DER PROTESTANTISMUS

von Josef Maria von der Ewigen Weisheit


ERSTER TEIL
DIE REFORMATOREN


ERSTES KAPITEL
Luther

Luthers Eltern waren der Bauer, Bergmann, Mineneigner und spätere Ratsherr Hans und dessen Ehefrau Margarethe. Die Familie führte ihren Nachnamen Lüder, Luder oder Lauther. Damit führte sie sich auf den seit etwa 1302 in Möhra ansässigen Ritter Wigand von Luder zurück, der aus dem Adelsgeschlecht von Liuder aus Großenluder stammte. Der Name Luder kann auch auf Lothar zurückgeführt werden.
Martin Luther wählte seine Nachnamensform etwa 1517. Er leitete sie vom Herzog Leuthari II. oder vom griechischen Wort ἐλεύθερος (eleutheros = frei) ab und benutzte vorübergehend die daraus abgeleitete Form „Eleutherios“ (der Freie). Luther gab nach seinem Aufstieg in die Wittenberger Oberschicht seinem niederdeutschen Namen Luder eine hochdeutsche Form, um das hochdeutsche Missverständnis seines Namens („liederlicher Mensch“) zu vermeiden. Das „th“ galt in seiner Zeit als „schick“.
Luther wurde als erster Sohn seiner Eltern in Eisleben geboren und hatte neun Geschwister. Am folgenden Martinstag, dem 11. November 1483, wurde er auf den Namen des Tagesheiligen Sankt Martin in der St.-Petri-Pauli-Kirche katholisch getauft. Er wuchs im benachbarten Mansfeld auf, wo der Vater als Hüttenmeister im Kupferschieferbergbau bescheidenen Wohlstand erwarb. Beide Städte liegen im Mansfelder Land und hatten damals einige tausend Einwohner. Luthers Eltern waren kirchentreu, jedoch nicht besonders fromm.
Von 1490 bis 1497 besuchte Luther die Mansfelder Stadtschule und danach für ein Jahr die Magdeburger Domschule. Dort unterrichteten ihn die „Brüder vom gemeinsamen Leben“, eine katholische Erweckungsbewegung. Von 1498 bis 1501 schickten ihn die Eltern auf die Pfarrschule zu St. Georgen in Eisenach, wo er seine Lateinkenntnisse so vervollständigte, dass er diese Sprache von da an fließend sprechen und schreiben konnte.
Im Frühjahr 1501 begann Luther sein Studium an der Universität Erfurt. Er besuchte wie im Mittelalter üblich zunächst die Artistenfakultät, die Grundkenntnisse in den „Septem artes liberales“ (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) vermittelte. Im Januar 1505 schloss Luther mit dem „Magister artium“ seine akademische Grundausbildung ab. Während seines Studiums erwarb er sich Kenntnisse über die Lehren des Aristoteles, die die mittelalterliche Scholastik beherrschten. Er ward mit dem Nominalismusstreit bekannt.
Auf väterlichen Wunsch setzte Luther zum Sommersemester 1505 sein Studium an der Juristenfakultät fort. Doch am 2. Juli 1505 wurde er nach dem Besuch seiner Eltern in Mansfeld auf dem Rückweg nach Erfurt bei Stotternheim von einem schweren Gewitter überrascht, hatte Todesangst und rief zur Heiligen Anna, der Mutter Marias: „Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!“
Vorerst gegen den Willen seines Vaters trat er am 17. Juli 1505 in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein. Hier übte er die Ordensregeln so genau und streng aus, dass er schon am 27. Februar 1507 zum Diakon und am 4. April desselben Jahres zum Priester geweiht wurde. Trotz täglicher Bußübungen hatte Luther skrupulöse Gewissensnöte. Seine Hauptfrage war: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Die Frage entzündete sich am Sakrament der Buße, die neben der Beichte aller Sünden die aufrichtige Reue aus Liebe zu Gott, nicht aber aus Angst vor Gottes Bestrafung voraussetzt. Luther nahm diese Forderungen sehr ernst. Er erlebte sich als unfähig, aus Liebe, nicht aus Angst, Gottes Gebote zu erfüllen, so dass er an der verheißenen Vergebung zweifelte, und stürzte deshalb in verzweifelte Heilsungewissheit darüber, ob er diese Voraussetzung erfüllen könne oder vielmehr mit einer ungültigen Absolution ewige Verdammnis auf sich ziehen würde.
Sein Beichtvater Johann von Staupitz, der Generalvikar der Kongregation, empfahl Luther für ein Theologiestudium und versetzte ihn im Herbst 1508 nach Wittenberg. An der dortigen Universität lernte Luther die Theologie des Wilhelm von Ockham kennen, sowie die Kirchenväter, vor allem – vermittelt durch die Sentenzen des Petrus Lombardus – Augustinus. Im März 1509 erwarb Luther den Grad des „Baccalarius biblicus“, was ihm erlaubte, kürzere biblische Abschnitte mit den Scholaren zu lesen. Wenige Monate später wurde er „Baccalaureus sententiarius“ und durfte somit nun selbst die „Lombardischen Sentenzen“ auslegen. Kurz darauf wurde er nach Erfurt zurückbeordert.
Im Spätsommer 1511 begab sich Luther zusammen mit einem Mitbruder nach Rom. Die ältere Forschung nahm an, er habe dort im Auftrag seines Erfurter Konvents gegen die Vereinigung der strengen Observanten mit den liberaleren Augustinerklöstern der sächsischen Provinz protestiert. Neuen Forschungsergebnissen zufolge fand die Reise hingegen erst nach der erneuten Übersiedlung Luthers von Erfurt nach Wittenberg statt. Luther dürfte das umstrittene und letztlich gescheiterte Unionsprojekt dabei im Auftrag des Generalvikars von Staupitz, der den jungen Ordensmann durch die Entsendung nach Rom fördern wollte, vor dem Ordensgeneral verteidigt haben. Jedenfalls legte er in Rom seine dritte Generalbeichte ab und erklomm auf Knien die Heilige Treppe am Lateran, um Sündenvergebung für sich zu erlangen und seine verstorbenen Verwandten aus dem Fegefeuer zu befreien. Er zweifelte also damals noch nicht an der römischen Buß- und Ablass-Theorie, war aber entsetzt über den Sittenverfall, die ihm in Rom begegneten. Die Romreise war die längste und weiteste Reise im Leben Luthers, der den thüringisch-sächsischen Raum zuvor noch nie verlassen hatte; sie gilt als ein Schlüsselerlebnis und wurde von Luther selbst in späteren Schriften und Reden immer wieder erwähnt.
Auf Staupitz’ Betreiben siedelte Luther im September 1511 nach Wittenberg um, wo er sich für ein theologisches Doktorat bewarb. Luther und von Staupitz verband bis zu dessen Tod 1524 eine enge Freundschaft. Im Oktober 1512 wurde Luther zum „Doctor Theologiae“ promoviert. Er übernahm als Nachfolger von Staupitz den Lehrstuhl der „Lectura in Biblia“ an der Wittenberger Universität.
In den folgenden Jahren hielt Luther Vorlesungen über die Psalmen und Paulusbriefe. Davon sind einige Originalmanuskripte und wörtliche Nachschriften erhalten. Sie erlauben es, Luthers Entwicklung bis zum Bruch mit der römisch-katholischen Lehre im Detail nachzuvollziehen. Er folgte anfangs noch dem Schema des vierfachen Schriftsinns und deutete das Alte Testament allegorisch auf Christus. Dabei hielt er sich an die überlieferte Bibeldeutung des Neuplatonismus, der Mystik oder der „Devotio moderna“, formte sie jedoch bereits ganz auf den Glauben des Einzelnen hin um. Dessen auswegloser Verlorenheit stellte er schon die unmittelbare Gnade Gottes gegenüber, doch ohne deren Vermittlung durch Kirche und Sakramente, das Papsttum und kirchliche Dogmen zu thematisieren.
1514 wurde Martin Luther zum Provinzialvikar ernannt und übernahm damit zusätzlich zu seiner Lehrtätigkeit in Wittenberg Leitungsaufgaben in seinem Orden, die mit einer erheblichen Visitations- und Reisetätigkeit verbunden waren. Als Vikar unterstanden ihm elf Konvente, darunter sein ehemaliger Heimatkonvent in Erfurt, in dem er 1516 Johannes Lange zum Prior einsetzte.
In der Lutherforschung ist umstritten, wann Luther das Prinzip der Gerechtigkeit Gottes „sola gratia“ zuerst formulierte. In einer späteren Eigenaussage beschrieb Luther diesen Wendepunkt als unerwartete Erleuchtung, die ihm in seinem Arbeitszimmer im Südturm des Wittenberger Augustinerklosters widerfahren sei. Manche datieren dieses Turmerlebnis auf die Jahre 1511 bis 1513, andere um 1515 oder um 1518, wieder andere nehmen eine allmähliche Entwicklung der reformatorischen Wende an.
Unstrittig ist, dass Luther sein Erlebnis als große Befreiung empfand. In der einsamen Meditation über den Bibelvers Römer 1,17 habe er plötzlich entdeckt, was er seit einem Jahrzehnt vergeblich gesucht hatte:
„Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche aus dem Glauben kommt und zum Glauben führt; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): Der Gerechte wird aus dem Glauben leben.“
Dieser Bibelvers führte schließlich zu seinem neuen Schriftverständnis: Gottes ewige Gerechtigkeit sei ein reines Gnadengeschenk, das dem Menschen nur durch den Glauben an Jesus Christus gegeben werde. Keinerlei Eigenleistung könne dieses Geschenk erwerben. Auch der Glaube, das Annehmen der zugeeigneten Gnade, sei kein menschenmögliches Werk. Damit war für Luther die gesamte mittelalterliche Theologie mit ihrer kunstvollen Balance zwischen menschlichen Fähigkeiten und göttlicher Offenbarung zerbrochen. Von nun an nahm er die Kirche, die in all ihren Formen und Inhalten als Vermittlerin der Gnade Gottes an den Menschen ist, zunehmend kritisch in den Blick.
In der Römerbrief-Vorlesung von 1515 lag Luthers neues Verständnis der Rechtfertigung allein aus Gnade Gottes bereits ausformuliert vor, wenngleich noch vermischt mit Denkschemata Augustins und der Mystik von Johannes Tauler. 1516 veröffentlichte er zudem die „Theologia deutsch“, das Werk eines unbekannten Mystikers, das ihn in seiner wachsenden Ablehnung kirchlicher Riten bestärkte.
Ablassbriefe sollten den Gläubigen einen dem Geldbetrag entsprechenden Erlass zeitlicher Sündenstrafen im Fegefeuer für sie oder für bereits gestorbene Angehörige bescheinigen.
Genau ein Jahr vor dem Thesenanschlag in Wittenberg predigte Luther erstmals öffentlich gegen die Ablasspraxis. Im Sommer 1517 las er die vom Mainzer Erzbischof Albrecht verfasste Instructio Summarium, eine Anweisung für die im Land umherreisenden Ablassprediger. Mit einem Teil dieser Einnahmen wollte der Erzbischof seine Schulden bei den Fuggern bezahlen. Diese hatten ihm sein Kurfürstenamt finanziert. Dazu sandte er den Ablassprediger Johann Tetzel nach Sachsen.
Am 4. September 1517 stellte Luther zunächst 97 Thesen vor, um einen Disput über die scholastische Theologie unter seinen Mitdozenten anzuregen. Im Oktober verfasste er weitere 95 Thesen, die direkt auf den Ablass Bezug nahmen, schickte sie in einem Brief an Albrecht und verbreitete sie unter Anhängern. Philipp Melanchthon zufolge soll er diese Thesen am 31. Oktober am Hauptportal der Schlosskirche in Wittenberg angeschlagen haben. Der Thesenanschlag wurde lange Zeit als Legende ohne historisches Fundament betrachtet, gilt jedoch nach der Entdeckung einer handschriftlichen Notiz von Georg Rörer, Luthers langjährigem Sekretär, im Jahr 2006 wieder als wahrscheinlicher. Fest steht allerdings, dass die Ablassthesen schon vor ihrem möglichen Anschlag an der Kirchentür bekannt waren und kursierten und von den Gelehrten diskutiert wurden, sodass der Aushang nicht erst als Anlass der theologischen Diskussion angesehen werden kann, sondern allenfalls bereits auf deren Höhepunkt stattfand.
Die Thesen fanden großen öffentlichen Widerhall, der die Reformation auslöste. Luther protestierte darin weniger gegen die Finanzpraktiken der römischen Kirche, die auch vielen Fürsten und Bürgern missfielen, als gegen die im Ablass zum Ausdruck kommende Bußgesinnung. In einem ebenfalls am 31. Oktober 1517 verfassten Brief an den Mainzer Erzbischof prangerte Luther die Praxis an, dass Ablassprediger den Anschein erweckten, als wäre für einen Ablassbrief keine Reue nötig. Diese scheinbare Milderung bezog sich allerdings nur auf die Käufer des Ablassbriefes, nicht auf diejenigen, deren Sünden vergeben werden sollten. Diese mussten sehr wohl in Reue gestorben sein. Dem Brief an den Erzbischof lag der Tractatus de indulgentiis bei, in dem Luther eine Theologie des Ablasses entwirft. Er zeigte sich hierbei durch die augustinische Bußspiritualität bestimmt. Der Ablasshandel war für ihn nur der Anlass, um der allgemeinen Forderung einer grundlegenden Reform der ganzen Kirche an Haupt und Gliedern Ausdruck zu verleihen. Dabei griff er den Papst noch nicht direkt an, sondern wähnte ihn noch auf seiner Seite. Allerdings sah er die Funktion des Petrus-Nachfolgers beim Nachlass der Sündenstrafen nur in der Fürbitte für die Gläubigen und sprach ihm damit die verbindliche Schlüsselgewalt ab, die den Gläubigen nach der theologischen Ablasslehre letzte Gewissheit über die Aufhebung jenseitiger Sündenstrafen verschaffen konnte. Verständlich waren die Ablassthesen nur dem gelehrten Fachpublikum, das die Feinheiten der theologischen Debatten um die Wirkweise des Ablasses kannte. Für die breitere Bevölkerung verfasste Luther deshalb 1518 den in einfacher und verständlicher Weise abgefassten Sermon von dem Ablass und der Gnade. Luther bediente sich hierin erstmals der Volkssprache und verließ damit die akademische Welt.
Albrecht von Mainz, inzwischen zum Kardinal kreiert, zeigte Luther in Rom an. Tetzel reagierte mit Gegenthesen auf die Disputationsreihe vom September, bei der ihn der Ingolstädter Theologe Johannes Eck unterstützte. Im April 1518 durfte Luther im Auftrag von Staupitz vor der Augustinerkongregation in der Heidelberger Disputation seine Theologie erläutern. Hier grenzte er die exklusive Gnade scharf gegen Aristoteles und die menschliche Willensfreiheit ab. Er gewann eine Reihe von Anhängern, die später zu Reformatoren wurden, darunter Martin Bucer, Erhard Schnepf, Johannes Brenz und Sebastian Franck. Im August berief die Universität Wittenberg außerdem Philipp Melanchthon, der bald Luthers engster Freund und Schüler wurde.
Im Juni 1518 hatte die Kurie Luther nach Rom vorgeladen, um die Gefahr der Häresie in einem Verfahren zu untersuchen. Noch vor dem Termin wurde die Anklage auf notorische Häresie geändert. Er ersuchte aus gesundheitlichen Gründen um eine Anhörung auf deutschem Gebiet, wobei er sich auf die Gravamina deutscher Nation berief. Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der ihn ausliefern sollte, unterstützte ihn dabei.
Damit wurde Luthers Prozess in politische Interessen verwickelt: Papst Leo X. brauchte den Kurfürsten für die anstehende Kaiserwahl und gab seinem Einwand im August 1518 daher statt. Kardinal Thomas Cajetan sollte Luther beim Reichstag zu Augsburg verhören. Vom 12. bis 14. Oktober 1518 sprach Luther dort vor. Er weigerte sich zu widerrufen, wenn er nicht aus der Bibel heraus widerlegt würde. Für Cajetan war er als Häretiker überführt und hätte ausgeliefert werden müssen. Doch Friedrich lehnte dies weiterhin ab. Luther entzog sich der drohenden Verhaftung in der Nacht vom 20. zum 21. Oktober 1518 durch Flucht aus Augsburg.
Im Januar 1519 starb Kaiser Maximilian I.; er hatte seinen Enkel, den spanischen König Karl I., als Nachfolger vorgesehen. Der Papst wollte dies verhindern, da er wegen Karls Besitztümern in Italien eine Umklammerung des Kirchenstaates fürchtete. Deshalb ließ er Luthers Prozess zunächst ruhen und beauftragte Karl von Miltitz, den Kurfürsten für eine friedliche Lösung zu gewinnen. Der römische Gesandte erreichte, dass Luther sich zum Schweigen verpflichtete.
Während der Verfahrenspause stellte Eck Thesen für ein Streitgespräch mit Luthers Wittenberger Dozentenkollegen Andreas Bodenstein (genannt Karlstadt) auf. Sie richteten sich so klar gegen Luther, dass dieser sein Schweigen brach und vom 4. bis 14. Juli 1519 persönlich an der Leipziger Disputation teilnahm. Dort spitzte Eck den Konflikt auf die Frage der Papstautorität zu; Luther wagte die These, der Papst sei erst seit 400 Jahren Führer der Christenheit.
Eck überführte Luther als Anhänger des 100 Jahre zuvor als Häretiker verurteilten Jan Hus; Luther warf Rom im Gegenzug die Abspaltung der Ostkirche vor. Er ordnete das Konzil von Konstanz der Autorität der Heiligen Schrift unter. Dieses hatte das Nebeneinander von drei Päpsten zwar beendet, dabei jedoch die Autoritätsfrage – Konzil oder Papst – nicht geklärt. In diesem Kontext fiel Luthers Satz: „Auch Konzile können irren.“ Damit stellte er die individuelle Gewissensfreiheit im Hören auf die Bibel über autoritative Konsensentscheidungen der Bischöfe. Dies war faktisch der Bruch mit der katholischen Kirche.
Nachdem Karl am 28. Juni 1519 zum Kaiser gewählt worden war, nahm die Kurie Luthers Häresieprozess im Frühjahr 1520 wieder auf. Nach einem weiteren ergebnislosen Verhör vor Cajetan erließ der Papst am 15. Juni 1520 die Bann-Androhungs-Bulle Exsurge Domine. Sie verdammte 41 Sätze Luthers, setzte ihm eine Frist von 60 Tagen zur Unterwerfung und drohte ihm den Kirchenbann an.
Dennoch widmete Luther im Oktober 1520 Papst Leo seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ und appellierte an ein neues Konzil. Am 10. Dezember aber vollzog er den endgültigen Bruch, indem er mit der Verbrennung der päpstlichen Bulle sowie einiger Schriften der Scholastik vor dem Wittenberger Elstertor Aufsehen erregte. Daraufhin wurde er am 3. Januar 1521 mit der Bannbulle Decet Romanum Pontificem exkommuniziert.
Dies und seine reformatorischen Hauptschriften machten Luther im ganzen Reich bekannt. Der Buchdruck, die allgemeine soziale Unzufriedenheit und politische Reformbereitschaft verhalfen ihm zu einem außergewöhnlichen publizistischen Erfolg: Bis zum Jahresende waren bereits 81 Einzelschriften und Schriftsammlungen von ihm erschienen, vielfach in andere Sprachen übersetzt, in insgesamt 653 Auflagen. In vielen Ländern regten sich ähnliche Reformbestrebungen, die sehr stark von den politischen Spannungen zwischen Fürstentümern und Zentralmächten bestimmt wurden.
Kurfürst Friedrich der Weise erreichte durch zähes Verhandeln, dass Luther seine Position vor dem nächsten Reichstag nochmals erläutern und verteidigen durfte. Das zeigt den Niedergang der mittelalterlichen Macht von Papst und Kaiser: Karl V. war der letzte Kaiser, den ein Papst krönte. Am 17. April 1521 stand Luther vor dem Reichstag zu Worms, wurde vor den versammelten Fürsten und Reichsständen verhört und letztmals zum Widerruf aufgefordert. Nach einem Tag Bedenkzeit und im Wissen, dass dies seinen Tod bedeuten könne, lehnte er mit folgender Begründung ab:
„Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, ich kann und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“
Die oft zitierte Version „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“, ist nicht wahr.
Darauf verhängte der Reichstag am 26. Mai 1521 das vom Kaiser gezeichnete Wormser Edikt über ihn: Es verbot unter Berufung auf die Bannbulle des Papstes im gesamten Reich, Luther zu unterstützen oder zu beherbergen, seine Schriften zu lesen oder zu drucken, und gebot, ihn festzusetzen und dem Kaiser zu überstellen. So hätte jeder Luther töten können, ohne dafür belangt zu werden: Er war nunmehr „vogelfrei“. Gemäß der Zusage an seinen Kurfürsten erhielt er freies Geleit. Später bereute Karl V. diese Zusage, weil die folgende Reformation die Einheit seines Reiches zerstörte.
Der Geächtete wurde am Abend des 4. Mai 1521 auf dem Heimweg nahe Schloss Altenstein in Bad Liebenstein von Friedrichs Soldaten heimlich entführt und auf der Eisenacher Wartburg festgesetzt, um ihn der Gefahr zu entziehen.
Auf der Wartburg blieb Luther bis zum 1. März 1522 inkognito als „Junker Jörg“. Auf Anraten Melanchthons übersetzte er im Herbst 1521 das Neue Testament in nur elf Wochen ins Deutsche. Als Vorlage diente ihm ein Exemplar der griechischen Bibel des Erasmus von Rotterdam, zusammen mit dessen eigener lateinischen Übersetzung, sowie der Vulgata des heiligen Hieronymus. Eine erste Auflage des Neuen Testamentes erschien im September 1522 („Septembertestament“). 1523 erschien die erste Teilübersetzung des Alten Testaments; beide zusammen erlebten bis 1525 bereits 22 autorisierte Auflagen und 110 Nachdrucke, so dass rund ein Drittel aller lesekundigen Deutschen dieses Buch besaß. Bis 1534 übersetzte Luther zusammen mit einem Kreis aus Reformatoren und Professoren-Kollegen das übrige Alte Testament aus damals wiederentdeckten Handschriften der Masoreten; beide Testamente zusammen – einschließlich der „Apokryphen“, eigentlich deuterokanonischen Schriften – bilden die berühmte Lutherbibel.
Damit machte Luther biblische Inhalte dem einfachen Volk zugänglich. Zwar gab es vorher schon 14 hochdeutsche und vier niederdeutsche gedruckte Bibelausgaben, jedoch waren diese Übersetzungen durch ihre oft am lateinischen Urtext orientierte Wort-für-Wort-Übersetzung und die meist oberdeutsche Sprachfärbung schwer verständlich. Vor allem aber fußten sie auf der Vulgata, der die griechische Septuaginta zugrunde lag: Sie hatten also zuvor mindestens zwei Übersetzungsschritte hinter sich. Luther dagegen bemühte sich wie die Humanisten um eine möglichst direkte Übersetzung der hebräischen und griechischen Urtexte. Dabei benutzte er auch frühere Übersetzungen wie die Zainerbibel.
Er übersetzte weniger wörtlich, sondern versuchte, biblische Aussagen nach ihrem Wortsinn (sensus literalis) ins Deutsche zu übertragen. Dabei legte er die Bibel gemäß seiner Auffassung aus. Er wollte „dem Volk aufs Maul schauen“ und verwendete daher eine kräftige, bilderreiche, volkstümliche und allgemein verständliche Ausdrucksweise. Sie wirkte bis zur Gegenwart stil- und sprachbildend. So ersann er Ausdrücke wie Feuertaufe, Bluthund, Selbstverleugnung, Machtwort, Schandfleck, Lückenbüßer, Gewissensbisse, Lästermaul und Lockvogel. Metaphorische Redewendungen wie „Perlen vor die Säue werfen“, „ein Buch mit sieben Siegeln“, „die Zähne zusammenbeißen“, „etwas ausposaunen“, „im Dunkeln tappen“, „ein Herz und eine Seele“, „auf Sand bauen“, „Wolf im Schafpelz“ und „der große Unbekannte“ gehen auf ihn zurück.
Die Prinzipien seiner Übersetzungsarbeit hat Luther selbst in seinem Sendbrief vom Dolmetschen von 1530 ausführlich dargestellt und so versucht, sich gegen den katholischen Vorwurf der Textverfälschung zu rechtfertigen. Man hatte ihm zum Beispiel vorgeworfen, bei dem Ausdruck „allein durch den Glauben“, das „allein“ ohne Textgrundlage (lat. „sola) eingefügt zu haben, was Luther aus dem Sinn des Textes begründete.
„Wahr ist’s. Diese vier Buchstaben stehen nicht drinnen. Aber wo man’s will klar und gewaltiglich verdeutschen, so gehöret es hinein.“
„...man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.“
Luthers Sprachform war das Ostmitteldeutsche seiner Heimat, in dem nord- und süddeutsche Dialekte schon teilweise verschmolzen waren, was eine große Verbreitung seiner Schriften ermöglichte. Luthers Sprache ist außerdem eingebunden in die maßgebliche kursächsische Schreibtradition Wittenbergs. Erst durch Luthers theologische Autorität gibt seine Bibelübersetzung dem obersächsisch meißnischen Dialekt den Impuls zum allgemensprachlichen Frühneuhochdeutsch in ganz Deutschland, vor allem im niederdeutschen Raum, später auch im Oberdeutschen. „Das Deutsch seiner Bibel ist wohl der wichtigste Steuerungsfaktor in der jüngeren Sprachgeschichte“.
Seine Bibel gilt daneben auch dichterisch als große Leistung, da sie bis in den Silbenrhythmus hinein durchdacht ist.
Protestanten verwenden die Lutherbibel nach mehreren revidierten Neuauflagen bis heute. Sie ist eine wichtige Basis der Kirchenmusik: viele Kompositionen verwenden Luthers Textfassung für Choräle, Kantaten, Motetten und so weiter.
In Wittenberg predigte Karlstadt inzwischen für weitreichende Gottesdienstreformen: gegen die Klöster, Opfergebete, Bilder in Kirchen und für das Abendmahl mit dem Laienkelch. Ab 1522 setzte der Stadtrat die Neuerungen um und beschloss Maßnahmen gegen Armut und Unzucht, wie sie Luther in seinen Schriften von 1520 vorgeschlagen hatte. Viele Nonnen und Mönche in Sachsen verließen die Klöster. Es kam zu gewalttätige Ausschreitungen gegen Geistliche, die dem katholischen Glauben anhingen, und die Tumulte ebbten nicht ab: Die Zwickauer Propheten, die unter dem Visionär Nikolaus Storch und dem Lutherschüler Thomas Müntzer gegen die Kindertaufe vorgingen und deshalb aus Zwickau ausgewiesen worden waren, verschärften die Unruhen.
Daraufhin folgte Luther dem Hilferuf der Stadtväter und kehrte im März über Borna, wo er den Aschermittwochbrief an den Kurfürsten Friedrich den Weisen verfasste, nach Wittenberg zurück. Mit den acht Invokavitpredigten überzeugte er die Bürger binnen einer Woche von maßvolleren Reformen. Die Liebe, nicht äußere Dinge seien entscheidend; Bilderbeseitigung sei unnötig, da Bilder nicht schadeten. Bis auf die Opfergebete ließ er die römische Messordnung unverändert, führte daneben jedoch das evangelische Abendmahl ein. Sogar die im Vorjahr vom Rat verbotene Fronleichnamsprozession ließ er 1522 zunächst wieder wie früher stattfinden. Nachdem der alte Stadtpfarrer Simon Heins Anfang September 1523 gestorben war, wurde Johannes Bugenhagen auf Luthers Empfehlung um den 25. Oktober 1523 vom Rat der Stadt und den Vertretern der Gemeinde Wittenberg als Stadtpfarrer an der Stadtkirche gewählt. Damit kehrte Ruhe ein, und Karlstadt verließ die Stadt. Am 9. Oktober 1524 gab Luther seine Lebensform als Mönch auf.
Mit Luthers Abgrenzung von den „Schwärmern“ fiel eine Vorentscheidung für den Verlauf der Reformation: Der radikale Bruch mit katholischen Gottesdienstformen blieb ebenso aus wie gleichzeitige tiefgreifende Sozialreformen. Dafür erfuhr Luther nun Unterstützung der Böhmischen Brüder und der gemäßigten Hussiten. Diese bewahrten unter seinem Einfluss ihre hussitische Tradition. Am 29. Oktober 1525 hielt er die erste deutsche Messe ab. Ab Weihnachten wurde sie in Wittenberg üblich. Im folgenden Jahr veröffentlichte Luther eine Gottesdienstordnung.
Katharina von Bora war gemeinsam mit weiteren acht Nonnen zu Ostern im April 1523 aus dem Kloster Nimbschen (Zisterzienserinnen) geflohen und lebte seitdem in Wittenberg. Luther verlobte sich mit ihr am 13. Juni und heiratete sie am 27. Juni 1525. Die Heirat entsprach seiner Lehre, dass die Ehe kein Sakrament sei. Zudem hatte er den Zölibat abgelehnt und die Auflösung der Klöster verlangt.
Katharina unterstützte ihn privat und sorgte durch Unterbringen von Studenten, die zahlreiche Aussprüche Luthers aufschrieben, für Einkommen. Luther hatte mit ihr drei Töchter und drei Söhne, die alle in Wittenberg geboren wurden.
Luthers Wappen war die „Lutherrose“, deren Symbolik er in einem Brief vom 8. Juli 1530 beschrieb.
Luther litt fast sein ganzes Leben lang an zahlreichen Krankheiten. Seine Leiden gelten großenteils als Folge seiner enormen physischen und psychischen Belastungen und seines Lebenswandels.
Nach dem Massaker an etwa 5000 aufständischen Bauern bei Frankenhausen (1525) verlor die Reformation ihren Charakter als Volksbewegung und wurde zur Angelegenheit der Landesfürsten, die aus der Niederlage der Bauern gestärkt hervorgingen. Konsequenz der Zwei-Reiche-Lehre wäre ein völliger Neuaufbau der Kirche auf alleiniger Basis der reformatorischen Theologie gewesen. Luther hielt jedoch wie die meisten Zeitgenossen eine konfessionelle Vielfalt innerhalb eines Territoriums für undurchführbar und empfahl Andersgläubigen auszuwandern. Da sich in deutschsprachigen Gebieten kein katholischer Bischof der Reformation anschloss und eine willkürliche Ausgrenzung Andersgläubiger für Luther von Gott verbotene Amtsanmaßung war, bat er 1525 den sächsischen Kurfürsten darum, als herausragendes Mitglied der Kirche deren Visitation, also die Überprüfung des Klerus auf Glaubenstreue und Amtsführung im Sinne des evangelischen Glaubens anzuordnen. Dieses pragmatische und situationsbedingte Notkonzept wurde in evangelischen Gebieten bald zur Regel und begünstigte dort die Entwicklung zu konfessionellen Landeskirchen, die von den Landesfürsten geschützt, aber auch gelenkt und abhängig waren.
Als die katholischen Reichsstände 1529 auf dem zweiten Reichstag zu Speyer die Aufhebung der bisherigen partiellen Duldung der Evangelischen durchsetzten, legten die evangelischen Stände (fünf Fürstentümer und 14 Städte aus Oberdeutschland) die Protestation zu Speyer ein. Seitdem nennt man die evangelischen Christen auch Protestanten. Beim folgenden Reichstag zu Augsburg 1530 wollten Luthers Anhänger den protestantischen Glauben reichsrechtlich anerkennen lassen. Dazu verfasste Melanchthon das protestantische Glaubensbekenntnis, die „Confessio Augustana“, die Kaiser Karl auf dem Augsburger Reichstag überreicht und schließlich von ihm geduldet wurde. Luther konnte als Geächteter nicht daran teilnehmen und unterstützte seine Anhänger von der Veste Coburg aus, kritisierte aber auch einige der Kompromissformeln Melanchthons als zu entgegenkommend.
Nach dem Augsburger Reichstag trat Luther nur noch als Seelsorger und Publizist hervor. Er hielt bis 1545 Vorlesungen in Wittenberg, ab 1535 fast ausschließlich über die Schöpfungsgeschichte. Mit verschiedenen Stellungnahmen zu theologischen und politischen Einzelfragen versuchte er zudem weiterhin, den Fortgang der Reformation zu beeinflussen, jedoch mit weit weniger direkter Wirkung.
In den Türkenkriegen (1521–1543) benutzte Luther die Gefahr der osmanischen Expansion zunächst für seine kirchenpolitischen Zwecke. Er erklärte, dass es zunächst gelte, den „inneren Türken“, also den Papst zu besiegen, bevor man sich daran machen könne, gegen den Großtürken von Istanbul loszuschlagen, die er beide für Inkarnationen des Antichristen hielt. Als die Gefahr mit der Belagerung Wiens durch die Truppen Sultan Süleymans 1529 auch Mitteleuropa betraf, differenzierte er seine Haltung. In seiner Schrift Vom Kriege wider die Türken erläuterte er, dass der Papst den Türkenkrieg bisher nur als Vorwand zum Kassieren von Ablassgeldern benutzt habe. Die Misserfolge in der Abwehr der osmanischen Expansion erklärte er mit seiner Zwei-Reiche-Lehre: Es sei nun einmal nicht Aufgabe der Kirche, zu Kriegen aufzurufen oder sie selbst zu leiten. Für die Verteidigung gegen die Türken sei allein die weltliche Obrigkeit zuständig, der jeder Mensch Gehorsam schulde, die mit dem Glauben jedoch nichts zu tun habe. Mit dieser Argumentation war jede Vorstellung von einem Kreuzzug gegen die Osmanen unvereinbar. Den Krieg gegen die Türken selbst rechtfertigte Luther als Verteidigungskrieg und mahnte zu gemeinsamem Handeln.
Diese rigide Trennung von geistlichen und weltlichen Zuständigkeiten hob Luther wenige Monate später wieder auf, als er im Herbst 1529 in seiner Heerpredigt wider die Türken diese als Feinde Christi und eschatologische Vorzeichen des bevorstehenden Jüngsten Gerichts hinstellt und es zur Aufgabe gerade der Christen erklärt, „getrost dreinzuschlagen“. Mit diesen entschiedenen Tönen wollte er Vorwürfen den Boden entziehen, er habe sich durch Untergraben der Einheit des Christentums zum Handlanger der Türken gemacht.
So befürwortete er gegen seinen Grundsatz „Ketzer verbrennen ist wider den Willen des Heiligen Geistes“ (1519) die Verfolgung der Täuferbewegung. 1535 beendeten katholische und evangelische Fürsten gemeinsam das Täuferreich von Münster. 1543 erschien Von den Jüden und jren Lügen, 1545 Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet.
Trotz eines schon länger währenden Herzleidens reiste Luther im Januar 1546 über Halle nach Eisleben, um einen Streit der Grafen von Mansfeld zu schlichten. Er starb am Zielort am 18. Februar 1546. Das heutige Haus Andreaskirchplatz 7 wird als sein Sterbehaus bezeichnet, gilt aber nach letzten Forschungen nicht mehr als der historische Ort, an dem Luther verstarb, das wirkliche Sterbehaus war vermutlich das Stadtschloss. Sein Leichnam wurde nach Wittenberg überführt und am 22. Februar in der Schlosskirche beigesetzt. Vormund seiner Kinder wurde sein treuer Anhänger und Freund, der Arzt Matthäus Ratzenberger.
Als seine letzten schriftlichen Worte wird der lateinische Aufschrieb auf einem Zettel vom 16. Februar betrachtet, der nach seinem Tode gefunden wurde:
„Die Hirtengedichte Vergils kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Hirte gewesen. Die Vergilschen Dichtungen über die Landwirtschaft kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Ackermann gewesen. Die Briefe Ciceros kann niemand verstehen, er habe denn 25 Jahre in einem großen Gemeinwesen sich bewegt. Die Heilige Schrift meine niemand genügsam geschmeckt zu haben, er habe denn hundert Jahre lang mit Propheten wie Elias und Elisa, Johannes dem Täufer, Christus und den Aposteln die Gemeinden regiert. Versuche nicht diese göttliche Aeneis, sondern neige dich tief anbetend vor ihren Spuren! Wir sind Bettler, das ist wahr.“


ZWEITES KAPITEL
Melanchthon

Philipp Melanchthons Vater Georg Schwartzerdt stammte aus Heidelberg und war mit dem Amt des kurfürstlichen Waffenschmiedes betraut. Seine Mutter Barbara war eine Tochter von Elisabeth geborene Reuchlin, die die Schwester des Humanisten Johannes Reuchlin war.
Vier Jahre nach der Eheschließung 1493, am 16. Februar 1497, wurde der jungen Familie der Stammhalter Philipp im Hause seiner Großeltern in der kurpfälzischen Stadt Bretten geboren und erhielt seinen Namen zu Ehren des Kurfürsten Philipp des Aufrichtigen von der Pfalz.
Melanchthon wuchs in Brettheim auf, wie Bretten damals genannt wurde. Sein Großvater sorgte für eine gründliche Erziehung, vor allem durch Unterweisung in lateinischer Sprache durch Johannes Unger aus Pforzheim. So kam er schon frühzeitig mit durchreisenden Scholaren in Kontakt und konnte mit diesen diskutieren.
Im Landshuter Erbfolgekrieg gegen die Hessen war sein Vater mit der Betreuung der Geschütze betraut. Als er von einem vergifteten Brunnen trank, kehrte er als kranker Mann nach Hause zurück. Einzig seine tiefe katholische Religiosität half ihm dieses Schicksal und das darauf folgende Siechtum zu ertragen. Mit dem Tod seines Großvaters am 17. Oktober und dem Tod seines Vaters am 27. Oktober 1508 sowie dessen bewegendem Abschied war Melanchthons Kindheit beendet. Als Elfjähriger wurde er nun gemeinsam mit seinem Bruder nach Pforzheim gebracht; er wohnte dort bei Elisabeth Reuter, der Schwester Johannes Reuchlins, mit der er familiär verbunden war.
In Pforzheim besuchte er die Lateinschule, die durch den Rektor Georg Simler aus Wimpfen und Johannes Hildebrand aus Schwetzingen, die nebenbei auch Griechisch unterrichteten, hohes Ansehen und gewaltigen Zulauf hatte. Eine große Anzahl der aus dieser Schule hervorgegangenen Schüler, wie beispielsweise Simon Grynaeus und Kaspar Hedio, haben sich in ihrem späteren Leben – insbesondere als Reformatoren – einen Namen gemacht. Der Begabteste war jedoch Melanchthon, der aufgrund seiner bereits in Bretten erworbenen Kenntnisse mühelos die Anforderungen der Lehranstalt bewältigen konnte.
Durch seine lateinische Versdichtungen und seine Fortschritte in der griechischen Grammatik fiel er Johannes Reuchlin auf, der in Stuttgart lebte und in Tübingen als einer der obersten Richter des Schwäbischen Bundes tätig war. Als Kenner der altgriechischen Sprache förderte Reuchlin durch seine Texte und Übersetzungen die Kenntnisse des Griechischen in Deutschland. In der Folge sollte er Melanchthons größter Förderer werden. Die Lehre der griechischen Sprache wurde damals nur besonders begabten Schülern vermittelt. Reuchlin schenkte Melanchthon ein Exemplar einer griechischen Grammatik und schrieb ihm eine Widmung hinein, die auf Deutsch übersetzt lautet:
„Diese griechische Grammatik hat zum Geschenk gemacht Johannes Reuchlin aus Pforzheim, Doktor der Rechte, dem Philipp Melanchthon aus Bretten, im Jahr 1509 an den Iden des März.“
Damit verlieh Reuchlin dem Philipp Schwartzerdt am 15. März 1509 den Humanisten-Namen Melanchthon, eine Gräzisierung des Geburtsnamens Schwartz – (melan) – und erdt – chthon.
Nach knapp einem Jahr konnte Melanchthon zwölfjährig im Oktober 1509 die Universität Heidelberg beziehen. In Heidelberg fand er im Hause des Theologieprofessors Spangel Unterkunft, wo auch Jakob Wimpheling gelegentlich abstieg. Bereits in Pforzheim hatte er von dessen Schriften zur Reform der Lehr- und Unterrichtsmethoden Kenntnis erhalten und machte ihn mit den Schriften des Erasmus von Rotterdam vertraut. 1510 veröffentlichte Melanchthon in Wimphelings Büchern seine ersten lateinischen Gedichte. Durch seine gründliche Vorbildung bewältigte Melanchthon das Studium in Heidelberg problemlos und erwarb zum frühestmöglichen Zeitpunkt am 18. Juni 1511 den untersten akademischen Grad eines baccalaureus artium.
Nach dem Tode von Spangel 1512 wechselte Melanchthon an die Universität Tübingen. Dort studierte er Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Nebenher beschäftigte er sich mit Griechisch, Hebräisch und Latein. Er las antike Autoren sowie humanistische Dichter und machte Bekanntschaft mit neuen Lehrmethoden. So lernte er auch die Schriften von Rudolf Agricola zur Logik kennen und entnahm ihnen ein neues Verständnis der Dialektik. Zusammen mit Franciscus Irenicus gehörte er dort zu den „Neckar-Genossen“.
Als Reuchlin durch ein Gutachten über das hebräische Schrifttum in einen Prozess verwickelt wurde, setzte Melanchthon sich für seinen Förderer publizistisch ein. Am 25. Januar 1514 schloss er sein Studium an der Artistenfakultät mit dem Magistertitel ab. Bereits in Tübingen war er als Tutor zweier Grafensöhne tätig gewesen und hatte als Griechischlehrer gewirkt. Somit war der Übergang vom Lernenden zum Lehrenden bei Melanchthon fließend erfolgt. In die Tübinger Zeit fallen auch Melanchthons eigene erste Publikationen, so 1516 eine Ausgabe des römischen Komödiendichters Terenz samt einer Einleitung über die Geschichte der antiken Komödie, des Weiteren 1518 eine griechische Grammatik, die bis 1544 neunzehn Auflagen erlebte. Und letztlich arbeitete er an einer Rhetorik, die 1519 in Wittenberg veröffentlicht wurde.
Nachdem Martin Luther 1517 seine 95 Thesen veröffentlicht hatte, fand am 26. April 1518 eine Heidelberger Disputation über die Grundlagen seiner Forderungen an der Universität statt, die bei Melanchthon entscheidenden Eindruck hinterließ. Er begab sich daher mit seinen Studienkollegen nach Wittenberg, um sich die Ansichten Luthers näher erläutern zu lassen. Fortan war Melanchthon gegenüber dem reformatorischen Gedankengut aufgeschlossen.
1518 stiftete Kurfürst Friedrich der Weise an seiner 1502 gegründeten und mehrfach reformierten Universität Wittenberg einen Lehrstuhl für Griechische Sprache. Zunächst versuchte man für den neu eingerichteten Lehrstuhl den damals bekanntesten Gräzisten Johannes Reuchlin zu gewinnen. Dieser lehnte jedoch aus Altersgründen ab und empfahl seinen Zögling Melanchthon für die Stelle. Da Melanchthon während seiner Tübinger Zeit bereits auf sich aufmerksam gemacht hatte, nahm man die Empfehlung Reuchlins an und trug Melanchthon die Aufgabe an. Dieser verabschiedete sich von seinen bisherigen Wirkungsstätten und erreichte Wittenberg am 25. August 1518. Seine schmale und kleine äußere Gestalt von 1,50 Meter, verbunden mit einem kleinen Sprachfehler, beeindruckte die Wittenberger zunächst wenig. Als jedoch Melanchthon seine ausgefeilte und flammende Antrittsrede am Samstag, dem 28. August, in der Schlosskirche von Wittenberg hielt, schlug der erste Eindruck völlig um.
Melanchthon sprach über eine Universitätsreform und malte zunächst ein düsteres Bild der Bildung vergangener Jahrhunderte. Er verfolgte den Leitgedanken, dass die Lektüre der antiken Schriftsteller aus den ursprünglichen Quellen durch humanistische Studien zum Quell neuen Lebens und Denkens werden könne. Damit traf er den Puls der Zeit im damaligen Wittenberg, und Martin Luther war sogleich fasziniert von dem kleinen „Graeculus“ (Griechlein). Diese Faszination beruhte auf Gegenseitigkeit und wurde in der Folge zu einer der wichtigsten Kooperationen der Reformation, die erst mit Luthers Tod endete.
Schnell erkannten auch die Studenten, welches Potential Melanchthon in sich barg; er war daher ein überaus beliebter Universitätslehrer. Er lehrte griechische Grammatik, las über antike Autoren, erklärte biblische Bücher und verband dies mit Wissensbildung auf zahlreichen Gebieten. Oft hatte er bis zu 400 Zuhörer, die vor allem seine präzise Sprache, die Fülle an Beispielen und die klare Gliederung seiner Ausführungen schätzten.
Durch den Einfluss Luthers erwarb Melanchthon den akademischen Grad eines baccalaureus biblicus am 19. September 1519. Dadurch war er befähigt, auch an der theologischen Fakultät Vorlesungen zu halten. Obwohl Melanchthon zeitlebens davon Gebrauch machte, bevorzugte er jedoch die philosophische Bildung, die man als Voraussetzung der theologischen Bildung verstand. Als man ihm 1525 eine besonders gut dotierte Professur schuf, die ihn von den Fakultätszwängen befreite, änderte sich hier auch nicht des Praeceptors Einstellung. Es ist hierin kein mangelndes Interesse gegenüber der Kirche zu sehen. Vielmehr fühlte sich Melanchthon aufgrund seiner körperlichen Schwäche und seines Sprachfehlers nicht zum Priester berufen, was auch die Tatsache erklärt, dass Melanchthon nie die christlichen Sakramente gereicht hat. Vielmehr war für ihn das geistige Potential der Theologie wichtig, und so stieg unter seiner Mitwirkung neben Luther die Universität Wittenberg zur bedeutendsten Universität in Europa auf.
Melanchthon mietete sich nach seiner Ankunft in Wittenberg ein schlichtes Haus, das er oft auch als Bude bezeichnete. Dort wohnte er mit seinem Gehilfen zusammen. Luther fürchtete jedoch um die Gesundheit Melanchthons, die durch die Männerwirtschaft offensichtlich beeinträchtigt wurde. Um Melanchthons Lebensumstände zu verbessern, aber auch um ihn in Wittenberg zu halten, suchte Luther für Melanchthon 1520 eine Frau. Von dieser Idee war Melanchthon jedoch nicht sehr begeistert. Der junge arbeitswütige Professor fürchtete um den Fortgang seiner Studien. Jedoch gelang es Luther, dass er endgültig am 27. November 1520 Katharina heiratete, die Tochter des Tuchhändlers und Bürgermeisters von Wittenberg Hans Krapp und dessen Frau Katharina. Luther, der selbst eine eigentlich ungewollte Ehe einging, wusste um die Wirkung eines Zusammenlebens, und so geschah es auch, dass sich bei Melanchthon und seiner Frau durch das allmähliche Kennenlernen eine Gemeinschaft bildete, in der sich die beiden schätzen lernten.
Obwohl seine Frau aus einem angesehenen Hause stammte und Melanchthon als Professor an der Universität gut verdiente, gab es im Hause Melanchthon nie einen größeren Wohlstand. Ständige Besuche von Universitätsangehörigen, die sich bei diskutierenden Tischrunden im Hause Melanchthons versammelten, junge Studenten, die Melanchthon in seiner „schola domestica“ als persönlicher Mentor unterrichtete und versorgte, schmälerten das finanzielle Budget des Haushalts.
Melanchthon erlangte durch sein Wirken in Wittenberg bald ein so hohes Ansehen, dass ihm Angebote anderer Universitäten in Deutschland und Europa unterbreitet wurden. Johann Friedrich I. (Sachsen) wollte jedoch den angesehenen Professor in Wittenberg halten und errichtete auf dem Grundstück seiner Bude 1536 ein standesgemäßes Haus, das heute als Melanchthonhaus in Wittenberg bekannt ist. Als Familienvorstand widmete er sich mit Hingabe seinen geliebten Kindern und die Sorge um die Kinder schweißte das Ehepaar Melanchthon zusammen. Als Vater litt er an schlaflosen Nächten, als sein zweiter Sohn bereits nach zwei Jahren verstarb und als seine erstgeborene Tochter, die er selbst allseitig bildete, eine unglückliche Ehe mit Melanchthons einstigem Schüler Georg Sabinus, dem Gründungsrektor der Universität Königsberg, einging. Das Zusammenleben mit Melanchthon war jedoch nicht immer einfach. So konnte er, wenn es ihm gegen den Strich ging, recht jähzornig werden. Dies bekam auch sein Sohn Philipp zu spüren, als er sich heimlich mit der Leipzigerin Margaretha Kuffner verlobte, was der Vater nicht in einer Ehe enden ließ.
Dem stets Verantwortung für andere Menschen empfindenden Melanchthon bereiteten seine Pflichten als Hausvater und Ehemann Last und Sorge. Neben seiner ungebrochenen Zuversicht in Gottes Fürsorge und Barmherzigkeit half ihm seine fürsorgliche Ehefrau. Als sie am 11. Oktober 1557 verstarb und der langjährige Familienfreund Joachim Camerarius der Ältere dies Melanchthon, der in Worms beim letzten großen Religionsgespräch weilte, am 27. Oktober mitteilte, empfand er großen Verlust und sehnte sich danach, ihr bald folgen zu können.
Melanchthon war von zarter Statur und erweckte mit seiner leisen Stimme stets den Eindruck starker Gefährdung. Im krassen Gegensatz dazu stand seine Arbeitsleistung und Zähigkeit bei Verhandlungen. Die ständige Überbelastung blieb nicht ohne Folgen. Schon von Jugend an litt er unter Schlaflosigkeit und war zudem auf eine ausgewogene Schonkost angewiesen.
Im Frühsommer 1540 erkrankte er auf der Reise zum Hagenauer Religionsgespräch in Weimar schwer. Luther eilte zur Trostspende zu Melanchthon und fand ihn ohnmächtig, mit eingefallenem Gesicht und gebrochenen Augen. Jedoch konnte sich Melanchthon von diesem Schwächeanfall wieder erholen und setzte seine Arbeit weiter fort. Auf einer Reise nach Regensburg im März 1541 stürzte sein Reisewagen um, und er erlitt schwere Verletzungen, die ihn eine gewisse Zeit beim Schreiben behinderten und das Erscheinen seiner Akten über die Verhandlungen beim Regensburger Reichstag verzögerten.
Von einer Reise nach Leipzig im Jahre 1560 kam er am 4. April erkältet zurück. Während der Nacht vom 7. zum 8. April bekam er Fieber, das mit kurzen Unterbrechungen immer wiederkehrte. Trotz der Betreuung durch seine Tochter Magdalena nahmen seine Kräfte immer mehr ab. Am 11. und 12. April 1560 hielt er letztmals Vorlesungen und Ansprachen. Am 14. April wollte er nochmals eine Vorlesung halten, doch wurde diese ohne sein Zutun abgesagt. Am 19. April versammelten sich Tochter und Schwiegersohn mit dem Hausfreund Joachim Camerarius um Melanchthon in seinem Haus, um ihm das letzte Geleit zu geben. Vor dem Hause beteten Studenten für ihren Professor. Gegen 19 Uhr wurden Hände und Füße kalt und sein Puls setzte aus.
Nach einer Gedächtnisrede des Professors Veit Winsheim fand er an der Seite seines einstigen Mitstreiters Martin Luther, unter dessen aggressiver Art er oft gelitten, in der Schlosskirche Wittenberg seine letzte Ruhestätte.



DRITTES KAPITEL
Johannes Calvin

Johannes Calvin war der zweite von vier Söhnen der Eheleute Gerard Cauvin und Jeanne geb. Le Franc. Calvins Vater stammte aus einer Schifferfamilie, hatte es aber bis zum Generalprokurator des katholischen Bischofs Charles de Hangest und des Domkapitels von Noyon gebracht. Calvins Mutter war die aus einer flämischen Familie stammende Tochter eines Gastwirts. Besonders die Mutter erzog den kleinen Jean in der römisch-katholischen Frömmigkeit. Sie starb, als er erst fünf Jahre alt war.
Calvins Vater sorgte dafür, dass sein Sohn die Lateinschule seiner Heimatstadt Noyon besuchte, damit er einmal studieren könnte. Durch den Kontakt des Vaters zu der adligen Familie de Hangest-Montmort hatte er ab 1520 Umgang mit deren gleichaltrigen Söhnen. Er durfte an deren Hausunterricht teilnehmen und lernte so auch adelige Umgangsformen.
Calvin erhielt ab 1521 als Pfründe ein Viertel der Einkünfte eines Kaplans an der Kathedrale von Noyon, womit er sein Studium selbst finanzieren konnte. Im Hochsommer 1523 brach er zum Studieren nach Paris auf. Zunächst wohnte er bei seinem Onkel, dem Schlosser und Schmied Richard Cauvin; dann fand er einen Platz im Collège de la Marche. Er begann mit dem Grundstudium, dem Studium der „Sieben freien Künste“: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Doch schon nach wenigen Monaten bestimmte das Domkapitel in Noyon, dass er auf das Collège de Montaigu an der Sorbonne wechseln solle. 1528 erwarb er den Titel „Magister artium“.
Hiernach forderte sein Vater ihn auf, nicht Theologie, sondern Rechtswissenschaft zu studieren. Inzwischen war nämlich dieser in Streit mit seinem kirchlichen Arbeitgeber über die Verwaltung zweier Erbschaften geraten, in dessen Verlauf der kleine Kirchenbann über ihn verhängt worden war. Calvin ging nach Orléans, 130 km südlich von Paris, um dort Römisches Recht zu studieren. Dort gelang es dem Deutschen Melchior Volmar, Lehrer für Griechisch und Anhänger Luthers, ihn für humanistische Studien zu begeistern. Später wechselte Calvin nach Bourges. Er war ein eifriger Student, der über ein hervorragendes Gedächtnis verfügte und auch nachts las und arbeitete. Dank seines Wissens erwarb er sich grosse Anerkennung bei seinen Professoren und Mitstudenten. Er schloss das Studium als Lizentiat der Rechte ab. Die Fakultät bot ihm die Würde eines Doktors an, die er jedoch ablehnte.
Im Frühjahr 1531 verstarb sein Vater. Calvin, der zu dem Sterbenden geeilt war, musste miterleben, wie diesem, der jahrzehntelang im Dienst der Kirche gestanden hatte, die Totenmesse verweigert wurde, weil er im kleinen Kirchenbann war.
Anschließend ging er wieder nach Paris. Er gab die Juristerei auf und wandte sich ganz den humanistischen Studien zu. Diese betrieb er an dem 1530 von König Franz I. gegründeten Collège des trois langues (Kolleg der drei Sprachen: Hebräisch, Griechisch, Latein), das als Gegengewicht zu der konservativen, im Geist der Scholastik beharrenden Sorbonne etabliert worden war.
Im Haus seines Wohnungsgebers, des reichen Tuchhändlers Étienne de la Forge, der Martin Luthers Gedanken verbreitete, traf sich heimlich ein Kreis Evangelischer Christen. Dazu gehörte auch Gérard Roussel, Prediger am Hof des Königs. Calvin, der an diesen Versammlungen teilnahm, beschäftigte sich mit der reformatorischen Lehre.
Im April 1532 veröffentlichte er als erste Frucht seiner humanistischen Studien einen Kommentar zu Senecas De clementia („Über die Milde“), in dem er Kritik an dem großen Humanisten Erasmus von Rotterdam übte, naturgemäß aber nur für ein kleines Publikum bestimmt war.
1533 führte die Schwester des Königs, Margarete von Navarra, in Paris für mehrere Monate die Regierungsgeschäfte für ihren in Madrid gefangengehaltenen Bruder. Sie stand der evangelischen Lehre nahe. Zu den biblischen Predigten ihres Beichtvaters, des Hofpredigers Gérard Roussel, kamen Tausende.
Calvins Freund Nikolaus Kop war zum neuen Rektor der Universität berufen worden. Für Allerheiligen 1533 stand eine Antrittsrede vor den Vertretern der Universität und vor kirchlichen Würdenträgern an. Calvin und sein Freund entwickelten gemeinsam diese Antrittsrede, in der die althergebrachte Scholastik als „Ketzerei“ bezeichnet, die lutherische Lehre als „rechtgläubig“ dargestellt wurde und offen zur Akzeptanz der Evangelischen aufgerufen wurde. Die Folge war ein Tumult unter den Zuhörern und eine Anzeige gegen Nikolaus Kop beim höchsten Pariser Gericht, dem Parlement. Kop und seine Freunde mussten fliehen. Calvin selbst seilte sich, während die Verfolger schon an die Tür klopften, an zusammengebundenen Leinentüchern aus einem Fenster zum Hof ab.
St. Nikolaus in Straßburg, wo Calvin ab 1538 predigte
Calvin flüchtete zunächst nach Angoulême zu seinem ehemaligen Mitstudenten, Louis du Tillet, der inzwischen Pfarrer und Domherr an der Kathedrale von Angoulême geworden war, und verbarg sich unter dem Decknamen „Charles d’Espeville“. Im April 1534 begab er sich kurz in seine Heimatstadt Noyon, um seine Pfründe offiziell zurückzugeben. Von dort aus ging er an den kleinen Hof Margaretes von Navarra in Nérac. Hier hatten inzwischen auch andere reformatorisch denkende Persönlichkeiten Zuflucht gefunden, so Gérard Roussel sowie der Humanist und Luther-Kenner Jacques Lefèvre d’Étaples (alias „Faber Stapulensis“), Übersetzer der lateinischen Bibel (Vulgata) ins Französische und ehedem Mittelpunkt eines reformatorisch gesinnten Kreises in Paris.
Als Frucht seines Studiums, vieler Gespräche und tiefen Nachdenkens über das bisher Erlebte bildete sich offenbar während dieser Zeit Calvins bewusste Entscheidung für die Reformation heraus. Zugleich begann er in der Abgeschiedenheit seines Exils mit der Systematisierung seiner Anschauungen.
Einerseits war es, wie bei Martin Luther, die Botschaft von der rechtfertigenden Gnade Gottes in Jesus Christus „allein“, die auch für ihn eine Befreiung gewesen war. Er selbst sagte später:
„Sooft ich mich nämlich in mich vertiefte oder das Herz zu Dir erhob, erfasste mich eine wahnsinnige Angst, von der mich keine Sühnemittelchen und keine Bußwerke heilen konnten. Je näher ich mich betrachtete, umso schärfer trafen Stacheln mein Gewissen. Inzwischen trat eine erheblich hiervon abweichende Form der Lehre ans Licht, die uns zwar nicht vom christlichen Herkommen abbrachte, sondern die uns zu seiner Quelle zurückleitete. Sie gab der Heilslehre wie einer vom Schlamm gereinigten Gestalt die ursprüngliche Gestalt wieder.“
Andererseits scheute sich Calvin, sich von der katholischen Kirche zu trennen.
„Zunächst war ich dem Aberglauben des Papsttums so hartnäckig erlegen, dass es nicht leicht war, mich aus diesem Sumpf herauszuziehen. Darum hat Gott mein trotz seiner Jugend schon recht starres Herz durch eine unerwartete Bekehrung zur Gelehrsamkeit gebracht.“
Nachdem sich die Aufregung um die Kop-Affäre gelegt hatte, ging Calvin zurück nach Paris und besuchte den Kreis reformatorisch gesinnter Personen, die er von früher kannte. Michael Servetus bat ihn um ein Treffen, erschien dann jedoch selbst nicht.
„Ich war bereit, in Paris mein Leben für ihn zu wagen, um ihn, wenn möglich, für unseren Heiland zu gewinnen; aber obwohl er das Opfer, das ich ihm anbot, sah, wollte er keinen Gebrauch davon machen.“
Kaum hatte sich Calvin entschieden der Reformation zugewandt, strömten ihm Menschen zu, die ihn hören wollten. Er reiste umher. In Crotelles teilte er, der kein geweihter Priester und auch kein examinierter Theologe war, zum ersten Mal das Abendmahl aus – unter beiderlei Gestalt (Brot und Wein).
Am 18. Oktober 1534 wurden überall in Paris sowie am Schlafgemach des Königs, der gerade in Amboise weilte, antikatholische Plakate entdeckt:
„Wahrhaftige Artikel über den abscheulichen, großen und unerträglichen Missbrauch der päpstlichen Messe.“
Der König geriet in Zorn und ordnete die Verfolgung der Evangelischen an. Das Parlament führte zahlreiche Ketzerprozesse; bald darauf wurden überall Menschen auf Scheiterhaufen verbrannt, darunter auch Calvins früherer Gastgeber, Étienne de la Forge. Calvin verließ wieder einmal Paris. Mit seinem Freund Louis du Tillet gelangte er nach Straßburg, damals eine Freie Reichsstadt, und wurde dort von Martin Bucer, dem Reformator der Stadt, empfangen.
Auf seiner Flucht kam er 1535 ins evangelische Basel. Unter dem Decknamen Martianus Lucianus nahm er sich eine Wohnung. Hier, in Basel, traf er Nikolaus Kop wieder. Bei dem Humanisten Simon Grynäus, einem herausragenden Griechischlehrer der damaligen Zeit, nahm er Unterricht; drei Jahre später widmete er ihm in Dankbarkeit seinen Kommentar zum Römerbrief. Calvin vervollkommnete zur gleichen Zeit seine Fähigkeiten im Hebräischen. Er lernte Heinrich Bullinger und Guillaume Farel kennen und bekam nun auch wieder eine Verbindung zu seinem Vetter Pierre-Robert Olivétan, der die Bibel ins Französische übersetzt hatte (Bible de Genève). Olivetan bat ihn, eine Vorrede zu seiner Bibelübersetzung beizusteuern. Die Vorrede wurde Calvins erste theologische Veröffentlichung.
Hauptsächlich arbeitete er jedoch an seiner Institutio Christianae Religionis („Unterricht in der christlichen Religion“). Dabei war Calvin von der Verfolgung seiner Glaubensgenossen in Frankreich bewegt und wollte darlegen, dass sie keine Ketzer und Rebellen seien, sondern seriöse Erneuerer des biblischen Glaubens und der „wahren Kirche“. Er widmete die Institutio dem französischen König Franz I.. Calvin vollendete die Institutio, die zunächst sechs Kapitel umfasste, am 23. August 1535. Im März 1536 wurde sie dann gedruckt und veröffentlicht. Bis 1559 wurde die Institutio fortlaufend erweitert, wuchs zu einem als bedeutend geltenden Lehrwerk des christlichen Glaubens im reformatorischen Sinne heran und wurde zunächst ins Französische, dann später in viele andere Sprachen übersetzt.
Im Winter 1535/36 zog Calvin nach Ferrara. Die gebildete Herzogin Renata von Ferrara, Schwägerin des französischen Königs, unterstützte seine humanistischen und reformatorischen Bestrebungen. Sie und Calvin blieben dauerhaft freundschaftlich miteinander verbunden.
Im Mai 1536 war Calvin wieder in Basel. Die Institutio hatte ihn inzwischen bekannt gemacht. Da König Franz I. die Verfolgung der Evangelischen für beendet erklärt hatte, reiste Calvin noch einmal nach Noyon, ordnete verbliebene Angelegenheiten und trat mit seinem jüngeren Bruder Antoine und seiner aus der zweiten Ehe des Vaters stammenden Stiefschwester Marie die Rückreise an. Um Kriegshandlungen in Savoyen zu umgehen, wollte er über Genf nach Straßburg reisen. Der reformatorische Prediger Guillaume Farel hielt ihn in Genf fest und beschwor ihn, sich dort für die Sache der Reformation einzusetzen. Calvin erarbeitete eine Gemeindeordnung mit strenger Kirchenzucht, die das gesamte öffentliche und private Leben einer minutiösen Regulierung unterwarf und durch äußerst effiziente Überwachungsmaßnahmen sowie ein rigides weltliches und geistiges Strafregiment selbst bei geringfügigen Verstößen eine Atmosphäre der Denunziation und Angst verbreitete, in der es keinerlei individuellen Spielraum mehr gab. Im Kern ging es um die Verpflichtung zur regelmäßigen Beteiligung an Gottesdienst und Predigt sowie um die Unterdrückung sämtlicher privater Vergnügungen und Neigungen. Sie stieß zunächst auf heftige Widerstände. 1538 wurden er und Farel aus Genf verwiesen, da sie der gesamten Gemeinde das Abendmahl versagten. Dies war eine Protestaktion der beiden als Reaktion auf die Tatsache, dass der Genfer Rat einige Rituale und Bräuche wie zum Beispiel die Verwendung des Taufbeckens oder der Hostie bei der Abendmahlsfeier einführen wollte, um damit der verbündeten Stadt Bern zu gefallen. Infolge der Ausweisung aus Genf kam Calvin 1538 nach Straßburg, wo er eine biblische Professur innehatte und die französische Flüchtlingsgemeinde betreute. Durch Kontakt mit dem dort ansässigen Martin Bucer wurde Calvin in seiner Theologie geprägt, beispielsweise in der Prädestinationslehre (Vorherbestimmung vieler zur Hölle) und im Abendmahlsverständnis (keine Transsubstantiation und Realpräsenz, sondern bloße Gedächtnisfeier). Calvin predigte und hielt Gottesdienste in den Kirchen St. Nikolaus, St. Magdalena und der Dominikanerkirche ab. 1539 erhielt er das Bürgerrecht.
Um jedoch die kirchliche und politische Ordnung zu stabilisieren, bat der Rat der Stadt Calvin 1540 um seine Rückkehr in die Stadt. In längeren Verhandlungen setzte Calvin Zugeständnisse für seine Rückkehr durch, unter anderem die Zusage, eine Kirchenordnung, einen Katechismus und die Kirchenzucht einzuführen. Im September 1541 kehrte Calvin nach Genf zurück, und noch im gleichen Jahr entstand unter seiner Federführung die Genfer Kirchenordnung. 1542 folgte der zweite Genfer Katechismus.
In der Folgezeit kam es zwischen dem Rat der Stadt und Calvin immer wieder zu Spannungen, weil er mehr Selbständigkeit für die Kirche forderte, als der Rat zugestehen wollte. Vieles geschah aber auch im Konsens, nicht zuletzt die Verbannungen von Theologen, die eine aus Sicht Calvins und des Rats falsche Lehre vertraten. Im Oktober 1553 kam es zur Hinrichtung des spanischen Arztes Michael Servetus, der auf Veranlassung Calvins durch Beschluss des Rats der Stadt zum Tode verurteilt wurde, weil Servetus die Trinitätslehre ablehnte. Calvin war, wie auch in zahlreichen weiteren Fällen von Verbannungs- und Todesurteilen, eindeutig der Hauptverantwortliche für Servetus’ öffentliche Hinrichtung in Genf. Servetus wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Am 10. August 1540 heirateten Calvin und Idelette de Bure. Sie war ein Mitglied der Straßburger Flüchtlingsgemeinde, war seit kurzem verwitwet und brachte zwei Kinder mit in die Ehe. Der am 28. Juli 1542 geborene gemeinsame Sohn Jacques starb im Alter von etwa vier Wochen. Idelette de Bure starb am 29. März 1549 in Genf.
1552 und 1553 setzte sich Calvin für die Freilassung der Fünf Märtyrer von Lyon ein, fünf im römisch-katholischen Lyon inhaftierte reformiert gesinnte Theologen, die kurz zuvor ihr Studium in Lausanne und Genf abgeschlossen hatten, und betreute sie brieflich auch seelsorgerlich: Ihre Lehre entsprach seiner eigenen. Sie starben am 16. Mai 1553 auf dem Scheiterhaufen.
Calvins Arbeit wurde nach und nach nicht nur in Genf anerkannt, obwohl er noch bis 1555 stark umstritten war. In Kirchenkreisen war er aber nach dieser Zeit doch äußerst einflussreich. Da Calvin lange noch französischer Bürger war, konnte er zwar keinem politischen Gremium angehören, übte aber gestützt auf seine überragende Autorität, die es ihm ermöglichte, sich die politischen Gremien gefügig zu machen, gleichwohl schließlich geradezu diktatorische Macht aus. Vierzehn Jahre kämpfte Calvin mit dem Rat und den politischen Instanzen der Stadt Genf um die Macht. Er vermochte sowohl die Geistlichkeit als auch die in kirchlichen Dingen allmächtige Oberinstanz des Konsistoriums geschlossen hinter sich zu bringen. Zudem konnte er auf die Ergebenheit der Glaubensflüchtlinge zählen. Desgleichen verstand er sich bei einem Teil der städtischen Politiker in Respekt zu setzen. Mit dieser Hausmacht brachte er auf dem Umweg über das kirchliche Sittenregiment, die Kirchenzucht, einzelne Personen und kleinere Gruppen seiner politischen Gegner aus der altgenferischen Führungsschicht nach und nach zu Fall. Im Jahr des Augsburger Religionsfriedens, 1555, gewannen seine Anhänger in den entscheidenden politischen Gremien des Stadtstaats die Mehrheit. Seitdem war Calvin der mächtigste Mann in Genf. Nach dem Umschwung von 1555 machten seine Anhänger von der Macht, die sie legal ergriffen hatten, gegen die politische und kirchliche Opposition rigoros Gebrauch. Sie verbannten ihre Gegner, ließen Todesurteile fällen und konfiszierten das Vermögen der Missliebigen. Angehörige der wohlhabenden Schichten verließen in Mengen die Stadt.
Bereits das 1553 ergangene Todesurteil gegen Michael Servetus war unter dem bestimmenden Einfluss Calvins zustande gekommen, den der Genfer Rat „als Ankläger und, wie in anderen Fällen auch, als juristisch-theologische Sachverständigen zugleich zum Prozeß heran“ zog. Die Anzeige war von Calvins Privatsekretär Nicolas de la Fontaine zweifellos im Auftrage seines Herrn erhoben worden. Aus der Untersuchungshaft, die das Genfer Prozessrecht auch für den Ankläger vorsah, war er bezeichnender Weise aufgrund einer Bürgschaft von Calvins Bruder Antoine Calvin nach nur einem Tag entlassen worden.
1559 gründete Calvin die Genfer Akademie, die zur Hochschule des Calvinismus wurde.
Nach jahrelanger Krankheit starb er 1564 in Genf. Sein Grab befindet sich auf dem Cimetière des Rois im Genfer Stadtteil Plainpalais.



VIERTES KAPITEL
Huldrych Zwingli

Zwinglis Taufname lautete im Gedenken an den Heiligen Ulrich von Augsburg Ulrich. Erst mit der Zeit begann Zwingli selbst, seinen Vornamen zu Huldrych zu verändern; dies wohl als humanistisch-volksetymologische Spielerei.
Der Familienname leitet sich von „Twing“ her. Twing bezeichnet ein umfriedetes Bauerngut.] Ulrich selbst dachte zuweilen an „Zwilling“ und nannte sich daher in einigen Texten in der zu dieser Zeit sehr beliebten latinisierten Namensform „Geminius“. Martin Luther und andere Widersacher nannten ihn bisweilen „Zwingel“, da er die Heilige Schrift in seinem Sinne zwinge.
Ulrich Zwingli wurde als Sohn des Bauern und Amtmanns Johann Ulrich Zwingli und der Maria Bruggmann, die in zweiter Ehe mit Zwingli verheiratet war, am 1. Januar 1484 in Wildhaus im Toggenburg als drittes Kind seiner Eltern geboren. .
Zwingli hatte neun Geschwister. Bereits im Alter von sechs Jahren verließ Zwingli sein Heimatdorf und lebte während der nächsten vier Jahre als Schüler bei seinem Onkel, dem Dekan Bartholomäus Zwingli, in Weesen. 1494 wechselte er an die Lateinschule in Basel und später an die Lateinschule in Bern. Wegen seiner großen Musikalität hätten ihn dort die Dominikaner gern in ihr Kloster aufgenommen, doch sein Vater war dagegen. So verließ Zwingli 1498 Bern und begann als Fünfzehnjähriger sein Studium an der Universität Wien; dort immatrikulierte er sich als „Udalricus Zwinglij de Glaris“. Von 1502 bis 1506 studierte er an der Universität Basel und schloss mit dem Titel Magister artium ab. Nach dem Magisterexamen studierte er noch sechs Monate Theologie und wechselte danach wie viele seiner Zeitgenossen ohne abgeschlossenes Theologiestudium in die kirchliche Praxis. Im September 1506 wurde Zwingli zum katholischen Priester geweiht.
Im Spätsommer 1506 wurde Zwingli als Kirchherr zum leitenden Pfarrer in Glarus gewählt. Am 21. September 1506 erfolgte mit einem feierlichen Essen die Einführung in sein Amt. Warum die Glarner gerade den 22-jährigen Magister beriefen, ist unklar. Zum einen dürfte Zwingli ihnen empfohlen worden sein. Zum anderen wollten die Glarner ihren Priester selber wählen und nicht den Vorschlag des Bischofs von Konstanz übernehmen.
Die Glarner Pfarrei umfasste mehrere Dörfer. Der Hauptort umfasste mit Riedern zusammen rund 1300 Einwohner. Für die geistliche Versorgung war Zwingli zusammen mit drei Kaplänen zuständig. Über die Tätigkeit Zwinglis in Glarus ist wenig bekannt. Die wenigen Zeugnisse lassen keine Kritik an der Kirche erkennen. Er las die Messe und erteilte die Absolution. 1512 schrieb er an Papst Julius II. und bat um Ablass für die Glarner. Zwingli war auch Feldprediger und nahm von 1512 bis 1515 an den Feldzügen der Italienischen Kriege, insbesondere an der Schlacht bei Marignano, der Glarner für den Papst gegen die Franzosen in der Lombardei teil.
Der Bauernsohn Zwingli war sehr volksverbunden. Im Laufe der Zeit lernte er alle seine Kirchgenossen kennen. Zu einzelnen Familien hatte Zwingli mehr als nur offiziellen Zugang gefunden. So übernahm der Geistliche die Patenschaft für verschiedene Kinder. Zwinglis ungebrochene Kirchlichkeit zeigt sich auch im Bestreben, einen Splitter des Kreuzes Christi nach Glarus zu holen, das ihm gelang. Um den Splitter würdig aufzubewahren, musste die alte Glarner Pfarrkirche erweitert werden. Auch dafür setzte sich Zwingli mit Erfolg ein. 1510 wurde die Kreuzkapelle angebaut, die ihren Namen von diesem Kreuzsplitter erhielt.
In den Glarner Jahren bildete sich Zwingli intensiv fort. Mit großem Eifer studierte er viele Werke der antiken Klassiker und der Kirchenväter. Außerdem lernte er Griechisch und konnte so den Urtext des Neuen Testaments lesen, den Erasmus von Rotterdam 1516 in einer kritischen Edition veröffentlicht hatte. Durch den Humanisten Erasmus lernte Zwingli, einen anderen Sinn in den biblischen Texten zu suchen und zu erkennen. Dadurch fand er einen neuen, für ihn befreienden Zugang zur Heiligen Schrift. Trotz der Abgeschiedenheit des Bergtales Glarus stand Zwingli in regem Kontakt mit den Gelehrten seiner Zeit und war dadurch stets unterrichtet über das Erscheinen neuer Bücher. Zwingli besaß am Ende seiner Glarner Zeit die damals bedeutende Zahl von 100 Büchern.
Zwingli wollte sein Wissen weitergeben. Auf seine Veranlassung stimmte die Landsgemeinde 1510 der Gründung einer Lateinschule zu. Auf dieser höheren Schule konnten die Knaben Grundkenntnisse in Latein erwerben und mussten nicht eine auswärtige Schule besuchen. Zwingli wurde zum Lehrer gewählt.
In der glarnerischen und eidgenössischen Politik Anfang des 16. Jahrhunderts wurde heftig gestritten, ob mit dem Papst, dem Kaiser oder mit den Franzosen zusammengearbeitet werden sollte. In Glarus ging es konkret vor allem darum, in wessen Dienste die jungen Glarner als Söldner treten sollten. Zwingli stellte sich stets auf die Seite des Papstes, worauf sich dieser mit einer stattlichen päpstlichen Pension von 50 Gulden erkenntlich zeigte. Zwingli, der als Feldgeistlicher der 500 Schweizer Soldaten dabei war, mahnte in einer Predigt am 7. September 1515 in Monza zur Einigkeit. Im Oktober 1515, nach der für die Schweizer vernichtenden Niederlage gegen die Franzosen in der Schlacht bei Marignano, endete die eidgenössische Großmachtpolitik. Danach offerierten die Franzosen einen schnellen Friedensschluss, allerdings nicht zu vorteilhaften Bedingungen. Zwingli votierte dagegen und unterstützte weiterhin den Gegenspieler der Franzosen, den Papst. In Glarus wie auch in der Eidgenossenschaft schlug die Stimmung zugunsten der Franzosenpartei um. Die Stellung des päpstlichen Parteimanns und Propagandisten Zwingli wurde deshalb unhaltbar.
Zwingli musste 1516 trotz großen Rückhalts in der Bevölkerung weichen und wurde für drei Jahre beurlaubt.
1516 berief Diebold von Geroldseck Zwingli als Leutpriester und Prediger in das als Wallfahrtsort berühmte Kloster Maria-Einsiedeln, wo er am 14. April 1516 antrat. Angesichts der dortigen Missbräuche der Volksfrömmigkeit begann er, wider Wallfahrten und andre Missbräuche und wider den seit 1518 in der Schweiz wirkenden päpstlichen Ablassprediger Bernhardin Sanson zu predigen. Er forderte sogar die Bischöfe zu besseren Sitten auf und dazu, die Kirche nach Anleitung des göttlichen Wortes zu verbessern. Zu gleicher Zeit trat er aber auch aufgrund seiner Erfahrungen beim Italienfeldzug gegen die Demoralisation des Volkes durch die Kriegsdienste der Schweizer in fremdem Sold auf. Als Konsequenz seiner Beteiligung am Krieg in der Lombardei übernahm er Erasmus’ Überzeugung: „Der Krieg erscheint den Unkundigen als süß“, ein Satz, den Zwingli sich in seiner Sprichwörterausgabe des Erasmus von Rotterdam anstrich.
Nach Glättung der Wogen, derentwegen Zwingli Glarus hatte verlassen müssen, hätte er das dortige Pfarramt wieder übernehmen sollen; doch er entschloss sich 1519, stattdessen eine Berufung an das Zürcher Großmünster anzunehmen. Die intensiven Studien und seine Erfahrungen in Glarus wie auch in Einsiedeln hatten den bis dahin sehr kirchentreuen Priester verändert. Die Entwicklung, die in Glarus begonnen hatte, führte Zwingli in neue Bahnen, und er wurde zu einem scharfen Kritiker der damaligen kirchlichen Zustände.
Da die Zürcher Regierung wie Zwingli gegen das Söldnerwesen war, verschaffte ihm diese Haltung das einflussreiche Amt als Leutpriester am Großmünsterstift in Zürich, das er am 1. Januar 1519 antrat. Das Großmünsterstift war damals nach der Kathedrale das angesehenste geistliche Stift im Bistum Konstanz. In seinen kunstlosen, aber klaren, allgemein verständlichen Predigten legte er fortlaufend die Evangelien aus. Das Volk und der Rat von Zürich ließen sich davon überzeugen. Sämtliche Prediger in Stadt und Land wurden 1520 von der Obrigkeit angewiesen, das Evangelium gemäß Zwinglis Auslegung zu predigen.
1522 veröffentlichte Zwingli seine erste reformatorische Schrift gegen das Fasten der römischen Kirche: Von Erkiesen und Freiheit der Speisen. Dieses Werk schrieb er aus Anlass des Fastenbrechens bei Christoph Froschauer. Zwingli selbst war beim „Wurstessen“ anwesend. Mit der Schrift rechtfertigte er das Handeln, da das Fasten gegen den christlichen Glauben verstoße. An den Bischof von Konstanz sandte er ein ebenso bescheidenes wie nachdrückliches Bittschreiben, in welchem er und zehn seiner Genossen erklärten, dass sie „mit Gott fest entschlossen seien, das Evangelium ohne Unterlass zu predigen“, und in dem sie um Aufhebung des Zölibats nachsuchten. Damals bemühte sich Papst Hadrian VI. noch, Zwingli durch einen die Frömmigkeit des Reformators anerkennenden Brief von weiteren Schritten gegen die katholische Kirche abzuhalten.
Mit dem Land Glarus blieb Zwingli weiterhin intensiv verbunden. Mit verschiedenen Personen korrespondierte er auch weiterhin als Zürcher Pfarrer. Die Hauptschrift Auslegen und Gründe der Schlussreden von 1523 widmete er dem Landsgemeindekanton. Am 12. Oktober 1522 predigte Zwingli sogar noch einmal in der Pfarrkirche Glarus anlässlich der Primiz seines ehemaligen Schülers Valentin Tschudi. In dieser Predigt wurde die Veränderung Zwinglis deutlich. Was er früher den Glarnern gepredigt habe, so sagte er, sei nicht die Wahrheit gewesen. Die Glarner sollen davon Abstand nehmen. Zwingli distanzierte sich von seiner Verkündigung in den Glarner Jahren 1506 bis 1516.
Als die Dominikaner in Zürich Zwingli Ketzerei vorwarfen, lud der Große Rat alle Theologen, die Zwingli der Ketzerei überführen könnten, auf den 29. Januar 1523 zu einer Disputation, der ersten Zürcher Disputation, über die von Zwingli aufgestellten Thesen nach Zürich ein. 600 geistliche und weltliche Personen fanden sich dazu in Zürich ein. Da die Abgeordneten des Bischofs von Konstanz, namentlich Johann Faber, gegen Zwinglis Thesen nur die Autorität der Tradition und der Konzilien geltend machten, erkannte der Rat von Zürich Zwingli den Sieg zu.
Auf einem zweiten, vom 26. bis 28. Oktober 1523 gehaltenen Religionsgespräch in Zürich wurde in Gegenwart von 900 Zeugen aus eidgenössischen Orten über „Bilderdienst und Messe“ gestritten. Grund für die zweite Zürcher Disputation waren die Predigt gegen Bilderverehrung und der daraus resultierende Bildersturm. Es wurde beschlossen, dass die Bilder innerhalb eines halben Jahres entfernt werden sollten, damit das Volk durch weitere Predigten auf diesen Einschnitt vorbereitet werden könne.
Ein drittes Gespräch am 13. und 14. Januar 1524, die dritte Zürcher Disputation, beseitigte auch die Heilige Messe. Noch im selben Jahr, am 19. April 1524, verheiratete sich Zwingli mit der 33-jährigen Witwe Anna Reinhart, mit der er schon vorher unehelich zusammengelebt hatte.
Die Reformation in Zürich betraf nicht nur die Religion. Der Rat, unter Beratung Zwinglis, ordnete Schul-, Kirchen- und Ehewesen neu und gab Sittengesetze heraus. Zwingli hatte kein politisches Amt, aber großen Einfluss – der Rat wusste, dass das Volk auf Zwinglis Predigten hörte.
1525 gab Zwingli sein Glaubensbekenntnis „Von der wahren und falschen Religion“ heraus, das er dem französischen König Franz I. schickte. Mit Luther und den anderen deutschen Reformatoren in vielen Punkten einig, verfuhr Zwingli doch in liturgischer Beziehung radikaler und verwarf die „leibliche Gegenwart Christi“ im Abendmahl. Ab 1525 waren die Reformation und die Reform des Gottesdienstes in Zürich abgeschlossen. Es wurde das Abendmahl in beiderlei Gestalt in Gedächtnis gefeiert. Bilder, Heilige Messen und Zölibat waren abgeschafft. Es gab eine geregelte Armenfürsorge. Diese finanzierte sich aus Geldern, die durch die Säkularisation von Klöstern und geistlichen Stiftungen im Herrschaftsbereich der Stadt Zürich frei wurden. Ebenfalls 1525 wurde das bisherige Chorherrenstift Großmünster in die Propstei am Großmünster umgewandelt, um die Ausbildung weiterer reformierter Theologen sicherzustellen. Sie mussten Bibelexegese lernen und die gewonnenen Ergebnisse in deutschen Predigten dem Volk vortragen. Dadurch wurden die Theologen geschult, und das Volk sollte in der Bibel verwurzelt werden. Zwingli war der Leiter der Zürcher Kirche.
In enger Zusammenarbeit mit Leo Jud übersetzte Zwingli zwischen 1524 und 1529 die Bibel neu in die eidgenössische Kanzleisprache. Diese Übersetzung ist heute als die „Zürcher Bibel“ bekannt. Demnach schlossen die Zürcher Theologen die komplette Neuübersetzung aus dem Griechischen und Hebräischen fünf Jahre vor Luthers Bibelübersetzung ab. Die Zürcher Bibel ist somit die älteste protestantische Übersetzung der gesamten Bibel. Das Werk wurde zwischen 1524 und 1529 gedruckt. 1531 druckte man eine reich illustrierte und aufwendig gestaltete Gesamtausgabe. Diese Version war für lange Zeit die textlich und gestalterisch bedeutendste Ausgabe der Zürcher Bibel.
Zwingli sah Kirche und Staat in enger Zusammenarbeit und darin für die Obrigkeiten eine ernste Verpflichtung. Er erklärte, dass „die Obrigkeit, welche außser der Schnur Christi fahren“, das heißt, die Vorschriften Christi sich nicht zum Maßstab nehmen wolle, „mit Gott entsetzt werden möge“. Der Landgraf von Hessen, Philipp der Großmütige, welcher Zwinglis weittragende politische Ansichten teilte, organisierte im Oktober 1529 ein Streitgespräch zwischen Zwingli und Martin Luther in seinem Schloss in Marburg, den Abendmahlsstreit zu Marburg. Luther wies Zwingli allerdings schroff zurück, womit der Plan eines gemeinsamen protestantischen Vorgehens gegen Kaiser und Papst an theologischen Differenzen scheiterte.
Philipp der Großmütige und Zwingli hatten ehrgeizige Pläne. 1530 wollten sie „durch einen Bund von der Adria bis zum Belt und zum Ozean die Welt aus der Umklammerung des Habsburgers retten“. Damals hatte Zwingli schon im Januar 1528 bei einem Religionsgespräch zu Bern auch diesen Kanton für die Reformation gewonnen. Außerdem schien durch den Ersten Kappeler Landfrieden 1529 die drohende Gefahr eines Glaubenskriegs zwischen Zürich und den fünf katholischen Urkantonen vorläufig beseitigt.
1531 kam es zu einem Religionskrieg in der Eidgenossenschaft, dem Zweiten Kappelerkrieg zwischen Zürich und den katholischen Kantonen Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug. Bereits vorher waren Katholiken wie beispielsweise die Mönche vor allem der Bettelorden aus den Klöstern vertrieben worden. Zwingli war es auch, der den Rat von Zürich zum Zweiten Kappelerkrieg gegen die Waldstätte drängte, um die Reformation, wenn nicht mit Überzeugung, dann mit Feuer und Schwert auch in der Innerschweiz zu verbreiten. Am 11. Oktober 1531 unterlagen die Zürcher, und Zwingli selbst geriet während der Schlacht bei Kappel, an der er als Soldat teilgenommen hatte, am Albis in die Hände der katholischen Innerschweizer. Man bot ihm an, noch einmal die Beichte abzulegen, was er verweigerte, und anschließend wurde er getötet. Sein Leichnam wurde gevierteilt,verbrannt und die Asche in den Wind gestreut.


FÜNFTES KAPITEL
Thomas Müntzer

Müntzer wurde in Stolberg im Harz geboren, sein Geburtsjahr ist unbekannt. Vor seiner Immatrikulation an der Universität Leipzig im Jahre 1506 lebte er seit 1501 in Quedlinburg. Nach sechs Jahren immatrikulierte er sich 1512 an der Brandenburgischen Universität Frankfurt. An einer Universität Müntzer erlangte seine Titel Baccalaureus artium, Magister artium und Baccalaureus biblicus. Wegen seines gleichzeitigen Wirkens als Hilfslehrer in Aschersleben und Halle an der Saale dauerte sein Studium ungewöhnlich lange.
1513 wurde Müntzer in der Diözese Halberstadt zum katholischen Priester geweiht und war zunächst in Braunschweig an der Michaeliskirche tätig. Da dieses Amt seinen Lebensunterhalt nicht deckte, nahm er 1515 das Amt eines Präfekten im Kanonissenstift Frose bei Aschersleben an. Dort errichtete er eine kleine Privatschule, in der begüterte Bürger-Söhne unterrichtet wurden.
Zwischen 1517 und 1519 war er öfter in Wittenberg. 1517 wurde er zum Beichtvater der Zisterzienserinnen im Kloster Beuditz bei Weißenfels berufen. Im Mai 1520 predigte Müntzer in Vertretung von Johannes Sylvius Egranus in der Marienkirche in Zwickau. Als Egranus zurückkehrte, wechselte Müntzer an die Katharinenkirche. Dort in Zwickau hatte Müntzer jetzt ein großes Forum, das er auch nutzte. Er hatte engen Kontakt zu Nikolaus Storch, einem führenden Mitglied der „Zwickauer Propheten“.
Im Lauf des Jahres bekam Müntzer Schwierigkeiten mit dem Orden der Franziskaner und mit seinem Kollegen Egranus. Als ihn zusätzlich der Stadtrat von Zwickau des Aufruhrs verdächtigte, wurde er 1521 aus der Stadt vertrieben. Seinen letzten Sold quittierte er stolz mit „Thomas Müntzer, der für die Wahrheit in der Welt kämpft“.
Von Zwickau aus ging er nach Böhmen. Dort verfasste er das Prager Manifest. Im November 1521 verließ er Prag und seine nächsten Stationen waren Jena, Erfurt und Weimar. In der St.-Georgen-Kirche in Glaucha war Müntzer 1522 einige Zeit Kaplan. Kurz vor Ostern 1523 wurde er an der Johanniskirche im kursächsischen Allstedt evangelischer Pastor. Hier heiratete er die ehemalige Nonne Ottilie von Gersen, am 27. März 1524 wurde ihnen ein Sohn geboren. In dieser Zeit arbeitete er an seiner Reform der Liturgie; Kernpunkt war die Einführung der deutschen Sprache bei der Messe.
Am 13. Juli 1524 hielt er die sogenannte Fürstenpredigt zu Allstedt vor dem späteren Kurfürsten Johann dem Beständigen und dessen Sohn Johann Friedrich I. Darin forderte er die ernestinischen Fürsten auf, der Sache der Reformation im Sinne Müntzers keinen Widerstand zu leisten, und griff zugleich die sozialen Missstände scharf an. Die Konsequenz war, dass er wieder einmal seine Stellung verlor. Müntzer stand in dieser Zeit auch im brieflichen Kontakt mit der entstehenden Täufer-Gemeinde in Zürich. Allerdings kam es zu keiner Übereinkunft, da die Zürcher Täufer Müntzer dazu bewegen wollten, von gewaltsamer Durchsetzung göttlicher Ordnung abzusehen.
Im August 1524 floh Müntzer schließlich vor der Obrigkeit von Allstedt nach Mühlhausen, wo er zusammen mit dem ehemaligen Zisterziensermönch Heinrich Pfeiffer wirkte. Nach seiner Ausweisung kehrte Müntzer Ende Februar 1525 nach Mühlhausen zurück und wurde zum evangelischen Pfarrer der dortigen Marienkirche gewählt. Er schlug sich auf die Seite der aufständischen Bauern und wurde zu deren Leitfigur im Deutschen Bauernkrieg in Thüringen. Am 15. Mai 1525 wurde er nach der Schlacht bei Frankenhausen, die in einer völligen Niederlage der von Müntzer zusammengerufenen Bauernrotten endete, gefangen genommen und in der Festung Heldrungen auf Befehl Graf Ernsts II. von Mansfeld im Beisein des Herzogs Georg des Bärtigen gefoltert. Im Turm von Heldrungen eingekerkert, schrieb er seinen Abschiedsbrief an die Aufständischen, die er dabei zur Einstellung des weiteren Blutvergießens aufrief. Am 27. Mai wurde er vor den Toren der Stadt Mühlhausen enthauptet, sein Leib aufgespießt, sein Kopf auf einen Pfahl gesteckt.



ZWEITER TEIL
DER PIETISMUS


ERSTES KAPITEL
Philipp Jacob Spener

Am 13. Januar 1635 wurde Philipp Jacob Spener in Rappoltsweiler im Elsass als Sohn des aus Straßburg stammenden Hofmeisters Johann Philipp Spener und Agatha geboren. Er wuchs am Hof der Herren von Rappoltstein auf und genoss Privatunterricht. Dabei kam er in Berührung mit puritanischen Erbauungsschriften und mit Johann Arndts Büchern vom „wahren Christentum“.
1651 bis 1659 studierte er in Straßburg Philosophie, Geschichte und Theologie. Mit einer Schrift über Thomas Hobbes erlangte er 1653 den Grad eines Magister artium. Neben der Theologie galt sein Hauptinteresse seit 1655 der Genealogie. Unter seinen theologischen Lehrern sind Sebastian Schmidt und besonders Johann Conrad Dannhauer zu nennen, auf dessen Hauptwerk Hodosophia Christiana sive Theologia positiva er sich zeitlebens in dogmatischen Fragen berief. Dannhauers Wertschätzung des Aristotelismus und der theologischen Polemik sowie seiner Skepsis gegenüber Arndt folgte er jedoch nicht.
Studienreisen führten Spener in den Jahren 1659 bis 1663 nach Basel und Genf, wo es zur Begegnung mit Jean de Labadie kam. 1663 wurde Spener als Prediger an das Straßburger Münster berufen. 1664 wurde er mit einer Arbeit über die Auslegung von Offenbarung 9,13–21 promoviert. Am Tag der Doktorpromotion heiratete er Susanne Erhard, mit der er dann elf Kinder hatte.
Seine Berufung als Senior des Frankfurter Predigerministeriums und Prediger an die Barfüßerkirche beendete seine wissenschaftliche Laufbahn. In Frankfurt bemühte er sich um die Einführung der Konfirmation, die Einhaltung der Sonntagsheiligung sowie um die Kirchenzucht, aber auch um die Gründung von Armen-, Waisen- und Arbeitshäusern. Seine Predigten, die auf einen tätigen Glauben und eine disziplinierte Frömmigkeit drängten, riefen in der Gemeinde ein geteiltes Echo hervor; teils Begeisterung, teils Ablehnung, wo man die lutherische Rechtfertigungslehre in Gefahr sah. 1670 kam es zur Gründung eines privaten Konventikels, des collegium pietatis (Hauskreis), das sich zunächst in seinem Studierzimmer traf, aber 1682, nachdem der Zulauf immer größer geworden war, in die Barfüßerkirche verlegt wurde. Da allerdings wandten sich Gründungsmitglieder ab und trennten sich von der lutherischen Kirche.
1675 erscheint sein Hauptwerk „Pia desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirche“, zunächst als Vorrede zu einer Evangelienpostille von Johann Arndt, doch aufgrund der hohen Nachfrage schon bald als Separatdruck. Neben verschiedenen Predigtsammlungen veröffentlichte Spener als wichtige theologische Schriften „Die allgemeine Gottesgelehrtheit aller Gläubigen und rechtschaffenen Theologen“ und „Die evangelische Glaubensgerechtigkeit“.
1686 wurde Spener Oberhofprediger in Dresden und bekleidete damit eines der angesehensten Ämter im damaligen deutschen Luthertum. Dort richtete er keine Collegia pietatis mehr ein, sondern setzte mehr auf katechetische Übungen. In dieser Zeit kam es zur Freundschaft mit August Hermann Francke, mit dessen Wirken in Leipzig der Pietismus ab 1687 zu einer erkennbar eigenständigen, sich von der lutherischen Orthodoxie abgrenzenden theologischen und kirchenpolitischen Strömung innerhalb der lutherischen Kirche wuchs. Spener wurde schon in Dresden und mehr noch in Berlin ihr einflussreichster Schutzherr, Sprecher und Förderer.
Aufgrund von unüberbrückbaren Differenzen mit Kurfürst Johann Georg III. nahm Spener 1691 gerne eine Berufung zum Propst und Konsistorialrat an die Berliner St. Nikolai-Kirche an. Auch wenn er selbst keine Erbauungsversammlungen mehr abhielt, machte er sich als Fürsprecher des Pietismus stark. Mit etlichen umfangreichen Streitschriften verteidigte er die Anliegen des Pietismus gegen theologische Angriffe der lutherischen Orthodoxie. Bei der Gründung der Reformuniversität Halle an der Saale setzte er sich für die Berufung pietistischer bzw. orthodoxiekritischer Professoren, etwa seines Freundes und Schülers August Hermann Francke, ein. Auch bei der Besetzung von Pfarrstellen in Brandenburg machte er seinen Einfluss für den Pietismus geltend.
In seinen letzten Lebensjahren veröffentlichte er Teile seines umfangreichen Briefwechsels als „Theologische Bedenken“. Weitere Teile seines Briefwechsels wurden posthum als „Consilia et iudicia theologica“ und als „Letzte Theologische Bedenken“ durch seinen Schützling Carl Hildebrand von Canstein herausgegeben. Am 5. Februar 1705 verstarb Spener in Berlin. Seine Beisetzung fand in der Nikolaikirche statt.
Speners Hauptschrift „Pia desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirche“ erschien am 24. März 1675 als Vorrede einer Neuauflage der Evangelien-Postille von Johann Arndt. Das Echo auf diese Vorrede war derart groß, dass Spener sie am 8. September 1675 im Separatdruck herausgab, erweitert um eine Vorrede sowie um zwei Gutachten. Erst dieser Separatdruck ist die eigentliche Pia desideria und ist von der ursprünglichen Postillenvorrede begrifflich zu unterscheiden. In der Forschung wird dieses Werk in drei Teile gegliedert, was jedoch nur für die ursprüngliche Postillenvorrede gilt: Diagnose, Prognose und Therapie.
Die Klage ist zweistufig aufgebaut. Erstens, Spener beklagt den Mangel an wahrem, lebendigem Glauben, vor allem im geistlichen Stand. Zweitens, er beklagt die Auswirkungen daraus: ein Bekehrungshindernis für Juden und Katholiken.
Spener erwartet eine vollständige und vollkommene Kirche, Judenbekehrung sowie Aufhebung der katholischen Kirche. Auffällig ist, dass er keine konkreten Beschreibungen vornimmt, sondern lediglich mit Attributen wie „besser“, „herrlich“, „selig“ operiert. Dabei verweist er auf das Vorbild der Urchristenheit, das Wirken des Heiligen Geistes sowie auf biblische Verheißungen. Ihm ist daran gelegen, seine Leser zur aktiven Mitgestaltung einer neuen Reform zu motivieren. In zweifacher Hinsicht unterscheidet er sich hier jedoch vom Luthertum: Ihm geht es primär nicht um eine Reform der Institution Kirche, sondern die Stärkung des Glaubens Einzelner. Zweitens erwartet Spener die Besserung schon für die irdische Kirche und nicht erst für das zukünftige Reich Gottes.
Speners Reformprogramm gliedert sich in sechs einzelne Vorschläge. Die ersten beiden sind an Martin Luther angelehnt, die übrigen vier an Johann Arndt.
Das „Wort Gottes“ verwendet Spener – wie schon vor ihm in der lutherische Orthodoxie – als Synonym für die Bibel. Sein Vorschlag hat eine dreifache Stoßrichtung: Erstens, Kritik am Perikopenzwang, er fordert die Verwendung von sämtlichen Bibeltexten zur Predigt. Zweitens, private wie öffentliche fortlaufende Bibellesungen ohne Auslegung zur Festigung der Bibelkenntnisse. Drittens, Bibelstunden zur Auslegung von Bibeltexten und zum Austausch.
Wie schon seit der Reformation gefordert, soll das allgemeine Priestertum aller Gläubigen gestärkt werden. Jedoch soll bei öffentlichen Veranstaltungen ein ordinierter Pfarrer auftreten. Im Notfall kann jedoch jeder Gläubige zum Einsatz kommen.
Dem Wissen muss die Tat folgen. Es geht nicht mehr nur um die rechte Lehre und den rechten Glauben, sondern auch um das entsprechende Handeln. Dies zeigt sich praktisch in der Bruder- und Nächstenliebe.
Religionsstreitigkeiten sind kein Selbstzweck, sondern zielen darauf, den Irrenden zur Wahrheit zu überführen. Dies soll in Liebe geschehen und von der Fürbitte getragen sein. Auch wenn die Wahrheit unbedingt zu schützen gilt, ist eine Bekehrung höherwertig als ein intellektueller Sieg. „Denn eine intellektuelle Einsicht und das Überzeugtsein von einer Wahrheit ist bei weitem noch nicht der Glaube. Daraus wird klar, dass Disputieren nicht genug ist, weder um bei uns selbst die Wahrheit zu erhalten, noch um sie den noch Irrenden beizubringen. Sondern dazu ist heilige Liebe Gottes vonnöten.“
Das Theologiestudium ist in doppelter Hinsicht zu verbessern: Erstens sollen die Studenten auch in ihrem eigenen Glauben gefördert und begleitet werden. Dazu sollen die Professoren als gutes Beispiel vorangehen und als Mentoren dienen. Des Weiteren seien auch an Universitäten Formen von Collegia pietatis zu gründen. Zweitens sollen auch die Lehrveranstaltungen an sich verbessert werden. So schlägt Spener vor, akademische Disputationen einzuführen, in denen Studenten konträre Lehrmeinungen hören und sich selbst ein Urteil bilden können.
Predigten sollen nicht nur rhetorisch und ästhetisch kunstvoll vorgetragen werden. Sie sollen dem Zweck dienen, den Glauben und den „inneren Menschen“ zu stärken.
Im Zentrum der Spener-Forschung stehen die unter seinem Einfluss etablierten Konventikel – außergottesdienstliche Versammlungen zur persönlichen Erbauung der Gläubigen. Im Laufe der Zeit verändern sich hier Gestalt, Bedeutung und Bezeichnung: anfänglich spricht Spener von einem exercitium pietatis, im Juli 1675 erwähnt er den Begriff ecclesiola in ecclesia (Kirchlein in der Kirche) und erst seit 1677 spricht er von den Collegia pietatis (fromme Versammlungen).
Seit Sommer 1670 traf sich eine kleine Gruppen Männer in Speners Studierzimmer zur persönlichen Erbauung (exercitium pietatis, Frömmigkeitsübung). Im Oktober 1669 hatte Spener über Sonntagsheiligung gepredigt und in diesem Zusammenhang ähnliche Frömmigkeitsübungen genannt.
Schon an anderen Orten hatte es ähnliche Konventikel gegeben, so um den reformierten Jean de Labadie. In dessen Umfeld kam es zur Separation, das aber wollte Spener in jedem Fall vermeiden. Einzig aus diesem Grund nahm er den Faden auf und lud diese Männer zu sich ins Pfarrhaus und machte seine eigene Anwesenheit zur Bedingung.
Die Treffen fanden zweimal pro Woche statt, jeweils nach der Betstunde. Es war ein geschlossener Kreis zur Erbauung und zur „heiligen Freundschaft“. Spener sprach ein Gebet und las aus Erbauungsbüchern vor. Anschließend gab es einen freien Austausch mit klaren Regeln: keine Dispute ohne Bezug zur Frömmigkeit, nur zur Erbauung, nicht über Abwesende sprechen und Missstände nur allgemein nennen.
Der Kreis wuchs von anfänglich fünf Männern auf zunächst 20 Männer Ende 1670. Bis 1675 gab es bereits 50 Teilnehmer. Die Idee der „heiligen Freundschaft“ ließ sich damit nicht mehr verwirklichen. Dies war die erste von vier Veränderungen bis zum Erscheinen der „Pia desideria“. Sie war nötig geworden, um dem Separatismusverdacht entgegenzuwirken. Nur so konnte das Verbot der Collegia abgewendet werden. Nun konnte jeder teilnehmen.
Die zweite Veränderung war die Öffnung des Kreises auch für Nicht-Akademiker und für Frauen, später auch für Katholiken und Reformierte.
Die dritte Änderung betraf die Lektüre. Die Erbauungsliteratur war schnell ausgelesen. Spätestens seit 1674 las man in der Bibel. Damit war die Form von Konventikeln erreicht, wie sie in die „Pia desideria“ Eingang finden sollte.
Am schwersten wiegt jedoch der Bedeutungswandel. Ursprünglich war das exercitium pietatis eine reine Erbauungsveranstaltung. Mit Erscheinen der „Pia desideria“ dienten die Konventikel einem höheren Zweck, nämlich als Hauptinstrument der angestrebten Reformen. Spener erkannte in diesen beliebten Zusammenkünften ein brauchbares Vehikel.
Er legitimiert dies durch Rekurs auf das Vorbild der apostolischen Versammlung nach 1. Korinther 14: Eine Versammlung, die nicht durch Leitung eines Einzelnen geprägt ist, sondern durch die Beteiligung vieler einzelner Begabter. Die spätere Legitimierung durch Luthers dritte Form der Messe ist jedoch ein Irrtum. Denn Luther meinte mit der dritten Form der Messe „für die, die mit Ernst Christen sein wollen“, einen Gottesdienst mit Darreichung der Sakramente, also keine Nebenveranstaltung. Auch hat Luther selbst diese Form nicht mit der Bibelstelle 1. Korinter 14 in Verbindung gebracht.
Den Begriff Collegia pietatis verwendete Spener erst seit 1677. Inhaltlich meint er jedoch noch immer die Sammlung der „Frommen“ um Bibel und Gebet, die Urform heutiger Hauskreise. Er bezeichnet ebendiese spezielle Form, die sich in den Folgejahren weiterentwickelte. Aufgrund der wachsenden Teilnehmerzahl verlagerte sich die Veranstaltung in die Frankfurter Barfüßerkirche. An vielen Orten entstanden nun diese Collegia. Nicht immer wurden sie direkt von Pfarrern betreut. Man kann von daher zwischen den Collegia im engeren und im weiteren Sinne unterscheiden.
Seit Juli 1675 verwendete Spener zusätzlich den Ausdruck ecclesiola in ecclesia. Im Vorwort zum Separatdruck meidet Spener diesen Terminus, beschreibt ihn aber inhaltlich. Es scheint, als sei die ecclesiola von Anfang an das den „Pia desideria“ innewohnende Prinzip, die Collegia pietatis seien hingegen nur eine konkrete Verwirklichungsform. Ecclesiola ist demnach nur ein Oberbegriff, der auch andere Verwirklichungsformen finden kann. Das zugrundeliegende Prinzip ist die Sammlung und Stärkung der Frommen, eine Kirchenreform von innen nach außen.
Richtig ist, dass diese Konventikel eine Wandlung durchgemacht haben, schon bevor sie in den „Pia desideria“ als Instrument zur Kirchenreform (und zur Neugewinnung von Gläubigen) erwähnt wurden. Sie hatten ihre Gestalt schon vor der Idee der Reform gefunden und waren ein willkommenes Instrument, diese umzusetzen. Dabei entwickelte sich die äußere Form weiter, das innere Anliegen der ecclesiola blieb erhalten.
In seiner Dresdner Zeit realisierte Spener keine Collegia pietatis mehr. Schon in seiner Frankfurter Abschiedsrede räumte er ein, damit nicht sein Ziel erreicht zu haben. Immer stärker verlagerte sich das Gewicht auf die Katechismusübungen als eine andere Verwirklichungsform der ecclesiola. Als weitere Konkretion wurde die öffentliche und die häusliche Bibellesung vorgeschlagen, wie es schon in den „Pia desideria“ anklang. Hier ist zwischen quantitativem und qualitativem Bibellesen zu unterscheiden: Quantitativ sollen alle Christen aller Schichten die ganze Bibel lesen können. Qualitativ soll jeder die Texte im Zusammenhang wahrnehmen und auf das eigene Leben anwenden können. Die Verlagerung von Lehre auf Leben gilt als Charakteristikum des Pietismus.



ZWEITES KAPITEL
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf

Zinzendorf war der Sohn von Georg Ludwig Graf von Zinzendorf und Pottendorf und Charlotte Justine von Gersdorff. Philipp Jacob Spener war sein Taufpate. Zinzendorfs Vater verstarb früh; fortan lebte Zinzendorf in Großhennersdorf in der Oberlausitz bei seiner frommen Großmutter, Henriette Katharina von Gersdorff, geborene von Friesen. Er besuchte von 1710 bis 1715 das Pädagogium der Franckeschen Stiftungen in Halle, wo er im Sinne des Pietismus geprägt wurde. August Hermann Francke selbst hatte großen Einfluss auf ihn. Zinzendorf gründete 1710 mit Friedrich von Watteville den Senfkorn-Orden (Sammlung von Liebhabern Jesu).
Von 1716 bis 1719 studierte Zinzendorf an der Universität Wittenberg Rechtswissenschaft. Von 1719 bis 1720 unternahm er eine Reise in die Niederlande und nach Frankreich. Dort gewann er die Freundschaft von Menschen anderer Konfession, darunter den katholischen Kardinal Louis-Antoine de Noailles, mit dem er in brieflichem Kontakt blieb, und erlebte die Möglichkeit einer die Konfessionen übergreifenden Einheit unter Christen.
1722 heiratete Zinzendorf Erdmuthe Dorothea Gräfin Reuß-Ebersdorf. Im Mai des gleichen Jahres erwarb er von seiner Großmutter das Rittergut Mittelberthelsdorf in der Oberlausitz, wo er von 1722 bis 1724 das Schloss Berthelsdorf barock umbauen ließ. Dort begann im Juni 1722 die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen aus Mähren, Nachkommen der alten Böhmischen Brüder. Diese gründeten außerhalb von Berthelsdorf, das unterhalb des Hutberges gelegen ist, die Siedlung Herrnhut. Zinzendorf errichtete sich dort 1725–1727 ein auch als Herrschaftshaus bezeichnetes Schloss, das er bezog, sowie 1730–1746 den Vogtshof, der ab 1756 als Sitz der Schirmvogtei des Direktoriums der Brüder-Unität diente. 1732 überließ Zinzendorf das Schloss Berthelsdorf seiner Frau als Wohnsitz.
Aus der Gemeinde der Böhmischen Brüder in Herrnhut erwuchs die kirchlich eigenständige Brüdergemeine. Im August 1727 kam es zur Gründung der Herrnhuter Brüdergemeine durch einen Bußakt des Pfarrers Johann Andreas Rothe, Zinzendorfs und der ganzen Gemeinde. Nach Zinzendorfs Tod übernahm die Brüdergemeine 1764 Schloss und Gut Herrnhut, während einige von ihnen bereits 1737 nach Böhmisch-Rixdorf umgesiedelt waren. Von 1731 an wurden auch die Herrnhuter Losungen herausgegeben: durch Losverfahren ermittelte Bibelverse als Leitgedanken für jeden Tag.
1731 brachte Zinzendorf einen westindischen Sklaven von Kopenhagen nach Herrnhut. Seine Berichte von St. Thomas motivierten die Gemeinde zur Missionsarbeit. So begann 1732 die Missionsarbeit der Brüdergemeine mit den Missionaren Johann Leonhard Dober und David Nitschmann. Sie reisten nach St. Thomas und waren bereit, selber Sklaven zu werden. 1735 begann die Missionsarbeit in Nordamerika unter Indianern in Georgia und im südamerikanischen Suriname; 1737 unter den Khoikhoi in Südafrika sowie an der Goldküste; 1754 in Jamaika.
1734 wurde Zinzendorf als lutherischer Theologe ordiniert. Die Rechtgläubigkeitsprüfung erfolgte in Stralsund, die Ernennung zum Kandidaten in Tübingen. 1736 kam es zur Verbannung Zinzendorfs aus Sachsen, da seine Brüdergemeine der lutherischen Orthodoxie zu selbständig geworden war und als Bedrohung der einheitlichen Landeskirche angesehen wurde. Er ging in die südliche Wetterau und gründete dort die Gemeinden Marienborn in der Grafschaft Ysenburg-Büdingen-Meerholz, auf der Burg Ronneburg und den Herrnhaag. 1737 wurde er durch den reformierten Hofprediger Daniel Ernst Jablonski in Berlin, der zugleich Bischof der polnischen Brüder-Unität war, zum Brüderbischof ordiniert. Die polnische Unität war mit der alten böhmisch-mährischen verbunden, deren eigene Bischofsreihe über Johann Amos Comenius hinaus nicht fortgesetzt werden konnte.
In den folgenden Jahren unternahm Zinzendorf Reisen als Prediger in die russischen Ostseegouvernements Estland, Livland, Kurland und nach England, Nordamerika, auf die Westindischen Inseln und Saint Thomas. Im Jahre 1747 wurde ihm die Rückkehr nach Sachsen gestattet, und 1749 erreichte er für die Herrnhuter Brüdergemeine die Freiheit der Verkündigung und die Tolerierung der Gemeinde als eine der sächsischen Landeskirche verbundene Gemeinschaft. Von 1750 an lebte Zinzendorf meistens in London, dann seit 1755 in Berthelsdorf. Von London aus sandte Zinzendorf erregte Strafbriefe nach Herrnhaag, in denen er drohte, zwanzig bis dreißig Menschen bis aufs Blut peitschen zu lassen, und berief seinen Sohn Renatus von Zinzendorf nach England. Zinzendorf war über die Entwicklungen in Herrnhaag zutiefst erbost und ermahnte seinen Sohn umzukehren. Nach dem Tod seiner Frau Erdmuthe Dorothea, zu der er sehr wenig Kontakt hatte, heiratete Zinzendorf einige Zeit später seine enge Mitarbeiterin Anna Nitschmann. Das Verhältnis zu Anna Nitschmann hatte er vor dem Tode seiner Ehefrau geheim gehalten.
Zinzendorf hatte Einfluss auf zahlreiche Theologen und Dichter wie John Wesley, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried Herder und Friedrich Schleiermacher; im 20. Jahrhundert bezeichnete ihn Karl Barth als ersten echten Ökumeniker.
Zinzendorf hat etwa 2000 Kirchenlieder gedichtet. Manche von ihnen werden heute noch gesungen, darunter das Lied „Jesu, geh voran“. Am bekanntesten dürfte sein Tischgebet sein:
„Komm Herr Jesus, sei unser Gast
Und segne, was du uns bescheret hast.
Amen.“


DRITTES KAPITEL
Valentin Weigel

Auf Vermittlung des Rates Georg von Komerstadt besuchte Weigel 1549 bis 1554 die Fürstenschule St. Afra in Meißen und studierte danach Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften, später Theologie in Leipzig. 1558 wurde er Baccalaureus und Magister. Seit 1564 studierte und lehrte er in Wittenberg und wurde am 16. November 1567 durch den Wittenberger Generalsuperintendenten Paul Eber als Pastor Primarius in Zschopau ordiniert.
Weigel verbarg zeitlebens seine Sebastian Franck und Jakob Böhme nahestehenden mystischen Auffassungen. So wurde zu seinen Lebzeiten nur eine Leichenpredigt von ihm gedruckt. Erst zwanzig Jahre nach seinem Tode gelangten viele seiner Schriften, befördert von seinem Amtsnachfolger Benedikt Biedermann und seinen Söhnen Joachim und Nathanael, zum Druck. 1626 wurden seine Bücher öffentlich verbrannt.
Weigel bekämpfte volksfeindliche Potentaten, Fürsten und Prediger. Er berief sich vor allem auf Meister Eckart und Johannes Tauler. Thomas Müntzer, Andreas Bodenstein, Kaspar Schwenckfeld und das Täuferreich von Münster galten ihm als Gleichgesinnte. Seine an den Neuplatonismus und die deutsche Mystik anknüpfenden Ideen wurden Bestandteil der deutschen Ketzerbewegung und hatten Auswirkungen auf Dichter wie Angelus Silesius und Daniel Czepko.


VIERTES KAPITEL
Johann Valentin Andreae

Johann Valentin Andreae war der dritte Sohn und das fünfte Kind des lutherischen Pfarrers, Superintendenten von Herrenberg und Abtes von Königsbronn Johannes Andreae und seiner Ehefrau Maria Andreae, einer Tochter des Herrenberger Vogtes Valentin Moser. Andreaes Großvater Jakob Andreae war Kanzler der Universität Tübingen und Mitverfasser der Konkordienformel.
Johann Valentin Andreaes Vater verstarb 1601. Seine Mutter, eine in der Heilkunst bewanderte Frau, zog darauf mit den Kindern zu ihren Verwandten nach Tübingen. Durch Engagement und Vermittlung ihrer ehrbaren württembergischen Familie erhielt sie 1607 die Aufgabe einer Vorsteherin der herzoglichen Apotheke in Stuttgart. Diese Aufgabe erfüllte sie mit großem Erfolg bis 1614.
Der beim Tode seines Vaters schon 15-jährige Johann Valentin Andreae studierte in Tübingen von 1602 bis 1605 die Freien Künste. Er verfasste in dieser Zeit zwei Bühnenstücke nach englischen Vorbildern, Esther und Hyazinthus, und berühmte Schrift Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz. 1603 wurde Andreae Baccalaureus und 1605 Magister. Ab 1606 nahm Johann Valentin Andreae das Studium der Theologie und der Mathematik auf. 1607 musste er jedoch wegen eines Studentenstreichs die Universität verlassen. Er wurde nicht zum Examen zugelassen, und wurde auch vom Kirchendienst zurückgestellt.
Andreae gehörte in Tübingen zum Freundeskreis des chiliastischen Juristen und Theosophen Tobias Heß.
Andreae reiste rastlos durch Deutschland und unterrichtete schließlich als Hauslehrer in Lauingen und Tübingen junge Adlige. Er verfasste während dieser Zeit auch theologische Werke. Nach dem Ausbruch der großen Pest in Tübingen begleitete Andreae einige seiner Zöglinge auf ihren Reisen durch die Schweiz, Frankreich, Österreich und Italien.
Im Frühsommer 1611 kam er nach einem Aufenthalt in Frankreich als Hofmeister zu Eberhard von Gemmingen nach Rappenau. Dort sollte er dessen ältesten Sohn Philipp bei dessen für das kommende Jahr geplante Studium in Tübingen vorbereiten. Gemeinsam mit Philipp kehrte er im August 1611 nach Tübingen zurück, wo die beiden bei Matthias Hafenreffer aufgenommen wurden. Nach dem überraschenden Tod beider Eltern Philipps von Gemmingen im Oktober 1611 endete dieses Dienstverhältnis im April 1612. Andreae war bei der Beisetzung seines Dienstherren in Rappenau zugegen und schrieb eine seine Wertschätzung zum Ausdruck bringende Gedenkrede, die 1619 auch gedruckt erschien.
In Genf lernte er 1611 die von Johannes Calvin geprägte reformierte Kirche kennen, deren strenge Forderung nach einem arbeitsamen und gottgefälligen Leben ihn faszinierte und die er sich zeitlebens zum Vorbild nahm. Er studierte ein Semester in Padua und kehrte 1612 nach Tübingen zurück. Dort nahm er am Tübinger Stift das Theologiestudium wieder auf. Nach dem Schlussexamen 1614 wurde er zum Diakon in Vaihingen an der Enz berufen und heiratete im August 1614 Agnes Elisabeth Grüninger. Aus der Ehe gingen neun Kinder hervor.
Seinen Anteil an der Entstehung der Rosenkreuzeridee, die inzwischen in Europa Furore gemacht hatte, bezeichnete er als Jugendsünde.
In Vaihingen wollte Andreae ein radikales Programm zur Überwindung von Zuchtlosigkeit und Armut durchsetzen. Sorgfältige Jugendunterweisung und die Einführung von Kirchenzucht sollten Sittenlosigkeit, Fluchen, Trunkenheit, Ehe- und Nachbarschaftsstreit und die Entheiligung des Sonntags bekämpfen. Die Zehn Gebote wurden gesetzliche Grundlage, Richter waren der Pfarrer und der Bürgermeister zusammen mit einigen angesehenen Bürgern. Als Strafe wurden Geldbußen für die Armenkasse und bis zu drei Tagen Arrest verhängt, von den Bußgeldern Arme unterstützt und Notstandsarbeit finanziert. Andreaes Vorhaben scheiterte aber am Widerstand der Bevölkerung.
1620 wurde Andreae Superintendent in Calw, wo er mehr Erfolg mit der Reformation von Schul- und Sozialwesen und Armenpflege hatte. Calw war damals mit etwa 3.500 Einwohnern halb so groß wie Stuttgart und durch seine florierende Wollproduktion eine der wirtschaftlich bedeutendsten Städte des alten Württemberg, zugleich herrschte soziale Not. Andreae überzeugte die reichen Calwer Handelsherrn von der Notwendigkeit der Gründung „einer christlichen, gottliebenden Gesellschaft“ zur Unterstützung der Armen, Kranken und der Jugend. So entstand aus einem Kreis von 13 Männern und 7100 Gulden Grundvermögen die sogenannte Calwer Färberstiftung, eine soziale Einrichtung, die bis 1923 Bestand hatte.
Für den Wiederaufbau der Stadt, die im Dreißigjährigen Krieg nach der Schlacht bei Nördlingen 1634 durch die kaiserlichen Heere niedergebrannt wurde, beschaffte er unter anderem durch seine Schilderung des Elends in „Threni Calvensis“ Geld und leistete tatkräftige Hilfe, obwohl er selber seinen gesamten Besitz verloren hatte, darunter sein Haus, seine Bibliothek und seine Gemäldesammlung. Er gründete die karitative „Christliche Gottliebende Gesellschaft“, um der Stadt zu helfen. Doch als Calw 1638 noch einmal verwüstet wurde, flüchtete Andreae mit der Bevölkerung in den Schwarzwald. Nach dem Rückzug der Truppen kehrten von den 4000 Einwohnern nur noch 1500 zurück. Von ihnen starb die Hälfte während der Pest, die nun ausbrach.
1638 wurde der mittellose Andreae zum Hofprediger und Konsistorialrat in Stuttgart ernannt, wo er für eine grundlegende Kirchenreform eintrat. Er promovierte 1641 an der Universität Tübingen zum Doktor der Theologie. Seine Schrift „Theophilus“ veranlasste Herzog Eberhard III. 1642 im Herzogtum Württemberg den Kirchenkonvent einzuführen, eine Art Sittengericht, das Gemeindemitglieder verurteilte, die durch Glücksspiel, Fluchen, Zank oder anderweitig „gottesungefällige Lebensweise“ aufgefallen waren.
Nach den Schlachten des Dreißigjährigen Krieges war nur mehr knapp ein Drittel der Pfarrerschaft noch am Leben, eine Ausbildung von Theologen fand nicht mehr statt. Andreae stellte die Theologenausbildung im Tübinger Stift wieder her und baute das Schulwesen wieder auf, 1645 erließ er die Anordnung zur allgemeinen Schulpflicht in Württemberg als erstem Land in Europa. Für die Gemeinden verfügte er die Einrichtung von Kirchengemeinderäten.
1646 wurde Andreae auf Betreiben seines Bewunderers Herzog August von Braunschweig-Wolfenbüttel von Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen. Der Fürst verlieh ihm den Gesellschaftsnamen „Der Mürbe“ sowie das Motto „Bleibt doch frisch!“. Andreaes Emblem war das Moos. Im Köthener Gesellschaftsbuch findet sich unter der Nr. 464 das Reimgesetz, mit dem sich Andreae für die Aufnahme bedankte:
„Das grüne mürbe Moos, wie mans an Bäumen find
Im grünen Schattenwald, und immer frisch verbleibet
Macht, dass ich Mürbe heiß: Ob meine Jahre sind
Vom Alter mürbe schon, des Geistes Kraft mich treibet
Doch im Berufe frisch, und mich dazu verbind,
Dasws manches Kindlein wird dem Herren einverleibet:
Das ist die beste Frucht, die zur Erbauligkeit
Allein gerichtet ist, und bleibt frisch iederzeit.“
Zermürbt vom Widerstand des Klerus und des Adels gegen seine strenge Auslegung des Christentums und die sozialen Reformen, die er anstrebte, ersuchte Andreae 1646 um seinen Abschied von der Kirchenleitung, der ihm 1650 gewährt wurde. Im selben Jahr übernahm er als Generalsuperintendent und Abt im Kloster Bebenhausen die Leitung der Klosterschule Bebenhausen. Ab 1654 sollte er die evangelische Klosterschule von Adelberg leiten, doch konnte er diese Stelle nicht mehr antreten. Am 27. Juni 1654 starb der schon länger kränkliche Johann Valentin Andreae im Alter von 68 Jahren in Stuttgart. Er wurde auf dem Friedhof der Hospitalkirche beigesetzt.
Als Andreaes bedeutendstes Werk gilt seine 1619 erschienene, christliche Utopie „Christianopolis“, ein Schlüsseltext des utopischen Genres, der, dem Vorbild von Thomas Morus' „Utopia“ frei folgend, eine protestantische Idealgesellschaft entwirft: Ihr Verfassungsgrundsatz ist Gottesfurcht, jedermann hat Zugang zur Sternwarte, damit der Glaube wissenschaftlich befruchtet wird, in der Kirche werden belehrende Schauspiele aufgeführt. Die Teilnahme am Gottesdienst ist selbstverständlich, Luxus und aufwändige Kleider sind unmoralisch. Ein „praktisches Christentum“ verwirklicht sich in christlicher Liebe und Mildtätigkeit, Wissenschaft und Technik unterliegen ethischen Zielen und dienen dem Wohl der Menschen.
Andreaes Utopie ist vor allem pädagogisch geprägt. Er stellte unter anderem folgende Grundregeln für den Umgang mit Schülern auf:
„Bringe der Jugend nicht in einer fremden Sprache bei, was sie tun soll. Lehre die Jugend nicht, was sie nicht fassen und worüber sie sich kein Urteil bilden kann. Behandle im Unterricht nur das, was dem jeweiligen Alter angemessen ist und innerhalb seines Gesichtskreises liegt. Es darf nicht zu viel Abwechslung und Mannigfaltigkeit im Lerngeschäft sein, denn das macht die Geister zerstreut und wirr, wenn sie durch Verschiedenartiges zersplittert werden. Nicht vereinzeltes, gehäuftes, sondern verständiges Wissen hilft allein, indem mehr als gewiss ist, dass eine solche unzeitige Gemütsschärfe gar leichtlich also stumpf werden kann, dass sie ihr Lebtag aus den Furchen schreitet.“
Für den Unterricht ist Anschaulichkeit wichtig. Mit dem Plädoyer für bildhaftes Denken und den Anschauungsunterricht hat Andreae seinen Freund Johann Amos Comenius beeinflusst, der durch sein Buch „Orbis sensualium pictus“ berühmt geworden ist.
Andraes Anteil an der Entstehung der Rosenkreuzer-Legende ist umstritten. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass er der Schöpfer des Mythos der Rosenkreuzer mit der Figur Christian Rosencreutz und seinem Orden ist. Die Grundidee des Ordens war es, dass führende Wissenschaftler zusammen eine tätige Gesellschaft bilden, damit Wissenschaft, Christentum und Ethik nicht auseinanderfallen. Name und Symbol Christian Rosencreutz’ basieren auf dem Andreaeschen Familienwappen, die Figur selber vereinigt Charakterzüge von Martin Luther, Paracelsus und der naturwissenschaftlich maßgeblichen Philosophen der Antike.
In der Forschung wird diskutiert, dass Andreae zwar zum Mythos beitrug, doch die Ankündigung einer Reformation in seiner Erzählung Chymische Hochzeit nicht als Programm zu verstehen sei. In späteren Jahren distanzierte sich Andreae von seiner Schrift und verspottete die Alchemie offen in Abhandlungen wie „Fama fraternitatis“ und zählte sie neben Musik, Kunst, Theater und Astrologie zu den unseriösen Wissenschaften.
Vor allem durch seine 1615 in Tübingen unter dem Pseudonym Huldrich Starckmann veröffentlichte Schrift „Ein Geistlich Gemälde“, durch die Beschäftigung mit den biblischen Summarien, mit der Tugendlehre, der enzyklopädischen Struktur und der Emblematik beeinflusste Andreae das Umfeld der Prinzessin Antonia von Württemberg und wurde damit zum Wegbereiter für die Kabbalistische Lehrtafel, die als Stiftung der Prinzessin 1663 vollendet und 1673 in der Dreifaltigkeitskirche in Teinach aufgestellt wurde.
In seinen zehn Jahren in Stuttgart hielt Andreae über 1000 Predigten, davon 205 über den 1. Brief des Paulus an die Korinther. Seine Schriften stellten ein umfassendes Reformprogramm für Kirche und Gesellschaft vor, so warb er für die Einführung moderner Fremdsprachen, Naturwissenschaften und Turnübungen an den Schulen. Gegenstand der Schriften ist aber auch die wiederholte Klage Andreaes über den Widerstand, der ihm von den geistlichen und weltlichen Machthabern bei seinen Bemühungen zur Verwirklichung eines christlichen Lebens und zur Durchsetzung einer Kirchenzucht entgegengebracht werde.


FÜNFTES KAPITEL
Gerhard Tersteegen

Tersteegen stammte aus einem frommen Elternhaus. Er hatte fünf ältere Brüder und zwei Schwestern. Einer seiner Brüder war Prediger, die anderen Kaufleute. Der Vater, der Kaufmann Heinrich Tersteegen, verstarb bereits 1703. Im gleichen Jahr, also im Alter von sechs Jahren, begann er mit dem Besuch der Lateinschule Adolfinum, wo er auch Griechisch und Hebräisch lernte. Da seiner Mutter, Maria Cornelia Triboler, die Mittel für ein von ihm gewünschtes Theologiestudium fehlten, ging Tersteegen 1713 zu einem Schwager nach Mülheim, um Kaufmann zu werden. Nach Abschluss der Lehre im Jahr 1717 gründete er ein eigenes Geschäft. 1719 zog er sich jedoch bereits wieder aus dem Beruf zurück, da er ihn nach seiner „Erweckung“ mit 16 Jahren zu sehr zerstreute und vom Wachsen der Gnade abhielt. Er suchte sich ein stilleres Gewerbe zuerst als Leineweber, war dann als Seidenbandweber in kärglicher Armut und Einsamkeit. Zugleich nahm er an den Übungen, den wöchentlichen Erbauungsstunden, des Candidaten Wilhelm Hoffmann teil und ergriff hier auch selbst das Wort. 1728 gab er das Weben ganz auf und lebte von Gaben zu seinem Lebensunterhalt und für seine Mildtätigkeit. So wurde er Laienprediger und der einzige Mystiker des reformierten Pietismus, indem er unter anderem Schriften katholischer Mystiker, wie Teresa von Ávila, übersetzte. Er predigte auch am ganzen Niederrhein und in Holland. 1756 musste er dies wegen schlechter Gesundheit einschränken und im März 1769 erkrankte er an Herzinsuffizienz. Er starb friedlich am 3. April.
Gerhard Tersteegen beeinflusste maßgeblich die junge protestantische Erweckungsbewegung. Sein Büchlein „Geistliches Blumen-Gärtlein inniger Seelen“ von 1729 enthält Kirchenlieder, von denen manche noch heute gesungen werden: „Für dich sei ganz mein Herz und Leben“ („Ich bete an die Macht der Liebe“), „Gott ist gegenwärtig“, „Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Engel in Chören“.
Die Wechselwirkung zwischen Pietismus und staatstreuem Patriotismus entsprach dem religiösen Hintergrund der 1815 geschlossenen Heiligen Allianz zwischen Preußen, Österreich und Russland, der zum Teil, vermittelt über den Pietisten und zeitweiligen Freimaurer Johann Heinrich Jung-Stilling an Juliane Freifrau von Krüdener, auf Johann Albrecht Bengel zurückgeht. Dieser war der Ansicht, vor dem Beginn des ersten glücklichen Millenniums (1836) schlage der Teufel nochmals um sich; dagegen gelte es, sich zu wappnen.
Gerhard Tersteegen übte einen bedeutenden Einfluss auf den radikalen Pietismus aus. Seine Werke, vor allem das Predigtbuch „Geistliche Brosamen, von des Herrn Tisch gefallen, von guten Freunden aufgelesen und hungrigen Herzen mitgeteilt“, wurden in diesen Kreisen viel gelesen. Da Tersteegen unverheiratet blieb, deckte sich sein Ideal der sexuellen Askese mit dem der Radikalpietisten. Er wandte sich aber gegen die Abkehr von der Staatskirche, trotz aller Versuche der Herrnhuter Brüdergemeine, ihn für sich zu gewinnen.


SECHSTES KAPITEL
August Hermann Francke

Francke wurde als Sohn des Juristen und letzten Syndikus des Domkapitels am Ratzeburger Dom Johann Francke und dessen Frau Anna auf dem umfangreichen Besitz seines Großvaters rund um dessen Palais Brömserhof geboren. Heute steht an der Stelle das Logenhaus von Lübeck. Zu seinen Paten gehörte Sibylle Hedwig von Sachsen-Lauenburg, nach deren Vater Herzog August er den Namen August erhielt, sowie der Lübecker Bürgermeister Hermann von Dorne, der ihm den zweiten Vornamen gab. Er hatte acht Geschwister. 1666 wurde sein Vater Hof- und Justizrat des Herzogs Ernst des Frommen und die Familie zog nach Gotha. Dort starb der Vater am 30. April 1670. August Hermann wurde durch Privatlehrer ausgebildet, besuchte 1676 für ein Jahr das Gymnasium und wurde dann zwei weitere Jahre privat auf ein Hochschulstudium vorbereitet.
Ostern 1679 begann er an der Universität Erfurt bei Conrad Rudolph Hertz ein philosophisches Grundstudium, machte sich mit der griechischen Sprache vertraut und legte die Anfangsgründe eines theologischen Studiums. Sein Onkel Anton Heinrich Gloxin verschaffte ihm ein großzügiges Stipendium, womit er im Herbst 1679 ein Studium an der Universität Kiel fortsetzen konnte. 1682 hielt er sich zwei Monate in Hamburg bei Esdras Edzardus auf und kehrte nach Gotha zurück. In Gotha betrieb er anderthalb Jahre ein Selbststudium, studierte ab Ostern 1684 an der Universität Leipzig und wurde Schüler von Adam Rechenberg.
Nach kurzem Aufenthalt 1685 an der Universität Wittenberg erlangte er im selben Jahr in Leipzig mit einer Disputation über die hebräische Grammatik den akademischen Grad eines Magisters der Philosophie, habilitierte sich an der Leipziger Hochschule und hielt erste Predigten an der Leipziger Paulinerkirche. 1686 gründete er mit Paul Anton das Collegium philobiblicum, einen Verein von Magistern zur regelmäßigen Übung in der damals in hohem Grade auf den Universitäten vernachlässigten Exegese sowohl des Alten als auch des Neuen Testamentes. Dabei lernte er Philipp Jacob Spener kennen, der auf ihn maßgeblichen Einfluss ausübte.
1701 wurde er als auswärtiges Mitglied in die Königlich Preußische Sozietät der Wissenschaften aufgenommen.
1687 erlebte er seine mit Glaubenskrise und Neuanfang verbundene Bekehrung. Nachdem er als Wegbereiter des Pietismus, zunächst in Leipzig, dann in Erfurt für Aufsehen gesorgt hatte, wurde er an der Theologischen Fakultät der Universität Halle Professor für Griechisch und Orientalische Sprachen, später für Theologie. Auch hier sorgte sein Auftreten für heftige Auseinandersetzungen mit der lutherischen Orthodoxie. 1692 bis 1715 war Francke Pfarrer der St.-Georgen-Kirche in Halles Vorstadt Glaucha. Kontakte zu maßgeblichen Persönlichkeiten (bis hin zum preußischen Herrscherhaus) ermöglichten ihm schließlich 1715 eine Berufung in die Stadt, wo er 1715 bis 1727 Pfarrer der St.-Ulrich-Kirche war. Zeitgenossen rühmten Franckes Redekunst. „Der wohlbegabte und geistreiche Herr Francke zu Halle hat durch seine holdselige Deutlichkeit im Lehren und Predigen die Gemüter der Menschen an sich gezogen.“
Die Begründung der Franckeschen Stiftungen in Halle stellt sein eigentliches Lebenswerk dar. 1695 begann Francke Kinder in seiner Gemeinde Glaucha zu unterrichten und zu versorgen. Am 18. September 1698 wurde der Grundstein für ein neues Waisenhaus gelegt und innerhalb von 30 Jahren entstanden Schul- und Wohngebäude, Werkstätten, Gärten und eine Apotheke. In insgesamt 50-jähriger Bautätigkeit wuchs eine Schulstadt heran, in der bis zu 2500 Menschen lebten und an der Konzeption einer christlich inspirierten Gesellschaftsreform arbeiteten. Im Jahr 1708 projektierte Francke zudem einen notwendigen Krankenhausneubau. In seinen Instruktionen „Regeln für die Pflege- oder Kranken-Mutter“ legte Francke seine Vorstellungen von den Aufgaben der Pflegekräfte dar, die im frühen 18. Jahrhundert richtungsweisend wurden. Für Francke war das Gleichnis von der Fußwaschung Jesu aus dem Johannesevangelium vorbildhafte und paradigmatische Grundlage für die Tätigkeit von Kranken- und Pflege-Diakonissen.
Francke war zunächst auf direkte Spenden für sein Unternehmen angewiesen, vermochte aber durch schriftstellerische Tätigkeit, anstaltseigene Betriebe und fiskalische Privilegien die Einkünfte zu steigern. In seinem halleschen Unternehmen sah Francke einen Anfang für eine weltweite „Generalreformation“, die er insbesondere durch die Dänisch-Hallesche Mission und die Cansteinsche Bibelanstalt zu fördern suchte. Am Portal des Haupthauses seiner Stiftungen ließ er Jesaja 40,31 aufmeißeln: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler“. Darüber findet sich eine Abbildung von zwei zur Sonne auffliegenden Adlern, die zum bildlichen Symbol der Franckeschen Stiftungen wurden.


SIEBENTES KAPITEL
Johann Albrecht Bengel

Bengel studierte von 1703 bis 1706 an der Universität Tübingen als Stipendiat des Evangelischen Stifts zunächst die Freien Künste, dann Theologie. Danach wurde er Stiftsrepetent in einer Zeit, als das Stift stark vom Radikalen Pietismus beeinflusst war. Obwohl Bengel sich nie von der lutherischen Kirche trennte, sondern dort Karriere machte, hat sich diese Prägung stark ausgewirkt, vor allem in seiner intensiven Beschäftigung mit der Offenbarung des Johannes. Der junge Mann wurde Vikar und trat nach einer Studienreise nach Halle 1713 als Lehrer in das evangelische Kloster Denkendorf ein.
In Denkendorf beeinflusste er zwei Generationen von Schülern, die als pietistische Pfarrer in Erscheinung traten und eine erhebliche Wirksamkeit innerhalb der Landeskirche entfalteten. 1741 wurde er Prälat von Herbrechtingen, 1749 Abt von Alpirsbach.
Mit Zinzendorf hatte er 18 Jahre lang Streit, wodurch es zu einem Bruch zwischen der Herrnhuter Brüdergemeine und der von Bengel vertretenen Richtung des württembergischen Pietismus kam. In diesem Streit stellte sich Bengel mit seiner klaren systematisierenden Einsicht in den göttlichen Heilsplan gleichsam dogmatisch gegen das dynamische, allem Systematischen abholde ökumenisch-missionarische Streben Zinzendorfs. So schreckte Bengel nicht vor chronologischen Manipulationen historischer Kalendarien zurück, was Zinzendorf gleichsam als abergläubische Zeichendeuterei abtat.
Bengel gilt als der wichtigste württembergische Pietist des 18. Jahrhunderts und tat sich besonders in der Exegese des Neuen Testaments und seinen chiliastischen Endzeittheorien hervor. Er ist einer der Begründer der Textkritik des Neuen Testaments, da er einen beträchtlichen Teil seiner Forschungsarbeit darauf verwendete, die Lesevarianten zu untersuchen, die durch die verschiedenen Manuskripte überliefert waren. Er kam dabei zu dem in der Textkritik noch immer angewendeten Grundsatz, dass die „schwierigere Lesart der leichteren vorzuziehen sei“. Dieser Grundsatz basiert auf der Erkenntnis, dass wenn Kopisten ihre Texte bewusst veränderten, dies in der Regel passierte, weil sie versuchten, den Text zu verbessern oder zu harmonisieren. Um den älteren und damit möglicherweise originalen Text erkennen zu können, ist die „schwierigere“ Lesart in der Regel vorzuziehen. Auf Bengel geht außerdem die Methode der Textkritik zurück, die Dokumente in eng miteinander verbundene Gruppen einzuteilen. Damit wird eine Stammlinie von Dokumenten entwickelt.
1734 erschien eine textkritische Ausgabe des Neuen Testaments, wo er an der Verbalinspiration festhielt, welche er mit dem auf Luther („scriptura sui ipsius interpres“) zurückgehenden Satz begründete: „Die Heilige Schrift wird durch nichts sicherer als durch sich selbst ausgelegt“.
1740 erschien die „Erklärte Offenbarung Johannis“, worin er aus Offenbarung 20 in chiliastischer und postmillenaristischer Manier den Beginn des ersten eschatologischen Millenniums (Zeitraums von tausend Jahren) für den 18. Juni 1836 berechnete. Bengel vertrat in der Eschatologie einen Dis-Chiliasmus, das heißt die Auffassung, dass der persönlichen Wiederkunft Christi und dem Jüngsten Gericht ein Zeitraum von zweimal („dís“) tausend Jahren vorausgehen sollte. 1742 veröffentlichte er den lateinischen „Gnomon Novi Testamenti“, einen um Genauigkeit bemühten Kommentar zum Neuen Testament, der den wahren Sinn des Textes aufschließen sollte. „Gnomon“ bedeutet „Zeiger“, ursprünglich den Schattenzeiger an der Sonnenuhr; mit dieser emblematisch ausgerichteten Begriffswahl weist Bengel auf sein Interesse an der seiner Ansicht nach chronologisch fassbaren, berechenbaren Heilsgeschichte hin.
Noch lange nach seinem Tod wirkten die Gedanken Bengels in Württemberg nach. Beispielsweise wurde auch Johann Tobias Beck von ihm geprägt. Beck beeinflusste seinerseits einen Sohn seines Schülers Fritz Barth, den weltberühmten Theologen Karl Barth, in dessen Frühzeit. Freilich wurden Bengels Ideen von einem Teil seiner Anhänger stark umgedeutet. Der Akzent wurde bei diesen im Anschluss an Offenbarung 19 auf die dem Beginn des ersten Jahrtausends vorausgehenden Gerichte gelegt, und sie gingen im Gegensatz zu Bengel von einer persönlichen Wiederkunft Christi im Jahre 1836 aus. Als im frühen 19. Jahrhundert Missernten auftraten und Württemberg in eine schwere Krise stürzte, schienen sich solche Erwartungen zu erfüllen. Deshalb kam es 1817 zu einer starken Auswanderungsbewegung in den Kaukasus, das damalige Südrussland. Da Palästina wegen der osmanischen Herrschaft nicht zugänglich war, wollte man dem wiederkommenden Christus wenigstens ein Stück weit entgegen ziehen. Aber 1836 blieb die erwartete Wiederkunft aus.


ACHTES KAPITEL
Friedrich Christoph Oetinger

Als Theologiestudent im Evangelischen Stift Tübingen begegnete Oetinger 1725 den Schriften Jakob Böhmes, mit denen er sich fortan intensiv beschäftigte. Außerdem wurde er in seiner Hochachtung vor der Bibel entscheidend geprägt von Johann Albrecht Bengel, der zur gleichen Zeit in sein Blickfeld trat. Nach dem Studium unternahm Oetinger eine ausgedehnte Reise durch Deutschland, auf der er in Frankfurt ersten Zugang zur Kabbala fand. In Herrnhut lernte er die Arbeit des jungen Zinzendorf kennen. Im April 1731 wurde Oetinger Repetent im Tübinger Stift. Nach einer Reise Zinzendorfs nach Württemberg im Jahr 1733 reiste Oetinger nochmals für längere Zeit in die Oberlausitz. Es folgt eine kurze Dozententätigkeit in Halle, ehe sich Oetingers langer innerer Kampf für oder gegen eine Pfarrstelle in Württemberg entschied: Im Frühjahr 1738 wurde er Pfarrer in Hirsau bei Calw und heiratete im selben Jahr Christiana Dorothea Linsenmann aus Urach.
Um in der Nähe seines verehrten Lehrers Johann Albrecht Bengel sein zu können, wechselte Oetinger 1743 auf die Pfarrstelle Schnaitheim bei Heidenheim. 1746 wurde er Pfarrer in Walddorf bei Tübingen. An der alten Sulzeiche dort soll er „den Geistern gepredigt“ haben. 1752 wurde er Stadtpfarrer von Weinsberg und Spezialsuperintendent des Kirchenbezirks Weinsberg, bevor er 1759 als Stadtpfarrer und Spezialsuperintendent nach Herrenberg ging. 1765 wurde er Stadtpfarrer in Murrhardt, gleichzeitig Abt und Prälat des evangelischen Klosters Murrhardt, dazu Herzoglicher Rat und Landschaftsabgeordneter.
Zeitlebens war der vielseitig interessierte Mann umstritten. So ließ das Stuttgarter Konsistorium im März 1766 sämtliche Exemplare seines Werks „Swedenborg und andere irdische und himmlische Philosophie“ aus dem Jahr 1765 beschlagnahmen. Oetinger verteidigte darin Swedenborgs Anschauung vom Reich der Geister, distanzierte sich aber in den Folgejahren von dessen allegorischer, zu wenig leiblicher Deutung der Apokalypse des Johannes. Selbst gegenüber Johann Albrecht Bengels nicht selten spirituell deutender Exegese der Apokalypse und gegenüber Oetingers einstigem Herrenberger Vikar Philipp Matthäus Hahn, der zunächst lange Zeit Bengels Deutung folgte, spitzte Oetinger jetzt seinen biblischen Realismus zu. Er fand in seinem Werk „Biblisches und Emblematisches Wörterbuch“ zu dem berühmten Satz: „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes, wie aus der Stadt Gottes klar erhellt.“ Oetingers Denken ist – auch in der aufklärungskritischen Grundhaltung – verwandt mit dem von Johann Georg Hamann: „Hamann wie Oetinger geht es darum, die Einheit von Geschichte und Natur zu denken, angesichts der Gefährdung der Tradition und angesichts einer Wissenschaft, die als moderne Naturwissenschaft Natur quantifiziert und in der experimentellen Isolierung zum Objekt macht. Beider Ziel ist es, dass der Mensch nicht des Sinnes verlustig gehe, den er in Vermittlung mit der Überlieferung gewinne, und dass der Mensch sich als Einheit von Geist und Leiblichkeit, als dem, womit er Natur ist, verstehen kann.“
Oetinger hat viele Dichter und Denker beeinflusst, wie Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Justinus Kerner, Eduard Mörike und Hermann Hesse.