauphine an Gräfin Dubarry richtete.
Nachdem Marie Antoinette die Prinzessin Lamballe kennengelernt und einen Zirkel eigener Freunde um sich geschart hatte, wandte sie sich langsam vom Einfluss der „Tanten“ ab, was diese ihr mit zunehmender Missgunst dankten. Die Dauphine begann die Möglichkeiten ihrer Stellung auszunutzen und besuchte Bälle oder die Pariser Oper, auch protegierte sie den Komponisten Gluck, ihren ehemaligen Gesangslehrer. Eine ihrer Leidenschaften war das Pharo-Spiel, bei dem sie immer wieder große Summen verspielte. Sie gab monatlich etwa 15.000 Livres aus. Ein Großteil der Franzosen hungerte und diese Verschwendung trug nicht zur Beliebtheit Marie Antoinettes bei.
Die Thronbesteigung des jungen Königspaars nach dem Tod Ludwigs XV. im Mai 1774 wurde enthusiastisch begrüßt. Ihre ersten Schritte brachten Marie Antoinette aber bereits in offene Konflikte mit der anti-österreichischen Partei. So drängte sie hartnäckig auf die Entlassung des Herzogs von Aiguillon und tat alles, was in ihrer Macht stand, um den früheren Außenminister Choiseul zu berufen, der aufgrund einer Intrige der Madame Dubarry sein Amt hatte aufgeben müssen. Daher hatte sie alle Feinde Choiseuls und der österreichischen Allianz gegen sich. Die Tanten Ludwigs XVI. nannten Marie Antoinette verächtlich l’Autrichienne, „die Österreicherin“. Dabei handelte es sich um ein Wortspiel, da es im Französischen beinahe wie l’autre chienne („die andere Hündin“) ausgesprochen wird. Ihr legerer Umgang mit der ihr verhassten Hofetikette schockierte viele Höflinge, und ihr Hang zu Vergnügungen ließ sie die Gesellschaft des Bruders des Königs, des späteren Königs Karl X., und seines jungen und ausschweifenden Zirkels suchen.
Marie Antoinette gehörte schon in Wien zu den Schülerinnen des von ihr an der Pariser Oper protégierten Gluck. In Versailles nahm sie weiter Harfenunterricht bei Philipp Joseph Hinner, ihrem ursprünglich aus Wetzlar stammenden Harfenlehrer („maître de harpe de la reine“). Nach 1760 nahm die Harfenliteratur in Paris deutlich zu. Dies wurde speziell durch ihr Beispiel, unter anderem durch ihre Harfenkonzerte in ihrem Salon, begünstigt.
Ihre dynastische Hauptaufgabe – Mutter eines Thronfolgers zu werden – erfüllte Marie-Antoinette dagegen lange nicht. Für das jahrelange Ausbleiben eines männlichen Erben machten die Öffentlichkeit und der Hof die Königin selbst verantwortlich, der in Schmähschriften statt Interesse an ihrem Mann eine immer größere Anzahl an Affären nachgesagt wurde. Ab dem Herbst 1774 wurden ihr in Pamphleten auch lesbische Neigungen vorgeworfen.
Ihr verschwenderischer Lebensstil – ihr Interesse galt Modefragen und extravaganten Frisuren – brachte sie ebenso in Misskredit wie ihre freundschaftlich-geschäftliche Beziehung zur Modistin Rose Bertin. Über die Ausgaben für ihr kleines Schloss Le Petit Trianon, das sie von Ludwig 1774 als Ort der Erholung abseits der Versailler Etikette zum Geschenk erhielt, wurden überzogene Berichte verbreitet. Indem sie den Zugang zum Petit Trianon auf ihre Freunde und Gönner reduzierte, beleidigte sie die ausgeschlossenen Mitglieder des Hofes.
Marie Antoinettes Freundschaft zur Prinzessin Lamballe verlor an Intensität und deren Stellung wurde zunehmend von der Gräfin Polignac eingenommen. Der Gräfin gelang es, mehr und mehr Mitglieder ihrer eigenen Familie an den Hof zu holen und durch Marie Antoinettes Einflussnahme mit Ämtern und Titeln zu versehen, was der Versailler Hof schlichtweg als skandalös empfand. Die Zahl ihrer Feinde und Neider wuchs. Unter ihnen waren die Tanten des Königs, der Graf von Provence, der Herzog von Orléans und seine Anhänger im Palais Royal.
In dieser kritischen Zeit besuchte ihr Bruder, Kaiser Joseph II., Frankreich. Er hinterließ der Königin ein Memorandum, das ihr in unmissverständlichen Worten die Gefahren ihres Verhaltens aufzeigte. Joseph drängte das Königspaar zudem, sich endlich der Frage der Nachkommenschaft anzunehmen. Im Dezember 1778 wurde darauf – nach acht Jahren Ehe und vier Jahren auf dem französischen Thron – die Tochter Marie Thérèse Charlotte, Madame Royale, geboren, die spätere Herzogin von Angoulême. Nach der Geburt des Kindes, das nicht der erhoffte männliche Erbe war, lebte die Königin zurückgezogener.
Mit dem Tod ihrer Mutter Maria Theresia am 29. November 1780 verlor Marie Antoinette eine strenge, aber umsichtige Beraterin. Die Stellung der Königin wurde durch die langerwartete Geburt des Dauphins Louis Joseph Xavier François am 22. Oktober 1781 gestärkt. Auch hätte sie nach dem Tode des Ersten Ministers, des Grafen von Maurepas, erheblichen Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten ausüben können.
Der Einfluss der Familie Polignac erreichte nun einen weiteren Höhepunkt. Madame de Polignac gelang die Ernennung Calonnes zum Generalkontrolleur der Finanzen, und sie folgte Madame de Guise nach dem Konkurs des Prinzen Guise als Gouvernante der Kinder. Sie unterstützte auf Anraten Mercys die Bestellung von Loménie de Brienne zum Generalkontrolleur; eine Ernennung, die zwar allgemein gutgeheißen wurde, aber nach dessen Scheitern der Königin zur Last gelegt wurde.
Von ihr war die Anekdote im Umlauf, sie habe auf die Vorhaltung, die Armen könnten sich kein Brot kaufen, geantwortet: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie Gebäck essen.“ Dieser Ausspruch wurde allerdings bereits Jahre vor Marie Antoinettes Thronbesteigung 1774 von Jean-Jacques Rousseau um 1766 zitiert. Im sechsten Buch seiner 1770 vollendeten und 1782 veröffentlichten Autobiografie Die Bekenntnisse findet sich die Stelle: „Endlich erinnerte ich mich des Notbehelfs einer großen Prinzessin, der man sagte, die Bauern hätten kein Brot, und die antwortete: Dann sollen sie Gebäck essen!“ Es könnte sich um eine Wanderanekdote handeln, die auch schon der ersten Frau von Ludwig XIV. zugeschrieben wurde.
Wie unpopulär Marie Antoinette nun war, zeigte sich 1785 in einem Betrugsskandal, der sogenannten Halsbandaffäre. An dieser Affäre war Marie Antoinette nicht aktiv beteiligt, doch ihr Lebenswandel machte es dem Volk nahezu unmöglich, an ihre Unschuld zu glauben.
Mit ihrem Weiler beim Petit Trianon, in dem sie spielerisch das Leben einer einfachen Bauersfrau nachahmte, brüskierte sie den Hochadel ebenso wie das Landvolk. Marie Antoinette war aber oft auch ein Opfer der Umstände, die ihr häufig keine Wahl zu umsichtigem Handeln ließen. Als sie sich, mit den ewigen Verschwendungsvorwürfen konfrontiert, im Jahr 1783 in einem schlichten Leinenkleid porträtieren ließ, gingen die Seidenweber auf die Straßen und beklagten, „eine Königin, die sich so schlecht kleide, sei schuld, wenn die Seidenweber verhungerten“.
Am Tag nach Allerheiligen 1783 erlitt Marie Antoinette erneut eine Fehlgeburt im dritten Monat ihrer Schwangerschaft. Marie Antoinette gebar in den folgenden Jahren zwei weitere Kinder, am 27. März 1785 Louis-Charles, Herzog der Normandie, später Dauphin und von den Royalisten als König Ludwig XVII. bezeichnet, sowie am 9. Juli 1786 Sophie-Beatrix, die allerdings elf Monate später verstarb.
Bei einem Theaterbesuch kurz nach der Halsbandaffäre wurde sie vom Publikum ausgebuht. Nun erst wurde ihr klar, was sich über Monate und Jahre an Hass und Feindschaft gegenüber dem Herrscherhaus beim Volke aufgestaut hatte. Sie war nun bereit, ihren Lebensstil zu ändern, und verzichtete auf kostspielige Annehmlichkeiten. Es gab keine Hasardspiele mehr in ihren Salons, Günstlinge in Trianon verloren ihre Positionen. Sie mied das Theater, Bälle und Empfänge. Sie zog sich in den Kreis ihrer Familie zurück, wo sie sich mit den Kindern beschäftigte, und versuchte ein neues, stilleres Leben zu führen. Diese Einsicht kam jedoch zu spät.
Das Jahr 1789 stellte einen Wendepunkt im Leben Marie Antoinettes dar. Am 4. Juni 1789 starb ihr ältester Sohn. Die schlechte Finanz- und Wirtschaftslage Frankreichs sollte durch die Generalstände beraten werden. Mit der Erklärung des dritten Standes, sich als Nationalversammlung zu betrachten, begann die Französische Revolution. Am 5. und 6. Oktober 1789 zwangen die Revolutionäre die königliche Familie, von Versailles nach Paris in den Tuilerienpalast umzuziehen. Da Marie Antoinette sich in Paris hilflos und isoliert vorkam, stützte sie sich auf ihre Freunde außerhalb Frankreichs.
Am 20. Juni 1791 versuchte die königliche Familie, ins Ausland zu fliehen. Marie Antoinettes langjähriger Freund Graf Hans Axel von Fersen spielte bei der Flucht nach Varennes eine führende Rolle. In Varennes wurde der König erkannt und verhaftet. Die königliche Familie wurde daraufhin unter Bewachung nach Paris zurückgebracht. Am 25. Juli 1792 veröffentlichte der Oberbefehlshaber der gegen Frankreich alliierten Truppen, Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, auf Bitten Marie Antoinettes das sogenannte Manifest des Herzogs von Braunschweig. In diesem wurde Gewalt samt der Zerstörung von Paris für den Fall angedroht, dass der königlichen Familie etwas zustoße. Daraufhin stürmte das Volk am 10. August die Tuilerien und brachte die königliche Familie in den Temple, eine ehemalige Festung des Templerordens. Dort wurde die Königsfamilie zwar streng bewacht, aber es gab immer noch Möglichkeiten, mit der Außenwelt zu kommunizieren.
Die Teilnahmslosigkeit des Königs führte dazu, dass die Königin in den Verhandlungen mitwirkte. Wegen ihrer Unerfahrenheit und Unkenntnis sowie unsicherer Informationen aus dem Ausland, war es schwierig für sie, eine klare Politik zu verfolgen. Ihre Haltung bei der Rückkehr aus Varennes hatte Antoine Barnave beeindruckt, der im Namen der Feuillants und der konstitutionellen Partei Kontakt mit ihr aufnahm.
Ungefähr ein Jahr verhandelte sie mit Mercy und dem Kaiser Leopold II., ihrem Bruder. In geheimen Botschaften versuchte sie die Herrscher Europas zu einer bewaffneten Intervention zur Niederschlagung der Revolution zu bewegen. Da sie merkte, dass Barnaves Partei bald machtlos gegen die radikalen Republikaner sein würde, wurden ihre Appelle immer dringlicher. Aber die Verhandlungen dauerten an. Am 1. März 1792 starb Leopold II., ihm folgte Franz II. Marie Antoinette fürchtete nicht zu Unrecht, dass der neue Kaiser keine Intervention zu ihren Gunsten wagen würde. Während der Gefangenschaft erkrankte Marie Antoinettes Sohn.
Am 21. Jänner 1793 wurde Ludwig XVI. nach einem Schauprozess hingerichtet. Durch Marie Antoinettes Freunde wurden mehrere Versuche unternommen, sie und ihre Kinder zu retten. Auch mit Danton wurden Verhandlungen über ihre Freilassung oder einen Austausch geführt. Man hatte ihr bereits ihren Sohn weggenommen und trennte sie jetzt auch von ihrer Tochter und von Madame Élisabeth, der Schwester des Königs. Am 1. August 1793 überstellte man sie in das Conciergerie-Gefängnis.
Am 14. Oktober 1793 begann der Prozess gegen die „Witwe Capet“. Man beschuldigte sie des Hochverrats und der Unzucht. Ihre Haltung angesichts der Anschuldigungen nötigte selbst manchen ihrer Feinde Respekt ab, und ihre Antworten während der langen Verhöre waren klar und durchdacht. Die Geschworenen entschieden einstimmig auf schuldig und verurteilten sie zum Tode.
Die Hinrichtung fand am 16. Oktober statt. Um 12 Uhr wurde Marie Antoinette auf dem Revolutionsplatz, dem heutigen Place de la Concorde, enthauptet. Eine Zeichnung des Malers Jacques-Louis David zeigt die Verurteilte auf dem Henkerskarren bei ihrer Fahrt zur Guillotine. Er stand am Fenster, als sie unten auf der Straße vorbeigefahren wurde.
Marie Antoinette wurde in einem Massengrab in der Nähe der heutigen Kirche La Madeleine verscharrt. Mehr als 20 Jahre nach ihrem Tod wurde ihr Leichnam exhumiert, und Marie Antoinette wurde nun in der Basilika Saint-Denis in Saint-Denis, der traditionellen Grablege der französischen Könige, an der Seite ihres Gatten beigesetzt.
NEUNTES KAPITEL
Die Jakobiner
Nach der Eröffnung der Generalstände durch König Ludwig XVI. am 5. Mai 1789 kam es in Frankreich und insbesondere in Paris zur Gründung politischer Klubs. Als sich am 17. Juni 1789 die Nationalversammlung konstituierte und drei Tage später schwor, erst dann wieder auseinanderzugehen, wenn sie eine Verfassung geschaffen hätte (Ballhausschwur), bildeten sich ausgehend von den Klubs politische Lager mit unterschiedlichen Auffassungen.
Ursprünglich wurde der Klub am 30. April 1789 als Bretonischer Klub gegründet. Dieser stellte seine Aktivitäten im August 1789 ein, da keine Einigung über das Vetorecht des Königs zustande kam. Nach einer Anregung von Sieyès im Oktober gründete Claude-Christophe Gourdan im Dezember des Jahres unter dem Namen „Gesellschaft der Freunde der Verfassung“ den Klub neu. Als Versammlungsort hatte er die ehemalige Bücherei des Jakobinerklosters in Paris gefunden. In den folgenden Monaten entstanden in ganz Frankreich eine Vielzahl von Revolutionsklubs, in denen in den wirren Monaten bis 1791 die als Cordeliers bezeichneten radikalen Demokraten wie Louis-Antoine-Léon de Saint-Just, Jean Paul Marat und Georges Danton immer mehr dominierten. Die meisten der gemäßigten „Feuillants“, die das Modell einer konstitutionellen Monarchie vertraten, waren bis zum Sommer 1791 aus dem Klub ausgeschieden.
Durchdrungen von den Gedanken Jean-Jacques Rousseaus wollten sie die in der Französischen Revolution erreichte konstitutionelle Monarchie durch eine Republik ersetzen. Durch Flugblätter, Zeitungsartikel und demagogische Reden beeinflussten sie zunehmend die Massen und fanden im ganzen Land Anhänger. Vor allem das einfache Volk, die Arbeiter und Kleinbürger, Sansculotten genannt, waren auf Seiten der Jakobiner. Diese waren fester organisiert als andere politische Klubs und unterhielten ein Netz von Filialgesellschaften in den Provinzen, so dass sie auch dort durch Flugblätter, Zeitungsartikel und demagogische Reden auf die öffentliche Meinung einwirken konnten. Die Französische Revolution war ein Prozess, weshalb auch langjährige Klubmitglieder ihre ursprünglichen politischen Meinungen änderten. So war Maximilien de Robespierre ursprünglich Monarchist, den soziale Fragen nicht interessierten. Die Jakobiner machten Politik für das einfache Volk. Arbeiter und Kleinbürger waren ursprünglich gegen den Krieg, forderten den Verkauf der Nationalgüter – das war der enteignete Besitz der Kirche und von Emigranten – in kleinen Parzellen, wollten ein geeintes, zentralistisches Frankreich und forderten eine Plan-Wirtschaft.
1792 erzwangen die Jakobiner gegen den Willen ihrer gemäßigten Gegenspieler, der Girondisten, einen Prozess gegen den König. Unter der Führung von Maximilien de Robespierre errichteten sie ab 1793 ein Schreckensregime, die Terrorherrschaft, die hauptsächlich durch Massenhinrichtung politischer Gegner, energische und blutige Unterdrückung von konterrevolutionären Bewegungen in den Provinzen und durch eine Zwangswirtschaft gekennzeichnet war. 1793 ließen die Jakobiner eine von den Ideen Rousseaus beeinflusste Verfassung verabschieden, die die direkte Demokratie stärkte, ein verpflichtendes Staatsziel (das „allgemeine Glück“) annahm und soziale Rechte (auf Arbeit und Bildung) enthielt. Diese Verfassung wurde aber nicht in Kraft gesetzt; bis zum Sieg über die Feinde müsse die Terror nach Robespierres Meinung fortgesetzt werden. Während die Jakobiner damit ihr eigenes Ideal von Freiheit verrieten, gelang es ihnen, die inneren und äußeren Gegner der Revolution zu besiegen.
Allerdings verloren sie durch den Terror mehr und mehr Anhänger. Im Sommer 1794 wurden zu den Höchstpreisen auch Höchstlöhne eingeführt, weshalb sich auch das Interesse der Sansculotten an der jakobinischen Politik verringerte. Im Juli siegte die Revolutionsarmee bei Fleurus entscheidend. Zwangsmaßnahmen schienen jetzt nicht mehr so dringend nötig. Durch die Hinrichtung einstiger Gefährten verlor Robespierre seinen Rückhalt im Konvent. Am 27. Juli 1794 wurde er gestürzt und am 28. Juli 1794 hingerichtet. Das war das Ende des Terrors. Am 11. November 1794 wurde der Pariser Jakobinerklub geschlossen.
In der Folgezeit musste das Direktorium aber noch immer mit jakobinischen Aufständen rechnen. So sammelten sich 1796 ehemalige Jakobiner, Sansculottes und Sozialrevolutionäre um die von François Noël Babeuf initiierte Verschwörung der Gleichen mit dem Ziel, das Direktorium zu stürzen und eine kommunistische Gesellschaft in Frankreich durchzusetzen. In den von Frankreich besetzten oberitalienischen Regionen Piemont und Lombardei versuchte Filippo Buonarroti, einer der Wortführer der Gleichen, mit Hilfe italienischer Jakobiner, Aufstände anzuzetteln. Die Pläne und Maßnahmen der Verschwörung der Gleichen wurden jedoch schon relativ früh verraten, ihre Anführer im Mai 1796 verhaftet und im darauffolgenden Jahr entweder zum Tode (Babeuf) oder zur Verbannung (Buonarroti) verurteilt.
Von ihren Gegnern wird der Name „Jakobiner“ beleidigend genutzt: Wer so bezeichnet wurde, wird öffentlich als Königsmörder gebrandmarkt.
ZEHNTES KAPITEL
Georges Danton
Danton stammte aus einer kleinbürgerlichen Familie. Sein Vater war der Steuerbevollmächtigte Jacques Danton, seine Mutter Madeleine war eine geborene Camut. Er war das sechste von sieben überlebenden Kindern der Eheleute. Als er zwei Jahre alt war, starb sein Vater. 1770 heiratete seine Mutter den Besitzer einer Baumwollspinnerei Jean Recordain. Als Junge hatte er zwei Unfälle mit Rindern, von denen er eine gespaltene, wulstige Oberlippe und eine eingedrückte Nase davontrug. Außerdem hatten die Pocken Narben in seinem Gesicht hinterlassen. Er besuchte zunächst die Schule in Sézanne und verließ dann dreizehnjährig sein Elternhaus, um in das Priesterseminar in Troyes einzutreten; zusätzlich nahm er am Schulunterricht der dortigen Oratorianer teil. Im Juli 1775 wanderte er auf eigene Faust nach Reims, um an der Königsweihe Ludwigs XVI. teilzunehmen. 1775 verließ er Schule und Seminar.
1780 ging er nach Paris und wurde Schreiber bei einem Anwalt beim Parlament. Hier lernte er die Praxis des französischen Rechtswesens kennen und las auch die gängige aufklärerische Literatur seiner Zeit. 1784 legte er in Reims das juristische Examen ab und durfte sich fortan Advokat nennen. Für das Jahr 1788 wird er in den Registern der Freimaurerloge Neuf Soeurs erwähnt.
1787 kaufte er dem Anwalt Charles-Nicolas Huet für 68.000 Livres die Klientel und den Titel eines der 73 Rechtsanwälte bei den Conseils du Roi ab. Das Geld musste er sich großenteils leihen, wobei ihm Verwandte aus Arcis und sein künftiger Schwiegervater halfen. Außerdem musste Danton eine weitere juristische Prüfung einer lateinisch gehaltenen Rede über ein vorgegebenes Thema ablegen, was ihm im Juli 1787 gelang. Anschließend konnte er sich als Anwalt installieren. Bis zum Rückkauf aller gekauften Ämter im Jahre 1791 führte „maitre d'Anton“, wie er sich nun nannte (das eingefügte Apostroph sollte einen Adelstitel suggerieren) 22 Prozesse. Diese Tätigkeit erlaubte ihm und seiner Familie – er hatte im Juni 1787 geheiratet – ein auskömmliches Leben in einer Sechszimmerwohnung in der rue des Cordeliers, nur wenige Häuser entfernt von Jean-Paul Marat.
Im Juli 1789 meldete er sich freiwillig zur Garde nationale im Pariser Distrikt der Cordeliers, zu dessen Präsidenten er im Oktober gewählt wurde. Nach der Aufhebung der Distrikte 1790 engagierte er sich gemeinsam mit Camille Desmoulins und Jean Paul Marat im radikalen Club des Cordeliers, wenig später begann er auch den Jakobinerclub zu besuchen.
Danton beteiligte sich nach der misslungenen Flucht des Königs Ludwig XVI. als engagierter Befürworter einer Republik an einer Versammlung auf dem Marsfeld, die am 17. Juli 1791 in einer Unterschriftensammlung den Sturz des Königs sowie die Einführung der Republik forderte. Dabei feuerten Soldaten der Regierung in die Menge. Als Mitorganisator des Protestes wurde Danton polizeilich gesucht, entzog sich aber seiner Verhaftung durch eine Flucht, zunächst nach Arcis-sur-Aube, dann nach London, von wo er anlässlich der Wahlen zur Gesetzgebenden Nationalversammlung im September 1791 zurückkehrte. Danton wurde als Wahlmann der Pariser Sektion Théâtre Français gewählt. Im gleichen Jahr wurde er zum Stellvertreter des Staatsanwalts der Kommune von Paris gewählt.
Nach eigenen Angaben spielte Danton durch diese Propaganda eine wesentliche Rolle beim Sturm auf die Tuilerien und der Inhaftierung der königlichen Familie am 10. August 1792. Im selben Jahr übernahm er den Posten des Justizministers im mehrheitlich girondistischen Exekutivrat, wo er bald eine dominierende Rolle spielte. Während des Ersten Koalitionskriegs trat er für entschlossenen Widerstand gegen die Invasionstruppen ein. Gegen Innenminister Jean-Marie Roland de La Platière setzte er durch, dass die Regierung in Paris blieb und nicht in das sicherer scheinende Gebiet südlich der Loire floh. Während der Septembermorde des Jahres 1792 schritt er nicht ein. Laut Madame Roland erklärte er, das Schicksal der Gefängnisinsassen sei ihm vollkommen gleichgültig. Im September 1792 wurde Danton als Abgeordneter für Paris in den Nationalkonvent gewählt, woraufhin er sein Ministeramt niederlegte.
Im Nationalkonvent suchte Danton zunächst den Ausgleich zwischen den Parteien, der jakobinischen Bergpartei und den regierenden Girondisten. Diese jedoch versuchten die Opposition zu vernichten und erhoben Korruptionsvorwürfe gegen den ehemaligen Minister Danton, weshalb dieser sich der demokratischen Opposition annäherte. An der Debatte darüber, ob der ehemalige König Ludwig XVI. hingerichtet werden sollte, nahm Danton nicht teil, weil er sich auf Truppenbesuch bei General Charles-François Dumouriez in Belgien aufhielt. Bei der Abstimmung im Konvent votierte er für die Todesstrafe.
Am 31. Januar 1793 sprach sich Danton für die Annexion Belgiens und weiterer Gebiete aus:
„Frankreichs Grenzen sind von der Natur vorgezeichnet. Wir werden sie in vier Richtungen erreichen: Am Ozean, am Rhein, an den Alpen, an den Pyrenäen.“
Nach Dumouriez‘ Misserfolgen und Verrat rief er wie schon im Jahr zuvor zu verstärkten militärischen Anstrengungen auf. Am 9. März 1793 machte er sich die Forderung mehrerer Sektionen nach einem außerordentlichen Gerichtshof zur Aburteilung feindlicher Agenten im Innern zu eigen: In Anspielung auf die Septembermorde rief er aus: „Wir müssen das tun, was die gesetzgebende Versammlung nicht getan hat: wir müssen schrecklich sein, um dem Volk zu ersparen, es zu sein“. Am 10. März wurden vom Konvent gegen die Stimmen der Girondisten, die Danton vorwarfen, er strebe nach der Diktatur, die Revolutionstribunale beschlossen. Sein weiterer Vorschlag, ein Komitee mit weitreichenden Exekutivvollmachten einzurichten, wurde zunächst zurückgewiesen. Weil Danton kurz zuvor als Abgesandter des Konvents zu Dumouriez geschickt worden war, bezichtigten ihn die Girondisten, mit dem General gemeinsame Sache zu machen; Danton drehte den Vorwurf am 1. April geschickt um und trug so zum Niedergang der Girondisten bei.
Am 6. April 1793 wurde der von Danton vorgeschlagene Wohlfahrtsausschuss schließlich eingerichtet, in dem Danton ein dominierendes Mitglied wurde. Nach dem gewaltsamen Sturz der Girondisten durch die Erhebung der Pariser Sansculotten vom 31. Mai bis 2. Juni 1793 verbündete er sich endgültig mit der jakobinischen Bergpartei. „Ohne die Kanonen vom 31. Mai, ohne den Aufstand, würden die Verschwörer triumphieren“, rief er am 13. Juni 1793 aus. Trotz seiner wirkungsvollen Rhetorik blieben die konkreten Abwehrmaßnahmen von Dantons Wohlfahrtsausschuss kraftlos und ohne große Erfolge. Seine Versuche, durch diplomatische Verhandlungen mit dem britischen Außenminister Lord Grenville eine Lösung der Krise zu finden, scheiterten rasch und trug ihm Verdächtigungen von Cordeliers ein, er plane, die gefangene Königin Marie Antoinette freizulassen oder sogar die radikalen Demokraten wiedereinzuführen. Dies führte zum Bruch zwischen Danton und seinen Anhängern und den Cordeliers. Bei der Neuwahl des Wohlfahrtsausschuss am 10. Juli 1793 wurde er nicht wiedergewählt. Stattdessen übernahm er am 25. Juli den Vorsitz des Nationalkonvents. In dieser Position forderte Danton in einer Rede am 1. August 1793, angesichts der Bedrohungen der Revolution durch den Koalitionskrieg und den Aufstand der Vendée den Wohlfahrtsausschuss des Nationalkonvents als Notstandsregierung einzusetzen. Darin rief er erneut zu Terrormaßnahmen gegen die Feinde der Revolution und einer verstärkten Anstrengung im Krieg auf. Nachdem der Wohlfahrtsausschuss am 10. Oktober tatsächlich die von ihm geforderten unbeschränkten Vollmachten erhalten hatte, zog sich Danton für mehrere Wochen nach Arcis-sur-Aube zurück.
Als Danton im November 1793 nach Paris zurückkehrte, war die Kampagne der Hébertisten für eine radikale Entchristlichung n vollem Gange. Danton solidarisierte sich mit Robespierre, der gegen diese Bewegung vorging. Unter Wortführung Camille Desmoulins‘, des Herausgebers des Vieux cordelier, polemisierten die Dantonisten gegen die Hébertisten und die radikalen Revolutionäre, denen sie unterstellten, allesamt Agenten des britischen Premierministers William Pitt zu sein. Am 1. Dezember 1793 erklärte Danton, die Sansculotten, die wiederholt mit Piken bewaffnet in die Politik eingegriffen hatten, hätten nun ausgespielt:
„Wir müssen uns bewusst sein, dass man mit der Pike wohl den Umsturz schafft, dass man aber das Gebäude der Gesellschaft nur mit dem Kompaß der Vernunft und des Geistes erreichen und fest verankern kann.“
Deswegen wurden Danton und seine Anhänger von Robespierre abschätzig „die Nachgiebigen“ genannt.
Im März 1794 beendete der Wohlfahrtsausschuss die Polemik zwischen den Dantonisten, die für eine Mäßigung des Terrors eintraten, und den Hébertisten, die seine Verschärfung verlangten, indem er letztere zum Tode verurteilen ließ. Noch vor der Hinrichtung Jacques-René Héberts beschloss der Wohlfahrtsausschuss auch die Verhaftung Dantons und seiner Anhänger. Ihr Sprachrohr, der Vieux cordelier, durfte nicht mehr erscheinen. Robespierre erklärte, gemeinsam mit den von ihnen bekämpften Hébertisten seien die Dantonisten Teil der „Verschwörung des Auslands“, deren Ziel eine Niederlage Frankreichs im Koalitionskrieg sei. Trotz wiederholter Warnungen kehrte Danton, der sich zu einem Kurzurlaub in Sèvres aufhielt, am 29. März nach Paris zurück, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sich der Terror gegen ihn selbst richten würde: „Sie werden es nicht wagen“, hatte er wiederholt gesagt.
Am 30. März 1794 wurde Danton gemeinsam mit Desmoulins, Jean-François Delacroix und Pierre Philippeaux verhaftet und zunächst in das Luxembourg-Gefängnis verbracht. Im Nationalkonvent wurde am gleichen Tag zunächst Kritik an den Verhaftungen laut, die Robespierre mit Drohungen zum Schweigen brachte:
„Ich behaupte, dass, wer immer in diesem Augenblick zittert, schuldig ist, denn die Unschuld hat von der öffentlichen Überwachung nichts zu befürchten.“
Saint-Just trug die Vorwürfe gegen die Dantonisten im Zusammenhang vor: Beide Faktionen, Héberts „falsche Patrioten“ und Dantons „Nachgiebige“, würden bei aller Gegensätzlichkeit in Wahrheit dasselbe Ziel verfolgen, nämlich die Revolution rückgängig zu machen. Es gebe nur zwei politische Richtungen in Frankreich, die wahren Patrioten und die bestechlichen „Komplizen des Auslands“. Ausführlich ließ Saint-Just die nicht immer konsequenten Handlungen und Unterlassungen Dantons und seine persönlichen Beziehungen seit 1790 Revue passieren und deutete sie alle als Belege für konterrevolutionäre Konspiration und Korruption:
„Ich bin davon überzeugt, daß diese Fraktion der Nachsichtigen mit allen anderen verbunden ist, dass sie immer scheinheilig war, zunächst an die neue Dynastie verkauft, dann an alle Fraktionen. Es ist klar, dass sie das Ziel verfolgten, das Ende des gegenwärtigen Regimes herbeizuführen, und es ist offensichtlich, dass es die Monarchie war, die man an seine Stelle setzen wollte!“
Der Konvent stimmte daraufhin einstimmig dafür, Danton und seine Freunde als royalistische Verschwörer anzuklagen.
Die Verhafteten wurden nun in die Conciergerie überstellt. Gegen seine erklärte Absicht, sich selbst zu verteidigen, bekam Danton einen Pflichtverteidiger zugewiesen. Im Prozess vor dem Revolutionstribunal, der am 2. April unter dem Vorsitz von Martial Joseph Armand Herman in der Salle de la Liberté des Justizpalastes eröffnet wurde, pflichtete er zumeist dem Ankläger Antoine Quentin Fouquier-Tinville bei. Unter den insgesamt vierzehn Angeklagten befanden sich neben Danton und seinen oben erwähnten Anhängern auch Fabre d’Eglatine, General François-Joseph Westermann, der den Vendée-Aufstand niedergeschlagen hatte, der Abgeordnete Marie-Jean Hérault de Séchelles sowie einige bestechliche Konventsabgeordnete, angebliche Agenten des Auslands und Spekulanten. Diese Kombination politischer und finanzieller Delikte sollte einen Schuldspruch garantieren. Die Richter waren für den Fall, dass sie Milde zeigten, mit Bestrafung bedroht worden, und statt der üblichen zwölf gab es nur sieben Geschworene, da man für die heikle Aufgabe, den beliebten Revolutionär abzuurteilen, sonst niemand fand.
Während des Prozesses gab Danton sarkastische Bonmots zum Besten. So erwiderte er zu Beginn auf die Frage nach seinem Wohnort: „Bald im Nichts, danach im Pantheon der Geschichte! Was macht es mir schon aus!“ Er forderte, Entlastungszeugen vorzuladen und im Konvent einen Ausschuss zu bilden, der das diktatorische System des Wohlfahrtsausschusses untersuchen solle. Am 3. April hielt er eine großangelegte Verteidigungsrede, in der er alle Vorwürfe der Anklage zurückwies und sich als konsequenten und uneigennützigen Kämpfer für die Revolution darstellte. Da das Protokoll des Prozesses als unzuverlässig gilt, besteht über den genauen Inhalt seiner Ausführungen keine Sicherheit. Es scheint ihm jedoch gelungen zu sein, das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Richter Herman unterbrach nach einigen Stunden Dantons Rede und schlug vor, den Rest auf den Folgetag zu verschieben. Danton willigte ein, bekam am folgenden Tag das Wort aber nicht wieder erteilt. Zunächst wurden die Aussagen anderer Angeklagter gehört, dann brachte ein Bote einen Beschluss des Konvents, wonach „jeder Verschwörer, der sich Gerichtsbarkeit der Nation widersetzt oder sie beschimpft, von der Sitzung ausgeschlossen werden“ könne. Dieser Beschluss, um den Fouquier-Tinville und Herman dringlich gebeten hatten, war von Saint-Just ohne Aussprache durchs Parlament beschlossen worden. Herman wendete ihn am 5. April an, als die Angeklagten heftig gegen Fouquier-Tinvilles Vorschlag protestierten, die Anhörung vorzeitig zu beenden, falls die Geschworenen sich für hinreichend informiert erklärten. Alle Angeklagten wurden zurück in die Conciergerie gebracht. Im Gerichtssaal wurde anschließend ein angebliches Beweisstück präsentiert: Ein in Dantons Wohnung gefundener Brief eines englischen Agenten vom September 1793, der einen Bankier anwies, „C.D.“ für konterrevolutionäre Dienste zu entlohnen. Das konnte „citoyen Danton“ heißen, aber auch „Camille Desmoulins“, die Zuordnung ist nicht sicher. Die Geschworenen erklärten sich nun für hinreichend informiert und sprachen alle vierzehn Angeklagten schuldig; ein klarer Justizmord.
Das Todesurteil wurde den Angeklagten von einem Gerichtsdiener im Gefängnis vorgelesen, anschließend wurden sie auf Karren zur Place de la Révolution transportiert, wo die Guillotine stand. Danton bestieg als letzter der Vierzehn das Schafott. Seine letzten Worte waren an den Henker gerichtet: „Vergiss vor allem nicht, dem Volk meinen Kopf zu zeigen; er ist gut anzusehen“. Sein Leichnam wurde in einem Massengrab auf dem Cimetière des Errancis im 8. Arrondissement bestattet.
ELFTES KAPITEL
Wohlfahrtsausschuss
Der Wohlfahrtsausschuss diente als Exekutivorgan des Nationalkonvents. Hatte er anfangs 25 Mitglieder, so änderte sich die Organisation bereits mit dem 6. April, als der Wohlfahrtsausschuss vom eigentlichen Sicherheitsausschuss getrennt wurde und nun neun (später zwölf) Mitglieder hatte. Seine Hauptaufgabe bestand ursprünglich in der Kontrolle des Konvents und der Regierung. Die Koordination der Verteidigung der Revolution nach innen und außen gehörte auch zu seinen Aufgaben. In dringenden Fällen konnte er auch die Verfügungen der Minister suspendieren und selbständig nötige Maßregeln ergreifen. Seine Vollmacht war auf einen Monat beschränkt und musste dann erneuert werden, wie auch die Mitglieder nur auf einen Monat gewählt waren.
Nachdem die weniger radikalen Girondisten Mitte 1793 beseitigt worden waren, gelang es den Führern der Jakobiner (Robespierre, Danton und Saint-Just), den Ausschuss unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie bauten den Wohlfahrtsausschuss bis Ende 1793 zur zentralen Schaltstelle der Macht um. Am 10. Oktober erhielt das Gremium unbeschränkte Vollmachten zugebilligt. Vor allem unter dem Einfluss Robespierres wurde der Wohlfahrtsausschuss, ausgestattet mit diktatorischen Vollmachten, zum Organ der jakobinischen Schreckensherrschaft.
Die Terrormaßnahmen durch den Wohlfahrtsausschuss und das Revolutionstribunal führten letztlich zu Sturz und Hinrichtung Robespierres und seiner Anhänger am 27./28. Juli 1794.
Die Einflussmöglichkeiten des Ausschusses wurden danach auf die Leitung der militärischen und diplomatischen Geschäfte begrenzt. Im Oktober 1795 wurde er schließlich ganz aufgelöst.
ZWÖLFTES KAPITEL
Charlotte Corday
Marie Anne Charlotte Corday d’Armont wird meist kurz als Charlotte Corday bezeichnet, obwohl sie selbst ihre Korrespondenz stets mit Marie Corday oder nur mit Corday signierte. Einer verarmten Familie des alten normannischen Kleinadels entstammend war sie die zweite Tochter von Jacques-François de Corday d’Armont und seiner Gattin Charlotte-Jacqueline-Marie de Gautier des Authieux de Mesnival. Sie wurde in der ehemaligen Ortschaft Les Ligneries im Weiler Ronceray geboren und in der Kirche Saint-Saturnin katholisch getauft. Sie hatte zwei Brüder, Jacques-François-Alexis und Charles-Jacques-François, sowie zwei Schwestern, Marie-Charlotte-Jacqueline, die als Kind verstarb, und Jacqueline-Jeanne-Éléonore. In den 1770er Jahren zog sie mit ihren Eltern in die nächste größere Stadt Caen um. Ihr Vater, sechstes Kind von Jacques-Adrien de Corday und Marie de Belleau, hatte als Leutnant in der Armee des französischen Königs gedient und war um 1763 aus dem Militärdienst ausgeschieden. Er war Opfer der Erstgeburtsgesetze, da er ihretwegen in für seinen Stand sehr bescheidenen finanziellen Verhältnissen leben musste. In einer Schrift L’égalité des partages, fille de la justice wandte er sich 1790 gegen das Erstgeburtsrecht.
Die Mutter von Charlotte Corday starb bereits am 8. April 1782 im Kindbett. Nachdem sich der Vater vergeblich um einen Platz für seine Töchter in dem prestigeträchtigen Maison de Saint-Cyr bemüht hatte, konnte er die damals 13-jährige Charlotte und ihre jüngere Schwester in Caen in der römisch-katholischen Abtei Sainte-Trinité unterbringen, in der eine von Charlotte Cordays Tanten, Madame de Louvagny, als Nonne lebte. Indessen war die Abtei keine Erziehungsanstalt und nur der König hatte das Recht, hier fünf dem armen normannischen Adel angehörige Mädchen beherbergen zu lassen. Die Gunst, seine Töchter aufzunehmen, wurde Jacques-François de Corday wohl dank der Vermittlung von Madame de Pontécoulant, der Stellvertreterin der Äbtissin Madame de Belsunce, gewährt.
Charlotte Corday freundete sich mit zwei Mitschülerinnen, Mademoiselle de Faudois und Mademoiselle de Forbin, an. Laut einem Brief von Madame de Pontécoulant ließ sie sich nicht anmerken, wenn sie einmal krank war. Sie genoss relativ viele Freiheiten und entwickelte einen stolzen, energischen und selbständigen Charakter. Royalistisch gesinnte Autoren dichteten ihr eine Liebesbeziehung zum jungen de Belsunce, dem Neffen der Äbtissin, an. Früh wurde sie mit den Ideen der Aufklärung vertraut. In der Klosterbibliothek las sie die Bibel sowie Werke von Guillaume Thomas François Raynal, Jean-Jacques Rousseau und Voltaire. Sie wurde bei ihrem späteren Attentat auf Marat durch die Figur der alttestamentlichen Judith inspiriert. Beispielhaft dürften für sie auch in Plutarchs Viten beschriebene, republikanisch gesinnte antike Helden gewesen sein.
Die Abtei wurde am 1. März 1791 im Zuge der Französischen Revolution aufgelöst und die nunmehr 22-jährige Charlotte Corday kehrte zu ihrem Vater zurück. Dieser war ein gemäßigter Royalist, während seine Tochter die 1789 ausgebrochene Französische Revolution zunächst begrüßte. Im Juni 1791 zog sie nach Caen zu einer reichen, einsamen, verwitweten Tante, Madame Le Coustellier de Bretteville-Gouville, deren Gesellschafterin sie wurde. Die zwei Brüder von Charlotte Corday waren eifrige Royalisten und emigrierten Ende 1791. Beim Abschiedsessen für ihren älteren Bruder, der nach Koblenz aufbrach, weigerte sie sich, auf die Gesundheit Ludwigs XVI. zu trinken, da er ein schwacher König sei.
In der Anfangsphase der Französischen Revolution hatten die gemäßigten Republikaner, die Girondisten, das politische Übergewicht. Diese Partei, mit der Charlotte Corday sympathisierte, verlor ihren Einfluss aber immer mehr an die radikale jakobinische Bergpartei. In Caen erlebte Charlotte Corday die politischen Kämpfe aus der Sicht der Provinz, die zu den Girondisten tendierte und den extremen Jakobinern abgeneigt war. Sie las gemäßigte Journale wie den Courrier français und das Journal von Charles Frédéric Perlet. Im Laufe der immer gewaltsamer werdenden Ausschreitungen sah sie ihre aufklärerischen Ideale verraten. Ende Mai/Anfang Juni 1793 wurde der Nationalkonvent von bewaffneten Sansculotten umstellt und durch diese Machtdemonstration die Girondisten gestürzt. 18 ihrer geächteten Vertreter flohen nach Caen, wo sie vorerst sicher waren. Dort hielten sie politische Versammlungen ab und planten, bewaffneten Widerstand gegen die Jakobiner zu leisten.
Einigen Treffen der in Caen versammelten Girondisten wohnte die als attraktive, braunhaarige Frau geschilderte Charlotte Corday bei und war über die Wirren, die ihr Vaterland erschütterten, tief bewegt. Sie entschied sich dazu, selbst und allein zu versuchen, das Blutregime der Jakobiner zu beenden. Einen Führer der Jakobiner, Jean Paul Marat, betrachtete sie als den Hauptübeltäter, der durch seine Nähe zum Volk dieses manipuliere und es zu unzivilisierten Gräueltaten und Morden aufhetze, so etwa in seiner verbreiteten Zeitschrift L’Ami du Peuple. Nun wollte sie Marat, die in ihren Augen treibende Kraft hinter den Septembermorden und der Vernichtung der Girondisten, damit also den Hauptverantwortlichen für die Schreckensherrschaft töten. Offenbar glaubte sie, dass die alleinige Beseitigung des ohnehin bereits sehr kranken Marat, dessen Einfluss sie überschätzte, genüge, um eine Konterrevolution einzuleiten und Frankreich so zu retten. Sie hielt ihre vielleicht schon seit längerem geplante Mordtat nicht für einen kriminellen, sondern – wie sie in ihrem anschließenden Prozess betonte – patriotischen Akt, um einen Beitrag zur Wiederherstellung des Friedens in ihrem Vaterland zu leisten. Dafür war sie bereit, ihr Leben zu opfern. Ihren Mitbürgern warf sie in einem im Gefängnis verfassten Brief mangelnde Zivilcourage vor.
Um möglichst große Aufmerksamkeit zu erzielen und anderen Patrioten als Beispiel zu dienen, hatte Charlotte Corday vor, Marat am 14. Juli, dem Jahrestag des Sturms auf die Bastille, in der Öffentlichkeit zu erstechen. Sie wandte sich am 7. Juli 1793 an den in Caen weilenden Girondisten Charles Barbaroux und erhielt von ihm ein Empfehlungsschreiben für dessen noch im Konvent sitzenden Freund, den Deputierten Claude Romain Lauze de Perret. Durch diesen erhoffte sie, Einlass in den Konvent zu erhalten, wo sie Marat inmitten von dessen Genossen zu ermorden beabsichtigte. Sie gab gegenüber Barbaroux vor, sich für ihre Jugendfreundin, Mademoiselle de Forbin, einsetzen zu wollen, die als einstige Kanonikerin ihre Rente nicht erhielt. Ihren mittlerweile in der Rue du Beigle in Argentan lebenden, nichtsahnenden Vater suchte sie nicht persönlich auf, um ihm Lebewohl zu sagen, sondern schrieb ihm stattdessen brieflich, dass sie nach England auswandere, da sie sich in Frankreich schon seit langem nicht mehr ruhig und glücklich fühle. Als Grund für diesen Schwindel gab sie bei späteren Befragungen an, dass sie geglaubt habe, nach dem von ihr geplanten öffentlichen Mord an Marat sofort von dessen Anhängern in Stücke gerissen zu werden, ohne dass ihr Name je bekannt geworden wäre; so hätte sie ihre Familie heraushalten können.
Bereits im April 1793 hatte sich Charlotte Corday einen Reisepass für Paris besorgt. Am 9. Juli desselben Jahres fuhr sie von Caen, wo sie bei ihrer Tante gelebt hatte, in einer Postkutsche nach Paris. Laut ihrer Darstellung soll ihr ein junger Mann während der Reise einen von ihr abgelehnten Heiratsantrag gemacht haben. Nach ihrer Ankunft in Paris am Mittag des 11. Juli bezog sie im Hôtel de la Providence in der Rue des Vieux-Augustins Nr. 17 Quartier. Mit Barbaroux’ Empfehlungsbrief begab sie sich am nächsten Tag zu Lauze de Perret, der ihr mitteilte, dass Marat wegen seines Hautleidens stets daheim blieb und nicht mehr im Konvent erschien. So musste sie ihren ursprünglichen Mordplan aufgeben und stattdessen versuchen, in Marats Wohnung zu gelangen und ihn dort zu erdolchen.
Am Morgen des 13. Juli 1793 erstand Charlotte Corday unter den Arkaden des Palais Royal um 40 Sous ein Küchenmesser mit einer 20 cm langen Klinge und einer Scheide. In ihrem Hotelzimmer schrieb sie die Adresse „An Frankreichs Freunde von Recht und Frieden“, in der sie Marat als Urheber aller damals in Frankreich herrschender Übel beschuldigte und ihre geplante Tat erklärte. Unter dem Vorwand, dass sie einige Girondisten aus ihrer Heimatstadt Caen, einer Hochburg der Konterrevolution, denunzieren wolle, suchte sie Marat am Mittag des 13. Juli in dessen Domizil in der Rue des Cordeliers Nr. 20 auf, wurde aber zweimal von Simone Évrard, Marats ihr gegenüber misstrauischen Lebensgefährtin, nicht eingelassen. Sie fuhr zurück in ihr Hotel, bat Marat schriftlich um eine Unterredung und fuhr noch am Abend desselben Tages zurück zu Marats Wohnung, ohne Antwort erhalten zu haben.
So kam die ein weißes Kleid und eine schwarze Haube tragende Charlotte Corday am 13. Juli etwa eine halbe Stunde nach 19 Uhr wieder in der Rue des Cordeliers an. Unter dem Gewand hatte sie das Messer versteckt. Außerdem hatte sie ein vorbereitetes Billet bei sich, in dem sie ihre Hoffnung ausdrückte, von Marat empfangen zu werden, da sie ihm wichtige Dinge zu enthüllen habe. Die Pförtnerin wollte die Fremde abweisen, doch konnte diese sich an der Angestellten vorbei ins Haus drängen. Simone Évrard öffnete auf den Lärm hin die Wohnungstür, suchte aber Charlotte Corday erneut den Eintritt zu verwehren. Marat saß gerade in einer Wanne im Badezimmer, weil das Wasser, in dem sich Heilkräuter befanden, den durch seine Hautkrankheit ausgelösten Juckreiz linderte. Er hörte den lauten Wortwechsel am Eingang und befahl, dass die Besucherin zu ihm geführt werden solle. Daraufhin ließ Simone Évrard sie zu Marat vor und ließ die beiden allein.
Der Revolutionsführer hatte ein feuchtes Handtuch um seine ungepflegten Haare gewickelt und seinen Oberkörper mit einem Tuch bedeckt; nur seine Schultern, sein Gesicht und sein rechter Arm waren sichtbar. Es kam zwischen ihm und seiner Besucherin zu einem etwa viertelstündigen Gespräch, dessen Ablauf nur aus den Aussagen der Attentäterin vor dem Revolutionstribunal bekannt ist. Demnach berichtete sie dem Präsidenten der Jakobiner von einem in Caen geplanten Aufstand. In der Wanne sitzend notierte er auf einem Schreibbrett die Namen der nach Caen geflüchteten Girondisten, die sie ihm angab. Als Marat äußerte, alle Genannten innerhalb weniger Tage auf der Guillotine hinrichten zu lassen, zog Charlotte Corday das Messer aus ihrem Dekolleté und stach ihn so heftig in die Brust, dass die Lunge, die linke Herzkammer und die Aorta zerrissen wurden. Nur noch der Holzgriff der Mordwaffe ragte aus seinem Brustkorb. Marat rief nach seiner Freundin um Hilfe, die herbei hastete. Charlotte Corday konnte zunächst aus dem Badezimmer flüchten. Es kam zwischen ihr und einigen Bediensteten zu einem Gerangel. Ein Falzer des Journals Ami du Peuple, Laurent Bas, schlug sie mit einem Sessel nieder, woraufhin sie bald festgenommen wurde. Marat war noch am Leben, als es aus der Wanne gezogen wurde, starb aber kurz danach.
Noch in der Wohnung des Ermordeten unterzogen die Polizei und Abgeordnete des Komitees für Öffentliche Sicherheit die Attentäterin einem ersten Verhör. Bei ihrer Durchsuchung wurde ihr Brief an das französische Volk in ihrem Korsett gefunden. Sie blieb gelassen und sagte aus, dass sie die Tat aus eigenem Entschluss und allein ausgeführt habe. Gleichzeitig bestritt sie, unter den Girondisten Komplizen gehabt zu haben. In der Nacht auf den 14. Juli 1793 fand ihre Überführung in das Prison de l‘Abbaye statt, wobei sie von der Polizei davor geschützt werden musste, sofort von aufgebrachten, sie schmähenden Bürgern gelyncht zu werden.
Noch am Tag von Charlotte Cordays Überstellung in das Abbaye-Gefängnis verfügte der Konvent, dass ihre Mordtat vor das Revolutionstribunal gebracht werden solle. Als ihre angeblichen Komplizen standen der konstitutionelle Bischof Claude Fauchet und der Abgeordnete Lauze de Perret ebenfalls unter Anklage. Fauchet wurde der Unterstützung der Aufstandsbewegung der Girondisten in Caen beschuldigt; außerdem habe er Marats Mörderin den Zugang zum Konvent ermöglicht. Zu diesem Zweck soll sie sich gleich nach ihrer Ankunft in Paris, da sie dort niemanden kannte, an den Bischof gewandt haben. Dieser bestritt die auf einer sehr zweifelhaften Zeugenaussage beruhenden Vorwürfe energisch. Auch die Hauptangeklagte blieb bei ihrer Darstellung, dass sie keinerlei Mithelfer gehabt hatte. Brieflich gab sie die Auskunft, dass sie Fauchet kaum gekannt und nicht geschätzt habe. Fauchet und Lauze de Perret wurden zunächst freigelassen, später aber wegen ihrer politischen Tätigkeit als Girondisten erneut verhaftet und am 31. Oktober 1793 hingerichtet.
In einem Brief an das Komitee für Öffentliche Sicherheit beklagte sich Charlotte Corday über ihre allzu strenge Überwachung, die ihr keinerlei Privatsphäre lasse. Am Morgen des 16. Juli 1793 erfolgte ihre Verlegung in eine andere Haftanstalt, die Conciergerie. Am Abend desselben Tages verfasste sie einen Brief an den Deputierten Barbaroux, in dem sie den Mord am „Ami du Peuple“ rechtfertigte; dieses Schreiben wurde freilich nicht an den Adressaten weitergeleitet, sondern den Prozessakten beigefügt. Ebenfalls noch am 16. Juli schrieb sie ihrem Vater und bat ihn um Vergebung, dass sie ohne seine Erlaubnis über ihr Leben verfügt habe; er solle sich über ihr Los freuen, dessen Ursache so schön sei, und folgenden Vers von Corneille nicht vergessen: „Verbrechen macht Schmach und nicht das Blutgericht.“
Am Morgen des 17. Juli 1793 erschien die Angeklagte zur Verhandlung ihres Falles vor dem Revolutionstribunal. Zu ihrem Verteidiger hatte sie sich den Girondisten Louis-Gustave Doulcet de Pontécoulant gewünscht, doch kam der an diesen gerichtete Brief zu spät an. An seiner Stelle bestellte der Präsident des Tribunals, Jacques Bernard Marie Montané, den Jakobiner Claude François Chauveau-Lagarde zu ihrem Verteidiger, der später auch Marie Antoinette vertreten sollte. Als öffentlicher Ankläger trat Antoine Quentin Fouquier-Tinville auf. Marats Lebensgefährtin Simone Évrard wurde als erste Zeugin einvernommen. Während des Prozesses zeigte Charlotte Corday große Ruhe und Gelassenheit. Sie glorifizierte die Ermordung Marats als patriotische Tat, und ihre kurzen, unerschrockenen Antworten auf die Fragen der Richter riefen unter den Zuhörern Erstaunen und Bewunderung hervor. Wohl in Anspielung auf eine Äußerung Robespierres vor der Hinrichtung König Ludwigs XVI. sagte sie: „Ich habe einen Mann getötet, um hunderttausend zu retten.“ Als ein Gerichtsdiener ihr aber die blutbefleckte Mordwaffe überreichte, reagierte sie erschreckt, stieß das Messer zurück und bestätigte mit unsicherer Stimme, dass sie es wiedererkenne.
Um jeden Anschein von patriotischem Idealismus zu vertuschen, wünschte der Ankläger Fouquier-Tinville, dass Chauveau-Lagarde im Namen seiner Mandantin auf Geisteskrankheit plädierte. Der für die Tat viel Verständnis aufbringende Verteidiger weigerte sich jedoch. Gegen 13 Uhr erfolgte die Urteilsverkündung, laut der über Charlotte Corday die Todesstrafe verhängt wurde. Die Verurteilte war mit ihrem Anwalt sehr zufrieden und bedankte sich bei ihm für seine Bemühungen.
Während der Verhandlung hatte der Maler Johann Jakob Hauer auf Wunsch Charlotte Cordays ein Porträt von ihr begonnen, das er während ihrer letzten Stunden in ihrer Gefängniszelle in der Conciergerie fertigstellte. Auf diesem Bild erscheint sie völlig ruhig. Sie bat den Künstler anschließend, eine kleine Kopie davon herzustellen, die ihre Familie erhalten sollte.
Bis zum Schluss blieb Charlotte Corday äußerst gefasst und unerschütterlich. Die Ablegung der Beichte vor einem zu ihr gesandten Priester lehnte sie höflich ab, da sie Marats Ermordung nicht als Sünde betrachtete. Der Scharfrichter erschien mit seinen Helfern in ihrer Zelle. Ihr langes Haar wurde bis zum Nacken abgeschnitten und sie musste wie alle verurteilten Mörder ein rotes Hemd anziehen. Am Abend des 17. Juli 1793, vier Tage nach ihrem Attentat, machte sie sich gemeinsam mit ihrem Henker in einem offenen Karren auf den Weg von der Conciergerie zu ihrem Hinrichtungsort, der Place de la Révolution. Unterwegs wurde sie von zahlreichen Schaulustigen beschimpft; sie ließ die Schmähungen gleichmütig über sich ergehen. Während der Fahrt zum Schafott ging ein Gewitterregen nieder, doch noch vor dem Erreichen der Enthauptungsstätte machten die Wolken wieder der Sonne Platz. Gegen 19 Uhr wurde Corday schließlich guillotiniert, nachdem sie noch selbst ihren Kopf unter dem Beil zurechtgelegt hatte. Nach der Exekution der erst 25-jährigen Delinquentin hob ein Henkersknecht ihren abgeschlagenen Kopf aus dem Korb, zeigte ihn der Menge und versetzte ihm einen Schlag. Augenzeugen berichteten, dass die Wangen der Toten vor Empörung errötet seien. Der Schlag wurde als inakzeptable Verletzung der selbst bei Hinrichtungen geltenden Etikette betrachtet und der Henkersknecht mit drei Monaten Gefängnis bestraft.
Charlotte Cordays Leiche wurde in einem Massengrab nahe Ludwig XVI. beerdigt; unklar ist, ob auch ihr Kopf mit ihr bestattet oder als Kuriosität zurückbehalten wurde. Angeblich soll sich der Schädel bis ins 20. Jahrhundert im Besitz der Familie Bonaparte und ihrer Nachkommen befunden haben.
DREIZEHNTES KAPITEL
Louis Antoine de Saint-Just
Die Vorfahren von Louis Antoine de Saint-Just sind väterlicherseits Bauern in der Picardie, einem fruchtbaren Gebiet im Norden Frankreichs, gewesen. Sein Vater, Louis Jean de Saint-Just de Richebourg, der schon 1777 starb, war Kavalleriehauptmann bei den Soldaten des Herzogs von Berry. Seine Mutter, Marie Anne, geborene Robinot, stammte aus dem Nivernais, einem waldreichen Gebiet im Osten Frankreichs. Seine Jugend verbrachte Louis Antoine in Verneuil, Decize und Blérancourt. Von 1777 bis 1785 besuchte er die Schule Saint-Nicolas der Oratorianer in Soissons. Um sich für das Rechtsstudium zu qualifizieren, war er 1786 zweiter Gehilfe beim öffentlichen Ankläger in Soissons. Im Oktober 1787 begann er an der Universität in Reims zu studieren und schloss das Studium bereits im April 1788 mit dem Hochschulgrad für die Rechtswissenschaften ab.
Wie jeder bildungsbeflissene Mensch im damaligen Frankreich hat auch Saint-Just die griechischen und römischen Dichter und Denker gelesen. Neben Platons Staat werden ihm dabei wohl einige Biografien, wie die des spartanischen Gesetzgebers Lykurg, in Plutarchs Lebensbeschreibungen die ersten Anregungen für sein eigenes republikanisches Denken gegeben haben. Plutarchs Lebensbeschreibungen wurden damals überall in Europa gelesen, aber am stärksten hatten sie sich in Frankreich verbreitet. Weitere Ideen und Gedanken fand er bei französischen Denkern wie Montesquieu oder Rousseau, die von verschiedenen Ebenen aus den Zustand der Gesellschaft und des Staates betrachtet haben.
Im Mai 1789 erschien von Saint-Just ein erster literarischer Versuch: der Organt, ein erzählendes Gedicht in zwanzig Gesängen, über das die meisten Forscher abfällig geurteilt haben, was ihm aber wohl nicht ganz gerecht wird. Es ist das Werk eines blutjungen Menschen, der noch um Form und Stoff ringt, und die wenigen schlüpfrigen Stellen in dem Gedicht, die ihm mit Vorliebe vorgehalten werden, waren üblich zu jener Zeit, auch in reiferen Werken. Ein zweiter literarischer Versuch ist nur noch in Bruchstücken vorhanden: Arlequin Diogène, ein einaktiges Theaterstück, ein Schäferspiel, an dem nur bemerkenswert ist, dass es wohl Saint-Justs eigene Haltung zur Liebe widergibt: „Die Liebe ist nichts als ein eitler Wunsch; einem großen Herzen bedeutet sie nichts.“
Am 14. Juli 1789 erlebte Saint-Just in Paris die Erstürmung der Bastille mit. Der Organt war schon im Juni wegen Majestätsbeleidigung verboten worden, und so war der junge Autor, um polizeilichen Nachstellungen zu entgehen, bei Bekannten in Paris untergetaucht. Ende Juli wagte er sich wieder nach Blérancourt zurück, wo er sich politisch stark zu betätigen begann. Trotz seiner Jugend war er hier angesehen und erhielt auch bald ehrenhafte Anerkennungen. So wurde er im Juni 1790 von der Kommune zum Oberstleutnant der Nationalgarde in Blérancourt ernannt und im Juli zum Ehrenbefehlshaber der Nationalgarden im ganzen Kanton. Am 10. August 1790 schrieb er seinen ersten Brief an Robespierre, der später unter dessen nachgelassenen Papieren gefunden worden ist: „Sie, der Sie das wankende Vaterland gegen den Ansturm von Gewaltherrschaft und verräterische Umtriebe behaupten; Sie, den ich nur wie Gott kenne, nämlich aus Wundern; ich wende mich an Sie, mein Herr, helfen Sie mir bitte bei der Rettung meiner beklagenswerten Heimat.“
Bei den Wahlen zur Gesetzgebenden Nationalversammlung im Jahre 1791 wurde er von seiner Gemeinde als Abgeordneter gewählt, aber ein Gegner, der Notar Gellé, focht auf dem Rechtsweg diese Wahl an, weil Saint-Just noch zu jung war und deshalb nicht Abgeordneter werden konnte. Dem wurde stattgegeben und der Wahlbeschluss der Gemeinde vom Distrikt aufgehoben. Ein Jahr später aber wurde er rechtmäßig als Abgeordneter des Departments Aisne in den Nationalkonvent gewählt und am 18. September 1792 traf der junge Abgeordnete Louis Antoine de Saint-Just in Paris ein.
Zuvor war von ihm am 20. Juni 1791 in Paris die Schrift „Der Geist der Revolution und der Verfassung in Frankreich“ erschienen. In diesem Werk, das aus fünf Abschnitten bestand, machte er sich Gedanken über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Frankreichs, und er war dabei noch lange nicht so radikal wie später. So konnte er sich darin zum Beispiel das Königtum als eine mögliche Regierungsform immer noch vorstellen. Das Buch war sogar ein Erfolg; die erste Auflage war schnell vergriffen und wurde von hellsichtigen Politikern in der verfassungsgebenden Versammlung sehr geschätzt. Das Buch endete mit den Worten: „Wenn alle Menschen frei sind, sind alle gleich; wenn sie gleich sind, sind sie gerecht.“
„Europa soll erfahren, dass ihr auf französischem Territorium weder einen Unglücklichen noch einen Unterdrücker mehr sehen wollt, dass dieses Beispiel auf der Erde Früchte trage und die Liebe zur Tugend und das Glück ausbreite! Das Glück ist ein neuer Gedanke in Europa!“
In Paris wurde Saint-Just zum ersten Mal öffentlich wahrgenommen, als er am 22. Oktober 1792 im Jakobiner-Klub sprach. Die Rede fand große Beachtung und unter dem Vorsitz von Danton beschlossen die Jakobiner, den Text drucken zu lassen und an die einzelnen Verbände weiterzuleiten. Unter dem Eindruck einer zweiten Rede, die er am 13. November im Konvent in der Debatte, ob Ludwig XVI. angeklagt werden sollte oder nicht, gehalten hatte, wurde er in den Ausschuss im Jakobiner-Klub gewählt, der die neue Verfassung für Frankreich vorbereiten sollte. In der großen Abstimmung am 15. Januar 1793 im Konvent über das Schicksal des Königs stimmte er für den Tod ohne Aufschub und Appellation. Die Gründe bezog er aus Rousseaus Contrat social, einem Werk über die Legitimität der Macht. Saint-Just hat die Ideen Rousseaus in die Geschichte eingeführt. Das Wesentliche seiner Beweisführung daraus war, dass der König nicht durch das Urteil eines Gerichts, sondern durch das Urteil der gesetzgebenden Versammlung gefasst werden müsse, da der König außerhalb des „Contrat social“ stehe.
Sein leidenschaftliches Denken, mit dem er all das verwirklichen wollte, was er für das Glück der Menschen hielt, spiegelte sich wohl in allen seinen öffentlichen Reden wider, am umfassendsten aber in den Institutionen, an denen er irgendwann in dieser Zeit zu arbeiten begann. Wo auch immer, ob im Konvent, auf Reisen, bei der Armee, überall schrieb er Gedanken auf, die er sich über einen zukünftigen Staat machte, Einfälle dazu, wie sie ihm kamen. Alles wollte er in diesem neuen Frankreich reglementieren, sogar Kindheit und Alter; Hochzeit und Beerdigung. Die Institutionen sind voller Gegensätze: klarem Denken stehen naive Träume gegenüber. Dabei macht sich Saint-Just auch Gedanken über die Freundschaft und schreibt dazu: „Jeder Mann mit einundzwanzig Jahren ist gehalten, im Tempel zu erklären, welches seine Freunde sind. Wenn ein Mann einen Freund aufgibt, ist er gehalten, die Gründe dafür vor dem Volke im Tempel darzulegen.“
Nachdem Saint-Just im April 1793 mehrmals im Konvent über eine neue Verfassung gesprochen hatte, wurde er im Mai zusammen mit Hérault de Séchelles und Georges Couthon dem Wohlfahrtsausschuss beigeordnet, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. Die alte Verfassung aus dem Jahre 1791 hatte noch eine gewisse Macht dem König zugestanden, aber nach Abschaffung des Königtums war nun eine neue nötig geworden. Schon im Juni war das neue Gesetzeswerk, das hauptsächlich von Saint-Just stammte, fertig und wurde vom Konvent angenommen und im Juli mit großer Mehrheit in einer Volksabstimmung bestätigt. Wegen des kirchlichen Sprachgebrauchs im Text nannte man diese neue Verfassung im Jahre I der Republik später scherzweise „L’évangile selon Saint-Just“. Die Verfassung des Jahres I wurde allerdings vom Konvent nicht in Kraft gesetzt, weil man meinte, dass sie der augenblicklichen Lage Frankreichs nicht entspreche. Wegen des herrschenden Krieges wurde der Missbrauch der verfassungsmäßig gewährten Freiheit befürchtet. Nach Beendigung des Krieges sollte die Verfassung ihre Rechtsgültigkeit erlangen; aber dazu ist es nie gekommen. Nur die Tafeln der Menschenrechte wurden überall in den öffentlichen Gebäuden angebracht und wie es heißt, soll Saint-Just während seiner Verhaftung auf solch eine Tafel gezeigt und gesagt haben, dass das immerhin sein Werk sei.
Im Herbst 1793 wurde Saint-Just zusammen mit Philippe-François-Joseph Le Bas in das Elsass zur Überwachung der Truppen gesandt. Am 22. Oktober 1793 trafen die beiden „Volksvertreter mit außerordentlicher Vollmacht bei der Rheinarmee“ in Saverne, Département Bas-Rhin, ein, zwei Tage später waren sie in Straßburg. Sie begannen sofort mit ihrer Arbeit und gaben unzählige Erlasse und Befehle heraus, deren deutliche Sprache verkündete, dass jetzt andere und nicht die üblichen Abgeordneten des Konvents erschienen waren. Ihr Auftrag verlangte eigentlich nur, dass sie die Ereignisse im Raum Wissembourg und Lauterbourg beobachten und ihnen nötig erscheinende Maßnahmen für das öffentliche Wohl ergreifen sollten, aber sie kümmerten sich überall um alles. Mit unmissverständlichen Befehlen und Aufrufen reorganisierten sie die Armee, wendeten sich an die Zivilverwaltungen und auch direkt an die Bürger. So hieß es zum Beispiel in einem Befehl an den Oberbefehlshaber der Rheinarmee: „General, sie befehlen allen Offizieren im Generalsrang an der Spitze Ihrer Divisionen und Brigaden, in ihren Zelten zu schlafen und zu essen.“ Am 31. Oktober verordneten sie, dass die Reichen Straßburgs 9 Millionen zu zahlen hatten von denen zwei Millionen für die Unterstützung bedürftiger Patrioten verwendet werden sollten. Und in einem Aufruf wurden die Straßburgerinnen aufgefordert, das Tragen der deutschen Tracht aufzugeben, da sie in ihren Herzen doch französisch seien. Am 3. Dezember 1793 kehrten die beiden Volksvertreter kurzzeitig nach Paris zurück. Zwischendurch waren am 31. Oktober die Girondisten, deren Sturz er mit betrieben hatte, hingerichtet worden. Am 9. Dezember waren sie wieder im Elsaß und haben dort an verschiedenen Stellen der Ostfront gewirkt. Nachdem die französischen Truppen am 28. Dezember 1793 siegreich in Landau eingezogen waren, hatten die beiden Volksvertreter ihre Aufgabe erfüllt und kehrten nach Paris zurück.
Bereits am 26. Januar 1794 verließen Saint-Just und Le Bas wieder Paris, um zur Nordarmee zu gehen. Dort trafen sie auf ähnliche Zustände, wie sie sie schon im Elsaß bei der Rheinarmee vorgefunden hatten und gingen in erprobter Manier dagegen vor. Mit ihren Maßnahmen trugen sie nicht unwesentlich zum Erfolg des kommenden Feldzuges bei. Aber Saint-Just wartete den Abschluss der wichtigsten Vorgänge diesmal nicht ab und kehrte am 12. Februar 1794 schon wieder nach Paris zurück, wo er am 19. Februar vom Konvent zum Vorsitzenden gewählt wurde. Am 26. Februar 1794 hielt er eine Rede über die Verdächtigen in Haft, die als eine seiner besten Reden gilt. In dieser und einer weiteren Rede am 3. März 1794 legte er dann dem Konvent die sogenannten „Ventose-Gesetze“ vor, die vorsahen, dass alle Schuldigen enteignet wurden und ihr Besitz an die armen und verdienten Bürger fiel. Wenige Tage später sprach Saint-Just dann über umstürzlerische Bemühungen des Auslandes und entsprechende Pläne in Frankreich, womit er einen Angriff gegen Hébert vorbereitete. Vom Konvent forderte er dann schließlich einen Erlass, der ermöglichte, die Verschwörer in den Reihen der Revolutionäre zu verhaften. Der Konvent stimmte zu, und Hébert und seine Anhänger wurden noch in der folgenden Nacht verhaftet und am 24. März 1794 verurteilt und hingerichtet.
Am 17. März 1794 folgte eine weitere Rede, diesmal gegen Hérault de Séchelles, der geheime Unterlagen an den Feind geliefert haben sollte. Er wurde später gemeinsam mit Danton und anderen verurteilt und hingerichtet. Am 31. März 1794 hielt Saint-Just dann eine Anklagerede gegen Danton und Desmoulins. Das Kernstück dieser Rede soll Robespierre verfasst haben. Gegen diese beiden herausragenden Gestalten der Revolution war es nicht schwer, Anklagepunkte zu finden. Besonders Danton mit seinem oftmaligen Wechseln der Seiten und seiner Bestechlichkeit war gut angreifbar. Saint-Just forderte, die Angeklagten vor das Revolutions-Tribunal zu stellen, weil sie das Königtum wieder hatten einführen wollen. Dem wurde stattgegeben, und am 5. April 1794 wurden Danton und Desmoulins verurteilt und hingerichtet. Seine letzte große Rede vor dem Konvent, die wahrscheinlich von ihm zusammen mit dem Ausschuss ausgearbeitet wurde, hielt Saint-Just am 15. April 1794, in der es um Recht und Ordnung ging. In einem der wesentlichsten Punkte beantragte er, das Wirken der allgemeinen Polizei neu zu regeln. Sie sollte ab sofort ihre eigentliche Aufgabe in der Überwachung der Amtsträger sehen. Nach langer Debatte wurde der Vorschlag angenommen, und fortan war die allgemeine Polizei beim Wohlfahrtsausschuss vertreten. Diese Einrichtung von Saint-Just, die die Mitglieder des Konvents ja fürchten mussten, hatte wesentlich zu seinem Sturz beigetragen.
Im 29. April 1794 verließ Saint-Just Paris und ging zur Nordarmee, wo er die zu Anfang des Jahres begonnenen Vorbereitungen für einen Angriff weiter fortsetzte. Er stellte dazu auch strategische Überlegungen an, die er mit dem Oberbefehlshaber, Jean-Baptiste Jourdan, besprach und durchsetzte. Tatkräftig hat er sich dann an verschiedenen Gefechten beteiligt. So an der östlichen Flanke der Front von Fleurus, wo der Übergang über die Sambre erst im siebten Versuch gelang, und danach Charleroi, die größte Festung, die ein Weiterkommen an dieser Stelle blockiert hatte, endlich eingeschlossen werden konnte und sich sieben Tage später, am Morgen des 25. Juni 1794, ergeben musste. Die Übergabe von Charleroi hat Saint-Just selbst entgegengenommen. Sein Verhalten dabei ist von einem hohen französischen Offizier in einem Bericht beschrieben worden. Als ein österreichischer Offizier einen Brief überbrachte, öffnete ihn Saint-Just nicht und sagte, dass er nicht die Übergabe eines Blattes Papier, sondern die der Stadt erwarte. Der Parlamentär meinte dazu, dass seine Truppen entehrt wären, wenn sie sich bedingungslos ergeben würden. Darauf antwortete Saint-Just wörtlich: „Wir können Sie weder ehren noch entehren, ebensowenig wie Sie die französische Nation ehren oder entehren können. Zwischen Ihnen und uns gibt es nichts Gemeinsames.“ Danach forderte er schroff, die Festung bedingungslos zu übergeben, dem der österreichische Befehlshaber dann bald darauf nachkam. Auch in der eigentlichen Schlacht bei Fleurus am nächsten Tag, hat er tatkräftig mitgewirkt und die Kolonnen unablässig zum Angriff und damit zum Sieg geführt, durch den in der Folge die Engländer nach Holland und die Österreicher bis an den Rhein zurückgehen mussten und ein anhaltender Erfolg der Revolutionsarmee gesichert war. Es ist oft behauptet worden, dass der Sieg von Fleurus der Sieg von Louis Antoine de Saint-Just gewesen ist. Sogar sein Gegner, der französische Schriftsteller Lamartine, hat in diesem Zusammenhang höchst anerkennend von ihm gesprochen.
Während dieser Zeit tat Robespierre in Paris einen entscheidenden Schritt zum Sturz des Regimes hin, als er die Annahme der Prairial-Gesetze (10. Juni 1794) im Konvent durchsetzte, durch die sich die Abgeordneten mit dem Tode bedroht fühlen mussten. Sie genossen jetzt keinen Schutz mehr und konnten jederzeit vor das Tribunal geladen werden. Einer von Saint usts Freunde hatte später den Kommentar von Saint-Just zu dem Gesetzestext so wiedergegeben: „Man kann kein hartes und heilsames Gesetz vorschlagen, dessen sich nicht nach Laune und Leidenschaft Ränkespiel, Verbrechen und Raserei bemächtigen, um daraus ein Werkzeug des Todes zu machen.“
Am 30. Juni 1794 traf Saint-Just wieder in Paris ein, das er dann nicht mehr verlassen hat. Den Sieg von Fleurus vor dem Konvent zu verkünden, wurde von ihm abgelehnt und so kommentiert: „Ich halte sehr viel davon, Siege zu verkünden, aber ich möchte nicht, dass sie zum Vorwand für Eitelkeit werden. Man hat den Tag von Fleurus angekündigt, und andere, die nichts darüber gesagt haben, sind dabei gewesen; man hat von Belagerungen gesprochen, und andere, die nichts dazu gesagt haben, waren in den Gräben.“ An seiner Stelle hat dann Barère diese Aufgabe übernommen und die Begeisterungsstürme der Abgeordneten entgegengenommen. Aber solche Einmütigkeit war ansonsten im politischen Leben nicht vorhanden. Die Lage war verworren, und im Konvent und in den Ausschüssen standen sich Gruppen und Personen unversöhnlich gegenüber. Seit Inkrafttreten der Prärial-Gesetze gab es zahllose Verhaftungen und Hinrichtungen. Robespierre, jetzt verhasster und gefürchteter denn je, zeigte sich nicht mehr in der Öffentlichkeit. Über einen Monat lang nahm er an keiner Sitzung im Ausschuss und im Konvent teil. Erst wieder am 26. Juli 1794 erschien er im Konvent und hielt dort eine zweistündige Rede, in der er anklagte, verdächtigte, aber auch nach Aufforderung keine Namen nannte, wodurch sich jeder Abgeordneter bedroht fühlen musste und viele für ein Komplott bereit machte. Am Abend sprach Robespierre zum letzten Mal im Jakobiner-Club. Zur gleichen Zeit arbeitete Saint-Just im Arbeitsraum des Wohlfahrtsausschusses an einer Rede, die er, um die prekäre Lage zu bereinigen, am nächsten Tag vor dem Konvent halten wollte.
Die Sitzung des Konvents am 27. Juli 1794 wurde um 11 Uhr eröffnet, und um 12 Uhr ergriff Saint-Just das Wort. Dass er einen neutralen Standpunkt hatte und keine bestimmte Ansicht oder Richtung bevorzugen wollte, wird schon aus den wenigen und berühmt gewordenen Worten deutlich, die er noch sprechen konnte, bevor er unterbrochen wurde: „Ich gehöre keiner der rivalisierenden Parteien an; ich werde sie alle bekämpfen. Sie werden jedoch nur durch Verfassungen ganz verschwinden, die dem Menschen seine Rechte garantieren, der Herrschaft ihre Grenzen setzen und den menschlichen Stolz ohne die Möglichkeit einer Umkehr unter das Joch der öffentlichen Freiheit beugen werden.“ Dann wurde er am Weitersprechen durch die Verschwörer gehindert. Es gab einen großen Tumult, und schließlich wurden Robespierre, Saint-Just, Couthon und andere festgenommen und abgeführt. Ein Aufstandsversuch der Kommune von Paris brachte ihnen noch einmal kurz die Freiheit zurück, die sie zu einem gewaltsamen Vorgehen gegen den Konvent hätten nutzen können, womit auch dort gerechnet wurde. Aber sie waren wie gelähmt und warteten den Gnadenstoß ab, anstatt zur Place de Grève hinunterzueilen und sich an die Spitze der aufständischen Kämpfer zu stellen. So aber nahm Barras um 2 Uhr morgens mit einem Überraschungsangriff das Rathaus ein, und alles war für sie aus.
Am Abend des 28. Juli 1794 wurden Robespierre, Saint-Just, Couthon und 19 ihrer Anhänger auf dem Platz der Revolution unter dem Fallbeil hingerichtet. Die letzten Augenblicke im Leben von Louis Antoine de Saint-Just hat der Henker von Paris so geschildert: Als Saint-Just an der Reihe war, hinaufzusteigen, umarmte er Couthon, und bei Robespierre vorübergehend, sagte er nur: „Lebe wohl.“ Seine Stimme verriet keine Aufregung.
Friedrich Nietzsche nennt Saint-Just in seinem gleichnamigen Gedicht „teuflisch“.
VIERZEHNTES KAPITEL
Madame Roland
Jeanne-Marie Roland war die Tochter des Pariser Graveurs Gratien Philipon, Angehörige und Freunde nannten sie Manon. Das intelligente und wissbegierige Mädchen konnte früh lesen und interessierte sich schon bald auch für geschichtliche, philosophische und religiöse Themen. Im Alter von neun Jahren entdeckte sie Plutarchs vergleichende Biographien berühmter Griechen und Römer. Plutarch gehörte immer zu den von ihr geschätzten Autoren; er begeisterte sie für die Idee der Republik.
In ihrem elften Lebensjahr hatte Jeanne-Marie den ernsten Wunsch, Nonne zu werden, und mit dem Einverständnis ihrer Eltern lebte sie vom Mai 1765 bis ins Frühjahr 1766 in einer religiösen Ordensgemeinschaft in der Pariser Vorstadt Saint-Michel. Vom Klosterleben dann doch nicht überzeugt, verbrachte sie ein Jahr bei ihrer Großmutter Phlipon auf der Seine-Insel Saint-Louis. Bei einem ihrer gelegentlichen Ausflüge in die Pariser Gesellschaft wurde sie einer wohlhabenden adligen Dame vorgestellt, deren anmaßendes und arrogantes Verhalten sie ein Leben lang nicht vergaß. Dieser Eindruck bestärkte das Kind aus dem bürgerlichen Mittelstand in ihrer kritischen Haltung gegenüber der Aristokratie des Ancien régime. Zurück im elterlichen Haushalt, gehörte Voltaire zu ihren beliebtesten Autoren. Sie las aber in dieser Zeit auch Shakespeare und englische Romane und Gedichte; sie sprach neben englisch auch italienisch. Als Jeanne-Marie vierzehn Jahre alt wurde, kamen ihr Zweifel am katholischen Glauben ihrer Kindheit, und sie wandte sich, wie viele Aufklärer, der deistischen Gottesauffassung zu: Gott schuf die Welt, aber er übt keinen Einfluss mehr auf sie aus. Gleichzeitig beschäftigte sie sich mit den Schriften der berühmten Prediger Jacques-Bénigne Bossuet und Jean-Baptiste Massillon.
Im Juni 1775 starb Jeanne-Maries Mutter, und sie musste sich nun um den Haushalt des Vaters kümmern, der in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war. Sie zog sich mit ihren Büchern zurück und beschloss, niemals zu heiraten. Junge Verehrer wies sie ab, sie bevorzugte die ihr geistigen Gewinn bringende Gesellschaft älterer gebildeter Männer. In dieser Zeit las sie Rousseau, der sie ebenso beeindruckte wie Plutarch; seine Ideen bestimmten ihr künftiges politisches Denken und Handeln.
Im Januar 1776 begegnete Jeanne-Marie Phlipon dem zwanzig Jahre älteren Jean-Marie Roland de La Platière, dem Inspektor des Handels und der Manufakturen in Amiens. Sie schätzte seine vielfältigen Interessen und seinen scharfen Verstand. Trotz der Einwände ihrer Familien heiratete das ungleiche Paar im Februar 1780. Während der ersten sechs Monate ihrer Ehe wohnten die Rolands in Paris, obwohl Monsieur Roland sein Büro in Amiens hatte. Madame Roland assistierte ihrem Mann bei der Publizierung seiner Schriften. Sie machte die Bekanntschaft von Schriftstellern und Wissenschaftlern der Aufklärung, und mit Bedauern verließ sie im Herbst 1780 die Hauptstadt, um nach Amiens zu ziehen. Dort wurde im Oktober 1781 ihre Tochter Eudora geboren.
Im Mai 1784 reiste Madame Roland nach Paris, um für ihren Mann als Anerkennung für seine langjährigen Dienste die Ausstellung eines Adelspatents der höheren Rangstufe zu erreichen. Sie hatte keinen Erfolg, erwirkte aber seine Beförderung zum Generalinspektor und die Versetzung nach Lyon. Die Rolands zogen in das von Lyon nicht weit entfernte Villefranche-sur-Saone auf den ärmlichen alten Landsitz der Familie.
Mit dem Ausbruch der Revolution 1789 fand das ruhige Leben ein Ende. Von Anfang an unterstützten die Rolands die revolutionäre Bewegung. Sie waren überzeugt, dass die Abschaffung des Königtums notwendig sei. Madame Roland schrieb unter dem Namen ihres Mannes Artikel im Courrier de Lyon, die auch in der Hauptstadt beachtet wurden. Daraus ergab sich eine Korrespondenz, unter anderem mit Jacques Pierre Brissot de Warville, den die Rolands seit 1787 kannten. In der Folgezeit schrieb Madame Roland auch Artikel für den Le Patriote Français, eine von Brissot herausgegebene revolutionäre Zeitung. Im November 1790 dominierten die Anhänger der Revolution den Stadtrat von Lyon, und Jean-Marie Roland wurde mit öffentlichen Aufgaben betraut: Der städtischen Schulden wegen reiste er im Februar 1791 zu Verhandlungen mit dem Parlament nach Paris. Madame Roland begleitete ihren Mann und eröffnete ihren ersten politischen Salon im Hôtel Britannique in der rue Guénégaud. Viele Führungspersönlichkeiten der Revolution waren ihre Gäste: Jacques-Pierre Brissot, Jérôme Pétion de Villeneuve, Maximilien de Robespierre, François Buzot und andere.
Im September 1791 kehrten die Rolands nach Lyon zurück, da der Auftrag erfüllt war. Das Amt des Inspektors der Manufakturen war inzwischen abgeschafft worden, und Monsieur Roland konnte seiner beruflichen Tätigkeit nicht länger nachgehen. Um nach fast vierzig Dienstjahren einen Anspruch auf Pension durchzusetzen, reisten die Rolands schon im Dezember wieder nach Paris, wo sie sofort aufs Neue in das revolutionäre Geschehen verwickelt wurden.
Roland wurde Mitglied im Pariser Klub der Jakobiner, in dem die künftigen Girondisten, die Männer um Brissot, und die künftigen Jakobiner noch gemeinsam debattierten. Im März 1792 wurde Jean-Marie Roland vom König als Innenminister in das neue Kabinett berufen. Seine Ehefrau, die ihm schon immer eine geschickte Helferin war, wurde ihm nun unentbehrlich. Madame Roland erledigte einen Teil seiner Korrespondenz und stand ihm auch in politischen Fragen mit Rat und Tat zur Seite. Mit der Wiedereröffnung ihres Salons in ihrem neuen Domizil in der rue Neuve des Petits Champs stand Madame Roland im gesellschaftlichen und politischen Zentrum der neuen Regierung. Zweimal wöchentlich lud sie zum Diner: Brissot, Pétion, Charles-Jean-Marie Barbaroux, Jean-Baptiste Louvet de Couvray und François Buzot, mit dem sie eine gegenseitige Zuneigung verband, und andere waren die Gäste "einer empfindsamen und leidenschaftlich für die Gerechtigkeit eintretenden Frau. Madame Roland war die Seele der Gironde.“
Am 10. Juni 1792 sandte Innenminister Roland einen Brief an den König, weil dieser die Gesetzgebung durch Vetos behinderte. Madame Roland, die den Brief redigiert hatte, forderte vom König neben der Rücknahme seines Einspruchs gegen zwei Dekrete auch größeren Patriotismus. Dieser Brief löste die Entlassung Rolands und seiner girondistischen Kollegen aus und damit auch die Massendemonstration gegen den König am 20. Juni in den Tuilerien.
Nach der Absetzung König Ludwigs XVI. am 10. August 1792 war Jean-Marie Roland im neu gebildeten provisorischen Vollzugsrat und nach dem Zusammentritt des Nationalkonvents am 21. September wieder für die Innenpolitik zuständig. Bestürzt über den Verlauf der revolutionären Ereignisse, geriet er bald in Opposition zum Jakobinerklub, der ihn immer wieder heftig attackierte. Wegen seiner Haltung im Prozess gegen den König warf man ihm Royalismus vor. Die Angriffe richteten sich auch gegen seine Frau. Am 7. Dezember wurde Madame Roland vor den Nationalkonvent geladen, um sich dort gegen alle Vorwürfe zu verteidigen. Nach einer leidenschaftlich vorgetragenen Rechtfertigung der Politik ihres Ehemanns wurde sie nicht nur in allen Punkten freigesprochen, sondern auch in Ehren verabschiedet. Sie erhielt die Ehrenbezeugungen der Versammlung, die honneurs de la séance, und verließ unter dem Beifall aller Abgeordneten den Saal.
Zwei Tage nach der Hinrichtung König Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 trat Jean-Marie Roland resignierend von seinem Ministeramt zurück. Trotz wiederholter Petitionen durften die Rolands Paris nicht verlassen. Nach der Verhaftung führender Girondisten am 31. Mai gelang Jean-Marie Roland die Flucht nach Rouen. Madame Roland blieb auf eigenen Wunsch zurück und wurde am 1. Juni verhaftet. Sie kam in das Gefängnis der Abbaye, dann nach Sainte-Pélagie und schließlich in die Conciergerie. Von ihren Wächtern respektiert, erhielt sie Schreibmaterial und konnte gelegentlich auch Besuch empfangen. Im Gefängnis schrieb sie ihren Appel à l’impartiale postérité, ihre der Tochter Eudora gewidmeten Memoiren.
Nach der Hinrichtung von 21 Girondisten am 31. Oktober 1793 fand ihr Prozess vor dem Revolutionstribunal am 8. November statt. Zum Tode verurteilt, starb Madame Roland noch am selben Abend auf der Place de la Révolution, der heutigen Place de la Concorde unter dem Fallbeil der Guillotine. Bevor sie ihr Haupt auf den Block legte, rief sie beim Anblick der Freiheitsstatue die berühmt gewordenen Worte: „Oh Freiheit, welche Verbrechen begeht man in deinem Namen!“
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Marianne
Marianne ist die Nationalfigur der Französischen Republik. Der Name Marianne kann als Metonym für die französische Nation stehen.
In der Französischen Revolution wurde Marianne – bis dahin lediglich ein im Volke weit verbreiteter Name – zum Symbol der Freiheit und damit gleichzeitig der französischen Republik. Sie trat also in die Nachfolge der Francia oder Gallia, der Allegorie des Königreichs Frankreich, die in höfischen Bilddarstellungen den französischen König begleitete. Auf Bildern der Marianne ist ihr Kopf gewöhnlich mit der phrygischen Mütze bedeckt, meist eine oder beide Brüste nackt. Berühmt ist die Verherrlichung der Freiheit, die Eugène Delacroix in der Julirevolution 1830 gemalt hat. Marianne schmückt als Büste praktisch alle französischen Rathäuser, als Statue viele Plätze. Erste schriftliche Erwähnung des Namens Marianne als Bezeichnung für die französische Republik datiert vom Oktober 1792 in Puylaurens im Département Tarn. Man sang seinerzeit im provenzalischen Dialekt das Lied „La garisou de Marianno“ („Mariannes Erholung“) des Dichters Guillaume Lavabre.
Die Büste der Marianne wird von Zeit zu Zeit wechselnd regelmäßig nach dem Vorbild prominenter Französinnen neu gefertigt und in den örtlichen Rathäusern ausgestellt:
1968 war Brigitte Bardot das Modell für Marianne. Im Jahr 2000 war die schöne Laetitia Casta das Model für die Göttin Frankreichs.