NORDISCHE MEMOIREN

 

VON TORSTEN SCHWANKE



ERINNERUNGEN AN SKANDINAVIEN


Das geht jetzt alles so durcheinander. Wir sind mit dem Auto - einem kleinen Renault - nach Travemünde gefahren und dann mit dem Auto auf die Fähre. Auf der Fähre gab es ein Kino, da hab ich Don Camillo und Peppone gesehen. (Später spielte ich mit Karines Vater Don Camillo und Peppone, Konrad war der kommunistische Bürgermeister und ich der katholische Priester, der immer mit Jesus sprach, aber sich auch gerne prügelte.) Auf dem Schiff trug ich schon Klocks, Holzschuhe mit hartem Lederbezug. Wir waren einmal auf der dänischen Ostsee-Insel Langeland, da waren weite Felder von rotem Mohn (die Engländer sagen Poppie...) Wir trafen uns da mit Mamas Schulfreundin Wilhelmine und Familie (Stefan im Alter von Bärbel und ich im Alter der wunderschönen Doris, die später sehr erfolgreich im Tischtennis wurde). Meine Mutter fragte mich, ob ich lieber Frauen mit großen oder mit kleinen Brüsten möge - peinlich! Mama! (Natürlich mit großen Brüsten...) Aber meistens waren wir auf Öland. Aber erstmal noch von Dänemark, wir hatten auf dem Festland eine Ferienwohnung, ein Holzhaus in der Nähe des Strandes, aber das Holzhaus war voll mit Ungeziefer. Und am Badestrand schwammen in der Ostsee Feuerquallen, die sehen aus wie transparente Spiegeleier und brennen wie Nesseln. Es gab da salzige Butter. Und Himbeermarmelade (seit jener Zeit meine Lieblingsmarmelade) und wir aßen Dickmilch mit Honig-Smacks. Nach Öland aber fuhren wir nicht mit der Fähre, sondern über die längste Brücke Europas. In Öland gab es sehr viele Windmühlen. Und da war auch die Sommerresidenz der schwedischen Königin, ich meine, es war die deutsche Sylvia. Ach ja, in Kopenhagen war ich auch einmal, bin aber nicht Kierkegaards Schatten begegnet, sondern sah die stocksteifen Wachsoldaten mit riesigen Fellmützen das Kopenhagener Schloss bewachen. Auf Öland lernten wir eine schwedische Familie kennen, die dort ihre Sommervilla hatte. Die Mutter hieß Maj-Brit und der Vater Ingmar und sie hatten einige Söhne und Töchter. Maj-Brit hatte eigenen Dill im Garten. Maj-Brit konnte etwas deutsch. Die Kinder kaum. Maj-Brit fand es seltsam, dass im deutschen Fernsehen Cowboys und Indianer alle deutsch reden. Im schwedischen Fernsehen reden sie englisch (mit schwedischen Untertiteln). Ich las auf Öland Kriminalromane von Raymond Chandler über Philip Marlowe, aber auf deutsch. Wir machten einen Vorlesewettbewerb: Mama las am schnellsten, ich machte den zweiten Platz. Übrigens liebte ich in meiner frühen Jugend die Kriminalromane von Sjöwall/Wahlöö, ich las alle davon. Eines Tages fuhr Papa allein mit einem kleinen Segelboot auf die Ostsee und kam nicht zurück... Wir hatten Angst, er sei ertrunken, er war aber nur gekentert und kam spät doch noch zurück. Am Strand von Öland gab es Stellen mit klebrigem Lehm, den rollte ich zu langen Schlangen und häufte sie übereinander und töpferte so eine Blumenvase, die an der Sonne trocknete, die brachte ich aus dem Urlaub meiner lieben Oma mit. Zuhause dann auf dem Jahrmarkt schoss ich ihr mit dem Gewehr eine rote Plastikrose, die stellte sie dann in meine Blumenvase in der Küche auf die Fensterbank. Dann wollten wir eine Nordland-Reise machen. Mama arbeitete als Sekretärin bei einem Bauunternehmer, der lieh uns einen VW-Bus, und Papa als Heimwerker machte die Inneneinrichtung selbst, so hatten wir einen Wohnwagen. Mama und Papa schliefen im Bus und Stefan und ich im Zelt. Einmal wachte ich morgens auf und sah aus dem Zelt, da stand ein Rentier vor dem Zelt. Wir machten irgendwo an einem See in Waldnähe ein Feuer und grillten Lachs, frisch auf dem Markt gekauft, aber Einheimische verboten uns das Feuermachen wegen Waldbrandgefahr. Ich dachte mir auf der Autofahrt mein eigenes Englisch aus und sprach in einer erfundenen Phantasie-Sprache. In Dänemark übrigens haben wir oft Karten gespielt, Rommée und Canasta. Die Fjorde in Norwegen waren sehr schön. In Finnland sah ich echte Lappländer in ihren Folklore-Kostümen. Ich wünschte mir ein Messer, und Papa kaufte mir eins mit einem Hirschhorngriff. Mama und Papa kauften auch ein Elchgeweih, das hing zuhause lange an der Wand. Wir waren auch am Nordkap, dem nördlichsten Punkt Europas, gleich danach kam die Arktis. Um den Hals trug ich ein Lederband mit einer Rentier-Zehe daran. Ja, in Finnland waren wir auch mal in einer Sauna, das einzige Mal in meinem Leben, dass ich in einer Sauna war. Zum Abkühlen ging es dann in den Badesee. Ganz hoch im Norden wurde es nachts gar nicht richtig dunkel. es war wie die berühmten Weißen Nächte von Petersburg, oder auf Latein Aurora Borealis, über den Bergen war nachts eine rosige Dämmerung. In Finnland kehrten wir mitten in der leeren Weite in ein Gasthaus ein, da gab es Grütze. Wir waren in Schweden auch in Upsala, das war früher das Hauptheiligtum der skandinavischen Germanen. Ich stand dort im lutherischen Dom. Wir waren auch in einem Museum, da wurde das Floß gezeigt, auf dem ein Norweger den Atlantik überquert hatte. Wir waren in Schweden auch in einer Glasbläserei, wo sie Flaschen und Vasen aus blauem Glas bliesen. - Ach, das waren schöne Kindertage, ich war weder schizophren, noch hatte ich Liebeskummer, ich war einfach glücklich…






ERINNERUNGEN AN BALTRUM


"Wenn ich nicht bald eine Blaue Insel finde!

Erzähle mir von ihren Wundern."

(Else Lasker-Schüler)



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Die ostfriesische Nordseeinsel Baltrum hieß früher Balderinge, sie war nach den beiden germanischen Göttern Balder und Ing benannt. Da auf der Insel viele Heckenrosen (Hagebutten oder Weinrosen) wachsen, nennt man sie auch das Dornröschen der Südlichen Nordsee. Meine Mutter, Doris Paula Schwanke, geborene Grensemann, ist dort geboren. Und obwohl sie Doris hieß, denn Doris war in der griechischen Mythologie eine Göttin des Meeres, mochte sie nicht gerne schwimmen. Ihre Mutter stammte auch von Baltrum, meine Großmutter Paula Margarethe Grensemann, geborene Mayer. Deren Mutter hieß Margarethe Johanna Mayer, geborene Ulrichs. Und deren Vater hieß Ulrich Ulrichs und war ein Seemann (wenn nicht gar ein Pirat). Seine Schiffertruhe besaß ich in meiner Kindheit. Leider ist sie spurlos verschwunden gegangen. Meine Großmutter Paula Margarethe Grensemann hatte mit ihrem Mann Dirk Grensemann (der vom Festland, aus Norden stammte) fünf Töchter. Ihre Tochter Paula ist als Kleinkind gestorben. Ihre anderen Töchter hießen Hildegard, Petheda und Henriette, zuletzt kam als jüngste meine Mutter Doris. Hildegard hatte geheiratet einen Karl-Heinz Klawonn und war weggezogen, sie wurde Mutter von vier Söhnen. Henriette, genannt Henny, hatte ein Hotel zur Post, sie hatte Alkoholprobleme, wie mein Großvater dirk Grensemann, der ein Quartalssäufer war. Petheda, genannt Thedi oder von uns Tante Thedi hatte Arno Meinhold geheiratet, sie brachte in die Ehe ihren unehelich empfangenen sohn Joachim, genannt Achim mit, was aber lange ein Geheimnis war. Meine Großeltern hatten eine Pension auf Baltrum, die Villa Petheda, mit fünfzig Betten, Oma hatte alle Hände voll zu tun, und die Töchter (bis auf die Kleine Doris) mussten mithelfen. Thedi und Arno hatten im Ostdorf die Teestube, und dort war ich in meiner Kindheit offt zu Gast, mit den Eltern oder mit meinem Bruder Stefan allein. Wir wohnten auf dem Festland im Flecken Hage, Mama, Papa, Stefan und ich. Meine liebe Oma wohnte im Haus nebenan allein, denn sie war Witwe, mein Großvater war vor meiner Geburt gestorben.



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Meine Tante Thedi führte mit Onkel Arno die Teestube im Ostdorf. Da waren Stefan und ich in der Kindheit oft zu Besuch. Ostern haben wir dann bunt gefärbte Eier den sanften Hügel runterrollen lassen und versucht, so andere Eier zu treffen. Die Angestellten in der Teestube nannte Tante Thedi immer "unsere Mädchen". Thedis Sohn Achim war auf dem Festland. In der Küche hatte Thedi für uns immer Eis bereit, Vanille oder Erdbeer, heute noch meine Lieblingssorten. Oft gab es auch frisch gebackenen Apfelkuchen. Thedi rauchte Filterzigaretten "Lord" und legte manchmal eine Zigarette angezündet in den Aschenbecher, wenn sie was zu tun hatte. Ich sog dann an der Zigarette, leugnete aber, es getan zu haben, Thedi fand es aber heraus, doch schimpfte sie nicht. Stefan und ich schliefen oben in einem geräumigen Zimmer.Onkel Arno brachte uns ins Bett und sein Abendsegen war: Klappe zu - Affe tot. Arno schenkte uns die gesammelten Werke von Karl May, die Achim alle gelesen hatte, und die ich nun alle las, nicht nur die Indianerbücher, sondern auch die aus Kurdistan oder Sibirien. Um die Teestube herum die sanft wellenden Wiesen fand man viele Kaninchen-Löcher, denn es wimmelte auf Baltrum von Kaninchen. Dann kam man zum Kiefernwäldchen, das sehr still war. Überhaupt war es auf Baltrum himmlisch-still, weil auf der ganzen Insel keine Autos fuhren. Alles war gut zu Fuß zu erreichen, vom Ostdorf zum Westdorf ein Fußweg von vielleicht zehn Minuten. Man sagte, die Insel heiße Baltrum, weil man bald rum sei. Am Strand gab es einen Kiosk, wo es Eis und Pommes frites gab. Am Strand sammelten wir Muscheln und bauten Sandburgen.Natürlich gingen wir auch baden in der Nordsee. Manchmal besuchten wir Mamas Cousine Ursel, die mit ihrem Mann Werner eine Bäckerei hatte. Wir spielten dann mit deren Söhnen. Es roch dort immer sehr gut nach frisch gebackenem Brot. Im Westdorf führte unsere Tante Henni ein Hotel, mit ihrem Mann, aber da waren wir selten. Henni war uns lange nicht so lieb wie Thedi. Über die ganze Insel führten auch Reitpfade. An solch einem Reitpfad fanden Stefan und ich hohe Ballen von Heu gestapelt, in die wir Löcher rein bohrten und uns in ihnen versteckten.Henni war uns lange nicht so lieb wie Thedi. Über die ganze Insel führten auch Reitpfade. An solch einem Reitpfad fanden Stefan und ich hohe Ballen von Heu gestapelt, in die wir Löcher rein bohrten und uns in ihnen versteckten.Henni war uns lange nicht so lieb wie Thedi. Über die ganze Insel führten auch Reitpfade. An solch einem Reitpfad fanden Stefan und ich hohe Ballen von Heu gestapelt, in die wir Löcher rein bohrten und uns in ihnen versteckten.


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Im Alter von ungefähr 35 Jahren - Hälfte des Lebens - fuhr ich mit meinen beiden Frauen Evi und Karine nach Baltrum. Drei Jahre später fuhren wir erneut auf die Insel. Karine war im neunten Monat schwanger mit ihrem ersten Kind, Evi hatte ihren dreijährigen Sohn Quentin mit. Karine hatte noch ihren Knecht mitgenommen. Wir hatten eine Ferienwohnung im idyllischen Ostdorf gemietet. Karine schlief in einem Zimmer mit ihrem Knecht, ich sollte mit Evi in einem Zimmer schlafen. Aber da ich dann keine Nachtruhe finden würde, schlief ich im Wohnzimmer auf dem Sofa. Karine hatte einen verspannten Rücken, sie zog ihr Hemd aus, und Evi massierte ihr Rücken und Nacken. Abends saßen wir auf dem Balkon und plauderten beim Wein. Die Grillen zirpten, "schwatzhaft wie Goethe und Eckermann". Ich psychologisierte mit Evi. Karine gegenüber zitierte ich Salomo: Sei nicht allzu weise und nicht allzu gerecht". Das gefiel ihr. Wir spielten ein Gesellschaftsspiel, Therapie. Auf die Frage, wen er lieber treffen möchte, Gott oder den Teufel, sagte der Knecht: Den Teufel. Ich will lieber in die Hölle kommen als in den Himmel. - Auf die Frage, wie sie sterben möchte, bei Musik oder beim Sex, sagte Evi: Beim Sex. Auf die Frage, welche Frau als Baby schöner gewesen, sagte der Knecht: Evi. Karine war beleidigt. Eines Tages ging ich mit Evi spazieren, gemeinsam zogen wir den Bollerwagen, in dem Quentin saß. Es war heller Sonnenschein. Evis Hand und meine Hand waren als Schatten auf der Erde zu sehen. Während sich unsere Körper-Hände nicht berührten, berührten sich unsere Schatten-Hände, was mit den Anlaß gab zu mystischen Spekulationen. Ich las in diesem Urlaub den Schriftsteller Reinhold Schneider. Er schrieb: "An der Schwelle von der Jugendkraft zur Altersweisheit", das war genau die Epoche meines Lebens. Ich schrieb einen Text in poetischer Prosa, es kam darin die Vatikanische Venus und die Erotik des Rotweins vor. Ich las ihn den beiden Frauen vor. Eines Nachts ging ich allein spazieren, bewunderte die Heckenrosen und erinnerte mich an eine fatale Jugendliebe, stand des Nachts am Meer und nahm das Rauschen der Brandung in mich auf, wie die Stimme Gottes.


Vom zweiten Urlaub ist mehr in meiner Erinnerung gegenwärtig. Karine hatte neben ihrem erstgeborenen Juri auch als Babys die Zwillinge Milan und Simon dabei, und ihren Knecht. Wir trafen uns am Oldenburger Bahnhof. Evi wollte mit Quentin und ihrem Baby Tom mitkommen, kam aber, wie immer, zu spät, und wir fuhren allein ab. Auf dem Bahnhof in Norden, Ostfriesland, warteten meine Eltern auf uns, sie gaben uns Regenjacken mit. Mit dem Bus fuhren wir zum Hafen von Nessmersiel und von dort mit der Fähre nach Baltrum. Wir fuhren durch dichten Nebel, dem Nebel von Avalon. Wir hatten eine Ferienwohnung im Ostdorf. Später traf auch Evi mit ihren beiden Söhnen ein. Evi hatte ein Zimmer mit ihren beiden Kindern, Karine hatte ein Zimmer mit den Zwillingen, ich hatte ein Zimmer mit Juri und dem Knecht. Morgens war das Wohnzimmer zum Wickelzimmer geworden, die Mütter wickelten ihre Babys, ich saß rauchend und betend draußen auf der Terrasse, ein kleines Neues Testament hatte ich immer in der Hosentasche. Eines Tages holte ich Fischbrötchen für Juri, er liebte das. Quentin war aber extremer Vegetarier und begann zu schimpfen. Ein Streit kam auf. Ich sagte: Auch Tiere essen Tiere. Quentin sagte: Dann ist die Natur eben auch böse. (Eine interessante philosophische Frage.) Um mich zu beruhigen, ging ich spazieren und kam an der kleinen katholischen Kapelle vorbei, ich ging hinein, es begann gerade die Heilige Messe, der Altar hatte die Gestalt einer Muschel, der Priester bat mich, die Lesung aus dem Alten Testament vorzulesen, es waren einige Verse des Propheten Jesaja. Mit Frieden im Herzen kehrte ich zurück. Eines Tages gestand ich Evi, als ich mit ihr allein war, dass ich nicht beide Zwillinge von Karine gleich lieb habe, ich bevorzugte Milan. Sie bekam es, wie so oft, in den falschen Hals und dachte, ich wollte ihr sagen, dass ich ihre Kinder nicht so lieb habe wie Karines Kinder. Wenn die Mütter sich mittags mit den Babys schlafen legten, ging ich spazieren. Juri führte ich im Bollerwagen spazieren, er schlief dann ein, während ich durch den Naturschutzpark spazierte, ich konnte dann herrlich den Rosenkranz beten. Juri erwachte aber auch bald wieder, und wir bewunderten die Raupen an den Büschen, und überhaupt die schöne Natur und die Stille. In der Ferienwohnung waren Kinderbücher, wir lasen eins über Klaus Störtebeker. Ich besuchte auch den Inselfriedhof. Am Eingangstor stand: Komm Christ Kyrie / zu uns über die See! Da lagen begraben auch Verwandte von mir, denn meine mütterlichen Vorfahren stammen von Baltrum. Als ich allein einen Spaziergang machte, bewunderte ich die "Majestät des Himmels über Germanien", diese friesischen Ebenen mit dem freien Himmel darüber, und es wehte auch ein starker Wind, so dass ich den Gott im Himmel und den Heiligen Geist anbetete. Wir gingen eines Tages alle zum Strand, die Kleinen hatten Eimerchen und Schaufeln mit. Wir kamen am Strandkiosk vorbei, da gab es Waffel-Eis oder Pommes Frites. Karine hatte ein Waffel-Eis in der Hand, da schoss eine Möwe vom Himmel herab und stahl ihr im Flug die Eiskugel aus der Waffel. Eines Nachmittags waren wir auch in der Teestube, die früher meiner Tante gehörte, ich erkannte sie aber nicht wieder, denn sie war inzwischen abgebrannt und neu wieder aufgebaut. Da gab es Kaffee, Kakao, Kuchen und Eis. Eines Abend stand ich mit Karine und Evi allein im Wohnzimmer und erzählte ihnen von dem Buch, das ich gelesen hatte: Logos und Sophia, von Otfried Ebertz, einem feministischen Philosophen von Anfang des 20. Jahrhunderts. Er schrieb, Sophia, die Jungfrau der göttlichen Weisheit, ließe sich nur erkennen von zölibatär lebenden Menschen. Frauen, die nicht über den Tellerrand der Kinderstube hinausschauen, könnten sie nicht erkennen. Karine sagte lächeld zu Evi: Dann können wir sie ja nicht erkennen. - Eines Nachts saß ich mit Karine allein auf der Terrasse, der Wind rauschte in den Büschen, ich trank eine Flasche Rotwein, Karine sagte: Was für dich Gott ist, das ist für mich die Natur, mit der ich eins sein möchte. Comme belle nous avons fait l'amour dans notre jeunesse... Auf der Rückfahrt mit der Fähre schien die schönste goldene Sonne am hellblauen Himmel überm blauen Meer, und ich stand neben Evi, die bewundernswert schön war.




ERINNERUNGEN AN SYLT


"Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man uns nicht vertreiben kann."


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Karine hatte Brustkrebs. Die Krankenkasse finanzierte ihr eine Kur auf Sylt. Allerdings ohne Kinder. Sie wollte aber doch ihre Kinder sehen. Zuerst fuhr ich also mit dem vierjährigen Juri mit der Eisenbahn von Oldenburg nach Sylt. Ich hatte ein Fahrrad mit Kindersitz mit. In Sylt fuhr ich mit Juri auf dem Fahrrad in die Jugendherberge am anderen Ende von Sylt, mitten in den Dünen. Ich hatte einen großen Haufen kalte gebratene Schnitzel mit. Karine traf uns in der Jugendherberge. Wir gingen an den Strand. Später erzählte Karine ihrer Mutter, wir "hätten uns zusammen am Strand gewälzt". Schön wärs gewesen. Karine hatte am Strand ihren Fahrradschlüssel verloren. Ich versuchte, das Schloss aufzubrechen. "Das muss ein richtiger Mann machen", sagte Karine. Ich war verletzt. Mittags machte Karine mit Juri in unserm Jugendherbergszimmer Mittagsschlaf. Ich saß dann draußen und las im Neuen Testament. "Die Armen habt ihr immer bei euch, und ihr könnt ihnen Gutes tun, wenn ihr wollt, aber mich habt ihr nicht immer bei euch." Ich sah in die Dünen und dachte: Gott ist allgegenwärtig, und die Toten sind in Gott, sie sind also auch allgegenwärtig, sie sind nicht irgendwo über den Wolken, sondern hier in den Dünen unsichtbar um uns herum. Für Juri hatte ich ein Comic-Buch zum Vorlesen mitgenommen: Prinz Eisenherz, eine herrliche Rittergeschichte. Sie gefiel uns beiden sehr gut. Wir waren nicht in der City von Sylt, sondern jeden Tag in den Dünen und am Strand, und Juri war mein kleiner griechischer Gott Apoll, und Karine war meine wunderschöne Venus der Nordsee. Nur einmal waren wir in einem Imbiss und aßen Pommes frites und Fischfrikadellen. Da schenkte ich Karine einen "Freundschafts-Ring". Sie bedankte sich, nahm ihn an, trug ihn aber nicht an der Hand.


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Ostern 2005 nahm ich Karines Zwillinge Milan und Simon, 2 Jahre alt, und fuhr mit der Bahn nach Neu Wulmstorf zu Karines Vater Konrad. In Neu Wulmstorf ging ich mit den Zwillingen in die Sankt Josefs Kapelle und bat Sankt Josef um eine gute Reise. Wir fuhren mit dem Auto nach Sylt. Konrad hielt die ganze Fahrt über Monologe. Die Zwillinge schliefen bei Karine im Kurheim, Konrad und ich hatten zwei Zimmer in einer Pension. Abends saßen wir zusammen, tranken spanischen rotwein Carenina und aßen Baguette und Knoblauchsalami und Tomaten und Eier und Käse. Konrad lag auf der Couch und prahlte in einer zweistündigen Beichte mit seinen Sünden. Ich sagte: Mit Karine und mir ist das wie im indischen Mythos von Shiva und Parvati. Der Gott Shiva sprach das Sanskrit der Brahmanen und war so geistig und asketisch, dass er mit seinem dritten Auge den Liebesgott Kama verbrannte. Und Shivas Partnerin war die Göttin Parvati. Sie sprach Prakriti, die Sprache der Frauen und Kinder, der Natur und des Alltags, sie war die Mutter Erde. - Ich wartete mit Konrad vor dem Kurheim. Ich hatte lange Haare, einen verwilderten Vollbart, trug abgenutzte Jacke und Hose und Schuhe und schälte gerade ein Ei. Die vornehmen Kurgäste von Sylt schauten mich geringschätzig an wie einen Bettler. - Wir trafen Karine zum Mittagessen im Kurheim. Karine bekam Gänsebraten. Wir hatten ja kein Recht auf ein Mittagessen, Konrad stritt sich mit Karine, weil sie ihm nicht auch einen Gänsebraten organisierte. - Wir waren im Schwimmbad. Karine sah hinreißend aus im Bikini, wie ein Supermodel. Konrad stand im Wasser und trug die Zwillinge durchs Wasser, aber sie hatten Angst. Dann trug ich sie durchs Wasser. Konrad sagte: Bei dir haben sie keine Angst. Wir wollten in die Sauna. Konrad wollte nackt hinein, Karine bestand aber auf Badebekleidung. - Ich ging mittags allein an den Strand und betete den Rosenkranz und sah auf die Nordsee. Da schien mir die Jungfrau Maria über dem Meer zu schweben, wie eine christliche Venus, und sie sagte zu mir: Gott ist ein Ozean der Schönen Liebe. Dann meditierte ich über den Vers aus Sprüche Salomos 8: Die Weisheit ist wie das Hätschelkind Gottes. Da schien mir die Weisheit ein zweijähriger blonder Knabe, wie Milan, mein Liebling. In Milan begegnete mir die Weisheit Gottes. Ich kehrte zum Kurheim zurück und sagte zu Karine: Meine Liebe zu den Zwillingen ist platonische Knabenliebe. Sie sagte: Oh! Ich sagte: Versteh mich nicht falsch, platonische Knabenliebe ist asexuell. - Wir lagen am Strand, die Kinder sammelten Muscheln, und ich hätte gern Karine in die Arme genommen und sie geküsst. - Eines Tages war ich mittags allein in den Dünen, da dachte ich: Karine ist so göttlich schön, ich will sie heiraten. Ich betete: Gott, ich mache Karine jetzt einen Heiratsantrag. Wenn es dir nicht gefällt, lass sie Nein sagen. Und ich pflückte ein Strand-Blümchen, ging zu Karine aufs Zimmer, sie lag mit den Kindern im Bett, ich kniete mich vor ihr nieder und sagte: Willst du mich heiraten? Sie sagte: Ach Toto, lass uns das mal lassen, du liebst doch Evi... Nun kam Ostern. Karine hatte Ostereier und Schokolade versteckt, wir gingen, die Ostereier zu suchen. Konrad mit seinen kranken Füßen humpelte. Karine hatte die Ostereier in Brombeer-Dornengestrüpp versteckt.