von Josef Maria von der Ewigen Weisheit
ERSTE SEKTION
INDISCHE PHILOSOPHIE
ERSTES KAPITEL
NYAYA
Als Gründer des Nyaya gilt der legendäre Rishi Gautama, der in der Tradition auch unter dem Beinamen "Akshapada" ("Augenfüßler") bekannt ist. Er ist Verfasser der "Nyaya-Sutras", die im 2. Jahrhundert vor Christus entstanden.
Das "Nyayabhashya", ein von Vatsyayana Pakshilasvamin (5. Jahrhundert nach Christus) verfasster Kommentar zu den "Nyaya-Sutras", enthält erstmals den für die Logik der indischen Philosophie typischen fünfgliedrigen Syllogismus:
These: Auf dem Berg ist Feuer.
Begründung: Weil dort Rauch zu sehen ist.
Beispiel: Wo Rauch ist, dort ist Feuer, wie in der Küche.
Anwendung: Es ist Rauch auf dem Berg zu sehen.
Schlussfolgerung: Also ist auf dem Berg Feuer.
Im 7. Jahrhundert nach Christus findet mit der "Nyayavarttika", einem Kommentar zum "Nyayabhashya" von Bharadvaja Uddyotakara, eine Neuorientierung hin zum Theismus statt. Im 10. Jahrhundert nach Christus erlischt das Nyaya in seiner klassischen Form, indem es vollständig im Schwestersystem des Vaisheshika aufgeht. Dieser Schritt wurde von Udayana eingeleitet, der in seinen theistisch ausgerichteten Werken "Atmatattvaviveka" und "Nyayakusumanjali" eine Philosophie der Synthese vertrat, mithilfe derer er beide Systeme mit der Vorstellung eines Gottes ("Ishvara") in Einklang bringen wollte. Er versuchte sich in diesem Rahmen auch an einem Gottesbeweis, vor allem als Reaktion gegen die buddhistischen Schulen. Erst im Laufe des 12. Jahrhunderts nach Christus wurde das System mit dem Aufkommen des "neuen Nyaya" als eigenständige Schule wiederbelebt - eine Entwicklung, die auf Gangesha Upadhyaya, den Verfasser der "Tattvacintamani" ("Wunschsteine der Wahrheit"), zurückgeht.
Das Nyaya wird traditionell "Debattierwissenschaft" oder auch "Diskussionswissenschaft" genannt. Es dreht sich in diesem System alles um eine analytische Herangehensweise an die Erkenntnis und das Wissen. Der thematische Ansatz besitzt somit eine starke soteriologische Komponente, die über den Anspruch der reinen Wissensgewinnung hinausreicht. Ziel des Nyaya ist es, die zur Befreiung aus dem Wiedergeburtenkreislauf Samsara notwendigen Mittel genauestens zu untersuchen, und zu erörtern, welches Wissen eine Voraussetzung für die Erlösung darstellt. Metaphysik und Ontologie stehen im klassischen Nyaya eher im Hintergrund, da diese Themengebiete bereits vom Schwestersystem des Vaisheshika vollständig abgedeckt werden - dazu gehören die Atomtheorie und die Karmalehre, welche das Nyaya-System anerkennt.
In seiner Erkenntnistheorie und Logik setzte das Nyaya eigene Maßstäbe, die von den meisten Systemen der indischen Philosophie akzeptiert wurden, insbesondere die Lehre von den "Erkenntnismitteln" und die Lehre der "16 Kategorien".
Alles Wissen, das zur Befreiung notwendig ist, setzt vier Bedingungen voraus:
Das Subjekt, den "Erkennenden",
Das Erkenntnisobjekt, wovon das Nyaya insgesamt zwölf angibt. Das sind im Einzelnen:
das Selbst (atman)
der Körper
die Sinne
die Sinnesobjekte
der Intellekt (buddhi)
der Geist (manas)
Aktivität
Unzulänglichkeit, Mangel
Wiedergeburt
Frucht
Leid
Erlösung
Das Erkennen
Das Erkenntnismittel, wovon das Nyaya vier anerkennt:
Wahrnehmung
Schlussfolgerung
Vergleich
verbale Mitteilung
Das Nyaya arbeitete sechzehn Kategorien aus, die die Ermittlung gültigen Wissens im Diskussionsverlauf anhand aufeinander folgender Stufen beschreiben. Sie setzten sich in philosophischen Debatten weitgehend als allgemein akzeptiertes Standardreglement durch.
Erkenntnismittel
Erkenntnisobjekt
Zweifel
Absicht
Beispiel
Satz
Glieder einer Schlussfolgerung
Überlegung
Sichere Entscheidung
Diskussion
Argumentationsstrategie
Kritik
Scheinargumente
Sinnverdrehungen, Unterstellungen
irreführende Einwände
Widerlegung, Niederlage
Das Nyaya unterscheidet zwischen vier verschiedenen Formen der Negation. Die Verneinung von Aussagen sei ein Teil der Erkenntnistheorie und wurde von dieser Schule gesondert beschrieben.
Apriori-Negation (Beispiel: Die Sonne scheint nicht in der Nacht)
Posteriori-Negation
Totale Negation (Beispiel: Die Luft hat keine Farbe)
Reziproke Negation (Beispiel: Sein und Nichtsein schließen sich gegenseitig aus)
ZWEITES KAPITEL
VAISHESHIKA
In seiner Elementenlehre geht das Vaisheshika von fünf Elementen aus: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther. Diese Elemente werden durch bestimmte Eigenschaften gekennzeichnet. Die Erde durch Festigkeit, das Wasser durch Flüssigkeit, das Feuer durch Hitze und die Luft durch Beweglichkeit. Daneben besitzen die Elemente eine zweite Reihe von Eigenschaften, welche die Gegenstände der Sinneswahrnehmungen bilden: Form, Geschmack, Geruch, Berührung und Ton. Erde hat Form, Geschmack, Geruch und Berührung. Wasser hat Form, Geschmack und Berührung. Feuer hat Form und Berührung. Luft hat Berührung. Der Gegenstand des fünften Sinnes, der Ton, hat zum Träger das fünfte Element, den Äther, der nur diese Eigenschaft besitzt. Die übrigen Eigenschaften sind im Äther nicht enthalten. Da der Ton sich überall hin verbreitet, nahm man an, dass der Äther alldurchdringend ist.
Man versuchte die Welt der Erscheinungen zu kategorisieren, indem man zu allen Eigenschaften Listen erstellte. So wurden sechs Arten des Geschmacks angenommen: süß, sauer, salzig, bitter, scharf und herb. Umfangreicher waren die Listen für die Eigenschaften Berührung und Form. Größere Schwierigkeiten bereiteten Licht und Schatten. Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Schatten nichts anderes ist als das Fehlen von Licht.
Der Mensch besteht nach Auffassung des Vaisheshika aus einem Leib und einer Seele. Die Seele selbst ist der Träger der geistigen Persönlichkeit, und sie ist es auch, welche beim Tode von einer Verkörperung in die andere übergeht. Die Seele ist auch die Trägerin des psychischen Geschehens. Einen feinstofflichen Leib kennt das Vaisheshika nicht. Neben der Seele gibt es nur den groben Körper. Dieser besteht aus Erde. Das Vaisheshika zeigte von frühester Zeit an eine Abneigung gegen die Annahme einer Mischung der Elemente. Die Pflanzen zählte man nicht zu den Lebewesen. Als Wesen, welche die Welt bevölkern, wurden Götter, Menschen und Tiere genannt. Mit den Göttern beschäftigte man sich jedoch nur am Rande.
Eine der bemerkenswertesten Lehren, die das Vaisheshika hervorgebracht hat, ist die Atomlehre: Wenn man etwas teilt, so geht diese Zerlegung bis zum Atom. Und zwar spricht man vom Atom, weil die Reihenfolge von immer Kleinerem bei der Teilung hier ein Ende hat, da es nichts Kleineres mehr gibt. Wenn wir einen Erdklumpen in seine Teile zerlegen, so wird das Folgende immer kleiner. Die Atome sind der Gestalt nach gleich. Dabei besitzen sie bestimmte Eigenschaften, nämlich die charakteristischen Eigenschaften des jeweiligen Elements.
Alles Geschehen beruht auf Bewegung, auf Stoß und Gegenstoß, die von ewigen Naturkräften verursacht werden. Es ist die Bewegung, welche die Atome zusammenführt und die Dinge entstehen lässt. Und es ist wieder Bewegung, welche den Zusammenhalt der so vereinigten Atome sprengt und die Dinge vernichtet.
Im Hinblick auf die Betrachtung der Seele machte das Vaisheshika eine Entwicklung durch. Die Lehre von einer Weltseele war ihm anfangs fremd, hingegen wurden zahlreiche Einzelseelen angenommen. Während in der frühen Phase die Seelen als grundsätzlich gleichwertige Faktoren beim Aufbau der Erscheinungswelt betrachtet wurden, hatte man sie später als etwas wesentlich Verschiedenes erkannt. An Stelle der im Wesenskreislauf wandernden körpergroßen Seelen war die Vorstellung von ihrer unendlichen Größe und ewigen Unbewegtheit getreten. Nachdem die Eigenschaften ihre feste Verbindung mit der Seele verloren hatten, ähnelte die Seelenvorstellung des Vaisheshika immer mehr der von Atman in den Upanishaden, ohne jedoch deren Vorstellungen von Erlösung zu übernehmen.
Die Kategorienlehre stellt den wichtigsten Teil des Vaisheshika dar und baut auf der älteren Elementenlehre auf. Das orthodoxe Vaisheshika-System, wie es Prashastapada (6. Jahrhundert nach Christus) darstellt, kennt sechs Kategorien: Substanz, Eigenschaft, Bewegung, Gemeinsamkeit, Besonderheit und Inhärenz. Allen diesen Kategorien sind drei Merkmale gemeinsam, das Vorhandensein, die Erkennbarkeit und die Benennbarkeit. Diese Kategorien sind keine eigenständigen Wesenheiten, sondern verschiedene Formen des Seins, welche nur in Verbindung miteinander möglich sind. Dabei stellen die Substanzen die Träger dar, alle anderen Kategorien haften an den Substanzen. Es gibt neun Substanzen: die Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft. Diese sind ewig soweit sie aus Atomen bestehen. Äther, Raum und Zeit gelten als alldurchdringend, ewig und sind je eins. Die Seelen, es gibt zwei Arten von Seelen, eine allwissende Seele (Gott) und eine große Zahl individueller Seelen. Manas, das Denkorgan, wird als atomklein und in ebenso großer Zahl wie die Seelen angenommen, da zu jeder Seele ein Manas gehört, das die Verbindung zwischen der Seele und der Außenwelt herstellt.
Die Idee eines Ishvara, eines Weltenherrschers, wird in den Sutras des Kanada nicht ausdrücklich genannt. Es gibt Stellen, die nach Meinung von Kommentatoren von ihm als dem Urheber des Veda handeln. Die sittliche Weltordnung und der durch sie bedingte gesetzmäßige Verlauf des Weltprozesses scheinen sich für Kanada jedoch einzig und allein durch die fortschreitende Kraft der guten und bösen Werke zu erklären. Da es zu den Sutras keinen Kommentar gibt, kann man nur vermuten, dass die Annahme eines Weltenherrschers dem religiösen Empfinden des Einzelnen überlassen wurde. In einer späteren Erläuterungsschrift des Prashastapada (5. Jahrhundert nach Christus) wird erstmals in diesem System der große Weltenherr (Maheshvara) genannt, der die periodische Schöpfung und Zerstörung der Welt in Gang setzt. Die Kommentatoren zu Prashastapadas Buch, Udayana und Shridhara, vertraten den Theismus, worin ihnen auch alle späteren Kommentatoren folgten.
DRITTES KAPITEL
SAMKHYA
Die Überlieferung nennt Kapila, Autor des verlorengegangenen Samkhya-Sutra, als Begründer des Systems. Ob es sich hierbei um eine historische oder um eine rein legendäre Person handelt, ist in der Forschung umstritten. Als wichtigste Textquelle gilt das älteste erhaltene Werk der Tradition, die Samkhya-Karika von Ishvarakrishna, eine Sammlung von insgesamt 72 Lehrstrophen, die zwischen 350 und 450 nach Christus verfasst wurde. Aus diesem Text ist die Lehre in der vorliegenden Form bekannt. Als Kernzeit des Samkhya ist die klassische Epoche anzusehen (400 vor. Christus bis 700 nach Christus). Das Mahabharata, das große indische Epos (300 vor Christus bis 500 nach Christus) wurde deutlich vom Samkhya beeinflusst. Das Samkhya war schon früh mit dem Yoga eine enge Verbindung eingegangen. Das Samkhya lieferte die Theorie, das Yoga bildete die Praxis. Aufgrund dieses ergänzenden Aspekts werden die beiden Systeme auch unter der Wortkombination "Samkhya-Yoga" paarweise zusammengefasst. Gegen Mitte des ersten Jahrtausends ging das System des Samkhya vollständig im Yoga auf und zählt daher heute vielfach zu den erloschenen Traditionen der indischen Philosophie, auch wenn viele ihrer Grundideen durch Aufnahme in die Lehrgebäude zahlreicher nachfolgender Strömungen weiterhin am Leben erhalten wurden.
In einer langen Liste von Indizien zeigt Helmuth von Glasenapp, dass der genannte Autor des Samkhya-Sutra, der Rishi Kapila, als Theist oder Panentheist zu bezeichnen ist. So behaupten viele indische Schriftsteller der späteren Zeit, wie Madhva, Vallabha und andere, Kapila hätte ein Samkhya gelehrt, das den Upanishaden entsprach. Auch im Mahabharata treten Kapila und seine Schüler als Vertreter des Panentheismus und Streiter für die Sache Gottes auf. In den Puranas wird Kapila mit der Lehre vom All-Geist in Verbindung gebracht. Alle älteren Texte lassen nur den Schluss zu, dass mit Samkhya eine Lehre bezeichnet wurde, die einen Universalen Geist als Urgrund der Vielheit annahm und sich im Aufzählen der Weltelemente von den älteren Upanishaden unterschied. Dieser Umstand gibt eine Erklärung dafür, dass in den Upanishaden, in der Bhagavad-Gita und in den Puranas Vedanta und Samkhya nicht als Gegensätze erscheinen. Im Samkhya-Karika von Ishvarakrishna greift der Autor die Lehre vom Dasein eines Weltenherrn Ishvara nicht an, vielmehr wird das Gottesproblem überhaupt nicht behandelt. Erst die Kommentatoren zur Karika führen Gründe gegen das Dasein eines Ishvara an, so dass von 500 nach Christus an das klassische Samkhya eine ausgesprochen anti-theistische Haltung vertrat. Dennoch versuchte Vijnanabhikshu (16.Jaqhrhundert), dessen Kommentar Saṃkhyapravacanabhaṣya als sehr wichtiges Werk eingeschätzt wird, den Samkhya mit dem theistischen Yoga und dem Vedanta zu einem theistischen "nichtunterscheidbaren Nichtdualismus" zu vereinen.
Im Zentrum der Philosophie des Samkhya steht die Darstellung der "25 Wirklichkeiten" und die damit verbundene Lehre von Evolution und Involution. Sie ist exemplarisch für die Auffassung, dass bereits ein Verständnis der im Samkhya artikulierten kausal aufeinanderfolgenden Weltentstehungs-Stufen dazu ausreicht, die vollständige Erlösung aus dem Wiedergeburtenkreislauf zu erlangen, welche auch hier - wie bei den meisten philosophischen und religiösen Traditionen indischen Ursprungs - im Vordergrund steht. Jene Erlösung geht im Samkhya einher mit der Beendigung von drei Arten des Leidens:
Leiden unter physischen oder psychischen Krankheiten,
von Außen zugefügtes Leid durch Umwelteinflüsse oder Gewalt anderer
Leid durch Naturgewalt, Umweltkatastrophen oder übernatürliche Phänomene.
Das Samkhya vertritt im Rahmen seiner Metaphysik grundsätzlich einen Dualismus. Das Weltgeschehen wird auf zwei fundamentale Prinzipien zurückgeführt:
passiven, bewussten Geist (Purusha)
aktive, unbewusste Urmaterie oder Natur (Prakriti).
Purusha ist das Selbst, das allen fühlenden Wesen innewohnt. Es verleiht Menschen, Tieren, Pflanzen sowie Göttern Empfindungsfähigkeit und Bewusstsein. Prakriti ist die schöpferische Kraft hinter allen psychophysischen wie materiellen Gegebenheiten des Seins, zu denen auch Körperlichkeit, Denkprozesse und Wahrnehmung gehören. Da der Mensch, dessen wahre und ursprüngliche Identität einzig und allein Purusha ist, die zur Sphäre der Prakriti gehörigen Aspekte irrtümlicherweise für Bestandteile seiner selbst hält, wird er aufgrund dieser Verwechslung in Leiden verstrickt. Es ist daher in der Lehre des Samkhya von entscheidender Bedeutung für den nach Erlösung Strebenden, die beiden Substanzen und ihre Merkmale streng voneinander unterscheiden zu lernen.
Der Urmaterie Prakriti werden im Samkhya drei Eigenschaften zugeordnet:
das Seiende, Reinheit, Klarheit
Bewegung, Energie, Leidenschaft
Trägheit, Finsternis, Schwere
Das Verhältnis zwischen Prakriti und dieser ihr innewohnenden drei Kräfte wird in diversen Analogien illustriert und darin mit der Beziehung zwischen Lampe, Flamme und Docht oder mit einem aus drei Fäden bestehenden Zwirn verglichen. Wenn sich die Eigenschaften im Gleichgewicht befinden, verbleibt die Prakriti in ihrem unmanifestierten Zustand als reine, undifferenzierte Potentialität. Sie wird in diesem Stadium als "Wurzel der Urmaterie“ bezeichnet, da in ihr die gesamte Welt verborgen liegt, wie ein Baum im Samenkorn. Aufgrund der bloßen Nähe der Prakriti zu einem Purusha wird diese Balance jedoch gestört, und es kommt zu einem universellen Entfaltungsprozess, in dem die latente Schöpfungskraft der Prakriti die gesamten Phänomene der Welt hervorbringt.
Aus der Urmaterie entspringt die kosmische Intelligenz oder höhere Vernunft (buddhi), und daraus das Ichbewusstsein. Das Ichbewusstsein ist seinerseits der Ursprung des Denkvermögens, aus dem die zehn Sinnesorgane entstehen. Diese Sinnesorgane umfassen die fünf Erkenntnisvermögen und die fünf Tatvermögen. Aus den Sinnesorganen gehen die fünf feinstofflichen Elemente Ton, Berührung, Gestalt, Geschmack, Geruch, und die fünf grobstofflichen Elemente Raum, Luft, Feuer, Wasser, Erde hervor. Insgesamt sind dies, zusammen mit Purusha, die "25 Wirklichkeiten".
Diese Manifestation vollzieht sich ohne aktive Einwirkung des Purusha, der in seinem Wesen stets unbeteiligter Zuschauer oder Zeuge ist. Er löst inaktiv, durch seine bloße Gegenwart, die Evolution aus, und die Rolle der "causa materialis" kommt allein Prakriti zu, die daher auch die erste Ursache genannt wird. Anhand dieser Auffassung lässt sich auch das vom Samkhya vertretene Kausalitätsmodell der "Lehre vom Sein der Wirkung" erklären, nach dem die Ursache bereits der Wirkung immanent ist: die Wirkung bringt laut dieser Betrachtungsweise nichts wirklich Neues hervor, sondern das Entstehen ist lediglich die Wiederkehr der ewig gleichen Substanz, die ständig neu modifiziert und transformiert wird. Ursache und Wirkung sind identisch. Die Samkhya begründen dies damit, dass, wenn die Ursache von der Wirkung verschieden wäre, es keine gemeinsame Verbindung zwischen den beiden gäbe, und daher alles ganz willkürlich entstehen könnte (etwa Milch aus einem Stein). Wäre die Ursache nicht bereits der Wirkung immanent, müsste die Wirkung aus dem Nichts gekommen sein, da sie vor ihrer Manifestation nicht existierte, und dies ist nicht möglich, so das Samkhya, da es nichts gibt, das aus dem Nichts entstehen kann. So wie Käse eine andere Form von Milch ist, beide jedoch die gleiche Beschaffenheit haben, so ist die Wirkung nur eine andere Form der Ursache.
Obwohl der Purusha im Samkhya als "jenseits von Raum, Zeit und Kausalität", als "ewig rein und frei" beschrieben wird, stellt er in dieser Philosophie keinen einzigartigen, ungeteilten, alldurchdringenden Urgrund dar wie das Brahman der Upanischaden, sondern es existiert eine unendliche Anzahl von individuellen Purushas. Das hängt sowohl mit der Soteriologie als auch mit der Realitätsauffassung des Samkhya zusammen. Im Gegensatz zu monistischen Systemen, insbesondere dem Advaita Vedanta, werden hier die Abläufe von Entstehen und Vergehen sowie die Trennung zwischen den einzelnen Dingen nicht als etwas Relatives angesehen, dessen Für-wirklich-Halten auf Unwissenheit und Verblendung beruht. Die strikte Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt - zwischen Wissendem und Gewusstem, Wahrnehmendem und Wahrgenommenem - soll im letzten Schritt nicht als illusorisch erkannt werden wie im Advaita, sondern macht gerade umgekehrt die wahre Realität aus. Subjekt und Objekt müssen nur richtig voneinander unterschieden werden.
Purusha und Prakriti sind im Samkhya beide als fundamentale Instanzen ebenso wirklich wie die Vielheit der Objekte in der empirischen Welt. Um nun diesen ontologischen und metaphysischen Realismus aufrechterhalten zu können, und eine Befreiung aus dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten vor diesem Hintergrund plausibel zu machen, bedarf es einer Art von "Seelenpluralismus". Da jeder Mensch einen Purusha beherbergt und auch nur einzeln erlöst werden kann, muss es notwendigerweise viele Purushas geben, da ansonsten durch die Erlösung des Einzelnen gleichzeitig alle anderen ebenso erlöst würden, was der universellen Wirklichkeitsauffassung des Samkhya widerspräche. Eine Herabstufung der Prakriti zu einer Realität zweiten Grades, wie sie im Advaita durch die Gleichsetzung von Prakriti mit Maya vorgenommen wird, kommt daher für die Vertreter des Samkhya nicht in Frage.
Darüber hinaus wird mit dem Argument, dass die Präsenz des Purusha den Grund für das Ungleichgewicht der Eigenschaften innerhalb der Prakriti darstellt und daher zwei Instanzen für eine Weltentstehung notwendig sind, ein Monismus zurückgewiesen. Ein alldurchdringendes Wesen in der Gestalt einer "letzten Wirklichkeit", eines "Einen ohne Zweites" (Ishvara, Brahman) wird in dem klassischen anti-theistischen Sankhya kategorisch ausgeschlossen. Dies ändert sich in der späteren, theistischen Ausprägung des Samkhya, die sich dem Schwestersystem des Yoga angleicht und Ishvara als Schöpfer mit in ihr Lehrgebäude aufnimmt. Das Gesetz des Karma vollzieht sich im klassischen Samkhya noch ohne Einwirkung eines höchsten Gottes. Auch diese Auffassung teilt dieses System mit dem Jainismus sowie auch mit dem Buddhismus, die beide ungefähr zeitgleich mit Samkhya entstanden.
Im Samkhya werden drei Erkenntnismittel als gültig anerkannt:
Wahrnehmung
Schlussfolgerung
die Überlieferung durch einen Meister oder heilige Schriften.
Der Erkenntnis wird im Samkhya ein übermäßig hoher Stellenwert beigemessen. Das Erlernen der Vorgänge im kosmischen Entstehungsprozesses und das Bewusstwerden des Sachverhaltes, dass Purusha und Prakriti völlig verschieden sind, keine wirkliche Verbindung miteinander eingehen, und der Purusha von jeher gänzlich frei und unabhängig ist, führt laut Samkhya bereits zu einer Umkehr des Manifestationsprozesses. Ein Wissen um die Rolle des Purusha als "wahres Ich" des Menschen und als von jeglichem Leiden unberührter Zuschauer des schöpferischen Geschehens von Prakriti - nur in deren Sphäre existiert Leiden - ist bereits Erlösung, die nach dem physischen Tod das Ende aller Wiedergeburten und jeglicher Karma-Bindung mit sich bringt. Das Universum löst sich daraufhin wieder vollständig in die Erste Ursache auf und verbleibt dort im Zustand des wiederhergestellten Gleichgewichts der Eigenschaften.
Es gibt im Zusammenhang mit der Erlösungslehre des Samkhya mehrere Gleichnisse, die den Ablauf der Befreiung versinnbildlichen sollen. Eines davon ist das Gleichnis vom Blinden und vom Lahmen. Der Blinde entspricht der aktiven Prakriti, und der Lahme dem inaktiven Purusha. Sie tun sich zusammen und helfen einander, um gemeinsam sicher an ihr jeweiliges Reiseziel zu gelangen. Dabei nimmt der Blinde den Lahmen huckepack und trägt ihn, der Lahme weist dafür dem Blinden die Richtung. Am Ziel ihrer Reise angelangt, trennen sich ihre Wege wieder. Beide haben die ihnen jeweils zukommende Aufgabe zur Gänze erfüllt. In einem anderen Gleichnis wird Prakriti mit einer Tänzerin verglichen, die sich unbeobachtet fühlt, bis sie erkennt, dass ihr die ganze Zeit zugesehen wurde. Verschämt bricht sie ihren Tanz ab, so wie Prakriti ihren Schöpfungsprozess abbricht, nachdem der Purusha zur Erkenntnis gelangte, bloßer unbeteiligter Zuschauer des Weltgeschehens zu sein.
Rituale, Opfer werden vom Samkhya abgelehnt. Yoga wird als Methode für den physischen Bereich gesehen: das Abziehen der Sinnesorgane von den Sinnesobjekten. Überwiegt die Reinheit beim Menschen, welche Helligkeit und Klarheit und somit Erkenntnisfähigkeit verkörpert, so hat dies direkten Einfluss auf die Sinnesorgane, und der Mensch ist einer Erkenntnis fähig.
VIERTES KAPITEL
YOGA
Bereits die älteren Upanishaden (700 vor Christus) beschreiben Atemübungen und das Zurückziehen der Sinne in den Atman (Geist) als Hilfsmittel der Meditation. Die mittleren Upanishaden, die um 400 vor Christus entstanden, erwähnen mehrfach den Begriff Yoga und auch die wesentlichen Elemente des späteren Yoga-Systems. Der Yoga stand hierbei in enger Verbindung mit den Theorien, wie sie das philosophische System des Samkhya entwickelte, und bildete seine praktische Weiterführung.
Im indischen Epos Mahabharata um 300 vor Christus nimmt der Yoga bereits einen bedeutenden Platz ein und wird als praktisches Gegenstück zum theoretischen Sankhya erwähnt. Während im Mahabharata und in den älteren Puranas der Weise Kapila und andere als Begründer des Yogas genannt werden, erscheint an dieser Stelle in jüngeren Puranas Patanjali. Es darf jedoch angenommen werden, dass Patanjali die überlieferten Yoga-Lehren zwischen dem 2. Jahrhundert vor Christus und 4. Jahrhundert nach Christus zusammenfasste. Sein Werk besteht aus 194 kurzen, auf vier Bücher verteilten Merksprüchen (Sutras).
Die klassischen indischen Schriften beschreiben vier Yogawege:
Raja Yoga nennen sich die meditativ orientierten Stufen des Achtgliedrigen Yoga
Jnana Yoga (Yoga der Erkenntnis, intellektuelle Richtung)
Karma-Yoga (Yoga der Tat, des selbstlosen Handelns)
Bhakti-Yoga (Yoga der Liebe, Verehrung, Hingabe an Gott)
Nachdem Vasco da Gama 1498 den Seeweg nach Indien entdeckt hatte, trieben die Portugiesen Handelsgeschäfte und hielten sich mit der christlichen Missionierung zurück. Die ab 1539 zunächst in Gestalt von Jesuitenmönchen aus Portugal nach Indien kommenden Missionare lehnten Yoga als Ausprägung des Hinduismus und als heidnisch ab. Ausgehend von Goa, der „Hauptstadt des Christentums in Asien“, wurde darauf hingewirkt, dass die unter portugiesischer Herrschaft lebenden Inder der christlichen Religion folgten. Auch englische Kolonialherren (1756–1947) waren dem Yoga gegenüber wenig offen. Yoga wurde als ein Teil der indischen Kultur angesehen, der mit den englischen Werten zu ersetzen war. Britische Missionare verbreiteten die anglikanische oder andere Protestantische Konfessionen.
Ursprünglich war Yoga ein rein spiritueller Weg, der vor allem die Suche nach Erleuchtung durch Meditation zum Ziel hatte. Die vielen Methoden entstanden erst im Laufe der Zeit. Ihr vorrangiges Ziel ist, den Körper so zu kräftigen und zu mobilisieren, dass er möglichst beschwerdefrei über einen längeren Zeitraum im Meditationssitz verweilen kann. Die Methoden wurden weiterentwickelt, und die körperliche Betätigung im Yoga bekommt in unserer Zeit einen immer höheren Stellenwert. Einen ersten Niederschlag findet diese Entwicklung in der Entstehung des Hatha Yoga. Die „Hathapradipika“, ein Text aus dem 15. Jahrhundert, legt die Techniken dar, die den Körper als effektives Mittel zum Erreichen der existentiellen und spirituellen Ziele des Yoga einbeziehen.
Da Yoga ursprünglich aus Indien stammt, liegen die Wurzeln der Yoga-Philosophie im Hinduismus und Teilen des Buddhismus. Das Individuum wird hier als ein Reisender im Wagen des materiellen Körpers gesehen. Der Wagen ist der Körper, der Kutscher der Verstand, die fünf Pferde die fünf Sinnesorgane, der Fahrgast die Seele, und das Geschirr heißt im Indischen „Yoga“. Die ältesten Aufzeichnungen finden sich in den Upanishaden. Der wichtigste Quelltext des Yoga ist das Yoga-Sutra des Patanjali.
Die ersten vier Sutren des Patanjali, die den Kern des Yoga geben und eine Art Mantra darstellen, lauten:
atha yoga-anusäsana: Nun folgt die Disziplin des Yoga. Gemeint ist eine Art absolutes Jetzt, denn Dinge der Vergangenheit, ihr Wesen, seien es auch Gewohnheiten, sollen abgestreift werden. Dies meint ebenso Traditionen. Aber es ist eine Tatsache, daß der Yoga sich gegen die konventionelle Bedeutung von Worten wendet. Er verwirft sogar vergangene Erfahrungen und ihre Versprachlichung.
yogas citta-vrtti-nirodhah: Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen. Nirodah verweist auf das Verlangsamen und Innehalten der Leid erzeugenden Wirbelbewegungen in unserem leiblichen Dasein.
tada drastuh svarupe'vasthanam: Dann ruht der Sehende in seiner Wesensidentität, oder auch: dann nimmt das sehende Prinzip – das jedem von uns innewohnt – in seiner Wesennatur (leere Selbstform) Platz.
vrtti-sarupyam itaratra: Alle anderen inneren Zustände sind bestimmt durch die Identifizierung mit den seelisch-geistigen Vorgängen:Wenn man immer noch an der Vergangenheit hängt, aus der man Hoffnung auf die Zukunft projiziert, wird man nie fähig sein, eine sinnvolle Beziehung zu Yoga herzustellen. Der Begriff vritti verweist auf eine Tätigkeit, die in den festen Bahnen der Gewohnheit und Konvention abläuft und die daher der Vergangenheit verhaftet ist.
Die Kapitelüberschriften in der Bhagavad-Gita geben jeweils eine besondere Form des Yoga an, zum Beispiel Karma-Yoga oder Jnana-Yoga. Sie vermitteln dem Praktizierenden für das Verständnis des Yoga wichtige philosophisch-spirituelle Hintergründe. Unter anderem enthalten sie ethische Unterweisungen, die etwa die Yamas und Niyamas verdeutlichen. In dem Text geht es um Karma – das hinduistische und buddhistische Prinzip von Ursache und Wirkung –, um Reinkarnation, Meditation, Selbsterkenntnis und glaubensvolle Liebe. Der Text verwendet oft bildhafte Darstellungen. So können die feindlichen Verwandten, die Arjuna bekämpfen sollen, als ein Sinnbild für die Kleshas interpretiert werden, von denen sich der Yogi reinigen soll.
Darüber hinaus enthält die Bhagavad-Gita direkte Anweisungen für den Anhänger des Yoga. So heißt es im 5. Gesang: „Sich lösend von der Außenwelt, starr auf die Nasenwurzel schauend – Den Hauch und Aushauch regelnd gleich, die durch der Nase Inneres gehen.“
Ein Vers wendet sich den spirituellen Zielen zu: „Zügelnd die Sinne, Herz und Geist, ganz der Erlösung zugewandt – Befreit von Wünschen, Furcht und Zorn, so ist für immer er erlöst.“
Im 6. Gesang geht es um Versenkung und die richtige Lebensweise: „Der Yogi soll beständig sich mühen in der Einsamkeit – Allein, bezähmend Sinn und Selbst, nichts hoffend, ohne Besitz“.
Im 6. Gesank sind enthalten Anweisungen zur Sitzhaltung und sogar zur Sitzunterlage. „Den Geist auf einen Punkt gerichtet, zügelnd Denken, Sinne und Tun – sich setzend auf den Sitz übe er Andacht zur Reinigung seiner selbst. Gleichmäßig Körper, Nacken, Haupt unbewegt haltend, bleibe er fest – Schauend auf seine Nasenwurzel, nicht blicke er hier und dorthin aus“.
Weitere Verse gehen auf religiöse Konzepte ein. Arjuna gibt zu bedenken, dass der Geist so schwer zu zügeln sei wie der Wind, und Krishna antwortet ihm, dass man den Geist durch Anstrengung und Entsagung disziplinieren könne. Dann fragt Arjuna, was denn mit den Menschen sei, die sich nicht zügeln können, ob die auf immer verloren seien. Krishna tröstet ihn mit dem Hinweis auf die Reinkarnation als weitere Chance, Samadhi zu erreichen.
In Anlehnung an eine Lehre der Upanishaden betrachten Yogis die Weltseele (Brahman, Atman) als universelles Prinzip, das alle Lebewesen verbindet und ihnen gemeinsam innewohnt. Aus den historischen Wurzeln heraus haben das Karma-Konzept und die Reinkarnationslehren Yoga beeinflusst. Die Yoga-Philosophie Patanjalis unterscheidet sich durch eine theistische Orientierung von der in vielen Punkten ähnlichen Samkhya-Lehre, in der der Glaube an einen Gott keine Rolle spielt.
In der ursprünglichen Yogalehre ist Yoga ein Weg der Selbstvervollkommnung, zu dem unter anderem gehört, die Begierden zu zügeln und Methoden der Reinigung auszuüben. Der spirituelle Hintergrund des Yoga differiert bei verschiedenen Schulen erheblich, er entspringt verschiedenen Wurzeln im asiatischen Raum, und die Lehrmeinungen waren einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen. Daher gibt es sehr unterschiedliche Sichtweisen über den Sinn von Yoga und unterschiedliche Herangehensweisen.
Nach einer traditionellen Auffassung, die vorwissenschaftliche und spirituelle Elemente vereinigt, soll Yoga durch die Kombination von Körperhaltungen, Bewegungsabläufen, inneren Konzentrationspunkten, Atemführung sowie dem Gebrauch von Mantras (Meditationsworten) und Mudras (Körperhaltungen) die Lebensenergie (Kundalini) stimulieren, so dass sie beginnt, durch die feinstoffliche Wirbelsäule zu den Chakren (Energiezentren) aufzusteigen.
FÜNFTES KAPITEL
PURVA MIMAMSA
Im 5. Jahrhundert vor Christus erschienen im Hinduismus heterodoxe Lehren, die die Autorität des Veda gefährdeten. Daraufhin begannen die vedischen Priester in den Schriften nach Widersprüchen und inkonsistenten Aussagen zu suchen, und diese Probleme zu lösen. Die exegetischen Mimamsa-Lehren entstanden so in dieser Zeit.
Die Grundlage der Mimamsa-Lehren bildet Jaiminis Mimamsa-Sutra. In diesem Sutra werden die Veden als ewig und als einzige Autorität dargestellt, wahrscheinlich auch als Reaktion auf nicht-vedische Lehren wie den Buddhismus.
Jaimini erläutert im Mimamsa-Sutra den Glauben, der ausschließlich durch die Veden konstituiert wird. Die Veden gelten für ihn als das ewige Wort, das Wissen um den Glauben bedeutet.
Kommentatoren legten dann Jaiminis Werk aus, einer der ältesten Kommentare stammt von Shabara, der diesen im 5. Jahrhundert nach Christus geschrieben hat. Ältere Kommentare, die in den Mimamsa-Schriften erwähnt werden, wurden nicht überliefert.
Shabaras Kommentar bezieht sich auf idealistische Schulen des Buddhismus und versucht, die Einflüsse des Buddhismus zu verdrängen. Im Gegensatz zu den buddhistischen Lehren sieht er die Seele als dauerhaft und real an.
Shabaras Kommentar wurde dann selbst weiter kommentiert und brachte so die philosophischen Entwicklungen der Mimamsa-Schule hervor. Kumarila Bhatta (7. Jahrhundert nach Christus) war einer der wichtigsten Philosophen der Mimamsa-Schule. Er schrieb mehrere Kommentare zu Shabaras Kommentar des Mimamsa-Sutra. Seine Intention war es, dem Wachsen des Buddhismus entgegenzutreten. Dabei besaß er selbst detaillierte Kenntnisse des Buddhismus.
Ein anderer Kommentar zu Shabaras Kommentar stammt von Prabhakara (7. Jahrhundert nach Christus), was dazu führte, dass sich zwei Mimamsa-Schulen etablierten, die aufgrund der Verschiedenheit der Kommentare unterschiedliche Lehren vertraten.
Wichtige Philosophen der einen Schule verfassten wiederum Kommentare zu den Kommentaren. Diese Philosophen waren Parthasarathi Mishra (10. Jahrhundert), Sucarita Mishra (10. Jahrhundert), Someshvara Bhatta (12. Jahrhundert) und Khandadeva (17. Jahrhundert). In der anderen Schule verfasste Shalikanatha Mishra (9. Jahrhundert) einen bedeutenden Kommentar zu den Kommentaren.
Die Mimamsa-Lehren gelten als dem Atheismus nahestehend, da der Veda als das ewige Prinzip angesehen wird. Die Veden gelten als ohne Schöpfer und ohne Autor. Jaimini bezog sich zwar noch auf vedische Götter, eine höchste Gottheit wurde von ihm jedoch nicht angenommen.
Kumarila Bhatta hingegen vertrat einen offenkundigen Atheismus, indem er die Existenz Gottes negierte. Eine dritte Mimamsa-Schule, Seshvara-Mimamsa, deren Gründer Murari Mishra im 11. Jahrhundert lebte, ging jedoch von einem existierenden Gott aus.
Da die Mimamsa-Schule versuchte, die Veden als Autorität, die Traditionen und die Lehre zu festigen, entstanden daraus unterschiedliche Lehren: die Schule bezog sich auf Epistemologie, Metaphysik, Sprachphilosophie und Lehren über die Bedeutung der Sprache, deshalb wurde Mimamsa auch Theorie der Sprache genannt.
as richtige Wissen wurde von Kumarila in folgende Kategorien eingeteilt: Erkenntnis, Deduktion, wörtliche Aussage, Vergleich, Wahrscheinlichkeit oder Vermutung, Nicht-Erkennen.
Prabhakara hingegen ging davon aus, dass das Nicht-Vorhandensein keine existierende Kategorie des Daseins sei und lehnte deshalb das Nicht-Erkennen ab.
Erkenntnisse werden von Kumarila als wahr angesehen, so lange die Ursache der Erkenntnis nicht fehlerhaft ist oder andere Erkenntnisse diesen widersprechen.
Da Mimamsa die Veden als ewig ansieht, folgt daraus, dass Buchstaben, Worte, Sprache, die Wortbedeutung und die Beziehung zwischen Worten und der Bedeutung gleichfalls als ewigwährend angesehen werden. Ebenfalls sind Erkenntnisse, die sich aus dem ewigen Veda ergeben als wahr anzusehen.
Die Bedeutung der Mimamsa-Schule in der indischen Philosophie leitet sich daraus ab, dass Mimamsa eine innere Gültigkeit und Aussagekraft von Wissen annimmt, eine Doktrin, die sich auch außerhalb der Mimamsa-Schule weit verbreitet hat.
SECHSTES KAPITEL
VEDANTA
Das Studium der Veden und das Befolgen der Rituale wurden als Voraussetzung für das Studium des höheren Wissens, des Vedanta, angesehen. Nur wer gereinigt war und den höheren Kasten angehörte, durfte den Vedanta studieren. Die vorgeschriebene vorbereitende Reinigung des Schülers durch vedische Rituale wird heute oft durch Elemente des Bhakti-Yoga ersetzt.
Bereits in den Upanishaden kristallisieren sich die zentralen Begriffe Atman (innerstes Sein des Menschen) und Brahman (Weltseele) heraus. Sie werden in vielen Aussagen als Einheit identifiziert: „Diese Seele (Atman) ist Brahman“, „Das bist du“, „Ich bin Brahman“. Die Natur des Brahman ist Wahrheit, Erkenntnis, Unendlichkeit und Glückseligkeit. Hier stellt sich die Frage nach der Beziehung der individuellen Seelen zum Brahman und nach der Beziehung der Welt der Vielfältigkeit zum einen letzten Sein. Wird in den Upanishaden auch immer wieder die Einheit betont, gibt es doch auch Ansätze, die der Welt eine eigene, von Brahman getrennte Wirklichkeit zusprechen. Bei der Lösung dieser Frage kam es zu den unterschiedlichen Vedanta-Systemen.
Beim Advaita-Vedanta („Nicht-Dualität“) handelt es sich um ein monistisches System, das die Welt auf ein einziges Prinzip zurückführt. Der bekannteste Gelehrte des Advaita-Vedanta war Shankara (788–820 nach Christus), der ältere Upanishaden kommentierte und die Vedanta-Philosophie seines Lehrers Gaudapada weiterentwickelte. Wichtige Texte des Vedanta sind die um das 1. Jahrhundert nach Christus textlich fixierten Brahmasutras (auch „Vedantasutras“ genannt), die Shankara ebenso wie die Bhagavad Gita kommentierte. Das „Kleinod der Unterscheidungskraft“, der Atma Bodha und Upadesha Sahasri sind weitere zentrale Werke Shankara, die die Philosophie der Nicht-Dualität und der Identität der Seele mit Brahman erläutern.
Wesentliches Charakteristikum des Advaita-Vedanta ist die Wesensidentität von Atman, der individuellen Seele, und Brahman, der Weltseele, deshalb die Bezeichnung Vedanta der Nichtzweiheit. Hier besteht der Erkenntnisprozess des Menschen und der Weg zur Erlösung darin, diese Einheit zu erkennen. Dualität tritt demnach nur dort auf, wo Unwissenheit herrscht. Die wahre Erkenntnis, die diese Unwissenheit überwindet, führt zur Nichtzweiheit-Erfahrung und damit zur Befreiung. Shankaras wichtigster Beitrag besteht in der Entwicklung des Brahman-Begriffs ohne Form und Attribute. Daher sind auch reines Sein, reines Bewusstsein und reine Glückseligkeit keine das Brahman qualifizierenden Attribute.
Der wahre Atman gilt als durch Maya, die Illusion, verschleiert, und das Ziel ist es, die Identität von Atman und Brahman zu erkennen. Shankara selbst unterschied zwischen einem niederen Wissen und einem höheren Wissen. Als höheres Wissen galt das Erkennen des unveränderlichen Brahman, für das es kein Werden und keine Vielheit gibt. Das niedere Wissen betraf das Entstehen der Welt aus dem Brahman und das Umherwandern der Geistmonaden. Das Studium wird oft mit dem Ausüben des Jnana-Yoga gleichgesetzt, dessen klassischer Dreischritt folgende Phasen beinhaltet: Studium der Schriften, begriffliche Analyse des Inhalts der Schriften und Meditation über den Gegenstand der Schriften, die in der Erfahrung der Identität von individuellem Selbst (atman) und dem allen Erscheinungen zugrunde liegenden Prinzip (brahman) mündet.
Vishishtadvaita-Vedanta bedeutet so viel wie qualifizierter Nicht-Dualismus. Es besagt, Gott existiere als Einziges, jedoch bliebe die Pluralität der Welt als eine reale Erscheinungsform Gottes erhalten und sei nicht, wie bei Shankaras Advaita, eine Illusion.
Bedeutendster Vertreter ist Ramanuja (1017–1137 nach Christus), der in allem das göttliche Brahman sieht. Alle Eigenschaften der Schöpfung seien real und unter der Herrschaft Gottes. Dieser könne trotz der Existenz aller Eigenschaften eins sein, da diese nicht unabhängig von ihm existieren können. In Ramanujas System besitzt Gott zwei untrennbare Wesensarten, nämlich die Welt und die Seelen. Diese verhalten sich danach zu ihm wie Körper und Seele. Materie und Seelen stellen den Körper Gottes dar. Gott sei ihr Bewohner, der Herr, Materie und Seelen untergeordnete Elemente, Eigenschaften.
Ramanuja vertritt das Konzept eines persönlichen höchsten Wesens, und die göttliche Liebe ist für ihn der verbindende Faktor zwischen dem höchsten Wesen und den individuellen Seelen. Der Vishishtadvaita bildet neben einigen verwandten Theorien eine wichtige theoretische Grundlage des Vishnuismus, insbesondere des Bhakti-Yoga, des Weges der kuebenden Hingabe an Gott.
Dvaitadvaita bezeichnet eine Schule, welche die gleichzeitige Einheit und Verschiedenheit der Wahrheit lehrt. Begründer dieser Philosophie ist Chaitanya (1486–1533).
Diese Lehre besagt, dass sowohl die Gesamtheit aller Seelen als auch die Gesamtheit der Materie (Prakriti) Umwandlungen der Energie der höchsten Wahrheit sind. Als Gottes Energie sind sie einerseits mit ihm identisch und gleichzeitig auf ewig von ihm verschieden, dies sei unvorstellbar. Die Wahrheit, die nichtduale Einheit in Vielfalt, wird im Bhagavatapurana veranschaulicht:
„Die Kenner der Wahrheit beschreiben die ewige Wahrheit, deren Wesen nichtduale reine Erkenntnis ist, als Brahman…, so wird es vernommen.“
Anhänger dieser Philosophie sehen in diesem Wort die konzentrierte Lehre: Die absolute Wahrheit ist nichtdual, und doch wird sie gleichzeitig bezeichnet mit Brahman, der alldurchdringenden und eigenschaftslosen spirituellen Energie, Paramatma, der Überseele, welche jeden Atman begleitet und in transzendenter Gestalt in allen Dingen gegenwärtig ist, und Bhagavan, dem höchsten Herrn selbst, der jenseits der manifestierten Prakriti in seinem ewigen Reich weilt.
Shuddhadvaita, die Philosophie der reinen Nichtdualität, wurde von Vallabha (1479–1531) begründet. Er lehnt die Maya-Lehre Shankaras ab, wonach Universum und Individualität bloße Illusion seien. Für ihn ist die ganze Welt Gottes Energie und trotz des ständigen Wandels real. Wie andere vishnuitischen Philosophen unterscheidet auch er zwischen Gott, Materie und den individuellen Seelen.
Vallabha erhob das Bhagavatapurana zu einer autoritativen Schrift. Sein systematisches Werk, das sich mit den Lehren des Bhagavatapurana beschäftigt, veranschaulicht seine Philosophie: Krishna erschafft die Seelen, kreiert das Universum und genießt alles. Der Zweck der Existenz Gottes und der Seelen liege in nichts anderem, als sich gegenseitig zu erfreuen und zu genießen. Die Gottesbraut Radha sei die Gestalt gewordene Liebe Krishnas.
Die Schule Vallabhas ist bekannt für ihre Verehrung Radhas und Krishnas als das höchste göttliche Paar.
Dvaita-Vedanta („Zweiheit“, „Dualität“) wurde vom Philosophen Madhva (1199–1278) begründet. Danach ist der Atman vom Brahman ewig getrennt und nicht identisch.
Stattdessen seien alle Menschen Individuen, von denen jeder einen eigenen Geist habe. Auch untergrabe die Gleichsetzung von Gottseele einerseits und den Seelen der Individuen andererseits die absolute Autorität Gottes, der allein das Höchste Brahman sei, und von dessen Gnade allein alles abhänge. Gottesdienst und glaubensvolle Unterwerfung unter ein höheres Wesen (Bhakti-Yoga) seien sinnlos, wenn dieses höhere Wesen identisch mit der eigenen Seele ist.
ZWEITE SEKTION
DIE ZAREN
ERSTES KAPITEL
RJURIK
Rjurik (berühmter Herrscher; 830; bis 879) war ein warägischer Fürst und gilt als Gründer des altrussischen Staates der Kiewer Rus.
Er hat von 862 bis 879 über Nowgorod sowie das Land zwischen den Flüssen Newa und Oka geherrscht. Sein Nachfolger war Oleg der Weise, der die Herrschaft als Regent für Rjuriks Sohn Igor innegehabt hat.
In den letzten Jahren haben deutsche und russische Archäologen seinen Herrschaftssitz in Rurikowo Gorodischtsche ausgegraben. Allerdings galt es bislang als gesichert, dass Alt-Ladoga der bedeutendste Stützpunkt der frühen Waräger im slawischen Gebiet war. Ab 750 n. Chr. ist die Anwesenheit von Skandinaviern in der Siedlung Alt-Ladoga archäologisch belegt.
Bestenfalls als Spekulation kann die Identifizierung Rjuriks mit dem dänischen Wikinger Rorik gelten, der laut fränkischen Chroniken im friesischen Dorestad lebte. Eventuell war Rjurik einer der Skandinavier, die im 9. Jahrhundert teils als Söldner slawischer Adliger, teils als Eroberer in das spätere Russland zogen.
Fast alle Großfürsten und Fürsten der gesamten Kiewer Rus führten ihre Abstammung auf Rjurik oder seine beiden Brüder Sineus und Truwor zurück. Die nach Rjurik benannte Dynastie der Rjurikiden herrschte bis ins späte 16. Jahrhundert über Russland.
ZWEITES KAPITEL
OLEG
Oleg, genannt „der Prophet“, (gestorben 912) war ein warägischer Herrscher der Rus. Er stammte aus dem Geschlecht der Rurikiden und hatl 879 als Regent für Igor, den Sohn Ruriks, die Herrschaft über den altrussischen Staat übernommen haben. In seine Amtszeit fiel die Verlagerung des Herrschaftszentrums der Rurikiden von Nowgorod nach Kiew, Oleg war so der Begründer der Kiewer Rus.
Die Verlagerung des rurikidischen Herrschaftszentrums von Nowgorod nach Kiew zur Zeit Olegs ist eindeutig belegt. Mit der Kontrolle über diese strategisch günstig an Fernhandelswegen gelegenen Siedlung begann die Bildung des rurikidischen Großreiches.
Die Grabstätte Olegs liegt am Fluss Wolchow nahe Staraja Ladoga.
Zu den gesicherten Daten, die mit Oleg in Verbindung gebracht werden, gehören ein großer Kriegszug gegen Konstantinopel im Jahr 907 und ein Handelsvertrag mit dem byzantinischen Kaiser aus dem Jahr 911. Oleg starb 912. In dieser Zeit war die Rus noch nicht christianisiert. Konfrontationen mit dem Christentum sah die Bevölkerung durch christlich-orthodoxe Siedlungen an der Schwarzmeerküste, worauf die spätere orthodoxe Prägung Russlands zurückgeht.
DRITTES KAPITEL
OLGA VON KIEW
Sie wird in der russisch-orthodoxen Kirche als apostelgleiche Heilige verehrt.
890 wurde sie in der Umgebung von Pskow geboren. Ihre Eltern waren Waräger. Der Name Olga leitete sich vom skandinavischen Helga ab.
903 heiratete sie Igor. Dieser wurde 912 Fürst von Kiew.
944 wurde Olga in einem Vertrag zwischen der Kiewer Rus und Byzanz erstmals wieder erwähnt.
945 wurde Igor von den Drewljanen getötet. Olga übernahm die Regentschaft für ihren dreijährigen Sohn Swjatoslaw I. An den Drewljanen rächte sie sich mit mehreren Feldzügen. Sie ließ an Igors Grabhügel in Kurgan 5000 Drewljanen ermorden und eine drewljanische Delegation in einem Badehaus bei lebendigem Leibe verbrennen. Die Hauptstadt der Drewljanen Iskorosten hat sie niedergebrannt.
Nach der Unterwerfung der Drewljanen richtete sie ein System aus befestigten Plätzen, Steuereintreibern und Gastrechten im neu eroberten Gebiet ein, was eine Modernisierung der bis dahin gebräuchlichen Herrschaftsstruktur in der Kiewer Rus darstellte, die bisher auf dem Personenverband der Gefolgschaft (Druschina) beruhte. Dieses System breitete sich nach und nach auch auf die übrigen Teile des Fürstentums aus und führte zu einer weitverzweigten Territorialherrschaft.
955 wurde Olga in Konstantinopel getauft.
957 wurde sie erneut prunkvoll von Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos in Konstantinopel empfangen.
959 erbat Olga beim deutschen König Otto I. die Ernennung eines Bischofs und Hilfe bei der Christianisierung der Kiewer. Die Gesandtschaft stellte eine Bemühung um mehr Unabhängigkeit von Byzanz dar, Olga versuchte, starke Verbindungen zum westlichen Kaisertum aufzubauen.
Daraufhin kam der Mönch Adalbert als Missionsbischof nach Osten. 962 kehrte er bereits wieder zurück:
„In diesem Jahr kehrte Adalbert zurück, der zum Bischof der Rus ernannt worden war, denn es war ihm nicht gelungen, das zu erreichen, wozu er ausgesandt worden war, und er sah seine vergeblichen Bemühungen. Auf dem Rückweg wurden einige seiner Begleiter getötet, er selber konnte sich mit großer Mühe retten.“
Dabei spielte der Einfluss von Swjatoslaw eine Rolle.
In Kiew wurden bei archäologischen Ausgrabungen Reste einer Rotunde aus dem 10. Jahrhundert entdeckt.
Seit 964 regierte in Kiew Swjatoslaw. Eine Taufe von ihm ist nicht bekannt.
Olga starb 969.
Die erneute Christianisierung fand 987–988 unter byzantinisch-orthodoxem Vorzeichen statt und prägte von da an die religiöse Zugehörigkeit Russlands.
Als Ehefrau von Igor wird Olga in der Nestorchronik erwähnt.
1911 wurde Olga zu Ehren ein Denkmal in Kiew errichtet, das von den Bolschewiki 1919 gestürzt und im Jahre 1996 erneut errichtet wurde.
VIERTES KAPITEL
WLADIMIR I.
Wladimir war ein Sohn von Großfürst Swjatoslaw I. von Kiew und von Maluscha, einer Dienerin der Fürstin Olga. Sein Geburtsjahr ist 960. Nach dem Tod des Vaters 971 wurde Wladimir Fürst von Nowgorod, dem zweitwichtigsten Zentrum der Rus, trotz seiner nicht standesgemäßen Herkunft. Sein Onkel Dobrynja unterstützte ihn als Woiwode. 972 kam Olav Tryggvason, der norwegische König, mit seiner Mutter nach Nowgorod. Deren Bruder Sigurd diente dort als Waräger.
977 brach ein Streit zwischen seinen Halbbrüdern Oleg und Jaropolk I. aus. Jaropolk eroberte Nowgorod, wobei Oleg ums Leben kam. Wladimir floh nach Norwegen zu Hakon Jarl. Er kehrte mit einem Warägerheer zurück und eroberte Nowgorod zurück. Danach eroberte er Polozk, tötete den dortigen Fürsten Rogwolod und nahm dessen Tochter Rogneda zur Frau.
Kampflos fiel ihm die Hauptstadt Kiew in die Hand. Darauf lud er seinen Halbbruder Jaropolk zu Verhandlungen ein und ließ ihn umbringen, wodurch er zum Alleinherrscher der Kiewer Rus wurde.
Ein gewaltiges Problem stellten nun die angeworbenen Waräger dar, die bezahlt werden mussten. Er schickte einen Teil nach Byzanz, wo sie den Kern der Warägergarde bildeten. Andere Waräger setzte er hingegen als Verwalter in den Burgen seines Reiches ein.
Seine Macht festigte Wladimir durch weitere Feldzüge. 981 eroberte er die Burg Tscherwen und das Tscherwener Burgenland. An den südlichen Grenzen seines Landes ließ er Hilfsvölker ansiedeln, welche das Reich schützten. Weitere Feldzüge führte er gegen Wjatitschen, Radimitschen, die baltischen Jatwinger und Aestier, die Wolgabulgaren und die Petschenegen.
Insgesamt vergrößerte er die Rus durch die Unterwerfung der verschiedenen benachbarten Völker so, dass es bereits unter ihm vom Dnepr bis zum Ladogasee und bis an die Dvina reichte.
Das wichtigste Ereignis der Regierungszeit Wladimirs war die Christianisierung der Kiewer Rus im Jahre 988 anlässlich seiner Vermählung mit Prinzessin Anna von Byzanz, Tochter des byzantinischen Kaisers Romanos II. Dafür erhielt er auch den Beinamen der Heilige und wurde nach seinem Tod in den Stand eines Heiligen der orthodoxen Kirche erhoben.
Vor seiner eigenen Taufe im Jahre 987 beschreibt ihn die Heiligenlegende als Wüstling mit sieben Hauptfrauen und 800 Mätressen. Er ließ überall Götzenbilder aufstellen und war ein eifriger Anhänger des Heidentums. Zum christlichen Glauben brachte ihn die Vernunft. Er ließ sich von allen Religionen Gelehrte schicken, und er wählte die beste aus. Seine Entgegnung an den moslemischen Gesandten war: „Der Rus ist des Trunkes Freund, wir können ohne das nicht sein“.
Wladimirs Taufe war aber auch ein diplomatischer Schachzug: Ziel war die Verbindung mit dem byzantinischen Kaiserhaus. Kaiser Basileios II. benötigte Hilfe gegen die Bulgaren, die gemeinsamen Feinde Wladimirs und des oströmischen Kaisers. Wladimir schickte ein Heer von 6000 Rus nach Konstantinopel. Außerdem übte er durch Angriffe auf das byzantinische Chersones auf der Krim Druck auf den Kaiser aus. Schließlich willigte dieser ein: Wenn sich Wladimir taufen ließe, so würde Basileios II. ihm für die militärische Unterstützung seine Schwester Anna zur Frau geben. So geschah es, und Wladimir I. bekam als erster europäischer Herrscher eine Purpurgeborene zur Frau. Die Taufe des Knjasen wurde in Kiew als großer Akt zelebriert: Nach dem Niederreißen der heidnischen Götzenbilder fand eine Massentaufe im Dnepr statt. Offenen Widerstand gegen die Christianisierung scheint es nicht gegeben zu haben, obgleich sich das Heidentum vor allem in ländlichen Gebieten lange halten konnte. Die Kirche begann dennoch schnell mit dem Aufbau eines Netzes von Kirchen und Klöstern, das erheblich zur Festigung des Kiewer Reiches beitrug. Darüber hinaus entwickelte sich die Region durch den neuen Glauben auch kulturell weiter. Die Orthodoxie hatte damit endgültig eine dominierende Stellung in der Rus erreicht. Zugleich war Wladimir durch die Annahme des Christentums und die Eheverbindung mit dem byzantinischen Kaiserhaus zu einer Figur von diplomatischer Bedeutung geworden.
Im Zusammenhang mit der Christianisierung übernahm man, nicht nur im kirchlichen Alltag, jedoch die altbulgarische und altkirchenslawische Schriftsprache, was zu einem südslawischen Einfluss führte.
Solcherart abgesichert, trieb Wladimir den inneren Ausbau seines Territoriums voran. In neuen Burgstädten entlang der Dnjepr-Nebenflüsse siedelte er Ilmenslawen (Slowenen), Kriwitschen, Wjatitschen und Tschuden an, die die Angriffe der Petschenegen abwehren sollten. Die Verwaltung der einzelnen Regionen der Kiewer Rus vertraute er seinen zwölf Söhnen an. Allerdings schwächte diese faktische Teilung das Reich. Ein erster schwerer Konflikt brach noch zu Wladimirs Lebzeiten um die reiche Handelsstadt Nowgorod aus. Der designierte Thronfolger Jaroslaw erhielt diese nach Kiew wichtigste Stadt. Im Jahre 1014 weigerte sich Jaroslaw, seinem Vater den Tribut zu zahlen. Zu einem Feldzug Wladimirs gegen seinen Sohn kam es nicht mehr, weil Wladimir am 15. Juli 1015 starb.
Wladimir hatte zahlreiche Frauen und Nebenfrauen, wie Rogneda von Polozk und Anna von Byzanz.
FÜNFTES KAPITEL
JAROSLAW DER WEISE
Die Rurikiden gehörten den Rus an, der skandinavisch-stämmigen Führungsschicht, die sich seit der Mitte des 9. Jahrhunderts unter den Ostslawen niedergelassen und das Reich der Kiewer Rus gegründet hatte. Die Rurikiden waren bis zum Ende des 10. Jahrhunderts weitgehend slawisiert. Jaroslaws Vater Wladimir war 988 der erste Kiewer Großfürst, der das Christentum annahm und damit erheblich zum Aufstieg Kiews zur ostslawischen Hegemoniemacht beitrug.
Zwischen 987 und 1010 war Jaroslaw Fürst von Rostow. Einer Legende nach soll er um 1010 im Kampf eine mächtige Bärin bezwungen und an dieser Stelle die Stadt Jaroslawl gegründet haben.
Jaroslaw hatte von seinem Vater nach dem Tod des älteren Bruders und designierten Thronfolgers Wyscheslaw die Herrschaft über die reiche Handelsstadt Nowgorod zugesprochen bekommen. 1014 weigerte Jaroslaw sich, seinem Vater den Tribut zu zahlen. Zu einem Feldzug Wladimirs gegen seinen Sohn kam es nicht mehr, weil Wladimir am 15. Juli 1015 starb.
Dafür begannen sofort Nachfolgekämpfe zwischen Jaroslaw und seinen Brüdern und Onkeln (Boris und Gleb). Zunächst konnte sich Jaroslaws Halbbruder Swjatopolk mit Hilfe seines Schwiegervaters, des polnischen Herzogs Boleslaw I. durchsetzen. Jaroslaw hielt sich aber in Nowgorod. Dort zog er ein Heer skandinavischer Krieger zusammen und schlug im Spätsommer 1016 Swjatopolk. Im Sommer 1017 griffen Jaroslaw I. und der deutsche Kaiser Heinrich II. einer vorherigen Absprache folgend Boleslaw I. von zwei Seiten her an. Im darauf folgenden Sommer gelang es Boleslaw, Kiew zu erobern. Jaroslaw konnte zwar nach Nowgorod fliehen, seine weiblichen Verwandten und ein großer Goldschatz fielen jedoch in die Hände des polnischen Herzogs. Kurz darauf vertrieb Jaroslaw den erneut als Großfürst eingesetzten Swjatopolk wieder aus Kiew.
Von 1029 bis 1031 wiederholte sich das Szenario von 1017: Wieder wurde Polen aus dem Westen, nun vom deutschen Konrad II., und aus dem Osten von Jaroslaw angegriffen. Diesmal gelang es dem Großfürsten, weite Gebiete mit einem wichtigen Burgengürtel für Kiew zu erobern und kurzzeitig den ihm genehmen ältesten Sohn des 1025 verstorbenen Boleslaws und Bruder des über Polen herrschenden Mieszko II. Lambert, Bezprym, als Herrscher in Polen zu installieren. Nach der Ermordung Bezpryms im Jahre 1032 erlangte Mieszko seine Herrschaft zurück.
Um 1035 herum begann Jaroslaw mit einer weitreichenden Heiratspolitik. Er selbst heiratete Ingigerd, die Tochter Olof Skötkonungs von Schweden. Seine Söhne und Töchter wurden in die Königshäuser Frankreichs (Anna), Norwegens, Ungarns, Byzanz’ und an deutsche Fürsten verheiratet. Der polnische Thronanwärter Kasimir heiratete eine Schwester Jaroslaws, Maria Dobroniega, mit dessen Hilfe er sich als König von Polen durchsetzen konnte.
1036 errang Jaroslaw I. den entscheidenden Sieg gegen das Reitervolk der Petschenegen. 1043 misslang ein Flottenangriff auf Konstantinopel.
1019 erließ Jaroslaw I. die Russkaja Prawda, die erste russische Gesetzessammlung. Sie stellt eine Mischung byzantinischer Gesetze und slawischen Gewohnheitsrechts dar. Darüber hinaus versuchte er mit umfangreichen Nachfolgeregelungen, Erbstreitigkeiten nach seinem Tod zu verhindern, was allerdings nicht gelang. Er begründete er das Senioratsprinzip. Auf der Russkaja Prawda und der Schaffung des Senioratsprinzips beruht sein Beiname der Weise. Weitere Verdienste errang er durch den Stadtausbau von Kiew und Nowgorod, vor allem mit den Sophienkathedralen der beiden Städte. Sein Sarg liegt noch heute in der Sophienkathedrale von Kiew.
Jaroslaw war verheiratet mit einer Frau, deren Name nicht überliefert ist. 1018 wurde sie vom polnischen Herrscher Bolesław Chrobry gemeinsam mit den Schwestern von Jaroslaw gefangen genommen.
SECHSTES KAPITEL
ALEXANDER NEWSKI
Alexander wurde bereits 1236 erstmals von den Nowgoroder Bürgern zu ihrem Heerführer berufen. Seinen Beinamen Newski erhielt er, nachdem er 1240 die Schweden in der Schlacht an der Newa (in der Nähe Sankt Petersburgs) geschlagen hatte. Kurz darauf musste er nach Auseinandersetzungen mit den Bojaren die Stadt verlassen. Als ebenfalls 1240 die Kreuzritter des kurz zuvor mit dem Deutschen Orden vereinigten Schwertbrüder-Ordens zum wiederholten Male versuchten, ihre Herrschaft über das Baltikum nach Russland auszudehnen, die Handelsstadt Pskow eroberten und auf Weliki Nowgorod vorstießen, riefen die Nowgoroder Alexander Newski zurück und machten ihn wieder zum Heerführer. Am 5. April 1242 kam es zur Entscheidungsschlacht auf dem Eis des zugefrorenen Peipussees. Die russischen Truppen, bestehend aus der Drushina Alexanders, der seines jüngeren Bruders Andrej und der Nowgoroder Miliz, schlugen die deutschen und dänischen Ritter und ihre estnischen Hilfstruppen vernichtend. Damit waren die Invasionspläne des Deutschen Ordens in Russland für längere Zeit auf Eis gelegt.
Als Sohn Jaroslaws II. versuchte Alexander Newski gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Andrej, seinen Onkel Swjatoslaw III. vom Wladimirer Großfürstenthron zu vertreiben, den er 1246 entsprechend dem Senioratsprinzip eingenommen hatte. Am Hof Batus, des Khans der Goldenen Horde, arbeiteten die Brüder daran, ihre eigene Thronfolge durchzusetzen. 1248 hatten sie damit Erfolg: Batu setzte Swjatoslaw ab und wies die Brüder an, gemeinsam über das Fürstentum Wladimir zu regieren. Alexander erhielt das Gebiet um Kiew, machte aber Nowgorod zum wichtigsten Herrschaftszentrum, Andrej bekam die Hauptstadt Wladimir und ihr Umland. In der Folgezeit orientierte Alexander sich nach Skandinavien. Er schickte Gesandte nach Norwegen und schloss 1251 einen Friedensvertrag mit dem dortigen Herrscher. Mit Feldzügen nach Finnland verhinderte er, dass die Schweden sein Territorium vom Zugang zur Ostsee abschnitten.
Andrej begann damit, eine Allianz russischer Fürsten zur Auflehnung gegen die Mongolenherrschaft zu schmieden. Die Gelegenheit schien günstig, da zu diesem Zeitpunkt unter den Mongolen Auseinandersetzungen um die designierte Nachfolge des Großkhans ausbrachen. Schließlich setzte sich um 1250 jedoch Möngke durch. Alexander Newski, der sich von den Plänen Andrejs ferngehalten hatte, nutzte diese Entwicklung, sich eng an Batu anzulehnen und am Hof des Khans gegen seinen Bruder zu intrigieren. Batu setzte Andrej ab und verlieh Alexander Newski die Großfürstenwürde. Gegen Andrej wurde ein Heer ausgeschickt, worauf dieser nach Schweden fliehen musste. Später unterwarf Andrej sich seinem Bruder, worauf jener beim Khan die Erlaubnis erwirkte, dass Andrej nach Russland zurückkehren durfte.
Der Aufstieg Alexanders bedeutete die Durchsetzung einer Politik, die nicht auf den Aufstand gegen die Mongolen zielte. Diese Haltung wurde auch von der orthodoxen Kirche begrüßt, da Andrej Kontakte zum Papst gesucht hatte, während die Mongolen die orthodoxe Kirche unbehelligt ließen und Alexander Kontaktversuche des Papstes zurückwies. Mit der Einsetzung Alexanders erreichten die Mongolen eine Konsolidierung ihrer Herrschaft über Russland. Dies zeigte sich Ende der 1250er Jahre, als die Mongolen begannen, ein Steuersystem mit festen Strukturen aufzubauen. Alexander Newski brach die Widerstände gegen dieses Vorhaben, vor allem in Nowgorod. Gleichzeitig drängte er den Einfluss der Bojaren zurück. 1257 nahmen die mongolischen Steuereintreiber ihre Arbeit auf. Um die Mongolen angesichts der Aufstände zu besänftigen, brach Alexander 1262 zu seiner dritten und letzten Reise an den Hof der Goldenen Horde auf. Dort hielt der Khan Berke ihn lange fest. Erst im Winter 1263 durfte der bereits schwer erkrankte Großfürst abreisen. Am 14. November 1263 starb Alexander Newski in Gorodez an der Wolga und wurde in Wladimir beerdigt.
SIEBENTES KAPITEL
IWAN III.
Iwan III. Wassiljewitsch (genannt Iwan III. der Große; geboren am 22. Januar 1440 in Moskau; gestorben am 27. Oktober 1505 in Moskau), war von 1462 bis 1505 Großfürst von Moskau. Er war mit mehr als 43 Jahren der russische Herrscher mit der längsten Regierungsdauer.
Iwan III. wurde 1462 Machthaber, stabilisierte bis Ende des 15. Jahrhunderts Moskowien und befreite das Land endgültig von der Herrschaft der Goldenen Horde. Seine Herrschaft stellte den Beginn der Moskauer Autokratie dar. Der offizielle Titel des russischen Monarchen war Zar und Selbstherrscher („Autokrat“) aller Russen. 1478 nutzte Iwan III. ungekrönt den Titel „Zar“ zum ersten Mal in der russischen Geschichte.
Er erwarb oder unterwarf die russischen Fürstentümer und gewann Ländereien nördlich, westlich und südlich des Großfürstentums Moskau, dessen Gebiet sich dadurch bis zu Iwans Tod 1505 vervierfachte. Dazu gehörten unter anderem Nowgorod, Smolensk und Tschernigow. Es folgten starke Bevölkerungsumsiedlungen, die die Bildung alter, kleinstaatlicher Strukturen verhindern sollten.
Nach der Eroberung von Byzanz durch die osmanischen Türken war eine große Zahl orthodoxer Christen nach Russland eingewandert. Es war damals die einzige christlich-orthodoxe Großmacht, die nicht durch islamische Eroberer besetzt war. Um die Gunst Iwans bemüht, akzeptierten die Einwanderer die bereits unter den Russen existierende Vorstellung, Russland solle das Erbe von Byzanz als Hüter der Orthodoxie übernehmen. Sie ergänzten es sogar um die gern angenommene These, dass Russland das Dritte Rom sei. Das „Erste Rom“ war aus orthodoxer Sicht vom rechten Glauben abgekommen und das „Zweite Rom“ – Byzanz – konnte diese Funktion nicht mehr wahrnehmen, weil es einerseits in der Hoffnung auf Hilfe gegen die Türken das römisch-katholische Papsttum anerkannt hatte und andererseits inzwischen von den Türken erobert war.
Um diese Theorie zu bekräftigen, heiratete Iwan III. 1472 Sofia (Zoe) Palaiologos, die Nichte des letzten oströmischen Basileus Konstantin XI. Palaiologos. Mit der Begründung, dass der Patriarch von Konstantinopel, der zu dem Zeitpunkt in türkischer Gewalt war, die Krönungszeremonie nicht vollziehen könne, nahm er 1478 als erster russischer Großfürst den Titel Zar an. Er und seine Nachkommen führten fortan den Titel „Bewahrer des byzantinischen Throns“. Hauptgrund war die seinerseits betrachtete Nachfolge der nicht mehr existierenden byzantinischen Kaiser durch die Großfürsten von Moskau und russischen Zaren. „Zar“ ist von lateinisch „Caesar“ und griechich „Kaisar“ abgeleitet und wurde über die westslawischen Sprachen ins Russische übernommen. Auch den autokratischen Führungsstil und einige Verwaltungsstrukturen übernahm Iwan von Byzanz. Er modernisierte Handwerk und Künste mit Hilfe westlicher Fachleute. So leiteten italienische Architekten den Ausbau des Moskauer Kreml zum Herrschersitz für ganz Russland.
1480 standen sich das russische Heer und die Goldene Horde, der Russland tributpflichtig war, mehrere Monate lang im Stehen an der Ugra zur Entscheidungsschlacht gegenüber. Beide Heere zogen sich schließlich zurück und die Mongolen gaben kampflos ihre Herrschaft auf.
1485 eroberte das Heer Iwans III. das rivalisierende Fürstentum Twer, das mit Litauen eine Allianz gegen Moskau eingehen wollte.
1494 verheiratete Iwan seine Tochter mit dem Großfürsten Alexander von Litauen, um die Stellung des Großfürstentums Moskau bezüglich eines Ostseezugangs im Baltikum zu sichern. Ebenfalls in diesem Jahr schloss er das Kontor der Hanse, den Peterhof in Nowgorod. Die Festung Iwangorod wurde zur Sicherung des strategisch wichtigen Meereszugangs errichtet und sollte Iwans Ambitionen auf Livland gegenüber dem Litauer Reich bekräftigen.
Iwan festigte seine Macht, indem er der orthodoxen Kirche eine staatstragende Rolle zuschrieb und sich ihrer dadurch versicherte. Bei der Umsetzung von Machtansprüchen nutzte er aus der Mongolenzeit überlieferte Instrumente. Gegenüber dem Westen vertrat er eine Abgrenzungspolitik.
Iwan III. war zweimal verheiratet, seit 1457 mit Maria Borissowna, mit der er den Sohn Iwan Iwanowitsch hatte, und seit 1469 mit Zoe Palaiologou (Sophia Phominitschna Paleolog), die ihm den Nachfolger Wassili Iwanowitsch gebar.
ACHTES KAPITEL
IWAN IV.
Iwan, nach seinem Großvater Iwan III. dem Großen benannt, wurde am 4. September 1530 im Kloster der Dreifaltigkeit und des Heiligen Sergius getauft, etwa 50 Meilen nordöstlich von Moskau. Iwan wuchs bei seiner Mutter Helena im Kreml auf, die dort am 30. Oktober 1532 einen weiteren Sohn, Juri, gebar, der taub war.
Iwan verlor am 3. Dezember 1533 im Alter von drei Jahren seinen Vater, den Großfürsten Wassili III. Seine Mutter Helena übernahm darauf die Regentschaft für ihren Sohn. Der Thronprätendent Fürst Juri von Dimitrow, ein Bruder Wassilis, wurde sofort in den Kerker geworfen und zwei Jahre darauf ermordet. Michail Glinski, der Onkel der Großfürstin, der sieben Monate die Regierung führte, wurde am 5. August 1534 im Einvernehmen mit den Bojaren auf Befehl der Regentin Helena gefangengenommen und anschließend im Kerker des Kremls ermordet. Fürst Glinski hatte die offene Liebschaft Helenas mit dem jungen Fürsten Iwan Obolenski als Gefahr für das Haus Glinski abgelehnt und sah dadurch die eigene Machtstellung bedroht. Der aus 15 Mitgliedern bestehende Bojarenrat war gespalten, der loyalere Flügel wurde vom gemäßigten Fürsten Dimitri Belski, der andere Teil aber von der habgierigen und gewalttätigen Familie der Schuiski dominiert, letztere beabsichtigte selbst, den Thron zu erlangen. Als gefährlicher Prätendent wurde auch Fürst Andrej von Stariza, ein Bruder des Vorgängers Wassili III., auf Befehl der Regentin Helena und des Fürsten Obolenski verhaftet und im Dezember 1537 in den Kerker geworfen.
Am 3. April 1538 verstarb überraschend die noch junge Zarin Helena durch Gift; der kleine Iwan wurde Vollwaise. Nach dem Tod der Mutter entwickelte sich ein Machtkampf zwischen den Bojaren, wobei vor allem die Schuiski und die Belski um die Beherrschung des Throns und die Vormundschaft über den jungen Zaren rangen. Iwan wurde von ihnen lieblos behandelt und von der Außenwelt im Terem-Palast des Kreml abgeschottet. Das Leben des jungen Fürsten stand unter ständiger Gefahr; sein letzter Vertrauter, Fürst Obolenski, verschwand gleichfalls im Kerker. Der achtjährige Iwan war den Intrigen, Gerüchten und verschiedenen Maßnahmen des übermächtigen Bojarenrates unter Führung der alten Bojaren Iwan und Wassili Schuiski ausgeliefert. Die Erfahrung ständiger Angst und Lieblosigkeit in seiner Kindheit prägten Iwans misstrauischen, grausamen und rachgierigen Charakter.
Im Juli 1540 konnte sich Fürst Iwan Belski im Bojarenrat durchsetzen und verschaffte dem Reich zwei Jahre Stabilität. Am 2. Januar 1542 gelangten die Schuiskis aber durch eine Palastrevolte erneut an die Macht, brachten den jungen Großfürsten in ihre Gewalt und schickten Belski in den Kerker. Als sich Iwan 1543 im Alter von 13 Jahren seiner Macht bewusst wurde, schlug er zurück. Er ließ am 29. Dezember 1543 den neuen führenden Bojaren Andrej Schuiski von der Kremlwache ergreifen und von ausgehungerten Hunden zerreißen.
Iwan IV. ließ sich 16-jährig durch den Metropoliten von Moskau am 16. Januar 1547 zum Zaren krönen und heiratete im selben Jahr die Tochter des Bojaren Sacharjin-Jurjew, Anastassija Romanowna Sacharjina, die Tante des Patriarchen Filaret, des Stammvaters des Hauses Romanow. Die Zeremonien bei seiner Krönung beruhten auf denen byzantinischer Kaiserkrönungen und sollten seine Macht und Erwähltheit betonen. Die Macht des Zaren war zu diesem Zeitpunkt noch immer umstritten. Viele Bojaren waren faktisch unabhängig vom Zaren, unterhielten Privatarmeen und sprachen eigenes Recht. Iwan begann damit, diese Macht der Bojaren zu beschneiden. Er begann zu seinen Gunsten mit der Umgestaltung des Staates, die darin bestand, große Teile der fruchtbarsten und reichsten Regionen des Landes, Bojareneigentum, durch Enteignung in Staatseigentum zu überführen, das ihm direkt unterstand. Die ihm verhassten Bojaren erhielten lediglich minderwertiges Land an den Staatsgrenzen oder wurden gänzlich enteignet und in Klöster verbannt.
Iwan war fromm und in der Heiligen Schrift belesen, dazu intelligent, allerdings auch als gerissen, verschlagen und nachtragend. Er konnte strategisch vorausdenken und spielte gut Schach. Nachdem er sich im Jahr 1549 zum Selbstherrscher (Autokrat) von ganz Russland ernannt hatte, residierte er im Zarenpalast des Moskauer Kremls, den er bereits seit Kindertagen kannte. Hier initiierte er in den 1550er Jahren bedeutende Gesellschafts- und Staatsreformen. Unterstützt wurde er dabei von einem Kreis bedeutender Berater, dem „auserwählten Rat“. Hierzu gehören die Neufassung der Gesetzgebung durch das Gesetzbuch von 1550 und die Neuordnung der russischen Armee. Zar Iwan IV. gründete das erste russische Parlament, in dem die feudalen Stände repräsentiert waren. Das neue Gesetzbuch und die Regierungsverordnungen dehnten die Rechte der gewählten Vertreter bäuerlicher Gemeinden im Gericht und in der lokalen Selbstverwaltung aus. Weiterhin begründete er 1550 die mit Musketen und russischen Glefen, den Berdyschen, ausgestattete Palastgarde der Strelizen („Bogenschützen“). Die Reformen festigten den zentralen Staatsapparat, erhöhten die militärische Schlagkraft Russlands und schufen die Voraussetzung für außenpolitische Erfolge.
Im Mai 1553 starteten die Engländer eine Expedition, um eine Nordostpassage durch das Nordpolarmeer zu finden. Die Leitung hatten Admiral Sir Hugh Willoughby und sein Navigator Richard Chancellor. Chancellor landete dabei mit seinem Schiff am 24. August 1553 in der Nikolski-Mündung der nördlichen Dvina und wurde später von Iwan IV. in Moskau empfangen. Es kam zu ersten Handelsbeziehungen zwischen England und Russland. 1555 wurde die „Moskauer Kompanie“ gegründet, eine englisch-russische Handelsgesellschaft. Bis 1584 entstand in Archangelsk mit dem Sankt-Nikolaus-Hafen der erste russische Handelshafen.
Nach dem Verlust seiner ersten Frau, Anastassija Romanowna Sacharjina, im Jahre 1560, des einzigen Menschen nach seiner Mutter, den er wirklich liebte, schlug Iwan IV. vor versammeltem Hofstaat den Kopf gegen die Wand, bis er blutete, schrie und tobte wie ein Rasender. Seine Gemütsschwankungen, seine Launenhaftigkeit und sein Jähzorn, auch gegen sich selbst, traten damit deutlich zu Tage. Iwan heiratete nach seiner zweiten Frau innerhalb eines Zeitraums von neun Jahren noch mehrere Male. Diese Ehefrauen starben entweder eines ungeklärten Todes oder wurden von ihm verstoßen und in Klöster verbannt. Aus seinem tiefen Misstrauen heraus, das auch vor seinen Gemahlinnen nicht halt machte, belauschte er diese im Schlaf in der Hoffnung, dass sie reden und ihre wahre Meinung über ihn verraten würden.
Zwischen 1563 und 1575 ordnete Iwan neun Massenexekutionen an. Die mit der Durchführung betraute neugegründete Schar verbreitete Schrecken im ganzen Land und waren Handlanger des Zaren bei der Ermordung Tausender. Die Mitglieder der Schar dienten sowohl als Leibwächter als auch als Spitzel, Häscher und Henker. Sie unterstanden dem Zaren unmittelbar.
Im Dezember 1547 erfolgte nach den jährlichen Bedrohungen Moskaus durch die einfallenden Tataren ein erster russischer Feldzug gegen Kasan, dem im November 1549 ein weiterer folgte, beide waren allerdings zu schwach ausgestattet. Im Jahr 1551 wurden in Moskau detaillierte Pläne für die endgültige Einnahme von Kasan ausgearbeitet und dazu ein starkes Heer aufgestellt. Iwan IV. eröffnete am 16. Juni 1552 einen neuen Feldzug gegen den Khan Giray und das Khanat von Kasan. Nachdem er die Krimtataren vor Tula erfolgreich zurückgeschlagen hatte, wandte sich seine Streitmacht nach Osten. Am 30. August begann er die Belagerung von Kasan, die durch Rammböcke, Minenkrieg und 150 Kanonen unterstützt wurde. Die Wasserversorgung der Stadt wurde blockiert, ein finaler Sturm brachte am 2. Oktober die Übergabe der Stadt, ihre Befestigungen wurden eingeebnet und große Teile der Bevölkerung niedergemetzelt. Dem gefangenen Khan Machmet wurde 1553 der Übertritt zum Christentum auferlegt. Die Baschkiren mussten die russische Oberherrschaft zwei Jahre später akzeptierten. Durch die Siege über die Tataren stoppte der Zar die Raubzüge der Khanate Kasan im Nordosten Russlands und erschwerte die Angriffe von aggressiven Völkern aus Asien über die Wolga nach Europa.
Der Eroberung des Khanats von Kasan folgte 1556 jene des Khanats von Astrachan, dem Zentrum der Macht der Nogaischen Horde. Der russische Staat erhielt durch die Eroberungen neue Ländereien, konnte den Handel nach dem Süden und Südwesten erweitern und dadurch einen Ausgangspunkt für den folgenden Vorstoß nach Sibirien schaffen.
Auf religiösem Gebiet wichtig war die anschließende Missionspolitik Iwan IV., die die Grundlage für die Missionsarbeit der Orthodoxen Kirche unter den Tataren und den heidnischen Völkern des Wolgagebiets bildete. Sie wurde dem ersten Bischof Kasans Gurij übertragen und war von zahlreichen Klostergründungen begleitet.
Mit Iwans Versuchen, einen Zugang zur Ostsee zu schaffen, begann der internationale Aufstieg Russlands und dessen Mitgestaltung der Belange der europäischen Staaten. Im Spätherbst 1557 führte Iwan eine 40.000 Mann starke russische Armee über die Grenze und griff im Januar 1558 Livland an. Am 11. Mai 1558 gelang den Russen mit der Eroberung von Narwa der direkte Zugang zur Ostsee, am 18. Juli marschierten Truppen unter Fürst Peter Schuiski nach kurzer Belagerung in die Stadt Dorpat ein. Im folgenden Jahr gelang noch die Einnahme von Fellin, große Teile Livlands waren bereits in russischer Hand. Nach der Bildung einer feindlichen Koalition, die König Sigismund II. August von Polen anführte, ruhte der Krieg für mehrere Jahre.
Erst im November 1562 flammte der Krieg gegen Litauen neu auf, am 15. Februar 1563 gelang den Russen die Eroberung von Polozk. Während des anstrengenden Anmarsches auf die Grenzfestung Newel tötete Iwan IV. während eines durch Erschöpfung hervorgerufenen Anfalls den Fürsten Iwan Schachowskoj, und beging damit den ersten bezeugten Mord. Im März 1563 befahl der Zar erstmals Ermordungen, besonders des verräterischen Adels, und ließ mehrere Mitglieder des Hauses Adaschow und Scheremetjow hinrichten. Im Juli 1564 ließ er Fürst Dimitri Owtschina-Obolenski erdrosseln. Fürst Andrei Kurbski, der Befehlshaber der russischen Truppen an der Westgrenze, verriet im April 1564 den Zaren und wechselte auf die Seite Polens über. Zusammen mit dem polnisch-litauischen Heer verwüstete der Fürst die russische Region Welikije Luki.
Am 3. Dezember 1564 verlegte Iwan IV. seine Residenz für 17 Jahre nach Alexandrow, einer Stadt im Norden Moskaus. Der Zar verdächtigte auch andere Bojaren des Verrates und befahl eine zweite Welle von Massenexekutionen. Das Jahr 1568 stellte die schlimmste Zeit seiner Terrorherrschaft dar.
Die Handelsmetropole Nowgorod verdächtigte Iwan der Konspiration mit Polen-Livland. Am 6. Januar 1570 ritt Iwan der Schreckliche in Begleitung von Zarewitsch Iwan mit 1.500 Soldaten vor die Tore der Stadt und ließ über einen Monat hinweg die Bevölkerung massakrieren. Im Juni 1570 machte der Zar Prinz Magnus von Dänemark zum König von Livland. König Magnus wurde ein 25.000 Mann starkes Heer unterstellt, um für den Zaren Ländereien erobern zu können. Seine Verlobung mit einer Tochter des Fürsten Wladimir von Staritza sollte diesen dem Zarenreich verpflichten. Da Magnus ein doppeltes Spiel mit dem König von Polen führte und Reval nicht erobern konnte, schickte der Zar sein Heer nach Estland, um das Königreich wieder zu vernichten. Magnus entkam nach Riga zu den Polen.
Die krimtatarische Kavallerie verwüsteten derweil wieder die südlichen Grenzgebiete Russlands. Am 24. Mai 1571 brannten die Krimtataren unter Khan Giray Moskau nieder. Im folgenden Jahr erlitten sie jedoch am 2. August eine schwere Niederlage bei Molodi gegen die Russen unter Michail Worotynski und mussten ihre Plünderungen einstellen.
Im Herbst 1575 trat der amtsmüde Iwan IV. überraschenderweise zurück und übertrug die Regierung an Sajin Bulat, dem in Moskau ansässigen Vasallenkhan von Kasimow, einer Tatarenenklave an der Oka. Im Juli 1573 war Bulat zum Christentum konvertiert. Unter dem Namen Simeon Bekbulatowitsch war er zum ranghöchsten Günstling des Zaren aufgestiegen und kommandierte 1574 die russische Armee, welche beim Feldzug in Livland die Stadt Pernau angriff. Der abgedankte Zar zog sich unter dem neuen Namen Fürst Iwan von Moskau über ein Jahr aus dem Kreml zurück, übernahm aber Ende 1576 wieder die Macht.
Im folgenden Jahr 1577 startete Iwan einen neuen Feldzug zur Eroberung von Livland. Im Herbst 1578 belagerte die russische Hauptmacht unter Fürst Iwan Golitzin die Stadt Wenden und musste sich am 21. Oktober, von einem vereinigten Heer der Deutschen, Litauer und Schweden geschlagen, zurückziehen. Im Frühjahr 1579 fiel Polozk, im September 1580 Welikije Luki, und im August 1581 die Stadt Pskow an die zum Gegenangriff übergehenden Polen unter Führung von Stephan Bathory. Erst der Vertrag von Jam Zapolski vom 15. Januar 1582 beendete den Krieg, der die russische Expedition zur Ostseeküste endgültig zum Scheitern brachte. Durch diesen Vertrag musste der Zar die Stadt Polozk und Teile Livlands, die er seit dem Livländischen Krieg besetzt hielt, an die polnisch-litauische Krone abtreten. Der 1558 ausgelöste lange Krieg mit Polen-Litauen und Schweden ruinierte die Wirtschaft Russlands.
Iwan war der erste Zar, der nach Osten blickte, nach Sibirien, dem „schlafenden Land“ jenseits des Urals. Kostbare Schätze (Gold, Kristalle, prächtige Zobelfelle) wurden ihm von einem Mitglied der Familie Stroganow gezeigt. Auf Iwans Befehl hin und mit seiner Urkunde versehen, wurde die erste Sibirienexpedition unter Leitung der Familie Stroganow begonnen. Der Kosakenführer Jermak Timofejewitsch erreichte 1582 entlang der Flüsse das tatarische Khanat Sibir. Die entscheidende Schlacht der Kosaken gegen die sibirischen Tataren fand 1582 nahe dem späteren Tobolsk statt, das bald darauf als Festung gegründet wurde. Von den besiegten Tataren gelangten unzählige Zobelpelze in Iwans Besitz, ein unvorstellbares Vermögen. Iwan IV. nannte sich von nun an auch „Zar von Sibirien“.
Der deutsche Beiname „der Schreckliche“ ist nicht die adäquate Übersetzung der russischen Bezeichnung. Iwans Beiname lautet im Russischen groznyj, was der „Drohende“, der „Strenge“, „der Furchteinflößende“ bedeutet. Doch schon zu Lebzeiten Iwans verbreitete sich an westeuropäischen Höfen sein Ruf, der zu dem Beinamen „der Schreckliche“ führte. Seit einer aufgedeckten Bojarenverschwörung gegen seine Mutter war Iwan mit einem krankhaften Misstrauen gegen fast jedermann erfüllt. Schon als Kind zeigte sich bei Iwan der Hang zum Choleriker und Sadismus gegenüber Tieren, gefördert durch die grausame und unmenschliche Behandlung seitens der Bojaren nach dem Tod seiner Mutter.
Berichtet werden diverse Beispiele seiner Grausamkeit, speziell in der zweiten Hälfte seiner Herrschaft. So ließ er am 25. Juli 1570 auf dem Hauptplatz in Moskau eine Massenhinrichtung vornehmen. Große Teile der Bevölkerung hatten aus Angst das Weite gesucht, so dass die Straßen wie ausgestorben wirkten. Seinen getreuen Kanzler Iwan Michailowitsch Wiskowaty ließ er bei lebendigem Leibe zerstückeln. Die Anklage lautete auf dreifachen Hochverrat, im Zuge dessen der Angeklagte den polnischen König Sigismund II., den türkischen Sultan Selim II. und einen weiteren Herrscher, Giray, den Khan der Krim, um Hilfe gebeten und ersterem den Besitz von Nowgorod und den anderen Zutritt in das Land gewährt haben soll, was der ehemalige Kanzler als Verleumdung zurückwies. Sein Freund, Iwans Schatzmeister Nikita Funikow, wurde solange mit kochendem und eiskaltem Wasser begossen, bis sich das Fleisch von den Knochen löste. Nach vier Stunden waren 200 Menschen auf ähnlich grausame Art und Weise vor den Augen der verbliebenen Moskauer, die den Zaren aus Angst hochleben ließen, abgeschlachtet.
Im Juli 1564 stieß er dem jungen Fürsten Dmitri Obolenski selbst ein Messer ins Herz, als dieser einige tadelnde Worte sprach. Peter Petrejus, ein deutsch-schwedischer Reisender und Russlandhistoriker des 17. Jahrhunderts, überlieferte: „Einmal ließ er einen Fürsten in ein Bärenfell einnähen und auf das Eis bringen. Als seine großen Hunde den vermeintlichen Bären in Stücke rissen, belustigte der Zar sich so sehr, dass er vor Freude nicht wusste, auf welchem Bein er stehen sollte.“ Einen Bojaren, der sich vor ihm in ein Kloster geflüchtet hatte, ließ er fesseln, auf ein Pulverfass setzen und in die Luft sprengen: „So kommt er dem Himmel und den Engeln näher“, sagte Iwan.
Iwan hatte Gefallen daran gefunden, sich besondere Foltermethoden auszudenken und dem Todeskampf seiner Opfer zuzusehen. Auch seine Bediensteten brachte er nach Lust und Laune um. Pervertierter Großmut zeigte sich darin, dass er Wünsche seiner Untertanen in einem Korb sammeln ließ, um sie dann nicht zu erfüllen; ein zeitgenössisches Sprichwort lautet daher „Leg deinen Wunsch in Iwans Korb“. 1570 ließ er Nowgorod einschließen und alle Bürger von Ruf niedermetzeln. Frauen und Kinder wurden gefesselt in den Wolchow geworfen, jene, die nicht ertranken, wurden von Iwans Schergen mit Äxten erschlagen oder unter die Eisdecke gedrückt. Seit diesem Ereignis begannen seine Untertanen, ihn „Grosny“ (den „Strengen“) zu nennen, ein Euphemismus. Nach anderen Quellen war der Name bereits während seiner einzigen militärischen Erfolge, der Eroberung der Khanate Kasan und Astrachan, aufgekommen, in der Form des „Furchteinflößenden“ gegenüber seinen Feinden, nicht als „Schrecklicher“ gegen sein eigenes Volk.
NEUNTES KAPITEL
BORIS GODUNOW
Boris Fjodorowitsch Godunow wurde 1552 als Sohn des kleinadligen Gutsherren Fjodor Iwanowitsch Godunow und dessen erster Ehefrau Stepanida Iwanowna geboren. Die Legende spricht über die Abstammung Godunows vom tatarischen Fürsten Tschetmursa, der 1329 die Goldene Horde verließ und in den Dienst des Iwan I. Kalita aufgenommen wurde.
Boris Godunow ergriff am 7. Januar 1598, nachdem Fjodor I. gestorben war, als Usurpator die Macht in Russland und ließ sich nach der Wahl durch den Semskij Sobor am 21. Februar zum Zaren ausrufen und am 1. September 1598 krönen. Er war der erste Herrscher nach dem Ende des Hauses von Rurik. Godunow wurde von Moskauer Bojarengeschlechtern angegriffen, die ihn für den Mord an Dmitri Iwanowitsch, dem jüngsten Sohn Iwans IV., verantwortlich machten.
Innenpolitisch stand Boris Godunow vor den Problemen der wirtschaftlichen Zerrüttung des Landes und der bäuerlichen Massenflucht, der er durch zeitweilige Aussetzung des Abzugsrechts Einhalt zu gebieten versuchte. Seine 1589 vorgenommene Erhebung der russischen Metropolie zum Patriarchat erhöhte nicht nur das Ansehen der Kirche, sondern auch das des Staates und wurde für die kulturelle und politische Unabhängigkeit des Landes bedeutsam. In seiner Außenpolitik bemühte er sich um die Bildung einer großen Koalition gegen die Türken.
Unter seiner Herrschaft lebte der Außenhandel vor allem über Archangelsk und die Wolga auf. 1601 kam es allerdings zu einer tiefen sozialen und politischen Krise, die mit einer großen Hungersnot einherging. Zu dieser Zeit tauchte dann auch ein entlaufener Mönch auf, der sich als überlebender Zarewitsch Dmitri ausgab (der falsche Dimitri). Dieser falsche Dimitri war es, der den Zarenthron beanspruchte und mit Unterstützung von Wassili Schuiski schnell ein Heer mobilisieren konnte.
Boris Godunow verstarb in dieser labilen Situation unerwartet, nach einem Schlaganfall, am 23. April 1605.
Der Nationaldichter Alexander Puschkin verarbeitete das tragische Leben Boris Godunows in einem gleichnamigen Drama. Modest Mussorgski schrieb nach dessen Motiven die Oper Boris Godunow.
ZEHNTES KAPITEL
PETER DER GROSZE
Am 9. Juni 1672 erblickte Peter im Moskauer Kreml das Licht der Welt. Der Vater des künftigen Kaisers Russlands, Alexei Michailowitsch, hatte zahlreiche Nachkommen, darunter Peter als vierzehntes Kind. Peters Mutter war die zweite Frau von Alexei Michailowitsch, Natalja Kirillowna Naryschkina. Als Peters Vater 1676 starb, bestieg Peters Halbbruder Fjodor III. den Zarenthron.
Nach dem Tod Fjodors 1682 fand sich der zehnjährige Peter mitten in einem Kampf um den Thron seines Landes wieder, der im Ersten Strelizenaufstand gipfelte. Vor seinen Augen ermordeten die Strelizen zwei Brüder seiner Mutter sowie deren Ziehvater Matwejew. Dieses Ereignis war das Schlüsselerlebnis für Peter, da sich bei ihm daraufhin der Hass auf die Strelitzen einprägte.
1682 wurde Peter zusammen mit seinem älteren Halbbruder Iwan V. zum Zaren ernannt. Regentin wurde jedoch aufgrund der Minderjährigkeit der beiden Brüder zunächst Iwans Schwester und Peters Halbschwester Sophia, die ihre Macht wesentlich auf die Strelitzen stützte. Formal blieb Iwan bis zu seinem Tode im Jahre 1696 noch Zar neben Peter. Da Iwan aber Epileptiker und geistesschwach war, sollte er bis zu seinem Tod keinen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte haben.
Seit 1682 hielt sich Peter zusammen mit seiner Mutter Natalja im Dorf Preobraschenskoje unweit von Moskau auf. Natalja zog es vor, ihren Sohn vom russischen Hof fernzuhalten, und schloss ihn damit auch von den dortigen Bildungsmöglichkeiten aus. So genoss Peter eine traditionelle altmoskowitische Erziehung. Seit den 1680er Jahren war Peter in noch recht spielerischer Manier mit militär- und schifffahrtstechnischen Übungen und Manövern auf dem Exerzierplatz von Preobraschenskoje unweit der Moskauer Ausländervorstadt und am See von Perejaslavl befasst. In Preobraschenskoje beschäftigte er sich vor allem mit dem Kriegsspiel. Er bildete mit Gleichaltrigen eine Kriegerschar von 50 Mann, mit denen er Kriege simulierte. Aus dieser Spielzeugarmee entwickelte sich das Preobraschensker Leib-Garderegiment, das 1698 den Zweiten Strelitzenaufstand in Abwesenheit Peters I. niederschlug und damit Peters Herrschaft rettete.
Sophias Sturz im Jahre 1689 durch die Hofpartei von Peter und seiner Mutter bedeutete Peters Regierungsantritt im Russischen Zarentum. Ein Mordkomplott an Peter durch etwa 600 involvierte Strelitzen, angezettelt von Peters Halbschwester Sophia, war dem vorausgegangen. Das Komplott wurde aber verraten. Die Schuldigen wurden bestraft, seine Halbschwester Sofia ins Neujungfrauenkloster gesteckt und ihr Berater und Geliebter, Fürst Golizyn, entmachtet und nach Sibirien verbannt.
Zu diesem Zeitpunkt musste sich Peter noch dem Machtanspruch der konservativen Mutter beugen. Bereits im Januar 1689 hatte der siebzehnjährige Peter auf Drängen seiner Mutter die drei Jahre ältere Jewdokija Lopuchina geheiratet. Sie gebar dem Herrscher im Februar 1690 einen Sohn mit Namen Aleksei. Ein zweiter Sohn, der im Oktober 1691 zur Welt kam, verstarb bereits nach einem halben Jahr. Die Ehe mit Jewdokija währte zwar formell zehn Jahre, war aber schon nach einigen Jahren völlig zerrüttet.
An den Regierungsgeschäften zeigte Peter in den frühen 1690er Jahren noch wenig Interesse. Inspiriert von technischen Neuerungen und Künsten ausländischer Handwerker in der Moskauer Ausländervorstadt Nemezkaja sloboda, suchte Peter durch Besuche das dortige Leben und Treiben näher kennenzulernen. So lud sich Zar Peter häufig bei Patrick Gordon ein, einem adligen Gutsbesitzer aus Schottland, der unter dem neuen Zaren zu dessen militärischem Hauptberater avancierte. Dort lernte er auch den Schweizer François Le Fort kennen, den späteren Admiral der Kriegsflotte. Durch seine Beziehungen zur Ausländervorstadt erhielt er erste Eindrücke von der damaligen westeuropäischen Lebensweise. Le Fort, der von fremden Ländern, ihren Merkwürdigkeiten und der hohen Entwicklungsstufe ihrer Kultur erzählte, erregte in dem jungen Zaren eine große Wissbegier, die mit dem Wunsch, Russland auf ein ähnliches Niveau zu bringen, vereinigt wurde. Peter erlernte von dem jungen Mann die deutsche und niederländische Sprache. Dass ein russischer Zar in der Ausländersiedlung ein und aus ging, bedeutete unter den damaligen Gegebenheiten jedoch einen eklatanten Bruch mit der Tradition.
In den ersten Jahren als russischer Monarch beschäftigte sich der junge Zar vorwiegend mit dem Aufbau einer schlagkräftigen Armee. Zahlreiche Kriegsspiele bestimmten seinen Alltag. Durch einen Zufall wurde auch Zar Peters Drang zum Meer geweckt. Im Juni 1688 entdeckte er auf dem Gut seines Großvaters Nikita Iwanowitsch Romanow ein altes englisches Boot. 1691 reparierte Schiffbauer Karsten Brant den „Großvater der russischen Flotte“. Mit diesem Schiff unternahm Peter I. die erste Seereise nach Kolomensk. Damit war das Interesse für Boote und Schiffe bei Peter geweckt, der nun von einem Hafen für Russland träumte. Durch jenen Karsten Brant ließ er zwei Fregatten und drei Yachten erbauen, die die Grundlage und den Anfang der künftigen russischen Seemacht bildeten.
Um die maritime Position Russlands zu verbessern, trachtete Peter danach, neue Küstenplätze für sein Land zu gewinnen. Der einzige maritime Zugang dieser Zeit war am Weißen Meer bei Archangelsk. Die Ostsee wurde in dieser Zeit von Schweden kontrolliert, während das Schwarze Meer vom Osmanischen Reich beherrscht wurde. Zwei Jahre später, unmittelbar vor dem Ableben seiner Mutter, segelte er von Wologda nach Archangelsk. Dort traf sich, wenn das Eis gebrochen war, eine Flotte aus ganz Europa. Engländer, Holländer und Dänen kamen hierher, um mit Pelzen, Häuten, Hanf, Talg, Getreide und Pottasche zu handeln. Hier machte sich der Monarch in mehrmonatigen Aufenthalten am Weißen Meer in Begleitung von Gordon und Le Fort auch mit der Hochseefischerei, dem Murmansker Überseehafen und dem dortigen Handelsleben bekannt. Den dortigen Fahrten ins offene Meer entsprachen die Landmanöver, die Peter im Herbst 1694 im Moskauer Gebiet durchführen ließ, als Vorübung für den kommenden Ernstfall. Er verlegte die Werft auf die Insel Solombala und gründete dort eine Admiralität als Grundlage für eine russische Kriegsmarine und Handelsflotte. Das erste Schiff, das Handelsschiff „Sankt Paul“, lief im Juni 1694 vom Stapel. Nach Moskau zurückgekehrt, widmete sich der Zar den Staatsangelegenheiten.
Mit dem frühen Tod der Mutter, die im Februar 1694 im Alter von erst einundvierzig Jahren starb, erlosch für den jungen Herrscher auch der Grund zur Rücksichtnahme auf sie, die er bislang geübt hatte. Ihm selbst waren damit jedoch auch Bürde und Verantwortung der Regierungsgeschäfte aufgetragen. Im darauf folgenden Jahre unternahm Peter eine Reise in mehrere Teile seines Reichs, um sich selbst von allem genau zu überzeugen und das Land mit dessen Bewohnern, die Mängel und Gebrechen aller Art kennenzulernen. Nach dem Tod seines Halbbruders Iwan V. übte Zar Peter I. die Alleinherrschaft in Russland aus.
Peter versuchte, einen Zugang zum Schwarzen Meer zu erhalten. Dafür musste er aber die Krimtataren der Umgebung besiegen. In einer Vereinbarung mit Polen-Litauen begann er einen Krieg gegen das Khanat der Krim und gegen den Oberherrn der Krimtataren, den osmanischen Sultan. Zar Peters Hauptziel war die Eroberung der osmanischen Festung von Asow, nahe dem Don. Im April 1695 zog das russische Heer unter ihm gegen Asow, aber die Eroberungsversuche scheiterten. Peter kehrte im November dieses Jahres nach Moskau zurück. Sofort begann er mit dem Aufbau einer großen Marine. Er ließ 1696 über dreißig Schiffe gegen die Osmanen zu Wasser. Im Juli 1696 wurde Asow in einem zweiten Feldzug erobert. Am 12. September 1698 gründete Zar Peter offiziell die erste russische Marinebasis in Taganrog.
Von 1697 bis 1698 war Peter I. zum Teil inkognito als Teil der Großen Gesandtschaft in Europa unterwegs. Der Weg führte ihn über Livland, Kurland und Preußen nach Holland und weiter nach England. Begleiter auf dieser Reise war Alexander Menschikow. Sein Freund François Le Fort fungierte als nomineller Erster Gesandter der Großen Gesandtschaft in den Niederlanden.
Im August 1697 wollte Peter im niederländischen Zaanstad Erfahrungen im Schiffbau sammeln. Hier studierte er die Konstruktion seegängiger Segler, die er als Modellschiffe kopieren und in Russland später nachbauen ließ. Nachdem entdeckt wurde, wer da wirklich in Zaandam weilte, war Peter gezwungen, in einer von der Öffentlichkeit abgeschirmten Werft in Amsterdam weiterzuarbeiten. Dort begann er am 20. August 1697 beim Werftmeister Gerrit Claesz Pool eine Zimmermannslehre in der Werft der Ostindischen Kompanie in Krummendijk. Hier arbeitete Peter am Bau der Fregatte Peter und Paul und erhielt von Pool ein glänzendes Zeugnis.
Peter wurde an allen großen Höfen empfangen, doch sein politisches Anliegen, die Unterstützung Russlands im Kampf mit dem Osmanischen Reich, wollte niemand erfüllen. Damit zerschlug sich auch die Hoffnung auf die Gewinnung eines Schwarzmeerhafens, worauf sich Peters Anstrengungen von nun an zur Ostsee hin verlagerten.
Noch während seines Aufenthaltes in Wien während der Großen Gesandtschaft bekam Peter im Sommer 1698 die Nachricht von einem erneuten Aufstand der Strelitzen in Moskau und kehrte eilig in die russische Hauptstadt zurück. Die Strelitzen galten als größtes Machtrisiko für Peters Reformkurs. Peter I. setzte eine Vernichtungsaktion in Gang, die mehrere Monate andauerte. Viele Tausende verloren auf diese Art ihr Leben, andere wurden nach Sibirien, Astrachan, Asow und weiteren Orten verbannt, das Korps der Strelitzen für immer aufgehoben, der Name abgeschafft und für ehrlos erklärt.
Nach der Vernichtung der Strelitzen stand Peters I. Reformplänen nichts mehr im Weg. Ziel war die Modernisierung Russlands nach westeuropäischen Maßstäben. Zu seinen Umgestaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen gehörten die Förderung der Wirtschaft durch den Bau von Großbetrieben und die Unterstützung der Gründung von Privatunternehmen, Reformen im Schulwesen, das Verbot des Tragens von Bärten und altrussischer Kleidung, die stärkere Zentralisierung und Bürokratisierung der Verwaltung und die Erstellung einer Adelsrangstabelle. Diese Reformen gingen als Petrinische Reformen in die Geschichte ein und trugen zum Aufstieg Russlands als einer der führenden Mächte in Europa einen großen Anteil bei.
In der Türkeipolitik festgefahren, hatte Zar Peter I. erkannt, dass das Fehlen eines Zugangs zur Ostsee den russischen Handel beeinträchtigte. Seine Anstrengungen richteten sich vor allem deshalb gegen Schweden, mit dem Ziel die schwedische Vormachtstellung in der Ostsee zu brechen.
Im Zweiten Nordischen Krieg (1700–1721) konnte Peter trotz zahlreicher Niederlagen und erheblicher Verluste mit dem Sieg in der Schlacht bei Poltawa (1709) die Kriegswende herbeiführen. Zar Peters großer Sieg bei Poltawa und seine nachfolgenden Eroberungen im Baltikum wurden insbesondere am Hof des Sultans und Mazeppas mit Argwohn verfolgt. Am 10.. November 1710 erreichte den russischen Monarchen die Kriegserklärung. Damit ergab sich für Zar Peter eine gefährliche Situation, die den Erfolg bei Poltawa in Frage stellen konnte, da von den Verbündeten keine Hilfeleistungen zu erwarten waren. So fiel Peter widerwillig und von Krankheiten geschwächt mit seiner Armee in das Osmanische Reich ein. Die osmanischen Truppen kesselten ihn bei Huși, einem kleinen Ort am Pruth, ein. Sie nutzten jedoch ihre überlegene Position nicht aus und ließen ihn ehrenvoll abziehen. Im Frieden vom Pruth verpflichtete Peter sich, die zuvor eroberte Festung Asow abzutreten und sich aus den Gebieten der Kosaken zurückzuziehen. Zudem musste die dortige russische Schwarzmeerflotte aufgegeben werden.
1703 gründete Peter die Stadt Sankt Petersburg, die er ab 1710 ohne entsprechenden Erlass als neue Hauptstadt des Russischen Reiches bezeichnete.
Peter war seit 1712 in zweiter Ehe mit Martha Skawronskaja verheiratet, die ihm zwölf Kinder gebar und nach seinem Tod als Katharina I. die Herrschaft übernahm.
Auf seiner zweiten großen Reise nach Westeuropa 1717, diesmal nicht inkognito, versuchte Peter I., seinen militärischen Erfolg über Schweden zunächst durch die Einbindung Russlands in das europäische Staatensystem zu vollenden. Nach einer Kur in Pyrmont besuchte er in Kopenhagen seinen dänischen Verbündeten, Friedrich IV., traf Preußens König Friedrich Wilhelm I. und reiste nach Holland weiter, wo er den Winter verbrachte. Aufgrund von Fieberanfällen musste sich der Zar schonen, reiste aber nach Paris weiter, wo er freundlich vom siebenjährigen König Ludwig XV. empfangen wurde. Nach einem sechswöchigen Aufenthalt in Paris begab sich Peter I. wieder zu einer Kur nach Spa, um über Holland und Berlin zurück nach St. Petersburg zu reisen.
Der Große Nordische Krieg wurde 1721 durch den Frieden von Nystad beendet. Russland konnte sich als Führungsmacht in Nordosteuropa etablieren.
Direkt nach dem Friedensschluss mit Schweden änderte Peter seinen offiziellen Titel gemäß der gestiegenen außenpolitischen Bedeutung Russlands von Zar in Kaiser (Imperator). Diesen Titel trugen die russischen Herrscher fortan bis 1917. 1722 änderte Peter per Erlass die traditionell praktizierte, von der Reihenfolge der Geburt abhängige Thronfolge ab. Nun konnte der herrschende Regent seinen Nachfolger frei bestimmen, auch von außerhalb der Familie, und einen unwürdigen Nachfolger wieder absetzen.
Schon kränkelnd befahl Peter in seinem Bemühen, Russland zu modernisieren, am 8. Februar 1724 die Errichtung einer Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg. Seine Sommerresidenz war der Peterhof.
Unmittelbar nach der Genesung von einer schweren Erkrankung brach Peter im Herbst 1724 zu einer längeren Seereise auf. Sie führte ihn unter anderem nach Schlüsselburg, wo er die Arbeiten am neuen Ladogakanal überprüfen wollte. Am 5. November kehrte er wieder nach Sankt Petersburg zurück, ging aber nicht an Land, sondern segelte stattdessen weiter am Finnischen Meerbusen entlang. Sein Ziel war die Gewehrfabrik bei Lachta. Bei anbrechender Dunkelheit zog ein Sturm auf. Unweit vom Ufer des Lachta-Sees entdeckte Peter der Große ein gekentertes Boot, die Besatzung drohte zu ertrinken. Um den Matrosen und Soldaten aus Kronstadt zu helfen, watete er bis zur Hüfte in das eiskalte Wasser des Sees. Hier wurden sein persönliches Engagement und seine Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst deutlich. Am 8. Februar 1725 starb der zweiundfünfzigjährige Zar an den Folgen seiner Rettungstat in Sankt Petersburg.
Zar Peter I. hatte die russische Kirche stets als oppositionellen starken Gegner seiner Reformen betrachtet. Daher ließ er nach dem Tod des Patriarchen Adrian (1700) die Stelle des höchsten Geistlichen unbesetzt. Besonders verhasst waren ihm die Altgläubigen (Raskolniki), die er durch zahlreiche Gesetze bekämpfte. 1719 wurden die Jesuiten aus Russland vertrieben. Ab dem 25. Januar 1721 stellte der Zar die russisch-orthodoxe Kirche endgültig unter Staatsverwaltung. Das Geistliche Kollegium, später „Heiliger Synod“, ersetzte das seit 1593 bestehende Moskauer Patriarchat. Im vorletzten Jahr seiner Regierung holte Zar Peter I. noch zu einem entscheidenden Schlag gegen den Müßiggang in den Klöstern aus.
ELFTES KAPITEL
ELISABETH
Elisabeth wurde 1709 als uneheliches Kind Peters des Großen in Kolomenskoje geboren. Erst drei Jahre später, 1711, wurde sie durch die Heirat ihrer Eltern legitimiert und zur Großfürstin erhoben. Die Kindheit verbrachte Elisabeth zunächst in Kolomenskoje. Da die Eltern meist abwesend waren, kümmerten sich russische und finnische Kindermädchen um ihre Erziehung, später gab man sie zusammen mit ihrer älteren Schwester Anna Petrowna und ihrer jüngeren Schwester Natalja Petrowna in die Obhut ihrer Tante Praskowja Fjodorowna Saltykowa, die zumeist in Ismailowo unweit von Moskau residierte. Unter den Fittichen der Tante entwickelte sich Elisabeth zu einer von starken religiösen Gefühlen durchdrungenen Person: strenges Fasten, ständiges Gebet und Wallfahrten gehörten bald zum Tagesablauf. Mit acht Jahren erhielt die Großfürstin regelmäßig Schulunterricht. Da Peter der Große ausländische Lehrer zur Ausbildung seiner Kinder anstellte (Franzosen, Italiener, Deutsche), erlernte Elisabeth hauptsächlich Fremdsprachen, um auf ein Leben an einem fremden Hof vorbereitet zu sein. 1721 wurde Elisabeth für volljährig erklärt – sie war damals 12 Jahre alt. Ausländische Gesandte berichten von der außergewöhnlichen Schönheit der Großfürstin, auch bemerkten sie ihr musikalisches Talent.
Als Peter der Große sich 1717 in Paris aufhielt, kam zum ersten Mal der Gedanke einer russisch-französischen Heirat auf. 1721 wurden die Pläne konkreter und es begannen sehr komplexe Verhandlungen, die jedoch wegen religiöser Fragen und der unehelichen Herkunft Elisabeths ohne Ergebnis blieben. Als Ersatzkandidaten für Ludwig XV. schlug man von französischer Seite Ludwig von Chartres vor. Der Zar sollte dessen Kandidatur um die polnische Königskrone unterstützen. Die Verhandlungen gestalteten sich wieder außerordentlich schwierig: von französischer Seite beharrte man darauf, die Eheschließung erst zu vollziehen, wenn der Herzog von Chartres zum König von Polen gewählt worden sei. Damit erklärte sich Peter der Große nicht einverstanden – der damalige König von Polen, August der Starke lebte immerhin noch. 1725 starb Peter der Große, und Elisabeths Mutter trat als Katharina I. seine Nachfolge an. Katharina I. verlobte Elisabeth mit dem Lübecker Fürstbischof Karl August von Schleswig-Holstein-Gottorf, zu dem die Großfürstin eine aufrichtige Zuneigung fasste. Der geplante Hochzeitstermin musste wegen einer Erkrankung der Mutter jedoch verschoben werden. Katharina I. starb 1727 und 13 Tage später starb der Bräutigam der Großfürstin an den Pocken. Elisabeth beschloss unverheiratet zu bleiben.
Katharina I. hatte den russischen Thron in ihrem Testament Peter II. vermacht. Peter war der Sohn Alexeis, des legitimen Sohns Peters des Großen aus dessen erster Ehe. Da er damals 12 Jahre alt war, leitete Alexander Danilowitsch Menschikow die Regierungsgeschäfte. Sollte Peter II. ohne Erben sterben, sollte der Thron nach dem Testament Katharinas I. zunächst an Anna Petrowna und deren Nachkommen, dann an Elisabeth Petrowna und deren Nachkommen fallen. Für die vorläufige Abtretung ihrer Thronrechte an Peter II. sollten die beiden Töchter Peters des Großen reich entschädigt werden. Menschikow konnte die Auszahlung dieser Entschädigung jedoch erfolgreich verhindern. Anna Petrowna verließ daraufhin mit ihrem Gemahl Russland, Elisabeth blieb in sehr bescheidenen Verhältnissen zurück. Um Elisabeth unschädlich zu machen, versuchte Menschikow, sie zu verheiraten, doch konnte sich Elisabeth erfolgreich dagegen zur Wehr setzen und blieb unverheiratet. Elisabeth zog sich nach Ismailowo in der Nähe von Moskau zurück und führte dort das einfache Leben einer Gutsherrin. In dieser Zeit schloss sie mit einigen Leuten Freundschaft, die später, als sie Kaiserin geworden war, zu Bedeutung gelangten: Michael Larionowitsch Woronzow (später Großkanzler), Peter Iwanowitsch Schuwalow (später Senatspräsident), Alexander Iwanowitsch Schuwalow (später Chef der Geheimpolizei) und Armand Lestocq (ihrem Leibarzt). Auch hatte Elisabeth, ähnlich wie ihr Vater, keine Scheu, sich unter das einfache Volk zu mischen – besondere Freude empfand sie dabei, Kinder niederer Herkunft bei der Taufe zu halten. Das blieb auch später so, sie war eine der volkstümlichsten Herrscherinnen Russlands.
Nach dem plötzlichen Tod Peters II. 1730 war Elisabeth nach dem Testament ihrer Mutter Katharina I. die rechtmäßige Thronerbin. Die Großfürstin hätte ihr Leben in Ismailowo aufgeben und nach Moskau, wo sich zu der damaligen Zeit der Hof aufhielt, fahren müssen, um ihre Thronrechte geltend zu machen. Aber sie unternahm nichts, obwohl ihre Freunde und vor allem ihr Leibarzt Lestocq sie drängten. So konnte es geschehen, dass der Oberste Geheime Rat, der ebenfalls von Katharina I. ins Leben gerufen worden war, ihre Halbcousine Anna Iwanowna, die Herzogin von Kurland, zur russischen Kaiserin erwählte. Die Historiker fragten, warum Elisabeth sich damals nicht auf den Thron gesetzt hat. Sie äußerte dazu: „Ich bin froh, es nicht getan zu haben, ich war zu jung und mein Volk hätte mich nicht akzeptiert.“
Während der Herrschaft Anna Iwanownas lebte Elisabeth weiterhin meist fern vom Hof in Ismailowo oder in Saarskaja Mysa, dem späteren Zarskoje Selo. Sie beschäftigte sich dort hauptsächlich mit der Jagd, für die sie eine außerordentliche Leidenschaft hegte, oder mit der Aufführung von Theaterstücken. Die Theaterstücke karikierten oft das Leben am Hof Anna Iwanownas. Das forderte den Argwohn der Kaiserin heraus, die die Großfürstin mit einem Netz von Spitzeln umgeben und einige Personen aus der Umgebung der Großfürstin entfernen ließ. Immer wieder musste Elisabeth demütige Bittgesuche an Anna Iwanowna richten und um Gnade für ihre Untergebenen bitten. Zu offiziellen Anlässen erschien Elisabeth jedoch demonstrativ bei Hof und stellte durch ihre Schönheit und ihren Witz Anna Leopoldowna in den Schatten, die Nichte der Kaiserin, die von ihr zur Thronfolgerin ernannt worden war. Besonders demütigend für Elisabeth war, dass ihr wiederholt gedroht wurde, man werde sie, „wegen schlechten Betragens“ in ein Kloster sperren, wenn sie nicht bald heiraten würde. Elisabeth blieb aber standhaft und heiratete nicht.
1735 lernte Elisabeth den Mann kennen, der sie fortan ihr ganzes Leben lang begleiten sollte: Alexei Grigorjewitsch Rasumowski, ein Ukrainer einfacher Herkunft, Sänger in der Hofkapelle. Als sie Kaiserin geworden war, hat Elisabeth Rasumowskij geheiratet. Einziges Indiz dafür ist ein kleines Doppelporträt mit der Aufschrift: „Das Geheimnis ist gesegnet.“
Nach dem Tode Anna Iwanownas gelangte nicht ihre Nichte Anna Leopoldowna auf den Thron, sondern deren Sohn Iwan VI. Anna Leopoldowna setzte allerdings schon nach wenigen Wochen Biron, den Anna Iwanowna zum Regenten ernannt hatte, ab und übernahm selbst die Regierungsgeschäfte. Als Biron im November 1740 verhaftet wurde, tauchte im einfachen Volk das Gerücht auf, man handle im Namen von Elisabeth, die nun beschlossen hätte, sich auf den Thron zu setzen, und es kam zu einer spontanen Bewegung zugunsten der Großfürstin. Fortan hatte Anna Leopoldowna regelrecht Angst vor Elisabeth. Während die Regentin, eine Tochter eines deutschen Fürsten, oft wochenlang für die Öffentlichkeit unsichtbar blieb, zeigte sich die Großfürstin überall in der Hauptstadt.
Das Volk war unzufrieden mit dem neuen Regime, man sah es nicht gern, dass viele hohe Posten mit Ausländern besetzt wurden. Elisabeth konnte die Opposition um sich sammeln. Besonders die Garderegimenter waren ihr treu ergeben. Sie stilisierte sich zur Tochter Peters des Großen, die gekommen sei, Russland von der Fremdherrschaft zu befreien. Auch ausländische Mächte waren an einer Thronbesteigung Elisabeths interessiert, allen voran Frankreich und Schweden. Würde man Elisabeths Thronansprüche unterstützen, so hoffte man, sie zur Rückgabe der von Peter dem Großen eroberten Gebiete in Osteuropa bewegen zu können. Russland sollte wieder in seine alten Grenzen zurückgedrängt werden. Die Verhandlungen, welche die ausländischen Mächte mit Elisabeth führten, gingen vor allem über Jacques Joachim Trotti de la Chétardie, den französischen Gesandten in Russland. Auf Drängen Chétardies und Lestocqs hatte sich Elisabeth zwar mündlich zu weitgehenden Zugeständnissen gegenüber Schweden bereiterklärt, doch zur selben Zeit äußerte Elisabeth im intimen Kreis: „Bevor ich meine Krone um diesen Preis kaufe, verzichte ich lieber darauf, zu regieren.“ Die Großfürstin beschloss, den Staatsstreich ohne ausländische Hilfe durchzuführen. Um Frankreich und Schweden zu täuschen, führte sie die Verhandlungen mit Chétardie jedoch weiter fort. Im August 1741 erklärte Schweden Russland den Krieg. Die Truppen verließen die Hauptstadt, nur die Garderegimenter, die der Großfürstin treu ergeben waren, blieben zurück. Dennoch fehlte Elisabeth zunächst die Entschlusskraft zum gewaltsamen Staatsstreich. Indes wurde sie von der Regierung beobachtet, im Oktober wurden die staatsfeindlichen Umtriebe im Haus der Großfürstin aufgedeckt. An einem Hoftag am 22. November 1741 kam es zu einer Aussprache zwischen Anna Leopoldowna und Elisabeth. Elisabeth schwor der Regentin, an keinen staatsfeindlichen Umtrieben beteiligt zu sein. Anna Leopoldowna ließ sich zwar davon beruhigen, verbot Elisabeth jedoch, fortan Chétardie zu empfangen. Elisabeth und ihre Anhänger waren in Alarmbereitschaft versetzt. Anna Leopoldowna handelte: am 24. November erteilte sie den Befehl an die in St. Petersburg verbliebenen Garderegimenter, die Elisabeth treu ergeben waren und nicht auf den Kriegsschauplatz wollten, sich an die Front zu begeben, obwohl zu befürchten war, dass die Mannschaft den Gehorsam verweigern würde. Unterdessen hatte Elisabeth mit ihren Parteifreunden beschlossen, die momentane Lage zu nutzen. In der Nacht auf den 25. November 1741 begab sich Elisabeth zu den Kasernen des Preobraschenski-Garderegiments und vereidigte die Soldaten auf sich, nahm ihnen aber den Schwur ab, dass während des Umsturzes niemand getötet würde. Delegationen wurden zum Semjonowski- und Ismailowski-Garderegiment geschickt, die Staatsmänner des alten Regimes verhaftet. Um zwei Uhr in der Nacht begab sich Elisabeth an der Spitze des Preobraschenski-Garderegiments zum Winterpalast. Es war ein unblutiger Staatsstreich, keiner der Wachsoldaten des Winterpalastes leistete Widerstand. Der minderjährige Iwan VI. wurde mit seiner Mutter gefangengesetzt. Anna Leopoldowna wurde von Elisabeth aufgeweckt mit dem Zuruf: „Schwesterchen, es ist Zeit aufzustehen.“ Am frühen Morgen wurde das Volk mit einem Manifest vom Umsturz in Kenntnis gesetzt und es wurde damit begonnen, die Staatsmänner zu vereidigen. Der Staatsstreich war ohne ausländische Hilfe durchgeführt worden.
Elisabeth wollte Anna Leopoldowna, Iwan VI. und ihre Familie zuerst nach Deutschland ausreisen lassen. Dann jedoch behielt sie die Familie als Geiseln in Russland, denn gleichzeitig mit ihrer Thronbesteigung holte sie ihren Nachfolger, den Sohn ihrer Schwester Anna Petrowna, Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorp (den späteren Peter III.) nach Russland, und sie wollte ihm damit eine sichere Reise durch Preußen garantieren, der Gemahl Anna Leopoldownas war ein Schwager Friedrichs II. von Preußen. Nach der Verschwörung von 1743 war an eine Ausreise der Familie nicht mehr zu denken und die Familie wurde nach Cholmogory am Weißen Meer verbannt, Iwan VI. später in Einzelhaft in Schlüsselburg gefangen gesetzt.
Als Usurpatorin versuchte Elisabeth von Anfang an, ihre Macht zu festigen, indem sie die Privilegien des Adels ausweitete. Ihre Unterstützer in den Garderegimentern wurden allesamt in den Adelsstand erhoben und mit diversen Privilegien ausgestattet. Elisabeth betonte stets, dass sie die Tochter Peters des Großen sei und sie dessen Werk fortführen werde. Der Dichter Alexander Sumarokow verlieh dieser Idee Gestalt, als er schrieb: „In Gestalt seiner Tochter hat Peter noch einmal den Thron bestiegen. An Elisabeth hat er seine Ziele weitergegeben.“ Selbst eine gehorsame Tochter der Kirche, konnte Elisabeth sich sicher sein, dass die Geistlichkeit hinter ihr stand und ihre Machtansprüche in vielen Predigten und Denkschriften festigte.
Im April 1742 erfolgte die Krönung in Moskau. Elisabeth setzte sich die Kaiserkrone selbst aufs Haupt, was bis dahin kein russischer Herrscher gewagt hatte. Bei der Krönung schwor die Monarchin, künftig kein Todesurteil mehr zu unterzeichnen. Die Todesstrafe war damit zwar nicht abgeschafft, wurde aber unter ihrer Herrschaft nicht mehr vollstreckt.
Am 7. November 1742 ernannte Elisabeth den Sohn ihrer Schwester Anna Petrowna, Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorp (Peter Fjodorowitsch), den späteren Peter III., zu ihrem Nachfolger.
Ein großes Anliegen war Elisabeth die Beendigung des Krieges mit Schweden, der für Russland bisher zwar recht günstig verlaufen war, dennoch unnötig Ressourcen kostete. Am 7. August 1743 wurde der Frieden von Åbo geschlossen: Schweden musste an Russland ein paar kleinere Gebiete abtreten, außerdem konnte Elisabeth die Wahl Adolf Friedrichs zum König von Schweden durchsetzen.
Elisabeth gilt in Russland als Inbegriff einer absolutistischen Herrscherin: Sie führte einen äußerst verschwenderischen Hof und ließ zahlreiche barocke Schlossanlagen erbauen (Großer Palast in Peterhof, Katharinenpalast in Zarskoje Selo und vor allem den Winterpalast in Sankt Petersburg). In ihrer Regierungszeit wurde das erste russische Nationaltheater gegründet, 1755 auf Anregung des Universalgelehrten und Schriftstellers Michail Lomonossow in Moskau die erste russische Universität eröffnet und die Akademie der Künste in Sankt Petersburg aufgebaut.
Die Angst vor einem Staatsstreich, der sie stürzen könnte, beherrschte Elisabeth, die jeden Tag in einem anderen Zimmer schlief, um ihr Leben vor einem nächtlichen Überfall zu schützen. In ihren späteren Regierungsjahren hatte die Kaiserin so starke Angst vor der Nacht, dass sie am Tage schlief und die Nacht durchwachte.
1744 konnte Elisabeth erreichen, dass der Kaisertitel, den Peter der Große eingeführt hatte, von Frankreich anerkannt wurde. Im selben Jahr verlobte sie ihren Neffen und Nachfolger, wiederum auf Anraten Friedrichs II., mit Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst, der späteren Katharina II.
Den Sommer des Jahres 1744 verbrachte Elisabeth in der Ukraine, wohin sie sich zwecks einer Wallfahrt hinbegeben hatte. Den Sommer des nächsten Jahres begab sie sich nach Tallinn. Es war das erste Mal seit Peter dem Großen, dass sich ein russischer Herrscher in die neuerworbenen Ostseeprovinzen begab.
Die Impulse zu einigen innenpolitischen Reformen, die während Elisabeths Regierung in Angriff genommen wurden, gingen vor allem auf Peter Iwanowitsch Schuwalow zurück. Er war ein Jugendfreund der Kaiserin. Nachdem 1749 einer seiner Verwandten, sein Cousin Iwan Iwanowitsch Schuwalow, zum Favoriten der Kaiserin emporgestiegen war, hatte er unumschränkte Macht über Elisabeth. Obwohl Peter Schuwalow ein fähiger Staatsmann war, wird sein Talent dadurch verdunkelt, dass er nicht davor zurückschreckte, sich skrupellos zu bereichern.
1754 wurde eine Gesetzesreform beschlossen. Russland sollte zum ersten Mal in seiner Geschichte ein allgemein verbindliches Gesetzeswerk erhalten. Es wurde eine Gesetzgebungskommission einberufen, die im August 1754 ihre Arbeit aufnahm. Bereits im Juli 1755 wurden die ersten beiden Bände der Kaiserin vorgelegt. Doch Elisabeth weigerte sich, die Gesetze durch ihre Unterschrift zu ratifizieren, da sie, nach ihrem Ausspruch, „mit Blut“ geschrieben seien, die darin geforderten Strafen erschienen ihr zu barbarisch. Die Gesetzgebungskommission arbeitete zwar die restliche Regierungszeit Elisabeths weiter, es kam aber in der Folge zu keiner Vollversammlung ihrer Mitglieder mehr. Erst am Ende der Regierung Elisabeths kam neuer Elan in die Sache: im September 1761 wurde beschlossen, eine Versammlung aus Abgesandten aller Teile Russlands ins Leben zu rufen, deren Aufgabe es sein sollte, ein neues Gesetzbuch auszuarbeiten. Neben Adeligen und Vertretern der Kirche waren auch Kaufleute und freie Bauern zugelassen. Doch die ersten Abgesandten trafen erst nach dem Tod der Kaiserin in St. Petersburg ein.
Selbst sehr religiös, versuchte sie vor allem die Moslems in ihrem Reich zu missionieren und gründete eigens dafür die Kanzlei für Heidenbekehrung. Dabei ging es nicht ohne Blutvergießen zu. So richtete man unter den Mordwinen ein Massaker an. Zwischen 1743 und 1760 bekehrte die Kanzlei laut den Akten 409.894 Personen. Zahlreiche Moscheen wurden abgerissen.
Neben den Moslems hatten besonders die Altorthodoxen unter starken Repressalien zu leiden und es kam zu zahlreichen rituellen Selbstverbrennungen. Als 1743 die zweite Volkszählung begann, brachte diese eine schwere Krise für die Altgläubigen, da sie ihren Glauben angeben und fortan eine Extrasteuer bezahlen mussten. Viele Altgläubige sahen sich veranlasst, das Reich zu verlassen oder in seine entlegensten Winkel zu ziehen. Insgesamt schätzt man, dass während Elisabeths Herrschaft 6000 Menschen bei rituellen Selbstverbrennungen den Tod fanden.
Auch Juden gegenüber war die Kaiserin feindlich eingestellt. 1742 befahl sie, die wenigen im Russischen Reich lebenden Juden des Landes zu verweisen. Als der Senat versuchte, ihren Befehl zu widerrufen und darauf hinwies, dass der Handel in Russland und der Staat dadurch in Mitleidenschaft gezogen würden, entgegnete die Kaiserin: „Ich will keinen Nutzen von den Feinden Christi.“
Auf der anderen Seite war Elisabeth bestrebt, den Bildungsstand der russisch-orthodoxen Geistlichkeit zu erhöhen, außerdem regte sie die Herausgabe einer neuen Bibelübersetzung an.
Lag die Innenpolitik in den Händen Peter Iwanowitsch Schuwalows, so lag die Außenpolitik in den Händen von Alexei Petrowitsch Bestuschew-Rjumin, der 1744 zum Großkanzler ernannt worden war. Gleich zu Beginn ihrer Regierung hatte sich Elisabeth Bestuschew an ihre Seite geholt. Bestuschew war ein Feind Frankreichs und Preußens. Im Juni 1744 hatte er die Ausweisung Chétardies erreicht, der als geheimer Botschafter Frankreichs in Russland weilte. Chétardie hatte sich in seinen Briefen auf kompromittierende Weise über Elisabeth geäußert, aus Gram, weil sie mit ihm nicht über Regierungsangelegenheiten sprechen wollte und er keinerlei Einfluss auf sie besaß. Im November 1748 erreichte Bestuschew den Sturz eines weiteren seiner Feinde: Lestocq musste den Weg in die Verbannung antreten, ungeachtet seiner früheren Verdienste. In den späteren Jahren der Herrschaft Elisabeths hatte Bestuschew allerdings hauptsächlich gegen die Intrigen des Vizekanzlers Michail Larionowitsch Woronzow anzukämpfen. Dieser ging aus dem Machtkampf als Sieger hervor: Russland schloss ein Bündnis mit Frankreich. Während des Siebenjährigen Krieges wurde Bestuschew des Hochverrats angeklagt, im Februar 1758 verhaftet und zum Tode verurteilt, dann aber zu Verbannung begnadigt.
Elisabeth und ihre Regierung waren an einer Expansion nach Westen interessiert, wobei ihr Augenmerk auf Lettland, und zwar Semgallen und das Herzogtum Kurland gerichtet war. Diese standen allerdings unter der Oberhoheit von Polen-Litauen. Elisabeth wollte Polen dafür mit Ostpreußen entschädigen. So kam ihr der Krieg gegen Preußen, für den Österreich Verbündete suchte, gerade recht. Am 31. Dezember 1756 trat Russland dem Versailler Vertrag bei, im Mai 1757 rückte eine große russische Armee unter dem Kommando des Feldmarschalls Stepan Fjodorowitsch Apraxin in Ostpreußen ein. Es folgte am 19. August 1757 der Sieg in der Schlacht bei Groß-Jägersdorf. Genau zu dieser Zeit erlitt Elisabeth einen Schlaganfall und man erwartete ihren Tod. Nun war aber die preußenfreundliche Politik des Thronfolgers allgemein bekannt. Trotz des Erfolges befahl Apraxin den Rückzug nach Tilsit, weil er fürchtete, im Falle einer Thronbesteigung Peter Fjodorowitschs bestraft zu werden. Apraxin wurde verhaftet und des Verrates angeklagt, starb aber schon vor Beendigung des Verfahrens an einem Schlaganfall in Narwa. Zum Oberbefehlshaber der Truppen wurde General Saltykow ernannt. Ein Jahr nach Großjägersdorf, am 14. August 1758, wurde das russische Heer in der Schlacht von Zorndorf besiegt. Darauf wurde Ostpreußen von der russischen Armee geräumt. Die Schlachten von Kay und von Kunersdorf konnten die Russen wiederum für sich entscheiden. Doch waren die Verluste gewaltig. Saltykow meldete der Kaiserin: „Ihre Majestät darf über unsere Verluste nicht überrascht sein, denn sie weiß ja, dass der König von Preußen seine Niederlagen teuer verkauft. Noch ein zweiter solcher Sieg und ich werde mit einem Stecken in der Hand nach Petersburg pilgern und die Nachricht, wegen Fehlens von Meldereitern, selbst überbringen müssen.“ Doch war die Kaiserin mit der zögerlichen Kriegstaktik Saltykows unzufrieden. Verärgert und unzufrieden, über seinen schlechten Gesundheitszustand klagend, bat er um seinen Abschied, den man ihm im September 1757 gewährte. Zum neuen Oberkommandierenden wurde Buturlin ernannt, eine völlige Fehlbesetzung. Dennoch besetzten russische Truppen vom 28. September 1760 für drei Tage Berlin. Der Siebenjährige Krieg forderte von Russland ungeheure Kraftanstrengungen und brachte den Staat an den Rand des Ruins. Der Krieg war auch die Hauptursache, warum die durchaus ehrgeizigen Reformpläne der Elisabeth-Zeit nicht in die Tat umgesetzt werden konnten: Alle Kräfte wurden vom Krieg in Anspruch genommen.
Im Alter wurde der Charakter der Monarchin immer religiöser: Sie liebte die absolute Einsamkeit, schlief den Tag über und war in der Nacht wach, oft betete sie stundenlang auf Knien vor ihren Ikonen. Sie dachte an Abdankung und ließ das Smolny-Auferstehungs-Kloster in Sankt Petersburg erbauen, wohin sie sich als Nonne zurückziehen wollte. Elisabeth war häufig krank und ließ sich oft wochenlang in der Öffentlichkeit nicht sehen, um ihren Gesundheitszustand zu verbergen. 1757 erlitt sie bei einem Gottesdienst in Zarskoje Selo vor den Augen des Hofes einen Schlaganfall und ihr Gesundheitszustand wurde allgemein bekannt.
Als schweres Problem galt ihre Nachfolge: Sie war kinderlos geblieben. Das Haus Romanow war aber in seiner männlichen Linie bereits 1730 mit Peter II. ausgestorben. Elisabeths Neffe Peter Fjodorowitsch, den sie zu ihrem Nachfolger ernannt hatte, war oft krank. Elisabeth liebte ihren Neffen nicht, und seine politischen Ansichten entsprachen ihr nicht, weil er ein Bewunderer Friedrichs II. von Preußen war, gegen den sie Krieg führte.
Je kränker die Kaiserin wurde, desto mehr wandten sich die Höflinge von ihr ab und versuchten, dem Thronfolger zu gefallen. So wurden die Erfolge der russischen Armee an der Front an der Heimatfront vernichtet, wo man eine preußenfreundliche Politik betrieb.
Elisabeth starb mit nur 52 Jahren, kurz nachdem sie 1762 eine allgemeine Amnestie erlassen hatte. Nach ihrem Tod wurden ihre militärischen Erfolge gegen Preußen von ihrem Nachfolger, Peter III., zunichtegemacht.
ZWÖLFTES KAPITEL
KATHARINA DIE GROSZE
Katharina II. wurde 1729 als Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst in Stettin geboren. Sie war eine Tochter von Fürst Christian August von Anhalt-Zerbst aus dem Geschlecht der Askanier, dem damaligen preußischen Gouverneur von Stettin, und dessen Gemahlin Johanna Elisabeth von Holstein-Gottorf, der jüngeren Schwester von Adolf Friedrich, der 1751 schwedischer König wurde. Somit war Katharina eine Verwandte des neuen schwedischen Herrscherhauses Holstein-Gottorf.
Die Kindheit verbrachte sie in Stettin, unterbrochen von Besuchen bei ihrer Verwandtschaft in Braunschweig, Zerbst, Berlin und Varel. 1739 hielt sie sich im Eutiner Schloss auf, wo sie ihrem zukünftigen Gatten erstmals begegnete. Nach dem Tod von Johann August von Anhalt-Zerbst und der dadurch erfolgten Regierungsübernahme ihres Vaters Christian August im Jahr 1742 zog die Familie im Dezember 1742 ins Zerbster Schloss.
1743 beschloss die Zarin Elisabeth Petrowna auf Anraten Friedrichs II., ihren Nachfolger, den russischen Thronfolger Großfürst Peter Fjodorowitsch und späteren Kaiser Peter III., den ersten Zaren aus der bis 1918 regierenden Dynastie Romanow-Holstein-Gottorp, mit Sophie, seiner Cousine zweiten Grades, zu vermählen. Im Januar 1744 begann Sophies Reise von Zerbst nach Russland über Berlin, wo sie Friedrich II. besuchte, Reval und Sankt Petersburg nach Moskau, wo sie im Februar 1744 eintraf. Mit Ehrgeiz und Zielstrebigkeit erlernte die begabte Vierzehnjährige schnell die russische Sprache und versuchte, sich am Hof zu integrieren. Die Verlobung fand am 29. Juni 1744. statt und am 21. August 1745 war die Hochzeit. Die Hochzeitsfeierlichkeiten dauerten zehn Tage. Einen Tag vor der Verlobung konvertierte sie vom evangelisch-lutherischen zum orthodoxen Glauben und bekam zu Ehren Jekaterinas I., der Mutter der regierenden Kaiserin, den Namen Jekaterina Alexejewna. Die Ehe war nicht harmonisch. Schon in der Hochzeitsnacht wurde deutlich, dass der Großfürst nur wenig Interesse und Zuneigung für Katharina empfand: Während sie auf ihn im Schlafgemach wartete, kam er spät nachts betrunken von seiner Feier wieder.
Großfürstin Katharina war eine lebensfrohe und intelligente Frau. Sie musizierte gern und las viel, mit Vorliebe historische und politische Werke (Montesquieu, Voltaire), um so ihr Verständnis für die Politik zu schärfen. Vor allem war sie stets über die Vorgänge am Hof informiert. Sie besuchte jeden Gottesdienst und nahm am religiösen Leben teil. Währenddessen schuf sich Großfürst Peter seine eigene Welt in Oranienbaum (heute Lomonossow) und pflegte seine Vorliebe für alles Preußische, insbesondere das Militär. Anfangs band er Katharina noch in seine Spiele mit den kleinen Soldatenfiguren ein und ließ sie die preußische Uniform tragen. Doch schon bald verloren beide jeglichen Bezug zueinander.
Am 1. Oktober 1754 brachte Katharina nach neunjähriger Ehe einen Sohn zur Welt. Obwohl es Gerüchte um eine Liebschaft der Großfürstin gab, erkannten ihr Ehemann und die Kaiserin das Kind Paul als legitim an. Seine Erziehung sowie die der Tochter Anna, die am 9. Dezember 1757 zur Welt kam und am 9. März 1759 starb, übernahm die Großtante Elisabeth selbst. Die Kinder wurden jeweils sofort nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt. Im Jahr 1762, also im Todesjahr der Zarin Elisabeth, gebar Katharina den Sohn Alexis Grigorjewitch Bobrinski aus der Verbindung mit ihrem Liebhaber Grigori Orlow.
Katharina II. pflegte eine rege Korrespondenz mit Voltaire, den sie ebenso sehr schätzte wie Denis Diderot. Voltaire, der Vordenker der Aufklärung, nannte sie den strahlenden Stern des Nordens und sah in ihr eine Philosophin auf dem Thron. Ihre tiefe Zuneigung und Bewunderung zeigte sich, als sie seine Vorstellungen in ihre „Große Instruktion“ mit einfließen ließ. Darüber hinaus unterstützte sie ihn finanziell und kaufte nach seinem Tod seine Bibliothek auf, die sich heute in der Nationalbibliothek in Sankt Petersburg befindet. Friedrich II. sorgte 1776 für ihre Ehrenmitgliedschaft in der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Am 25. Dezember 1761 starb Elisabeth. Daraufhin kam Katharinas Ehemann als Zar Peter III. an die Macht. Peter III. Hatte sich noch während der Trauertage unangemessen albern benommen. Dies verärgerte sowohl Katharina als auch große Teile des russischen Volkes. Katharina forderte ihren Gatten zur Mäßigung auf, auch und im Besonderen in der Politik. Doch die ersten Staatshandlungen Peters III. waren ein Sonderfrieden mit Preußen, der zwar das Ende des Siebenjährigen Krieges bedeutete, für Russland allerdings Nachteile brachte, und die Einführung eines umfangreichen aufgeklärten Reformprogramms, wodurch er sich die Feindschaft der konservativen Kräfte des Landes zuzog.
Katharina und ihre Vertrauten planten daraufhin einen riskanten Staatsstreich. Sie versicherte sich zuerst der Unterstützung einiger Garderegimenter, in denen unter anderen die Gebrüder Orlow dienten, dann ließ sie sich am 9. Juli 1762 zur Zarin ausrufen, während Zar Peter III. für abgesetzt erklärt wurde. Katharina rückte mit der Garde nach Peterhof vor, wo Peter III. sich zu der Zeit aufhielt. Peter III. flüchtete zunächst nach Kronstadt, kehrte allerdings zurück und unterschrieb anschließend in Oranienbaum seine Abdankungsurkunde. Katharina wurde noch am selben Tag in der Kasaner Kathedrale von Sankt Petersburg durch den Metropoliten Setschin zur Alleinherrscherin Russlands erklärt. Peter III. wurde gefangengenommen und kam am 17. Juli 1762 ums Leben. Nachdem sich die Lage im Lande nach Peters Tod wieder beruhigt hatte, wurde Katharina II. am 22. September in der Himmelfahrtskathedrale des Moskauer Kremls zur Zarin von Russland gekrönt, worauf sie das Land 34 Jahre lang regierte. Da Katharina II. nicht wieder in den Siebenjährigen Krieg eintrat, sondern sich an den von Peter III. mit Preußen geschlossenen Friedensvertrag hielt, verlieh ihr der preußische König Friedrich II. am 22. November 1762 den Orden vom Schwarzen Adler.
Das zentrale Ziel ihrer Innenpolitik war die Etablierung der Staatsgewalt in allen Orten des Riesenreiches. Die Reform des Jahres 1775 – eines der wichtigsten innenpolitischen Projekte Katharinas II. – hat dem Russischen Kaiserreich eine neue Verwaltungsstruktur verliehen: Es wurde in 40 Gouvernements eingeteilt und bekam eine neue Lokalverwaltung. Diese war insofern neuartig, als sie lokale Eliten – vor allem den Adel und die Kaufmannschaft – stärker in die Verwaltung mit einbezog und neue Aufgabenfelder der staatlichen Tätigkeit erschloss, etwa das Bildungswesen, die Armenfürsorge oder die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung.
Schon bald nach ihrer Machtübernahme, am 14. Oktober 1762, erließ Katharina ein Manifest, in dem der Kaiserliche Senat ausdrücklich die Erlaubnis erhielt, Ausländern die Ansiedlung im Land zu gestatten. Da die Veröffentlichung dieses ersten Manifestes nicht die erhoffte Resonanz im Ausland hatte, unterschrieb Katharina II. das Manifest vom 22. Juli 1763, mit dem sie tausenden deutschen Bauern die Ansiedlung in den Ebenen beiderseits der Wolga ermöglichte. Sie versprach den Siedlern Religionsfreiheit, Steuerfreiheit und das Verfügungsrecht über ihr Land. Man spricht in diesem Zusammenhang von den Wolgadeutschen.
Katharina führte zusammen mit Graf Sievers 1775 die groß angelegte Gouvernementsreform durch. Dank dieser Reform wurde erstmals eine einheitliche Verwaltung mit Statthalterschaften, Gouvernements und Kreisen eingeführt. Historisch betrachtet stellte sie einen wesentlichen Einschnitt in der russischen Verwaltungsgeschichte dar. Katharina gründete ab 1764 erste Volksschulen und Gymnasien in den Städten sowie Ingenieurfachschulen. Im Gegensatz zu Zar Peter dem Großen trieb sie besonders die Gründung von Volksschulen voran. In allen russischen Bezirksstädten gab es gegen Ende ihrer Regierungszeit eine Volksschule und in jeder Provinz bis auf den Kaukasus ein Gymnasium. Der Schulbesuch war freiwillig und kostenfrei. Unter der Herrschaft von Katharina stieg die Zahl der staatlichen Schulen von sechs im Jahr 1781 auf 316 im Jahr 1796. Zu diesem Zeitpunkt kamen 22 Prozent der Schüler aus dem Mittelstand, und 30 Prozent waren Bauernkinder. Katharina begründete zudem Wohlfahrtsprojekte wie die Einrichtung von Hospitälern und Obdachlosenasylen.
Katharina II. pflegte einen regen Briefwechsel mit Voltaire und Cesare Beccaria über Fragen der Gewaltenteilung und eine Reformierung des Strafrechts im Sinne der Aufklärung. Katharina II. hatte Denis Diderot schon im Jahre 1762 nach Russland eingeladen, dort sollte er die Enzyklopädie vollenden. 1765 kaufte sie ihm pro forma seine Bibliothek ab und stattete ihn mit Geld für Neuanschaffungen aus. 1773 hielt er sich für einige Monate am Hof von Sankt Petersburg auf, wohin nach seinem Tod 1784 auch die Bibliothek verbracht wurde.
1767 berief Katharina eine Kommission zur Abfassung eines Projekts für ein neues Gesetzbuch, in die gewählte Vertreter aus allen Landesteilen berufen wurden. Aufgabe war allerdings weniger die Schaffung einer einheitlichen Rechtsprechung für die unterschiedlichen Völker des riesigen Reiches, vielmehr verfolgte die Kaiserin das Ziel, das Land besser kennenzulernen, um seine Verwaltung den unterschiedlichen Gegebenheiten anzupassen. Die Ergebnisse der Kommissionsarbeit sind vor allem in die Vorbereitungen der Verwaltungsreform des Jahres 1775 eingeflossen. Die Kommission selbst wurde bei Ausbruch des türkisch-russischen Krieges 1768 aufgelöst. Ein Jahr vor ihrer Auflösung verlieh sie Katharina die Titel „die Große“ und „Mutter des Vaterlandes“.
Im Toleranzedikt vom 17. Juni 1773 versprach sie die Duldung aller religiösen Bekenntnisse. Davon ausgenommen war allerdings die große Zahl von Juden, die seit der Ersten Teilung Polens ihre Untertanen waren.
Obwohl sie der Gedankenwelt der Aufklärung nahestand und Russland für die europäische Kunst und Literatur öffnete, konnte sie in ihrem politischen Alltag nur in eng gesteckten Grenzen handeln. Auch wenn Katharina nie versucht hat, die von Philosophen herausgearbeiteten politischen und gesellschaftlichen Modelle in die Realität umzusetzen, war ihre Politik deutlich vom Gedankengut der Aufklärung geprägt. Der aufgeklärte Absolutismus Katharinas II. steht in einer Reihe mit seinen westeuropäischen Pendants. Zentrale Inhalte aufgeklärt-absolutistischer Projekte kennzeichneten auch die Herrschaft Katharinas II.: Konsolidierung der Staatsgewalt und innerer Staatsausbau sowie Allgemeinwohl.
Ihrer kritischen Haltung gegenüber der Leibeigenschaft zum Trotz tat sie nur wenig, um die Verhältnisse der Bauern zu verbessern. Die Lage der Bauern verschlechterte sich während ihrer Regentschaft dramatisch, sie verloren sogar das Recht, sich über ihre Herren zu beschweren. Lediglich der Rechtsweg stand ihnen offen. Gleichzeitig stärkte sie allerdings die Privilegien des Adels, da Katharina durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war und sich ständiger Unterstützung durch den Adel sicher sein musste.
So hatte die Kaiserin auch mit massiven sozialen Unruhen zu tun, allen voran dem Pugatschow-Aufstand (1773–1775).
Katharina II. baute den Machtbereich Russlands in einem Maße aus wie kein russischer Herrscher vor ihr. In zwei russisch-türkischen Kriegen 1768–1774 sowie 1787–1792 eroberte sie den Zugang zum Schwarzen Meer und weite Küstengebiete. Im Ergebnis der drei Teilungen Polens gewann Russland eine Million Quadratkilometer Landgebiete und sechs Millionen Menschen dazu. Katharinas „Griechisches Projekt“, das heißt die Eroberung Konstantinopels und die Neugründung des Byzantinischen Reiches unter russischer Herrschaft, scheiterte am einseitigen Kriegsaustritt Österreichs im letzten der beiden Türkenkriege Katharinas sowie an der gleichzeitigen Gefahr des Angriffs der Schweden. Dennoch konnten nach der Annexion der Krim 1783 und der Zerschlagung des Krimkhanats weite Teile der heutigen Südukraine als Provinz Neurussland erschlossen und besiedelt werden. Auch auf dem diplomatischen Parkett Europas konnte Katharina II. Erfolge erzielen. Durch ihre Vermittlerrolle im Frieden von Teschen wurde der Bayerische Erbfolgekrieg beendet. Während des Unabhängigkeitskrieges der USA brachte sie eine gegen England gerichtete Koalition für bewaffnete Neutralität zum Schutz des neutralen Handels zustande. Nach dem Tod ihres Bruders Fürst Friedrich August von Anhalt-Zerbst erbte Katharina II. 1795 die Herrschaft Jever durch die Zerbster Teilung. Als Statthalterin setzte sie ihre Schwägerin Friederike Auguste Sophie ein.
DREIZEHNTES KAPITEL
ALEXANDER I.
Alexander I. war der älteste Sohn des Kaisers Paul I. und seiner zweiten Gemahlin, Maria Fjodorowna, geborene Prinzessin Sophie Dorothee von Württemberg.
Weich und sentimental, zeigte er sich wohlwollend und für Ideale begeistert, aber auch schwach und unbeständig und schon früh begann seine Bereitschaft, alles Unangenehme beiseitezuschieben. Sein Vater Paul I., seit 1796 Kaiser, behandelte Alexander misstrauisch und willkürlich. Für seine Ausbildung sorgte seine Großmutter Kaiserin Katharina II. Er wurde unter der Leitung des freisinnigen Schweizer Freimaurers Frédéric-César de la Harpe nach Rousseau'schen Grundsätzen erzogen. Dieser konnte sein Vorhaben, den jungen Großfürsten in der Staatskunst auszubilden, nicht beenden. Zarin Katharina erschien es wichtiger, dynastische Zukunftsfragen in Erwägung zu ziehen. Bereits im Herbst 1792 ließ sie zwei badische Prinzessinnen zur Ansicht nach Sankt Petersburg kommen.
Am 28. September wurde Großfürst Alexander im Alter von 15 Jahren mit der Prinzessin Louise von Baden vermählt. Die Braut war 14 Jahre alt und erhielt nach ihrem Übertritt zum orthodoxen Glauben den Namen Elisabeth Alexejewna.
1796 starb Katharina II., und Alexanders Vater bestieg als Paul I. den russischen Kaiserthron. Ab diesem Zeitpunkt begann für Alexander eine Zeit der Demütigungen und Drangsalierungen durch den Vater. Nun geriet er langsam unter den Einfluss seiner Mutter, der sein ganzes Leben lang anhalten sollte.
Als Alexander durch die Ermordung seines Vaters am 12. März 1801 auf den Thron gelangte, war er, obwohl er von dem Mord weder gewusst noch ihn gebilligt hatte, doch anfangs von Rücksichten auf die Mörder Subow, von der Pahlen und von Bennigsen abhängig. Sie gingen alle straffrei aus.
Später erlangte das sogenannte Triumvirat "Pawel Stroganow, Nikolai Nowosilzew und Adam Czartoryski" bedeutenden Einfluss auf ihn.
Seiner Persönlichkeit entsprechend, war sein Bemühen vornehmlich auf die innere Entwicklung Russlands gerichtet. In der ersten Hälfte seiner Regierung, namentlich während der ersten Jahre, war er eifrig bestrebt, das Finanzwesen seines Reichs zu ordnen, die geistige Bildung zu fördern und das harte Los der Leibeigenen zu mildern. Estland, Livland und Kurland verdanken ihm die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Einführung einer mit dem Institut der Gemeindegerichte verbundenen Bauernordnung. Leibeigene zum Verkauf auszustellen oder in den Zeitungen anzubieten wurde 1801 verboten, ihre Freilassung und Ansiedlung in den Städten erleichtert. Um diesen und anderen Reformen seine Sorgfalt zuwenden zu können, war Kaiser Alexander anfangs bemüht, kriegerische Einmischung in die europäischen Angelegenheiten zu vermeiden.
Bereits 1802 schloss er mit König Friedrich Wilhelm III. von Preußen einen herzlichen Freundschaftsbund, dem beide bis an ihr Lebensende treu geblieben sind.
Gleichzeitig trat Kaiser Alexander mit Napoleon Bonaparte, damals Erster Konsul der Französischen Republik, in enge politische Beziehungen, um die Angelegenheiten Europas nach gemeinsamem Einverständnis friedlich zu leiten. 1804 kam es zum Bruch mit Frankreich. Alexander unterstützte 1805 Österreich, trat aber nach der Schlacht bei Austerlitz vom Bund gegen Napoleon zurück, um den Kampf 1807 zugunsten Preußens zu erneuern, allerdings erst, als sein Verbündeter den größten Teil seines Territoriums bereits verloren hatte.
Als die preußischen und russischen Truppen bis über die Memel zurückgedrängt waren, vermittelte Kaiser Alexander den Frieden von Tilsit. Dessen Abschluss ging die berühmte Zusammenkunft des russischen und des französischen Kaisers am 25. Juni 1807 voraus, und Alexander, der für Napoleons glänzende persönliche Eigenschaften die größte Bewunderung hegte, ließ sich von diesem zum zweiten Mal für den Gedanken einer gemeinsamen Leitung der europäischen Angelegenheiten gewinnen.
Während des Erfurter Fürstenkongresses im Oktober 1808 wurde der Bund mit Frankreich erneuert und Alexander der Besitz der Türkei versprochen, gegen die er einen Krieg siegreich fortsetzte. Bei den weit auseinandergehenden Interessen der beiden Staaten dauerte indes diese Eintracht nicht lange, und 1812 kam es von neuem zum Bruch.
Anfangs schien auch Russland im Russlandfeldzug 1812 Napoleon unterliegen zu müssen, und nach der Einnahme von Moskau verzweifelte Alexander fast an der Fortführung des Krieges. Indessen gelang es dem ungebrochen optimistischen Freiherrn vom Stein, ihn umzustimmen und seine Begeisterung anzufachen. Alexander erklärte, die Waffen nicht niederlegen zu wollen, ehe Napoleon gestürzt sei. Dessen Friedensangebote wurden zurückgewiesen und die religiöse und nationale Begeisterung der Russen wachgerufen. Das mehr dem Hunger und der Kälte als den Waffen weichende französische Heer wurde auf seinem Rückzug hart bedrängt und fast vernichtet.
Alexanders Entschluss für die Fortführung des Krieges begünstigte die Erhebung Deutschlands, die ohne seine Unterstützung kaum möglich gewesen wäre. In den Befreiungskriegen übte Alexander als der mächtigste unter den verbündeten Herrschern großen Einfluss aus, sowohl auf die militärischen Operationen als auch bei der schonenden Behandlung Frankreichs und der Rückführung der Bourbonen.
1814 bemühte sich der Kaiser beim Wiener Kongress für die Eintracht unter den Fürsten und für die Herstellung einer festen Ordnung. Als damaliger Vertreter liberaler Ansichten suchte er persönlich und durch den Freiherrn vom Stein auf die Regelung der deutschen Verhältnisse durch die Wiener Schlussakte zu wirken. Auch setzte er durch, dass die Neutralität der Schweiz anerkannt wurde, und verschaffte den ionischen Inseln republikanische Selbstständigkeit. In gleichem Sinn gab er Polen, das ihm durch die Entscheidung des Wiener Kongresses zugefallen war, eine freisinnige Verfassung.
Der Freimaurerei gegenüber skeptisch gesinnt, gab Alexander I. ein Gutachten über die Tätigkeiten der Freimaurerlogen in Auftrag. Angefertigt wurde es durch Ignaz Aurelius Feßler, der 1809 als Professor der orientalischen Sprachen und der Philosophie an die Alexander-Newskij-Akademie in Sankt Petersburg berufen wurde, den Unterrichtsminister Graf Rasumowsky, den Polizeiminister Balaschew und den demokratischen Staatssekretär Michail Michailowitsch Speranski. In dessen Folge wurde die Freimaurerei 1810 in Russland genehmigt, und Alexander I. trat selbst dem Bund bei.
Unter dem Einfluss der großen Begebenheiten dieser Zeit und auf Anregung der ihn damals in ihre Mystik ziehenden Juliane von Krüdener entstand bei dem christlich-frommen Zaren zuerst die Idee der Heiligen Allianz, durch deren Verwirklichung er den Frieden der Welt auf einer von den seitherigen politischen Bündnissen weit abweichenden Grundlage festzustellen trachtete, welche aber nur die Handhabe für die politische Reaktion wurde und, statt die Gemüter zu beruhigen, die Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung nur noch steigerte. Alexander I., dadurch erschreckt und, wie es scheint, durch böswillige Einflüsterungen gegen die Völker mit Misstrauen erfüllt, versuchte mit anderen Fürsten gewaltsame Gegenmittel. Man beriet und beschloss in diesem Sinn auf den Kongressen zu Troppau, Laibach und Verona, und Alexander bot willig die Hand, mit den Aufständen auch den politischen Fortschritt der Völker zu unterdrücken.
In Russland wurden die Zensur und die strengste Überwachung der Büchereinfuhr wieder eingeführt, die Wissenschaft, Literatur und der Unterricht behindert, Untersuchungen wegen demagogischer Umtriebe eingeleitet, die Missionsgesellschaften unterdrückt und allmählich alle Pläne für Reformen und Fortbildung aufgegeben. Über das ganze Reich breitete sich das Netz einer offenen und geheimen Polizei, welche allen Verkehr hemmte. Die Erfahrung, dass durch alle diese Maßregeln der Geist des Widerstandes nicht zu verbannen war, verbitterte den Kaiser, der teils in den Zerstreuungen eines glänzenden, üppig-frömmelnden Hofs, teils in religiöser Mystik Zerstreuung und Befriedigung suchte.
Unter ständigem Druck Metternichs wandte sich der Kaiser wenige Tage nach dem Besuch des fanatischen Mönchs Photius gegen seine eigenen Freunde, und am 6. August 1822 erging der Befehl, alle geheimen Gesellschaften und auch die Freimaurerlogen aufzulösen.
Die Entwicklung des griechischen Aufstandes seit 1821 brachte zugleich die Politik des Kaisers in enormen Widerspruch mit der öffentlichen Meinung. Sein Volk war den orthodoxen Glaubensbrüdern zugetan; Alexander aber missbilligte den Aufstand des griechischen Volkes, weil er darin nur eine Auflehnung gegen ihren rechtmäßigen Oberherrn erblickte. Seine eigenen Ideale von einem nationalen Liberalismus gehörten der Vergangenheit an, und er weigerte sich, den veränderten Lebensauffassungen irgendwelche Zugeständnisse zu machen.
Die furchtbare Überschwemmung, die 1824 Sankt Petersburg heimsuchte, sowie die Furcht vor einer russisch-polnischen Verschwörung gegen das Haus Romanow trugen mit dazu bei, den Gemütszustand des Kaisers weiter zu verdüstern. Körperlich leidend und voller Todesgedanken versöhnte er sich mit seiner Gattin, die stets seine Freundin geblieben war. Im Sommer 1825 verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Kaiserin, und die Ärzte rieten ihr zu einem langen Aufenthalt im Süden; Alexander beschloss, sie zu begleiten. Mitte September traten die beiden eine Reise auf die Krim an. Dort befiel ihn ein der Halbinsel eigentümliches Fieber. Über seinen Zustand besorgt, ließ er sich nach Taganrog bringen; dort starb er am 19. November 1825.
Die Umstände und der Ort seines Todes führten während der restriktiven und strengen, von Misstrauen geprägten Regierung seines Nachfolgers Nikolaus I. zu der Legende, Kaiser Alexander sei nicht gestorben, sondern habe sich freiwillig als Einsiedler von der Regentschaft zurückgezogen; man habe Alexander als uralten Mann gesehen. Er lebe heimlich an einem verborgenen Ort und berate von dort einige Größen des Reiches. Diese Sagen hielten sich Jahrzehnte; sie führten zur Verklärung des Monarchen in Teilen der russischen Bevölkerung. Das Ende des Zaren verarbeitete Reinhold Schneider literarisch in seinen 1940 entstandenen Erzählungen Taganrog und Die Wahrheit.
VIERZEHNTES KAPITEL
NIKOLAUS I.
Nikolaus war der dritte Sohn des Kaisers Paul I. und dessen zweiter Ehefrau, Maria Fjodorowna, geborene Prinzessin Sophie Dorothee von Württemberg. Er blieb während der Regierung des ältesten Bruders Alexander I. allen Staatsgeschäften fern. 1814 machte er seine Grand Tour durch mehrere Länder Europas. Nachdem er am 13. Juli 1817 Charlotte von Preußen, älteste Tochter König Friedrich Wilhelms III. von Preußen, geheiratet hatte, lebte er mit seiner Familie im Anitschkowschen Palais in Petersburg. Seine offiziellen Aufgaben beschränkten sich auf den Militärdienst in einer Garnison, wobei er den Rang eines Oberinspektors des Geniewesens bekleidete.
Als Alexander I. am 1. Dezember 1825 starb, hinterließ er keine Söhne, so dass sich Nikolaus völlig unerwartet selbst mit der Regierungsübernahme konfrontiert sah, da der zweitälteste Bruder Konstantin aufgrund einer unstandesgemäßen Ehe auf die Thronfolge verzichtet hatte. Am 24. Dezember übernahm Nikolaus formell die Regierung und wurde am 3. September 1826 in Moskau zum Kaiser gekrönt.
Eine seit Jahren vorbereitete Militärverschwörung der Dekabristen, die am 26. Dezember 1825 ausbrach, unterdrückte er entschieden. Nikolaus begann sofort nach der Herrschaftsübernahme mit der Errichtung eines autoritären Regimes, wenn er auch anfangs die Minister seines Bruders beibehielt. Dabei stützte er sich auf eine umfangreiche Bürokratie, vor allem auf die äußerst effektive Geheimpolizei unter Alexander von Benckendorff, sowie auf das Heer, die orthodoxe Kirche und einen öffentlich geförderten russischen Nationalismus. Unter anderem erhielten die Generaladjutanten bei allen Behörden Einsicht in die Akten, Rechenschaft über die Verwaltung, Vorlegung der Rechnungen. Dies stellte die Zivilverwaltung unter militärische Aufsicht. Der persönliche Beraterstab des Kaisers bestand fast ausschließlich aus hohen Offizieren. Einen Beitrag zu dieser Entwicklung dürfte die ausschließlich militärisch ausgerichtete Erziehung Nikolaus' geleistet haben.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft lehnte Nikolaus 1826 entschieden ab. Zwar befahl ein Ukas den verschiedenen Lokalbehörden, darüber zu wachen, dass die Leibherren „nichts Übermäßiges“ von ihren Bauern fordern sollten; aber aufgrund der Bestechlichkeit der Behörden blieb der Ukas wirkungslos, und selbst die Gesetze, welche später zur Erleichterung der Leibeigenschaft erlassen wurden, verbesserten das Wesen der Eigenhörigkeit nur wenig.
Nikolaus erließ eine Vielzahl repressiver Bestimmungen gegen die Juden in Russland. Beispielsweise kam es zu Zwangsrekrutierungen jüdischer junger Männer und auch Kinder, die bis zu 25 Jahre lang verpflichtet wurden und in dieser Zeit sich mit massiven Bekehrungsversuchen konfrontiert sahen. Außerdem wurden viele Formen und Versuche jüdischer Selbstorganisation unterbunden. Während Nikolaus’ Regierungszeit setzten Pogrome ein, die die Vorläufer der antijüdischen Ausschreitungen im russischen Reich zum Ende des 19. Jahrhunderts bildeten.
Mit der Russifizierung der verschiedenen Nationalitäten gingen Versuche systematischer Bekehrung der Protestanten und Katholiken zur orthodoxen Kirche einher; selbst die griechisch-unierte Kirche musste 1840 ihre Vereinigung mit der orthodoxen geschehen lassen.
Trotz oder auch wegen dieser massiven Repression begannen sich unter Nikolaus oppositionelle Bewegungen verschiedener Ausrichtung zu formieren.
Prägende Gestalt von Nikolaus' Außenpolitik war Minister Karl Robert von Nesselrode. Unter ihm stand, wie im Inneren, die Unterdrückung revolutionärer Bewegungen in ganz Europa und Asien im Mittelpunkt.
In den ersten Jahren von Nikolaus' Herrschaft war die Außenpolitik vorzugsweise auf Asien und die Eroberung der Türkei gerichtet. Der Russisch-Persische Krieg brachte in dem Frieden von Turkmantschai Russland einen bedeutenden Gebietszuwachs. 1828 begann er den Krieg gegen die Türkei, an dem er, obwohl er nicht den Oberbefehl führte, selbst teilnahm und der Russland 1829 im Frieden von Adrianopel die Ostküste des Schwarzen Meers, den freien Verkehr auf der Donau, im Schwarzen Meer und im Mittelmeer und als weitere Folge die Gründung des griechischen Königreichs einbrachte. Die polnische Erhebung wurde 1831 in neunmonatigem verheerenden Kampf unterdrückt.
Der wachsende Einfluss Russlands im Orient zeigte sich besonders, als sich Sultan Mahmud II. im Vertrag von Hünkar Iskelesi 1833 Nikolaus de facto unterwarf und von ihm Hilfe gegen den rebellischen Pascha von Ägypten erbat. In Europa verstand sich Nikolaus als Schutzherr der bestehenden monarchischen Ordnung und belebte 1833 die Heilige Allianz wieder.
Verschiedene Bündnisse mit nahezu allen europäischen Staaten erwiesen sich allerdings als nicht belastbar, als Nikolaus 1853 versuchte, die Türkei zu erobern. Großbritannien und Frankreich traten gegen ihn in den Krimkrieg, keine andere Macht unterstützte Russland. Die Heeresorganisation Russlands erwies sich als ungenügend, der Einfall in die Türkei misslang, die Krim wurde von den Verbündeten angegriffen und die russische Armee in der Schlacht an der Alma und der Schlacht von Inkerman geschlagen. Noch vor dem Ende der Kämpfe starb der mittlerweile an Schüttelfrost und an einer Lungenentzündung erkrankte Nikolaus I. am 18. Februar 1855.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
ALEXANDER II.
Alexander II. wurde 1818 als Sohn des Kaisers Nikolaus I. und der Kaiserin Alexandra Fjodorowna geboren. Seine Thronfolge stand seit seinem achten Lebensjahr – anders als bei den meisten seiner Vorgänger auf dem russischen Thron seit Peter I. – nie in Zweifel. Entsprechend den Gepflogenheiten am russischen Hof war Alexander wie alle Großfürsten für eine Offizierslaufbahn bestimmt und wurde entsprechend ausgebildet. Für die Grundzüge der Erziehung war daher seit seinem siebten Lebensjahr ein Berufssoldat und Veteran aus den napoleonischen Kriegen verantwortlich, nämlich der deutschstämmige Linienoffizier Karl Merder. Merder, der zuvor als Lehrer in einem Kadettenkorps seine pädagogischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte, war über zehn Jahre fast beständig in der unmittelbaren Nähe Alexanders und begleitete ihn auch bei seinen Auslandsreisen. An die Seite Merders trat auf Wunsch der Kaiserin Wassili Schukowski. Der Dichter und Vorleser der Kaiserin nahm dabei die Rolle eines Mentors und Tutors ein. Beide hauptverantwortlichen Erzieher achteten darauf, dass Alexander einerseits staatspolitisches Rüstzeug erlangte, andererseits aber auch eine entwickelte Persönlichkeit entfalten konnte. Als eigentliche Lehrer in den jeweiligen Fächern betrauten die Erzieher ausgezeichnete Wissenschaftler und zum Teil die wichtigsten zeitgenössischen russischen Politiker, wie zum Beispiel den leitenden Minister Alexanders I., Michael Speranski. Bemerkenswert dabei ist, dass wie im Falle Speranskis durchaus auch Männer mit der Ausbildung des Thronfolgers betraut wurden, die im Gegensatz zur extrem reaktionären Politik von Nikolaus I. standen.
1839 lernte Alexander II. seine spätere Frau, die Prinzessin Marie von Hessen und bei Rhein, kennen, die zu dem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt war. Die Hochzeit fand am 4. April 1841 statt. Auch gegen den erheblichen Widerstand am Zarenhof und sogar diplomatische Interventionen hatte Alexander seine Wahl durchgesetzt. Unterstützung hatte er dabei erstaunlicherweise bei seinem in politischen Fragen despotischen Vater gefunden, der seinem Sohn in dieser Frage offensichtlich nicht im Weg stehen wollte, obgleich die Heirat als politisch unzweckmäßig galt.
Alexanders Charakter wird zwiespältig beurteilt: einerseits wird er als friedlich, weise und wohlwollend mit einem klaren Sinn für das Gute beschrieben, andererseits galt er aber auch seinen eigenen Erziehern als arrogant, wankelmütig, wenig tatkräftig und – wie er selbst später zugab – als bis zur Rachsucht nachtragend. Hinzu kam, dass ihm sein Vater die Grundzüge der autokratischen Herrschaftsauffassung in einer Art vermittelte, dass Alexander trotz aller libertären Tendenzen und Reformen unumstößlich an diesem Prinzip festhielt. Zudem entwickelte der Thronfolger aufgrund der strengen militärischen Ausbildung ein Faible für alles Militärische, woraus eine an Wilhelm II. erinnernde närrische Vorliebe für das militärische Zeremoniell erwuchs.
Alexander hatte wie kaum ein Zweiter schon vor der Übernahme der Regierungsverantwortung tiefe Einblicke in die Regierungstätigkeit gewinnen können, repräsentative Aufgaben wahrgenommen, zahlreiche Reisen ins Ausland und in sämtliche russischen Provinzen unternommen,
des Öfteren wichtige Regierungsaufgaben direkt wahrgenommen und im Jahre 1842 sogar für einen Monat die Regentschaft über das Reich während der Abwesenheit seines Vaters übernommen.
Als Alexander nach dem Tod seines Vaters am 18. Februar 1855 die Regierungsgeschäfte übernahm, war er zwar mit knapp 37 Jahren ein gereifter, gut ausgebildeter und auch politisch versierter Mann. Allerdings musste er das Reich in einer schweren Krise übernehmen: Im Krimkrieg, den Alexander zunächst fortsetzte, zeichnete sich die Niederlage Russlands schon im Frühjahr 1855 deutlich ab und wurde mit dem Fall Sewastopols unabwendbar. Der Kaiser besuchte im November selbst Odessa und die Krim und gelangte dabei endgültig zu der Erkenntnis, dass der Krieg verloren sei.
Der Pariser Frieden vom 18. März 1856 beendete den Krieg. Er schwächte Russlands Machtstellung im Orient nur vorübergehend und bedeutete nicht das Ende des russischen Interesses an den türkischen Territorien. Auch nach diesem Frieden wurde der Krieg gegen die kaukasischen Bergvölker fortgesetzt und weite Gebiete zwischen dem Kaspischen Meer und dem Aralsee gelangten unter russischen Einfluss und wurden zum Teil endgültig besetzt.
Die Russland im Pariser Frieden auferlegte Entmilitarisierung der Schwarzmeerhäfen bedeutete indes einen schweren Schlag für das Prestige als Großmacht, als die sich das Reich seit den Napoleonischen Kriegen betrachtet hatte. Besonders in den 1848er Revolutionen hatte sich Russland als europäische Hegemonialmacht präsentiert. Die unnötige und kontraproduktive Demütigung Russlands trug nach Überwindung des ersten Schocks zur Entstehung einer religiös-nationalen Stimmung in Russland bei, die eine Revanche für die Kriegsniederlage herbeisehnte.
Am 14. August 1856, fünf Monate nach dem Friedensschluss und fast anderthalb Jahre nach seinem Regierungsantritt, fand in Moskau die Krönungszeremonie des neuen Zaren statt. Ausländischen wie russischen Gästen fiel besonders die Diversität der Untertanen auf, die an den Feierlichkeiten teilnahmen: Baschkiren, Tscherkessen, Tataren und Armenier waren nach Moskau eingeladen worden, um die Vielfalt und das Ausmaß des Reiches zur Schau zu stellen und die Bindung zwischen dem Zaren und seinen asiatischen Völkern symbolisch zu festigen. Zum ersten Mal waren Repräsentanten des Bauernstands zur Zeremonie geladen und wurden in den Krönungsalben eigens erwähnt.
Für die Geschichte Russlands und die politischen Überzeugungen Alexanders II. bedeutete die Niederlage im Krimkrieg einen tiefen Einschnitt. Die Unfähigkeit, eine im Feindesland operierende und schlecht geführte Koalitionstruppe zu besiegen, zeigte Russlands Rückständigkeit in allen Bereichen, von der Wirtschaft über die Infrastruktur (besonders das fehlende Eisenbahnnetz) und das Bildungswesen bis hin zur Heeresorganisation. Daher wurde der Krimkrieg zum Fanal für die russische Politik, denn Alexander II. nutzte den Pariser Frieden dazu, die Basis für sein politisches Programm eines Aufbrechens der verwobenen kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Fesseln durch den Impuls von außen zu schaffen. Alexander war bestrebt, Russland möglichst schnell eine Öffentlichkeit und eine Gesellschaft zu geben, um so aus seiner Sicht im Konkurrenzkampf mit den anderen europäischen Großmächten bestehen zu können.
Als Reaktion auf die in der Niederlage im Krimkrieg zutage getretene Rückständigkeit Russlands nahm Alexander weitreichende große Reformen in Angriff. Diese Reformen stellen einen der bedeutendsten Einschnitte in der Geschichte Russlands dar, Man sieht in ihnen sogar ein bedeutenderes Reformwerk als das Peters des Großen. Für andere stehen die Reformen „an den Wurzeln der Revolution“.
Kernstück der Reformen war die Bauernbefreiung: bereits zwölf Tage nach der Unterzeichnung des Pariser Friedens sagte der Kaiser vor Moskauer Adeligen, „es sei besser, die Leibeigenschaft abzuschaffen, als darauf zu warten, dass sie zerbreche.“ Zwar mögen dabei auch humanitäre Erwägungen eine Rolle gespielt haben, entscheidender war aber, dass die Leibeigenschaft als in wirtschaftlicher Hinsicht objektiv obsolet angesehen wurde. Eigentliches Ziel der Reformtätigkeit war es, Russland wirtschaftlich, technisch und somit letztlich militärisch in Europa wieder konkurrenzfähig zu machen. So wundert es nicht, dass die seit 1861 durchgeführte Aufhebung der Leibeigenschaft mit weiteren Reformen, unter anderem einer neuen Militärorganisation, verknüpft war.
Alexander setzte diese Reformen gegen große Widerstände durch. Unterstützung fand er neben seinem Bruder Konstantin vor allem in der durchaus reformfreudigen Bürokratie. Da die Widerstände des grund- und leibeigenenbesitzenden Adels aber gewaltig waren, kam letztlich ein verwässerter Kompromiss zustande. Anders als bei den Bauernbefreiungen in Preußen und Österreich, bei denen die Bauern kein Land erhalten hatten und so Kapitalausstattung und anschließend Investitionsfreude der Großgrundbesitzer gefördert worden war, wurden die russischen Bauern mit einem dauernden Nutzrecht von Haus und Hof ausgestattet, in dem Maße, wie sie zuvor die Felder bewirtschaftet hatten. Allerdings blieben die Fron- und Zinslasten gegenüber dem Grundherren bestehen, und es blieb auch bei der Anbindung an den Mir, eine Freizügigkeit bestand also nicht. Die Adeligen erhielten sogar das Recht, die Bauern vor Inkrafttreten noch umzusetzen, um ihr Gutsland nach eigenem Ermessen zu arrondieren. Zwar gab es einen Minimalsatz, eine Fläche Land, die das Existenzminimum sichern sollte, aber die Übervorteilung der Bauern bei den Ausführungsbestimmungen und den Ablösezahlungen war überdeutlich. Bei der Festlegung der Flächen gab es etwa sehr zum Nachteil der Bauern große regionale Unterschiede. Die Bauern mussten das Land käuflich erwerben, der Staat die Finanzierung dieser Geschäfte übernehmen. Eine Befreiung der Bauern aus der Polizeigewalt der Gutsbesitzers erfolgte unmittelbar mit dem Inkrafttreten der Reform 1861; weil das Land aber im Kollektivbesitz der örtlichen Bauern blieb und die schon bislang übliche periodische Umverteilung des Bodens festgeschrieben wurde, blieben die Möglichkeiten der Bauern, selbstbestimmt zu wirtschaften, höchst begrenzt.
Alexander versuchte dabei durchaus Adel und Bauern gerecht zu werden, aber wegen der Zuteilung von Land an die Bauern und der Zwangsbewirtschaftung in der Dorfgemeinschaft wurden die Produktionsfaktoren Arbeit sowie Grund und Boden nur unzureichend liberalisiert. Die Bevölkerungsentwicklung in Russland sorgte zudem für eine Zuspitzung der Lage, da 1911 – also 50 Jahre nach der Bauernbefreiung – bereits eine Verdopplung zu verzeichnen war. Dass auch ein Großteil der russischen Adeligen innerhalb kurzer Zeit ruiniert waren, weil sie nicht in der Lage waren, sich an die neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen, zeigt, wie zwiespältig die Reform zu bewerten ist.
Auch einem Teil der Juden des Zarenreichs kamen diese Reformen nach langer Zeit der Repression und Beschränkungen zugute. Um die russische Wirtschaft zu fördern, wurde sowohl jüdischen Kaufleuten mit mehr als 50.000 Rubel Einkommen als auch Juden mit „bevorzugten“ Berufen ein Wohnrecht auch außerhalb des im Westen des Reichs gelegenen Ansiedlungsrayons gewährt. Ein Freizügigkeitsrecht erhielten auch Juden mit akademischen Graden.
1863 wurde der polnische Januaraufstand mit schonungsloser Härte niedergeschlagen. Die große Bedeutung der Reformen und die völlige Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die sie zur Folge hatten, riefen in vielen Bevölkerungsgruppen Ablehnung hervor. Im Zuge dieser Unzufriedenheit und als Folge der immer noch bestehenden großen Ungleichheit in der Gesellschaft breiteten sich sozialistische, kommunistische und nihilistische Ideen aus und gewannen an Bedeutung. Gleichzeitig stärkte der Sieg über Polen nationalistische Gefühle und führte zum Erstarken des Panslawismus. Alexander machte keine ernsthaften Versuche, die Korruption in der Bürokratie zu unterdrücken; vielmehr duldete er korrupte Beamte in seiner nächsten Umgebung in hohen Stellungen. Daher stieg die Unzufriedenheit im Volk gegen Alexanders Regierung weiter.
Ein am 4. April 1866 von dem Revolutionär Dimitri Karakosow vor dem Sommergarten versuchtes Attentat auf den Kaiser, das durch den Bauern Kommissarow verhindert wurde, hatte eingehende Untersuchungen zur Folge, welche die Existenz zahlreicher politischer Geheimbünde aufdeckten. Dieses und ein zweites Attentat, das während der Pariser Weltausstellung des Jahres 1867 von dem Polen Berezewski versucht wurde, übten auf den Kaiser einen nachhaltigen Eindruck aus und ließen seine Neigung zu Reformen schwinden. Die Zensur wurde in alter Strenge wiederhergestellt und ein umfassendes polizeiliches Überwachungssystem eingerichtet.
Während des Krieges zwischen Österreich und Preußen im Jahr 1866 bewahrte Alexander eine neutrale, aber preußenfreundliche Haltung. Auch während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 lagen Alexanders Sympathien bei Deutschland, was er unter anderem durch Ordensverleihungen an die deutschen Heerführer und durch Ernennung des Kronprinzen Friedrich zum russischen Generalfeldmarschall zeigte. Alexander hinderte Österreich an der Einmischung in den Krieg, indem er die Besetzung Galiziens durch russische Truppen androhte, falls Österreich mobilmachen sollte. Infolge dieses Krieges stieg Alexanders Einfluss: Wilhelm I., der neue deutsche Kaiser, war nicht nur mit ihm verwandt, sondern ihm auch aus Dankbarkeit für seine Unterstützung verpflichtet, während Frankreich sich um sein Wohlwollen in einem eventuellen Revanchekrieg bemühte. Zu einer Krise kam es am 15. August 1879, als der russische Kaiser dem deutschen Kaiser den so genannten Ohrfeigenbrief zusandte. Alexander bewahrte aber seine deutschfreundliche Haltung. Russland schloss 1881 mit den Kaisern Wilhelm I. von Deutschland und Franz Joseph I. von Österreich in Berlin das Dreikaiserbündnis. Damit wurden die lange bestehenden Spannungen zwischen Russland und Österreich-Ungarn zunächst abgebaut und der Frieden in Europa vorübergehend gefestigt. Russland erklärte sich in einem etwaigen Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich für neutral und erlangte dafür freie Hand im Osten.
Der Feldzug nach Chiwa 1873 erweiterte Russlands Macht im Innern Asiens beträchtlich, hatte aber zunächst noch keinen Konflikt mit Großbritannien zur Folge. Vielmehr schien sich 1874 durch die Heirat der einzigen Tochter Alexanders, Maria, mit Alfred, Duke of Edinburgh, sogar eine Annäherung zwischen Russland und Großbritannien anzubahnen. Im Mai absolvierte Alexander einen Staatsbesuch in Großbritannien. Im Sommer 1874 fand auf Initiative von Alexander eine internationale Konferenz in Brüssel statt, die eine Konvention zu den Gesetzen und Gebräuchen des Krieges verabschieden sollte.
Währenddessen reorganisierte er die Armee nach deutschem Muster. Noch ehe diese Reorganisation beendet war, wurde Alexander fast wider Willen durch die Ausbreitung des Panslawismus vor allem in Adels- und Beamtenkreisen zum Engagement Russlands auf dem Balkan gedrängt. Er duldete in der Balkankrise die Unterstützung Serbiens und Montenegros durch Freiwillige und Gelder, wurde selbst Pate für einen Sohn des serbischen Fürsten Milan III. und nahm öffentlich für die Christen im osmanischen Reich Stellung.
Im April 1877 erklärte Russland im Gefolge des niedergeschlagenen bulgarischen Aprilaufstands dem Osmanischen Reich den Krieg. Alexander zog mit Gortschakow nach Bessarabien, folgte der vorrückenden Donauarmee durch Rumänien nach Bulgarien und schlug sein Hauptquartier in Gorny Studen auf, wo er auch während der militärischen Rückschläge blieb, die Russland im Juli bis September erlitt. Als mit dem Fall von Plewen wieder ein Erfolg erzielt wurde, kehrte er am 15. Dezember 1877 nach Sankt Petersburg zurück, wo er am 22. Dezember mit großem Jubel empfangen wurde.
Auch nach dem Krieg blieb seine Lage inmitten der sich bekämpfenden Richtungen in Russland schwierig, besonders nach neuen Anschlägen von Nihilisten 1879. Auf Alexander selbst wurden mehrere Anschläge verübt: am 14. April 1879 schoss Alexander Konstantinowitsch Solowjow auf ihn; am 1. Dezember 1879 versuchten Nihilisten, bei Moskau den Eisenbahnzug, in dem Alexander fuhr, zu sprengen; am 17. Februar 1880 erfolgte ein weiteres Attentat im Winterpalais. Als Reaktion wurde die Überwachung und Verfolgung von Regimegegnern verschärft.
Alexander plante auch weiterhin Reformen der Gesellschaft.
Als Alexander II. am 1. März 1881 mit seiner Begleitmannschaft den Michailowski-Palast in einer Kutsche verließ, wurde diese nach nur wenigen Metern beim Sankt Petersburger Gribojedow-Kanal von einer mit Dynamit gefüllten Dose getroffen. Der Kaiser überstand die Explosion unverletzt und wollte in Richtung Winterpalast gehen. Doch als der Urheber des Attentats, der Student Nikolai Ryssakow, überwältigt wurde, rief er dem Kaiser zu: „Freuen Sie sich nicht zu früh!“ Der Schlitten wurde beschädigt, ein Passant getötet, mehrere weitere verletzt. Als Alexander ausstieg, um den Schaden zu besehen, warf der junge Adelige und Technikstudent Ignati Grinewizki eine weitere Granate vor die Füße des Zaren. Der Attentäter war sofort tot, der Zar erlag eine Stunde später im Winterpalast seinen schweren Verletzungen an beiden Beinen. Sein damals zwölfjähriger Enkel, der spätere Zar Nikolaus II., war Zeuge der Bluttat, die von der Untergrundorganisation Narodnaja Wolja („Volkswille“) durchgeführt wurde.
An der Stelle des Anschlags ließ sein Sohn Alexander III. die Auferstehungskirche bauen. Sein Grab befindet sich wie das aller Romanows in der Peter-und-Paul-Kathedrale.
SECHZEHNTES KAPITEL
ALEXANDER III.
Großfürst Alexander wurde 1845 als zweiter Sohn des Zarewitsch Alexander Nikolajewitsch Romanow und dessen Gemahlin Prinzessin Marie von Hessen-Darmstadt in Sankt Petersburg geboren.
Charakterlich legte der junge Alexander ein einfaches, grobes und abruptes Wesen an den Tag, zuweilen sogar schroff. Auch durch seinen robusten Körperbau und seine immense physische Stärke unterschied er sich von der Mehrzahl seiner Familienangehörigen.
1855 bestieg sein Vater als Alexander II. den russischen Kaiserthron. Sein älterer Bruder Nikolaus wurde neuer Zarewitsch, und folglich genossen dessen Erziehung und Ausbildung bei Hofe höchste Priorität. Alexander wurden relativ geringe Aussichten auf den Thron zugeschrieben, und er erhielt eine oberflächliche, unzureichende Ausbildung eines Großfürsten, die von militärischem Drill geprägt war.
Nach dem plötzlichen Tod seines Bruders 1865 wurde Alexander neuer Thronfolger. Doch trotz seines Titels hatte er wenig Einfluss auf das öffentliche Leben und die Politik, sondern er lebte vielmehr zurückgezogen im Anitschkow-Palais. Im Bewusstsein seines Mangels an Vorbereitung wandte sich die Familie an Konstantin Pobedonoszew, Professor an der Universität Moskau, der den Zarewitsch in Rechtswissenschaften und Staatskunde unterwies. Pobedonoszew, der für seinen extremen Konservatismus bekannt war, sollte zeitlebens großen Einfluss auf Alexander ausüben.
Als Offizier nahm der Zarewitsch am Russisch-Osmanischen Krieg 1877 in Bulgarien teil. Beim anschließenden Berliner Kongress unterstützte der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck die Forderungen Russlands nicht, sondern trat als „ehrlicher Makler“ auf. Alexander zeigte sich enttäuscht vom Verhalten des Deutschen Reiches, und für ihn lag die Zukunft Russlands nicht an der Seite der Deutschen. Damit stand er mehr und mehr im Widerspruch zu seinem Vater, der seine Außenpolitik auf ein Bündnis mit Preußen (später dem Deutschen Reich) stützte, während Alexander sich mehr zu Frankreich hingezogen fühlte.
An dem Sterbebett seines Bruders Nikolai versprach Alexander diesem, dessen Verlobte Prinzessin Dagmar von Dänemark zu heiraten. Am 9. November 1866] wurde die Hochzeit in der Kapelle des Winterpalastes gefeiert, und seine Ehefrau nahm nach ihrer Konversion zur russisch-orthodoxen Kirche den Namen Maria Fjodorowna an. Die Verbindung wurde als glücklich beschrieben; keiner der beiden hatte außereheliche Liebschaften.
Mit seiner dänischen Gemahlin führte Alexander ein sehr häuslich und familiär geprägtes Leben. Ausgedehnte Sommerurlaube im Langinkoski-Herrenhaus in der Nähe von Kotka an der finnischen Küste waren fester Bestandteil des Familienlebens. Hier wurden die Kinder in eine skandinavische Lebensart der relativen Bescheidenheit eingetaucht.
Nachdem am 13. März 1881 Alexanders Vater, Zar Alexander II., in Sankt Petersburg einem Bombenattentat der Untergrundorganisation Narodnaja Wolja (Volkswille) zum Opfer gefallen war, folgte er ihm auf dem Thron als Alexander III. Die Krönungsfeierlichkeiten fanden zwei Jahre später, am 27. Mai 1883, in der Moskauer Mariä-Entschlafens-Kathedrale statt.
Die Ermordung Kaiser Alexanders II. verfolgte seine Nachfolger wie ein Gespenst, weshalb Alexander III. aus Sicherheitsgründen mit seiner Familie das gut bewachte, festungsartige Schloss Gattschina bezog. In Folge des Attentats kam es in ganz Russland zu zahlreichen antisemitischen Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung. Als Reaktion erließ der neue Kaiser 1882 die sogenannten „Maigesetze“, in denen die freie Berufsausübung und Freizügigkeit der jüdischen Minderheit stark eingeschränkt wurden.
Für Alexander lag die Stärke Russlands in sich selbst. Er war der Ansicht, sein Reich wäre von anarchistischen Störern und revolutionären Agitatoren durchsetzt gewesen, die bekämpft werden müssten. Als Instrument der Bekämpfung gründete Kaiser Alexander 1881 die Geheimpolizei Ochrana, die politische Gegner in die sibirischen Arbeitslager sperrte. Als weiteres Problem sah Alexander eine „Überfremdung“ der Gesellschaft, besonders in Hinblick auf den deutschen Einfluss. Russland sollte ein homogenes Staatsgebilde sein, in dem die ethnischen Unterschiede in religiöser und sprachlicher Vielfalt überwunden werden müssten. Um dieses Ziel zu verwirklichen, startete Alexander eine radikale Politik der Russifizierung, die besonders in Polen und im Baltikum gegen harte Widerstände in der Bevölkerung durchgesetzt werden musste. Denn die Stützen seiner autokratischen Herrschaft sah Alexander in der slawischen Nation, der orthodoxen Kirche und einer einheitlichen Verwaltung. In seiner Herrschaftsauffassung war für parlamentarische Institutionen und den westeuropäischen Liberalismus kein Platz. Er hob beinahe alle Liberalisierungsvorschläge seines Vaters auf, obwohl er die Leibeigenschaft nicht wieder einführen konnte, zentralisierte die Verwaltung und schwächte die Semstwo-Vertretungen auf dem Lande. Allmählich zog er sich so die Feindschaft aller Klassen in Russland zu. Erneut flackerte überall der Terror auf. In seiner Politik wurde er von Konstantin Pobedonoszew unterstützt, der als persönlicher Berater des Zaren fungierte und zur grauen Eminenz am Hof aufstieg.
Die wohl größte Leistung in seiner 13-jährigen Herrschaft war die Grundsteinlegung für die Transsibirische Eisenbahn, die längste Eisenbahnstrecke der Welt. Damit wurde der europäische Teil Russlands mit den sibirischen Ostgebieten verbunden und war das zentrale Herrschaftsinstrument des Kaisers in diesen entlegenen Gebieten.
Außenpolitisch folgte Alexander III. der traditionellen Politik der schrittweisen Erweiterung der zaristischen Herrschaft in Zentral- und Ostasien. Dabei wollte er jedoch Konflikte mit anderen Großmächten vermeiden, denn er war nachdrücklich ein Mann des Friedens. Alexander stand zwar nicht auf dem Standpunkt „Frieden um jeden Preis“, vielmehr folgte er dem Grundsatz, das beste Mittel, einen Krieg zu vermeiden, sei eine gute militärische Vorbereitung.
Obwohl gegenüber dem Deutschen Reich zurückhaltend eingestellt, verschlechterte sich das traditionell gute Verhältnis der beiden Staaten erst gegen Ende von Alexanders Herrschaft. Gleichzeitig suchte Alexander III. eine Annäherung an Frankreich, zum einen wegen seiner persönlichen Neigungen, aber vor allem suchte Alexander Investoren für die teure Transsibirische Eisenbahn und um die aufkeimende Industrialisierung zu finanzieren. Da Frankreich von Bismarck 20 Jahre lang isoliert worden war, war es für diese Annäherung zu gewinnen. Der offene Bruch vollzog sich 1890, als der deutsche Kaiser Wilhelm II. den Rückversicherungsvertrag mit Russland nicht verlängerte. Nun war der Weg zu einem russisch-französischen Bündnis frei. Ein Jahr später unterzeichneten beide Regierungen eine Übereinkunft, im Falle einer Bedrohung für den Frieden sich zu konsultieren – der Vorläufer des Zweiverbandes von 1894.
Auf der Rückkehr von einer Reise in den Kaukasus war der Zar mit seiner Familie am 29. Oktober 1888 bei Borki zusammen mit seiner Entourage von einem Eisenbahnunfall betroffen. Der Hofzug entgleiste und stürzte einen Abhang hinunter. Die Ursache konnte nicht geklärt werden. Als das Dach des Speisewagens auf die Fahrgäste zu stürzen drohte, hat Alexander das Dach mit seinen Schultern angehoben haben, bis sich alle in Sicherheit gebracht hatten. Die kaiserliche Familie kam mit dem Schrecken davon. Diese übermenschliche Anstrengung hinterließ nach Meinung der Ärzte bleibende Schäden an seinen Organen.
Sechs Jahre später erkrankte der Kaiser durch die Spätfolgen des Unglücks und starb am 1. November 1894 im Liwadija-Palast auf der Krim, wo er sich zu einem Erholungsurlaub befunden hatte.
Seine sterblichen Überreste wurden in der Peter-und-Paul-Festung von Sankt Petersburg beigesetzt.
SIEBZEHNTES KAPITEL
NIKOLAUS II.
Nikolaus Alexandrowitsch Romanow wurde am 18. Mai 1868 im Alexanderpalast von Zarskoje Selo geboren. Er war der älteste Sohn von Zarewitsch Alexander, des späteren Zaren Alexander III., und dessen Gemahlin Maria Fjodorowna (geborene Dagmar von Dänemark). Per Geburt erhielt Nikolaus den traditionellen Titel eines „Großfürsten von Russland“.
Als Mitglied des Herrscherhauses Romanow-Holstein-Gottorp bestanden, wie im 19. Jahrhundert üblich, Verwandtschaftsverhältnisse zu zahlreichen europäischen Fürstenhäusern. Väterlicherseits war Nikolaus ein Enkel des regierenden russischen Zaren Alexander II. und Marija Alexandrowna (geborene Marie von Hessen-Darmstadt), mütterlicherseits war er ein Nachkomme des dänischen Königs Christian IX. und Louises von Hessen-Kassel. Die alljährlich stattfindenden Besuche bei den Großeltern an den dänischen Königshöfen von Fredensborg und Bernstorff waren regelmäßige Familientreffen mit den deutschen, britischen, griechischen und dänischen Verwandten. Aufgrund seiner vornehmlich deutschen, als auch russischen und dänischen Herkunft war Nikolaus ein Cousin des britischen Königs Georg V., des norwegischen Königs Haakon VII., des dänischen Königs Christian X. sowie des griechischen Königs Konstantin I. Außerdem war er ein Neffe dritten Grades des Deutschen Kaisers Wilhelm II.
Nikolaus hatte fünf jüngere Geschwister: Alexander, Georgi, Xenija, Michail und Olga, mit denen die Familie meist im Sankt Petersburger Anitschkow-Palais residierte. Das Zusammenleben innerhalb der Familie wurde als harmonisch und liebevoll beschrieben, weshalb Nikolaus eine sehr enge Familienbindung entwickelte, die er zeitlebens beibehalten sollte. Im Hinblick auf Herkunft und Status ihrer Kinder, legte Maria Fjodorowna großen Wert auf eine häusliche, durch Einfachheit und Bescheidenheit gekennzeichnete Erziehung. Nikolaus sprach neben Russisch auch Englisch, Deutsch und Französisch. Ein englischer Hauslehrer erzog ihn nach den Prinzipien eines Gentleman.
Am 13. März 1881 fiel Alexander II. einem Bombenattentat der linksterroristischen Untergrundorganisation Narodnaja Wolja (Volkswille) zum Opfer. Der zwölfjährige Nikolaus war Augenzeuge, wie sein schwer verwundeter Großvater in das Sankt Petersburger Winterpalais gebracht wurde und dort seinen Verletzungen erlag. Dadurch folgte ihm Alexander III. auf den Thron, und Nikolaus wurde gemäß den Bestimmungen der Primogenitur neuer Zarewitsch. Aus Sicherheitsgründen siedelte die Familie nach dem Attentat in das festungsartige Schloss Gattschina um und weilte nur noch zu offiziellen Anlässen in der Hauptstadt. Hatte der junge Nikolaus bisher abgeschottet von der Außenwelt gelebt – die Geschwister und eine Gouvernante waren die einzigen Spielkameraden – verstärkte der Umzug die soziale Isolation des Thronfolgers noch weiter. Die abgeschottete, vom Leben der einfachen Bevölkerung abgewandte Lebensweise führte schließlich zur Loslösung von allen gesellschaftlichen Schichten des Reiches.
Die schulische Privaterziehung des Thronfolgers unterstand der Aufsicht des konservativ-klerikalen Juristen Konstantin Pobedonoszew, einem Berater des Zaren. Pobedonoszew übte großen Einfluss auf das Weltbild des Zarewitsch aus. Er lehnte den westlichen Liberalismus ab und hob die Notwendigkeit autokratischer Machtentfaltung als Ausfluss des Gottesgnadentums hervor. Durch Erziehung und Unterricht seines englischen Hauslehrers hatte der als ein wenig unsicher beschriebene Nikolaus früh Fähigkeiten zur Ruhe, Selbstkontrolle und Pflichtbewusstsein entwickelt, zeigte jedoch wenig Interesse an den Tätigkeiten eines Herrschers. Zwischen 1885 und 1890 besuchte Nikolaus Vorlesungen über Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre am Institut für Rechtswissenschaften der Universität Sankt Petersburg. Parallel begann er im Alter von 19 Jahren seine Offizierslaufbahn und trat in das elitäre Preobraschensker Leib-Garderegiment ein. Der Eintritt in die Armee wirkte befreiend auf den Thronfolger, der nun erstmals mit Gleichaltrigen dauerhaft in Kontakt stand. Er liebte die Atmosphäre des Kasernenlebens, die Kasino-Kameraden und fühlte sich in der Gesellschaft von Offizieren wohl. Nikolaus stieg bis zum Rang eines Oberst auf.
1890 begab sich Nikolaus in Begleitung seines Bruders Georgi und seines Cousins Georg von Griechenland an Bord der Panzerfregatte Pamjat Asowa auf eine mehrmonatige Weltreise. Diese führte über den Sueskanal, Indien, Ceylon, Bangkok, Singapur und Java im Frühjahr 1891 in das Kaiserreich Japan. Dort scheiterte am 11. Mai 1891 ein Attentat auf Nikolaus, als er von einem japanischen Polizisten mit einem Säbel angegriffen wurde. Am 23. Mai schließlich wurde das russische Wladiwostok erreicht, wo Nikolaus im Namen seines Vaters der feierlichen Grundsteinlegung der Transsibirischen Eisenbahn beiwohnte. Für den Rückweg ins europäische Russland quer durch Sibirien – auf Flussdampfern, in der Kutsche und streckenweise reitend – benötigte er drei Monate.
Nach seiner Rückkehr erhielt Nikolaus erste Einblicke in die Regierungsgeschäfte, indem er von Alexander III. zum Mitglied des Staatsrates ernannt wurde. Da man am Zarenhof jedoch der Meinung war, dass der erst 45-jährige Herrscher sein Amt in naher Zukunft nicht an seinen Sohn weiterreichen müsse, beteiligte man diesen nur in geringem Maße an politischen Entscheidungsprozessen.
Am 8. April 1894 wurde in Coburg die Verlobung zwischen Nikolaus und Alix von Hessen-Darmstadt, seiner Cousine zweiten Grades, verkündet. Alix war die Tochter des Großherzogs Ludwig IV. von Hessen und bei Rhein und dessen Gemahlin Alice von Großbritannien und Irland und somit eine Enkelin der britischen Königin Victoria. Das Paar hatte sich 1884 anlässlich der Hochzeit von Alix' älterer Schwester Elisabeth mit Nikolaus' Onkel Großfürst Sergei Alexandrowitsch in Sankt Petersburg kennengelernt. Trotz starker Vorbehalte seiner Mutter gegenüber einer deutschen Prinzessin und Bedenken Königin Victorias gegenüber Russland sowie der anfänglichen Weigerung der streng gläubigen Alix, zur Russisch-Orthodoxen Kirche zu konvertieren, war es Nikolaus gelungen die Liebesheirat durchzusetzen.
Der überraschende Tod Alexanders III. am 1. November 1894 machte eine schnelle Hochzeit des neuen Monarchen notwendig, weshalb die erst für das Jahr 1895 geplante Trauung bereits am 26. November 1894 stattfand. In Anwesenheit zahlreicher Mitglieder der europäischen Herrscherdynastien wurde die Hochzeit in der Großen Kapelle des Winterpalais vollzogen und aufgrund der Trauerzeit war die Zeremonie, gemessen an damaligen Maßstäben, von außerordentlicher Bescheidenheit. Mit der Konversion zur Russisch-Orthodoxen Kirche änderte Alix ihren Namen in Alexandra Fjodorowna.
Der Ehe entstammten fünf Kinder, die alle zusammen mit ihren Eltern am 17. Juli 1918 ermordet wurden.
Durch die lange Zeit vakante Situation der Thronfolge war das Zarenpaar zunehmend unter innenpolitischen Druck geraten. Erst 1904, nach vier Töchtern, wurde mit Alexei der lang erwartete Zarewitsch geboren, und der Fortbestand der Romanow-Dynastie schien gesichert. Doch die Freude über den neugeborenen Jungen war nur von kurzer Dauer, da Alexei an der unheilbaren „Bluterkrankheit“ litt, die ihm seine Mutter vererbt hatte. Die schwere Krankheit belastete das Ehepaar zusehends; besonders die zu Schwermut neigende Alexandra zog sich mehr und mehr zurück und nahm schließlich nur noch unausweichliche öffentliche Termine wahr. Nikolaus siedelte mit seiner Familie vom Winterpalast, der offiziellen Zarenresidenz, in den Alexanderpalast nach Zarskoje Selo um. In der bescheidenen Residenz hatte er selbst Teile seiner Kindheit verbracht und fühlte sich dort wohler als im überbordenden Prunk des Winterpalastes. Hier konnte er das Familienleben weit mehr genießen und weilte nur zwecks Regierungsgeschäften und offizieller Anlässe in Sankt Petersburg.
Alexandra hingegen widmete sich tiefer Religiosität und ließ nichts unversucht, um ihrem Sohn zu helfen. Um die lebensgefährlichen Blutungen Alexeis zu stillen, warb die Zarin den mysteriösen Wanderprediger und Wunderheiler Rasputin an, der am Zarenhof bald ein- und ausging. Der zwielichtige Prediger konnte die Blutungen des Jungen stillen, weshalb er rasch großen Einfluss auf Alexandra gewann.
Der plötzliche Tod seines Vaters Alexanders III. nach kurzer Krankheit am 1. November 1894 machte den 26-jährigen Nikolaus zu dessen Nachfolger als Kaiser. Nach langwierigen Vorbereitungen erfolgten die formellen Krönungsfeierlichkeiten erst 18 Monate später am 26. Mai 1896. Traditioneller Krönungsort war die Mariä-Entschlafens-Kathedrale des Moskauer Kreml. In einer prunkvollen russisch-orthodoxen Zeremonie krönte sich Nikolaus mit der Zarenkrone selbst zum Kaiser und Autokrat aller Reußen durch die Gnade Gottes. Anschließend krönte er Alexandra zur Kaiserin.
Kurze Zeit nach der Thronübernahme verdeutlichte Nikolaus seine politische Grundhaltung. In einer Rede vor Semstwo-Vertretern erteilte er vagen Hoffnungen liberaler Kreise auf demokratische Reformen eine Absage und legte das Grundprinzip seiner Herrschaftsauffassung dar:
„Ich bin sehr glücklich, Vertreter aller Stände zu sehen, die gekommen sind, um mir ihre untertänigen Gefühle auszudrücken. Aber ich habe gehört, dass in letzter Zeit in einigen Semstwo-Vertretungen Stimmen laut geworden sind, die sinnlosen Träumereien über eine Beteiligung von Semstwo-Vertretern an der Staatslenkung nachhingen. Alle sollen wissen, dass ich mit allen meinen Kräften dem Wohl des Volkes dienen werde, aber dass ich deshalb das Prinzip der Autokratie ebenso fest und beständig hochhalten werde wie mein unvergesslicher Vater.“
Nikolaus war ein konservativer Vertreter des Gottesgnadentums und entschlossen, das Land wie seine Vorgänger als autokratischer Selbstherrscher zu regieren. Diese Regierungsgewalt des Monarchen war weder durch eine Verfassung noch eine gewählte Volksvertretung beschränkt, weshalb Minister, Gouverneure und Militärs allein dem Kaiser verantwortlich und von dessen Vertrauen abhängig waren. Die gesamte Staatsmacht war auf die Person des Kaisers konzentriert. In seiner Herrschaftsauffassung wurde Nikolaus von seiner Ehefrau bestärkt.
Die ersten Regierungsjahre Nikolaus II. waren eine Fortführung der Politik seines Vaters, dessen Minister und Berater er übernommen hatte. Ein signifikantes Merkmal der Innenpolitik war die Weigerung des Zaren zu politischen und sozialen Reformen. Im Zuge der industriellen Revolution waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Bürgertum und der Arbeiterschaft neue Gesellschaftsschichten entstanden, die vermehrt politische Mitsprache und Sozialreformen forderten. Nikolaus hingegen war nicht bereit seinen umfassenden autokratischen Machtanspruch aufzugeben und ließ die politische Opposition, insbesondere die 1902 gegründete Sozialdemokratie, durch die Geheimpolizei Ochrana verfolgen. Er stützte seine Macht auf den landbesitzenden Adel, die Armee und das zarentreue Bauerntum.
Die sich abzeichnende Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg verursachte einen enormen Autoritätsverlust des autokratischen Regierungssystems und führte nicht, wie von Nikolaus erhofft, zu einer Welle des Patriotismus. Aufgrund der schlechten Versorgungslage wollte am 22. Januar 1905 ein Protestzug streikender Arbeiter dem Zaren eine Petition überreichen, als der Protest vor dem Winterpalast durch Polizei und Armee niedergeschlagen wurde. Dieses Ereignis war der Auslöser für revolutionäre Erhebungen, Arbeiterdemonstrationen, Massenstreiks, Judenpogrome und Meutereien (auf dem Schiff Potjomkin) im ganzen Reich. Es wurden Reformen und politische Mitbestimmung gefordert. Erst nach langem Zögern stimmte Nikolaus am 19. August 1905 in einem Dekret der Einberufung eines Parlaments zu. In dem Oktobermanifest (30. Oktober 1905) gewährte Nikolaus bürgerliche Freiheiten, ein allgemeines Wahlrecht und die Schaffung einer Volksvertretung (Duma). Durch die Bereitschaft zur Beschränkung seiner autokratischen Macht im Kontext von Reformen, gelang es Nikolaus und seiner Regierung die Strömungen der Revolution zu kanalisieren.
Nach Verabschiedung einer Verfassung eröffnete Nikolaus am 10. Mai 1906 mit einer Thronrede die Duma. Allerdings war Russland keine wirkliche konstitutionelle Monarchie, da der Zar über ein Vetorecht verfügte und die Möglichkeit zur Auflösung des Parlaments besaß. Von diesem Recht machte der Monarch bis 1907 zweimal Gebrauch, indem er die zweite Duma mit Mehrheit linker Parteien auflöste und durch die Einführung des Dreiklassenwahlrechts die Vorherrschaft konservativer Kräfte sicherstellte. Zum Premier- und Innenminister ernannte Nikolaus 1906 den konservativen Monarchisten Pjotr Stolypin, der entschieden gegen revolutionäre Strömungen vorging und politische Gegner hart bekämpfte.
Der Regierungsantritt Nikolaus II. Ende des 19. Jahrhunderts fiel in die Hochphase des Imperialismus. Russland nahm allerdings eine Sonderrolle ein, da man keine überseeischen Kolonialgebiete wie die europäischen Großmächte besaß. Der Zar herrschte über die größte zusammenhängende Landmasse der Erde und unterstützte den außenpolitischen Expansionskurs (Ostasien, Zentralasien, Balkanhalbinsel). Diese Politik der territorialen Ausdehnung führte zu Interessenskonflikten mit anderen Mächten wie etwa dem Britischen Weltreich in Zentralasien, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich auf dem Balkan.
Nikolaus unterstützte die aggressive Außenpolitik insbesondere im Hinblick auf russische Interessen in der Mandschurei und Korea. Das zunehmende Engagement Russlands in diesen Gebieten führte zur Rivalität mit dem aufstrebenden Japanischen Kaiserreich. Dieser Konflikt gipfelte in einem Überraschungsangriff der Japaner auf den russischen Stützpunkt Port Arthur am 8. und 9. Februar 1904, der in den Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges mündete. Im Vertrauen auf die militärische Überlegenheit seiner Streitkräfte sah Nikolaus den Krieg als nationales Bindemittel und entsandte die Baltische Flotte nach Ostasien, die in der Seeschlacht bei Tsushima (Mai 1905) vernichtet wurde. Russland war militärisch geschlagen. Russland musste Korea als japanisches Interessensgebiet anerkennen sowie auf Pachtrechte und territoriale Ansprüche in China verzichten. Die Niederlage gegen Japan zeigte im Ausbruch der Revolution von 1905 unmittelbare Auswirkungen auf die innere Stabilität Russlands.
Nach der Niederlage in Ostasien richtete die russische Außenpolitik ihre Expansionsbestrebungen auf die Balkanhalbinsel und die Meerengen des Bosporus, womit Nikolaus in der Tradition seiner Vorgänger stand. Nikolaus selbst verstand sich als Schutzherr der slawisch-orthodoxen Balkanvölker und folgte damit der Ideologie des Panslawismus. Nach den Vorstellungen der Panslawisten sollten alle slawischen Völker unter russischer Vorherrschaft zusammengeführt und in einem Großslawischen Reich vereint werden. Dadurch stand Russland traditionell im Gegensatz zu Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, das die Meerengen des Bosporus beherrschte, und die anhaltenden Spannungen auf dem Balkan drohten während der Bosnischen Annexionskrise 1908 kurzzeitig zu eskalieren. Der innenpolitisch durch Revolution und militärisch durch die Niederlage gegen Japan geschwächte Nikolaus sah sich nur bedingt handlungsfähig und musste die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn akzeptieren.
In der Bündnispolitik folgte Nikolaus dem eingeschlagenen Kurs seines Vaters, der 1894 ein Defensivbündnis mit Frankreich eingegangen war. Fortan bildete die Allianz mit Frankreich den außenpolitischen Fixpunkt des Zaren, der durch gegenseitige Staatsbesuche in Paris und Sankt Petersburg untermauert wurde. Versuche der Monarchen Nikolaus und Wilhelm II. eine Annäherung zwischen Russland und dem Deutschen Reich, insbesondere durch den guten persönlichen Kontakt, herbeizuführen scheiterten zwischen 1904 und 1911.
Während der Julikrise von 1914 stellte sich Russland offen hinter Serbien und erklärte als Schutzmacht, keinen Angriff auf Serbiens Souveränität durch Österreich-Ungarn zuzulassen. In diesen Tagen hatte die „Kriegspartei“ am Sankt Petersburger Hof die Oberhand gewinnen und Nikolaus zu diesem Schritt beeinflussen können. Der Zar wollte keinen Krieg, hasste Gewalt und wusste außerdem, dass ein Krieg das Ende der alten Ordnung in Europa bedeuten könnte, und doch gab er am 29. Juli 1914 den Befehl zur Generalmobilmachung. Als Österreichs Bündnispartner, das Deutsche Reich davon erfuhr, erging ein Ultimatum an Russland, die Mobilisierung innerhalb von zwölf Stunden einzustellen. Doch es fand sich keine friedliche Lösung mehr, und so erklärte das Deutsche Reich Russland den Krieg. Der Weg in den Ersten Weltkrieg war beschritten, den Russland an der Seite der Ententemächte führte.
Der Kriegsausbruch traf Russland nahezu unvorbereitet. Zwar verfügte der Zar über das zahlenmäßig größte Heer der Welt, doch die Truppen waren mangelhaft ausgerüstet und ausgebildet. Die Kommandostrukturen waren veraltet, die Befehlshaber waren Adelige und äußerst selten Berufsoffiziere. Zwar ging die „russische Dampfwalze“ sogleich zum Angriff auf die Mittelmächte über, doch der Vormarsch wurde nach der katastrophalen Niederlage bei Tannenberg gestoppt. An der Ostfront entwickelte sich eine Pattsituation. Die materielle Unterlegenheit und erhebliche Nachschubprobleme ihres Verbündeten konnten Frankreich und Großbritannien nie ausgleichen, weshalb dieser Umstand durch den großen Einsatz von Menschen ausgeglichen wurde. Nach einem Kriegsjahr beliefen sich die russischen Verluste auf 1,4 Millionen Gefallene oder Verwundete, und 980.000 Soldaten befanden sich in Gefangenschaft. Im Sommer 1915 musste Warschau geräumt werden, und das Kriegsgeschehen verlagerte sich fast ganz auf russisches Territorium. Wegen der schlechten Gesamtlage übernahm Nikolaus am 5. September 1915, gegen den Rat der Minister, selbst den Oberbefehl über die Streitkräfte. Der Zar verließ Petrograd und begab sich an die Front in das Hauptquartier. Obwohl Nikolaus II. selten aktiv in die Arbeit seines Generalstabschefs eingriff, machte man den Zaren in der Folge für alle weiteren militärischen Fehlschläge verantwortlich.
Während seiner Abwesenheit von der Hauptstadt übernahm Zarin Alexandra die Regierungsgeschäfte. Jedoch legte sie wenig Begabung für diese Aufgabe an den Tag, entließ alte und ernannte neue Minister, sodass die Regierung weder stabil war noch effizient arbeiten konnte. Daraus resultierte unter anderem die katastrophale Versorgungslage für Fronttruppen und Zivilbevölkerung. Alexandra ließ sich immer mehr von Rasputins eigennützigem Anraten beeinflussen, weswegen man der „deutschen“ Zarin bald ein Verhältnis mit ihm nachsagte. Als Gegenstand immer wilderer Gerüchte unterstellte man Alexandra sogar, eine Spionin Deutschlands zu sein.
Anfang 1917 glich Russland einem Pulverfass. Die Moral der Truppen an der Front war wegen militärischer Misserfolge, hoher Verlustzahlen und mangelhafter Versorgung äußerst schlecht. Ähnlich spitzte sich die Lage in der Heimat zu, wo die Versorgungslage und fehlende Reformen die Stimmung gegen das Zarentum aufheizten. Täglich kam es zu Massenprotesten, Demonstrationen, Hungermärschen und Streiks. Durch die Abwesenheit des Zaren war in Petrograd ein Machtvakuum entstanden, und Russland drohte unregierbar zu werden. Nikolaus II. lehnte die Forderung des Duma-Präsidenten Michail Rodsjanko ab, eine Regierung mit Mehrheit der Duma zu ernennen. Daraufhin bildeten die bürgerlichen Parteien der Duma ein Komitee unter Fürst Georgi Lwow, aus dem eine provisorische Regierung hervorgehen sollte. Der Zar verkannte die Brisanz der Situation, verfügte die Auflösung der Duma und erließ einen Schießbefehl gegen die Aufständischen. Doch Polizei und Militär konnten die öffentliche Ordnung nicht wiederherstellen, sondern verweigerten ihren Offizieren vielmehr den Gehorsam, meuterten und liefen tausendfach zu den Demonstranten über. Immer mehr Regimenter verweigerten dem Zaren ihre Gefolgschaft und liefen über. Der Druck der Revolution wurde zu groß, und auf Anraten der Generalität entsagte Nikolaus am 15. März 1917 zugunsten seines Bruders, Großfürst Michail, dem Thron. Gleichzeitig verzichtete er auch für seinen Sohn Alexej auf sämtliche Herrschaftsansprüche. Als Michail die Krone ablehnte, waren 300 Jahre Romanow-Herrschaft in Russland beendet.
In seinem Privatzug kehrte Nikolaus nach Petrograd zurück, wo er mitsamt seiner Familie von der provisorischen Regierung im Alexanderpalast unter Hausarrest gestellt wurde.
Im Hausarrest des Alexanderpalastes hatten die Romanows zunächst kaum Einschränkungen hinzunehmen und konnten sich ihrem Familienleben widmen. Nikolaus selbst machte nach seiner Abdankung einen gelösten Eindruck und wirkte befreit, nicht mehr die Bürde der Krone tragen zu müssen. Die Situation blieb so bis August 1917, als Alexander Kerenski (der neue starke Mann der provisorischen Regierung) erklärte, die Familie sei in Zarskoje Selo nicht mehr sicher, und sie in den Ural verbrachte. Dort wurde sie im Sitz des Gouverneurs in Tobolsk einquartiert. Erste Überlegungen der Regierung hatten darauf abgezielt, den Ex-Monarchen ins Exil zu schicken. Der britische König George V. bot seinem Cousin zunächst Asyl an, musste aber wegen des Drucks seiner Regierung das Angebot zurückziehen. Mitglieder der königlichen Regierung fürchteten, die Anwesenheit der Zarenfamilie könne in Großbritannien Anlass zu einer Revolution geben.
Nach dem Sieg der Bolschewiki in der Oktoberrevolution 1917 änderte sich die Situation für den ehemaligen Zaren nochmals grundlegend. Nikolaus und seine Familie waren von nun an Gefangene. Im Frühjahr 1918 verbrachte man sie nach Jekaterinburg, wo sie in der Villa Ipatjew interniert wurden. Lebensmittel wurden rationiert, die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, und man schottete sie fast vollständig von der Außenwelt ab. Hier wurde die Zarenfamilie am 17. Juli 1918 auf Befehl der bolschewistischen Partei- und Staatsführung von den sie bewachenden Soldaten erschossen. Die Leichen wurden anschließend in einem stillgelegten Schacht abgelegt. Einen Tag darauf wurden zwei der Toten verbrannt und die anderen in einer als Wegbefestigung getarnten Grube verscharrt.
Es steht fest, dass Wladimir Iljitsch Lenin als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, sowie der damalige Partei- und Staatschef Swerdlow, Vorsitzender des Sekretariats des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) und Vorsitzender des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, sowie weitere Mitglieder der Partei- und Staatsführung der Erschießung vorab zugestimmt hatten und sie alle anschließend billigten.
Die Gebeine der Familie wurden 1979 in der Nähe des ehemaligen Bergwerkschachts Ganina Jama, im Waldstück Vier Brüder nahe Jekaterinburg, entdeckt. Zu Zeiten der Sowjetunion konnte diese Entdeckung jedoch nicht öffentlich gemacht werden. Am 13. Juli 1991 wurden die Leichname geborgen und ein Jahr später einwandfrei identifiziert. Auf den Tag genau 80 Jahre nach der Erschießung wurden die sterblichen Überreste Nikolaus’ und seiner Familie in der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg beigesetzt.
Für die russisch-orthodoxe Kirche galt Nikolaus II. wegen seines Todes als Märtyrer und damit als Heiliger. Am 20. August 2000 wurde Nikolaus II. zusammen mit seiner Frau Alexandra und seinen Kindern in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen, eingebunden in die Kanonisierung von 1100 weiteren Personen, überwiegend Geistlichen, die während der Sowjetherrschaft ihres Glaubens wegen zu Tode kamen.
DRITTE SEKTION
GESCHICHTE EUROPAS
ERSTES KAPITEL
Der Name Europa kommt aus dem Griechischen, europé, und bedeutet: Die Frau mit der weiten Sicht.
ZWEITES KAPITEL
Europa war die Tochter des phönizischen Königs Agenor, die sich mit ihren Freundinnen am Strand des Mittelmeers vergnügte. Zeus verliebte sich in das schöne junge Mädchen und beschloss, sie zu entführen. Er nahm die Gestalt eines weißen Stieres an, stieg aus dem Mittelmeer und trat zu Europa. Das Mädchen streichelte den wunderschönen weißen Stier und bestieg seinen Rücken. Zeus mit Europa auf dem Rücken überquerte das Muittelmeer von Phönizien nach Kreta. Dort gab sich Zeus der Jungfrau in seiner ganzen göttlichen Gestalt zu erkennen und zeugte mit ihr drei Söhne: Minos, Rhadamanthys und Sarpedon, die später zu den Richtern in der Unterwelt wurden. Auf Befehl der Göttin Aphrodite ward der Kontinent nach der Jungffrau Europa benannt. Ovid hat dies in seinen Metamorphosen besungen.
DRITTES KAPITEL
Die erste Auswanderungswelle der afrikanischen Urmenschen, des homo erectus, begann vor ungefähr zwei Millionen Jahren. Die ältesten Spuren zeigen den homo georgicus in Georgien und sind fast zwei Millionen Jahre alt. Dann finden sich Spuren des homo in der Sierra de Atapuerca in Spanien und sind fast eine Million Jahre alt. Im nordalpinen Europa erscheint der homo heidelbergensis vor mehr als fünfhunderttausend Jahren. Vor ungefähr hundertfünfzigtausend Jahren entwickelte sich in Afrika aus dem homo erectus der homo sapiens, der weise Mensch. In Europa entwickelte sich aus dem homo erectus über den homo heidelbergensis der Neandertaler. Vor ungefähr vierzigtausend Jahren zogen die afrikanischen homo sapiens aus und ersetzten die Neandertaler. Mit der Jungsteinzeit und Bronzezeit begann die europäische Kultur, zunächst im Mittelmeerraum, später auch im Osten und Norden. In Nordeuropa bestimmten mehrer Eiszeiten die Entwicklung. Die Eiszeit kam vor allem über Island, Irland, Norddeutschland, Skandinavien, Polen und Russland. Die Eiszeit dauerte etwa bis zehntausend vor Christus.
VIERTES KAPITEL
Nach der Eiszeit kam die Mittelsteinzeit. In Europa wuchsen große Wälder. Die wenigen Menschen lebten als Nomaden in Sippen. Eine Sippe bestand aus etwa zwanzig Menschen. Die Menschen ernährten sich als Jäger und Sammler. Sie dachten magisch und glaubten an Naturgeister und Ahnen. Die Sippen waren matriarchal strukturiert.
FÜNFTES KAPITEL
Im zwölften Jahrtausend vor Christus begann sich im Nahen Osten die Landwirtschaft zu entwickeln. Die Frauen spielten eine hervorragende Rolle im Ackerbau und der damit entstehenden Sesshaftigkeit. Die Mütter waren Häupter der Familie. Von den Frauen ging die Entwicklung der Künste aus. Diese Neolithische Revolution kam im achten Jahrtausend vor Christus nach Europa. Die Bewegung breitete sich an den Ufern des Mittelmeeres aus, folgte dem Lauf der Donau oder
den Küsten des Schwarzen Meeres. Homo sapiens in festen Siedlungen sind in Europa seit dem siebten Jahrtausend vor Christus bezeugt. Die Familien lebten in Fachwerkhäusern. Innerhalb der Siedlung gruben die Menschen Brunnen. In der Religion verehrten die Menschen die Natur als Große Mutter.
SECHSTES KAPITEL
Um 2000 vor Christus begann die Bronzezeit. Aus der sibirischen Steppe strömten die Kimmerer und die Skythen nach Europa.
SIEBENTES KAPITEL
Um 1000 vor Christus begann die Eisenzeit. Träger der Kultur in Mitteleuropa waren die Illyrer und die Kelten. Die Kelten verehrten die Mondgöttin und Heroen.
ACHTES KAPITEL
Die ersten Hochkulturen in Europa waren die Minoer auf Kreta und die Achäer auf dem griechischen Festland. Ihre Zeit war etwa 2000 bis 1500 vor Christus. Die minoische Kultur auf Kreta war eine hochentwickeltes Matriarchat. Verehrt wurde die Göttin und ihr Lilienprinz. Priesterinnen dienten der Göttin. Die Achäer waren eine patriarchalische Horde, deren Hauptgott der Vatergott Zeus war. Die Achäer triumphierten über die matriarchalen Kulturen durch Waffengewalt. Zur gleichen Zeit breiteten sich die Kelten über Mitteleuropa nach Spanien und Kleinasien aus. Über die Kelten ist wenig bekannt. Sie hinterließen keine schriftlichen Zeugnisse. In Spanien hinterließen sie die Verehrung der Weißen Dame. Die Achäer haben ihre Spuren in Homers Ilias hinterlassen.
NEUNTES KAPITEL
Die griechische Zivilisation war eine Ansammlung von Stadtstaaten. Die wichtigsten waren Athen und Sparta. In Athen ward die Demokratie entwickelt. Es gab eine hochentwickelte Philosophie. Die Vorsokratiker wie Pythagoras, Parmenides, Heraklit, Empedokles und andere, der weise Sokrates, Platon und Aristoteles stellten sich gegen die mythologische Götterwelt um den olympischen Zeus und dachten über Theos nach, den Gott der Philosophen. Vorbildlich waren die Griechen im Bereich der schönen Literatur. Homer und Hesiod im Epos, Sappho und Alkäus und Pindar in der Lyrik, Äschylus und Sophokles und Euripides im Drama schufen zeitlose Muster der Poesie. Auch in den Naturwissenschaften waren Männer wie Pythagoras und Hippokrates und andere maßgebend. Es war das goldene Zeitalter der Sophia, der griechischen Weisheit. Platon entwarf den gerechten Staat. Perikles ist ein Name, der für die abendländische Demokratie steht.
ZEHNTES KAPITEL
Es gab Kriege zwischen Athen und Sparta. Es gab den Krieg der Perser gegen die Griechen. Mit der Zeit gerieten die Griechen unter die Oberherrschaft Philipps II von Mazedonien. Sein Sohn Alexander der Große, der Schüler des Aristoteles, breitete die griechische Zivilisation von Ägypten bis Indien aus. Es entstand das Weltreich des Hellenismus.
ELFTES KAPITEL
Nun kam die Zeit Roms. Im Jahre 509 vor Christus wurde die römische Republik gegründet. Die Römer übernahmen die griechische Religion, Philosophie und Kunst. Die Gegner Roms waren nicht in der Lage, der Armee Roms zu widerstehen. Die einzige ernstzunehmende Gegnerin Roms war Karthago, das von Tyrus und Sidon aus besiedelt worden war. Vergil besang das in der Königin Dido. Ende des 3. Jahrhunderts vor Christus siegte Rom aber endgültig über Karthago. Rom herrschte auch über den westlichen Mittelmeerraum. Dann dehnte Rom seinen Einfluss auch auf den hellenistischen Osten aus. Ägypten fiel im Jahre 30 vor Christus an Rom. Nach hundert Jahren Bürgerkrieg wurde die römische Republik erst durch Cäsar und dann durch Augustus vollends zum römischen Kaiserreich umgebaut. Cäsar ist das Urbild aller Kaiser. Augustus wurde als Heiland, Friedefürst und Gottessohn gefeiert. Zu Zeiten des Augustus schrieben Vergil, Horaz, Ovid, Tibull und Properz, es war das goldene Zeitalter der römischen Klassik. Das römische Imperium reichte von Britannien, dem Rhein und der Donau über die gesamte Mittelmeerregion bis in den Nahen Osten, bis nach Mesopotamien am Tigris und Euphrat. Zu dieser Zeit entstand das Christentum im römischen Reich als die verfolgte Sekte des Nazareners. Unter Kaiser Trajan im 2. Jahrhundert war das römische Reich das größte. Die Parther und die Sassaniden im Osten widerstanden Rom. Die Pax Romana wurde wieder durch Bürgerkriege gestört. Es war die Zeit blutiger Christenverfolgung. Mit Kaiser Diokletian begann die Spätantike. Die blutige Christenverfolgung erreichte ihren Höhepunkt. Konstantin der Große legalisierte das Christentum, das unter Theodosius I. zur Staatsreligion wurde. Die katholische Kirche hatte das Rom der Cäsaren übernommen. Der Bischof von Rom war das Oberhaupt der Bischöfe aller Welt. In der Folgezeit hatte die Kirche vor allem mit der Häresie des Arianismus zu kämpfen, welche die Gottheit Christi leugneten. Der gottgleiche Christus war zum Pantokrator und zum König Europas geworden. Im vierten Jahrhundert wurde das Imperium in Westrom und Ostrom oder Byzanz gespalten. Westrom hatte gegen die heidnischen Germanen an Rhein und Donau zu kämpfen, Ostrom im Nahen Osten gegen die Sassaniden. Westrom wurde wirtschaftlich und politisch schwach, die Macht konzentrierte sich in Ostrom. In Westrom residierte der Papst, in Ostrom der byzantinische Kaiser.
VIERTE SEKTION
DIE HOHENZOLLERN
ERSTES KAPITEL
FRIEDRICH WILHELM I
Friedrich Wilhelm wurde als Sohn des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. und der hannoverschen Prinzessin von Braunschweig-Lüneburg Sophie Charlotte geboren. Friedrich Wilhelm war der ersehnte Thronfolger, da sein älterer Bruder Kurprinz Friedrich August bereits 1686 verstorben war. Das Kind besaß, ganz im Gegensatz zu seinem Vater, eine kräftige Konstitution. In seinen ersten Lebensjahren von 1689 bis 1692 wurde Friedrich Wilhelm am hannoverschen Hof seiner Großmutter, der späteren Kurfürstin Sophie von Braunschweig-Lüneburg, erzogen. Schon als Kind fiel er durch seine eigenwillige impulsive Natur auf. So vertrug er sich nur schlecht mit seinem fünf Jahre älteren Cousin und Spielgefährten, Georg August, dem späteren König von Großbritannien und Kurfürsten von Hannover, den er des Öfteren verprügelte. Die beiden entwickelten aufgrund dessen eine lebenslange persönliche Feindschaft.
Nach seiner Rückkehr aus Hannover wurde Friedrich Wilhelm von der Hugenottin Marthe de Montbail, der späteren Madame de Roucoulle, als Gouvernante betreut, die später auch dessen Sohn Friedrich erzog und zeit ihres Lebens kein Deutsch lernte. Wie die meisten seiner Standesgenossen sprach Friedrich Wilhelm daher ein einfaches Deutsch, durchsetzt mit vielen französischen Wörtern.
Die Mutter verwöhnte ihr Kind. Es entwickelte sich im völligen Gegensatz zu den höfisch-repräsentativen Auffassungen seines Vaters wie auch der künstlerisch-philosophischen Lebensweise seiner Mutter. Beide Lebensweisen seiner Eltern lehnte er frühzeitig ab. 1694 erhielt er das Kommando über ein Kavallerie- und ein Infanterieregiment, was ihn von Kind an mit der militärischen Welt vertraut werden ließ.
Anfang 1695 wurde die Erziehung dem Generalleutnant Alexander von Dohna anvertraut, der damit als Gouverneur die Verantwortung über seine Erziehung übernahm. Weil der Kurprinz aber mit neun Jahren weder lesen noch schreiben konnte, setzte seine Mutter 1697 durch, dass der bisherige, von Danckelmann bestellte Lehrer Cremer durch den Hugenotten Jean Philippe Rebeur ersetzt wurde. Beide sorgten für eine streng calvinistische Erziehung des Kurprinzen. Im Unterricht wurden Latein, Französisch, Geschichte, Geographie, Genealogie, Mathematik, Kriegswissenschaften und Rhetorik behandelt. Der Kurprinz entwickelte allerdings eine große Abneigung gegen weite Teile der Wissenschaften, die er unter anderen in Tätlichkeiten gegenüber dem Lehrer äußerte, andererseits aber ein Verständnis für Staatsangelegenheiten. Angesichts der nahezu unkontrollierten Verschwendung am Hof legte er sich mit zehn Jahren ein eigenes Ausgabenbuch über seine Ausgaben an. Neben dem Sinn für Sparsamkeit entwickelte sich immer mehr der Sinn fürs Militärische. Statt im Schlosspark zu spielen, kontrollierte er Bekleidung und Bewaffnung der Schildwachen.
Weihnachten 1698 schenkte der Vater ihm zum zehnten Geburtstag das Gut Wusterhausen zur selbstständigen Bewirtschaftung als Gutsherr. Hier lernte er die ökonomischen Grundzüge einer erfolgreichen Bewirtschaftung kennen, die er später erfolgreich auf den preußischen Staat übertrug. Das Jagdschloss bildete fortan den Lebensmittelpunkt des Kur- und späteren Kronprinzen und Königs, das ihm als Rückzugsort vom prunkvollen Berliner Hof diente. In Wusterhausen hielt Friedrich Wilhelm eine kleine Privatgarde, bestehend aus den Söhnen der Gutsuntertanen. Diese Einheit bildete die Keimzelle für die späteren „Langen Kerls“. Das Wusterhausener Grenadierbataillon zählte bald mehr als 600 Mann.
Friedrich Wilhelm, der das Streben seines Vaters als Geldverschwendung konsequent ablehnte, erhielt 1701 bei dessen Krönung zum König in Preußen als neuer Kronprinz in Preußen zusätzlich den Titel eines Prinzen von Oranien, auf den er durch seine Großmutter Luise Henriette von Oranien Ansprüche stellen konnte, und ein von 26.000 Taler auf 36.000 Taler aufgestocktes persönliches Budget. Ende 1702 übernahm die Erziehung Friedrich Wilhelms der Oberhofmeister Albert Konrad von Finckenstein.
1702 wurde der vierzehnjährige Kronprinz Mitglied des Geheimen Staatsrats, ein Jahr darauf Mitglied des Kriegsrates. Bis zu seinem Regierungsantritt nahm der Kronprinz an vielen Sitzungen teil, womit er sich ein großes Detailwissen in inneren Regierungsfragen und dem Heerwesen erwarb. So blieb ihm nicht die Misswirtschaft des Drei-Grafen-Kabinetts unter Führung von Johann Kasimir Kolbe von Wartenberg verborgen. Auch wenn sich bei Friedrich Wilhelm eine zunehmend kritische Beurteilung der Regierung seines Vaters einstellte, blieb ein Vater-Sohn Konflikt dennoch aus, da sich vom Selbstanspruch des Kronprinzen her ein offener Widerstand gegen den Monarchen verbot.
1704 wurde der sechzehnjährige Kronprinz für volljährig erklärt. Im selben Jahr ließ er für 23.000 Taler sein Schloss Wusterhausen ausbauen und bezog es jährlich von Ende August bis Anfang November als Hofresidenz. Das verwahrloste Gut Wusterhausen machte er innerhalb von zehn Jahren zu einem sich selbst tragenden Musterbetrieb. Das Städtchen Wusterhausen galt ihm als Staat en miniature. Hier probierte er im Kleinen, was er später im Großen tat. Seine Art zu regieren, zu verwalten und zu kommandieren wurde hier geprägt.
Ein Jahr später wurde Friedrich Wilhelm 1705 zum Bürgermeister von Charlottenburg ernannt. Zwei Bildungsreisen nach Holland im Herbst 1700 und im Winter 1704 erweiterten seinen Horizont. So verstärkten die Reisen seine puritanisch-bürgerlich geprägte Sichtweise und prägten seinen architektonischen Geschmack nachhaltig. Spätere Bauten des Königs, wie das Holländische Viertel in Potsdam, sind von seiner Zeit in Holland geprägt. Auf der zweiten Reise überraschte ihn die Nachricht vom Tod seiner Mutter. Am 14. Juni 1706 erfolgte die Verlobung mit Sophie Dorothea, die er am 14. November 1706 in Cölln an der Spree heiratete. Der Kronprinz, der vielfach seinen Vater um Beurlaubung zur Front bat, durfte im Juli 1706 erstmals bei dem Feldzug in Flandern im Spanischen Erbfolgekrieg teilnehmen. Hier erprobte er in der Praxis, was er daheim auf seinem Gut mit seinem Privatregiment geprobt hatte. Während seiner Feldbesuche verbrachte Friedrich Wilhelm nach seinen eigenen Worten die glücklichsten Tage seiner Kronprinzenzeit Vom Mai bis Juli 1708, als sein Vater, König Friedrich I., zur Kur in Karlsbad weilte, übernahm Friedrich Wilhelm die erste Statthalterschaft. Die Vollmachten beschränkten sich nur auf laufende Justiz- und Landesangelegenheiten.
Ende April 1709 brach der Kronprinz zu einem neuerlichen Feldzug auf, diesmal für mehrere Monate. In dieser Zeit sorgte er für intensive Exerzier-Übungen der preußischen Regimenter, die die anwesenden alliierten Truppenführer mit verständnisloser Verwunderung und Spott zur Kenntnis nahmen. Friedrich Wilhelms Teilnahme an der Schlacht bei Malplaquet, der blutigsten Schlacht des Spanischen Erbfolgekrieges am 11. September 1709, stellte für ihn die glücklichste Fügung seines Lebens dar, die er fortan jedes Jahr zum Gedenken feierte. Die Feldzüge begründeten die lebenslange Freundschaft mit Leopold I. von Anhalt, dem Alten Dessauer, der seitdem zu Friedrich Wilhelms Beraterkreis gehörte.
Als 1710 Preußens Not durch die Große Pest in Ostpreußen und die Misswirtschaft des Drei-Grafen-Kabinetts untragbar wurde, bewegte der 22-jährige Friedrich Wilhelm seinen Vater dazu, eine Untersuchungskommission einzusetzen, die schließlich die ganze Korruption aufdeckte. Dies war das erste Mal, dass Friedrich Wilhelm aktiv in die hohe Politik eingriff.
Ein Jahr später, im Sommer 1711 reiste der König zu diplomatischen Verhandlungen nach Holland. Friedrich Wilhelm trat seine zweite Statthalterschaft an. Hier erlebte er die militärische Hilflosigkeit Preußens, als russische Truppen im Kampf gegen Schweden im Großen Nordischen Krieg ungefragt durch preußisches Territorium zogen. Die Neutralität Preußens wurde dadurch verletzt, ohne dass Preußen sich dessen hätte erwehren können, da seine Truppen im Spanischen Erbfolgekrieg, weitab der Heimat, gebunden waren. Dieser Vorfall bestärkte die Überzeugung des Kronprinzen, er müsse nach eigener Stärke streben, unabhängig von fremden Subsidien.
Ebenfalls 1711 kam es zum ersten Kontakt Friedrich Wilhelms zum Hallischen Pietismus von August Hermann Francke, vermittelt über den General von Natzmer. Der Pietismus wurde für den späteren König eine feste religiöse Basis für sein politisches Handeln. Ein offizieller Besuch Friedrich Wilhelms in Halle erfolgte bereits am 12. April 1713 nach dem Regierungswechsel. Die dort vorgefundenen christlichen Erziehungs- und Wohlfahrtsbestrebungen mit der bürgerlichen Arbeits- und Wirtschaftsauffassung übertrug Friedrich Wilhelm auf seine Politik.
Bedingt durch seine sehr praxisorientierte Ausbildung hatte der Kronprinz zum Zeitpunkt kurz vor der Regierungsübernahme bereits feste Vorstellungen von seinem späteren Staats-, Wirtschafts- und Militärverständnis.
Mit dem Tod seines Vaters am 25. Februar 1713 wurde Friedrich Wilhelm König. Er verstand sich als absolutistisch regierender Herrscher und übernahm die Leitung der Staatsgeschäfte selbst. Schon bei seinem Regierungsantritt beschied er einigen Ministern, er verlange „weder Rat noch Räsonnement, sondern Gehorsam“. Er bezeichnete es als Grundsatz für jeden Herrscher, dass er „seine Affären alle selber tun müsse“ und mahnte seinen Nachfolger: „Der liebe Gott hat euch auf den trohn gesetzet nicht zu faullentzen sondern zu arbeiten“. Der König führte die Regierung von seinen Privatgemächern aus, dem Kabinett. Friedrich Wilhelm gehört zu den fleißigsten Monarchen der Weltgeschichte; in täglicher stunden-, oft nächtelanger Schreibtischarbeit prüfte er die von den Ministern einlaufenden Berichte und traf meist alleine die Entscheidungen. Diese bestanden entweder aus den sogenannten von ihm eingeführten Marginalien oder aus Kabinettsordern, die seine Sekretäre nach seinen Angaben formulierten und dem Generaldirektorium überbrachten.
Friedrich Wilhelm I. war ein Mann der Arbeit. Während sein Großvater mühevoll Hinterpommern erworben und die magdeburgischen und clevischen Lande in das brandenburg-preußische Staatsgebilde eingegliedert hatte, sah er seine Hauptaufgabe in der Kleinarbeit, in der Festigung dieses Staates durch Ergänzung und Ausbau der Armee sowie durch die Schaffung eines tüchtigen und zuverlässigen Berufsbeamtentums. Friedrich Wilhelm I. war ein Arbeiter von unglaublichem Fleiß und er verlangte auch von seinen Beamten das Menschenmögliche mit den Worten: „Arbeiten müßt Ihr, so wie ich dies beständig getan habe. Ein Regent, der in der Welt mit Ehren regieren will, muss seine Sachen alle selber machen, denn die Regenten sind zum Arbeiten geboren, nicht zum faulen Leben.“ Dadurch wurden Sparsamkeit und unermüdliche Arbeit die unabänderlichen Grundsätze dieses Königs; das Pflichtgefühl war sein höchstes Gebot. An seinen Berater und engen Vertrauten Fürst Leopold von Anhalt-Dessau schrieb er: „Parole auf dieser Welt, ist nichts als Unruhe und Arbeit und wo man selbst nicht die Nase in jeden Dreck steckt, so geht die Sache nicht, wie sie gehen soll“. Und so wie dieser König für sich keine Schonung kannte, gab es auch für seine Untergebenen keine.
Die Stützen seines Staates waren ein schlagfertiges Heer und geordnete Finanzen, Ersteres umso bedeutender, da das damalige Preußen sich vom Rhein bis zum Kurischen Haff mit unsicheren Grenzen erstreckte.
Bei Friedrich Wilhelm I. wird eine calvinistisch-kapitalistische Idee sichtbar. Er verordnete allen, den Adel einbegriffen, Arbeitseifer, Sparsamkeit, Fleiß und Pflichttreue. Zum Ausbau von Berlin und der Förderung der Wirtschaft befahl er den Reichen, Häuser zu bauen. Das erst 1709 zusammengeschlossene Berlin wurde wesentlich vergrößert durch neue Vorstädte wie Berlin-Friedrichstadt, und die Luisenstadt und wuchs bis 1740 von 55.000 auf 79.000 Einwohner an.
Akademien erhielten keine Förderung mehr, die Oper wurde geschlossen. Mit dem kulturellen Kahlschlag setzte ein plötzlicher Exodus der Künstler aus Berlin ein. Friedrich Wilhelm verbot die üppigen Allongeperücken, stattdessen wurde der Soldatenzopf verordnet. Statt prunkvoller Gewänder herrschte nun der schlichte Soldatenrock vor. Mit diesem Radikalprogramm beendete der König in kürzester Zeit den bis dato vorherrschenden Prunk und Luxus. Die Sparmaßnahmen waren nur bei denen unpopulär, die davon betroffen waren. Bei den Sparmaßnahmen machte er auch vor sich nicht halt. Von den 700 Zimmern des Berliner Schlosses bewohnte er nur fünf. Zwei Pagen genügten ihm zu seiner persönlichen Bedienung.
Weitere Maßnahmen gab es 1732, als viele Protestanten, Nachfahren der Brüder-Unität, ihre böhmische Heimat verlassen mussten. Friedrich Wilhelm I. gewährte ihnen Asyl und siedelte sie in Böhmisch Rixdorf bei Berlin, außerhalb der Stadtmauern Berlins, an. In Rixdorf errichteten sie Friedrich Wilhelm I. aus Dankbarkeit die Statue, die auf dieser Seite den König zeigt. Am Sockel brachten sie eine Gedenktafel an, auf der zu lesen ist: „Die dankbaren Nachkommen der hier aufgenommenen Böhmen.“
Ein ganz besonderes Augenmerk des Königs galt der Werbung von lang gewachsenen jungen Männern für sein Königsregiment in Potsdam. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies auch seine große persönliche Leidenschaft war. Allerdings gab es einen praktischen Grund: Das Vorderladergewehr, das Füsil, erzielte die beste Wirkung, wenn es möglichst lang war. Entsprechend war es nur für hochgewachsene Männer leicht zu handhaben. Das an Ressourcen und Menschen arme Land musste zwangsläufig die Effizienz der Feuerwaffen erhöhen, um gegen Gegner bestehen zu können.
Bereits 1712, als der König noch Kronprinz war, hatte die Jagd nach Männern, die über 1,88 Meter groß waren, europaweit begonnen. Dazu schickte er Werber bis nach Ungarn, Kroatien, Kurland und in die Ukraine aus. Der König, sonst auf allen Gebieten sparsam, war hier ohne Zögern bereit, große Mengen an Geld zu bezahlen. Diese „Sammelleidenschaft“ des Königs sprach sich europaweit herum. Neben diplomatischen Drohungen des Auslands, illegal tätige preußische Werber hinzurichten, brachten andererseits ausländische Diplomaten dem König lang gewachsene Kerle als Geschenk, um seine Gunst zu erlangen. So trafen „Sendungen“ von ein paar Dutzend langen Kerlen aus Paris, London, Kopenhagen und Petersburg in Potsdam ein.
Der König kümmerte sich persönlich um jeden seiner Langen Kerls. Von jedem kannte er den persönlichen Lebenslauf, sie erhielten höheren Sold und bekamen Geschenke in Form von Häusern und Grundstücken.
Um dem im absolutistischen Staat nun weitgehend entmachteten Adelsstand eine Ersatzfunktion zu geben, versuchte der König diesen an die Krone zu binden. Dazu richtete er im September 1717 in Berlin das Königlich Preußisches Corps de Cadets ein, eine zentrale Kadettenanstalt, für deren Beschickung er persönlich die jungen Adligen auswählte, welche alle im Alter zwischen 12 und 18 Jahren in einem Verzeichnis erfasst waren. Damit bot er den Sprösslingen der meist verarmten Adelsfamilien eine Perspektive in beruflicher und sozialer Hinsicht. Neben der Karriere im Heer bot sich auch die Möglichkeit des Staatsdienstes für die Kadetten an. Damit sicherte der König dem teilweise verarmten Adel eine Teilhabe in seinem Staat, statt sie in politischer Opposition zu belassen. Trotz heftigen Widerstands des alteingesessenen Adels setzte sich der König in dieser Frage durch. Der Zwang des Adels zur Militärpflicht in der preußischen Armee war von einem Verbot des Dienstes in anderen Armeen begleitet.
Friedrich Wilhelm I. hielt am Neutralitätskurs seines Vorgängers zunächst fest. Als ihn Zar Peter I. im März 1713 bei einem Besuch in Berlin zum Beitritt in die nordische Allianz gegen den schwedischen König Karl XII. während des Großen Nordischen Krieges bewegen wollte, lehnte er das ab mit der Begründung, dass er ein Jahr brauche, um Armee und Finanzen in Ordnung zu bringen. Nach Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges gab er aber den Neutralitätskurs auf und wandte sich der Allianz zu. Sein Ziel war es, die schwedischen Gebiete in Norddeutschland (Schwedisch-Pommern) und den Zugang zur wichtigen Odermündung für Preußen zu gewinnen. Die Preußen besetzten in der Folge als neutrale Besatzungsmacht Stettin.
Als Karl XII. nach seiner Rückkehr aus dem Osmanischen Reich im November 1714 den Oberbefehl in Pommern übernahm und den Krieg fortsetzte, trat Preußen am 1. Mai 1715 aktiv in den Krieg ein. Unter dem Oberbefehl Friedrich Wilhelms I. belagerten Preußen, Dänen und Sachsen während des Pommernfeldzugs die schwedische Festung Stralsund und nahmen sie am 24. Dezember 1715 ein.
Im Frieden von Stockholm vom 21. Januar 1720 schloss Preußen Frieden mit Schweden. Preußen gewann die Stadt Stettin mit dem Gebiet zwischen Oder und Peene, die Inseln Wollin und Usedom sowie das Oderhaff und die Mündungen der Swine und Dievenow. Der kurze Feldzug von 1715 blieb der einzige kriegerische Einsatz der preußischen Armee in der Regierungszeit des Soldatenkönigs.
Außenpolitisch galt der Monarch als wenig ambitioniert und talentiert. Bekannt war der „Soldatenkönig“ ebenso für seine unkriegerische Haltung, wofür er an den europäischen Höfen verspottet wurde. Seinen einzigen Waffengang im Großen Nordischen Krieg hatte er noch von seinem Vorgänger geerbt, und die dort sowie in der Jugend in der Schlacht von Malplaquet gemachten Erfahrungen ließen ihm den Krieg nicht als Option der Politik erscheinen.
Weil Friedrich Wilhelm praxisorientiert und pragmatisch dachte, konnte er wenig mit Gelehrten und Geisteswissenschaften anfangen. Er förderte daher außer der Theologie nur praxisorientierte Wissenschaften.
Am 28. Oktober 1717 führte der König durch königliche Verordnung im Prinzip die allgemeine Volksschulpflicht auf den königlichen Domänegütern ein. So sollte jedes Kind zwischen fünf und zwölf Jahren zur Schule gehen.
„Wir vernehmen missfällig und wird verschiedentlich von denen Inspectoren und Predigern bey Uns geklaget, dass die Eltern, absonderlich auf dem Lande, in Schickung ihrer Kinder zur Schule sich sehr säumig erzeigen, und dadurch die arme Jugend in grosse Unwissenheit, so wohl was das lesen, schreiben und rechnen betrifft, als auch in denen zu ihrem Heyl und Seligkeit dienenden höchstnötigen Stücken auffwachsen laßen.“
Während seiner Regentschaft stieg das allgemeine Bildungsniveau in Preußen deutlich. Die 1717 erlassene Schulpflicht trug dazu wesentlich bei. So gab es statt der 320 Dorfschulen vom Jahre 1717 in seinem Todesjahr schon 1480 Schulen.
Obwohl Friedrich Wilhelm selbst Calvinist blieb, schätzte er den lutherischen Pietismus und übertrug ihn auf den preußischen Staat und die Gesellschaft. So förderte er Pietisten als Universitätstheologen und stellte pietistische Feldprediger in der Armee an, denen er den Feldpropst Lambert Gedicke voranstellte. Die Lutherische Staatskirche übernahm den neuen Geist und ließ ihn durch Predigt und die betriebenen Schulen zum Allgemeingut für die Bevölkerung werden. Aus diesen Einrichtungen sowie der pietistischen Universität Halle bezog der Staat Preußen einen großen Teil seiner späteren Elite. Auch interessierte Friedrich Wilhelm sich sehr für die Erneuerung der Kirche der Böhmischen Brüder in Herrnhut. So stand er viele Jahre in Briefkontakt mit Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und ermunterte ihn zur Bischofsweihe.
Der Soldatenkönig vertrat eine weitgehend tolerante Religionspolitik. So gestattete er 1722 den in Lüttich angeworbenen katholischen Arbeitern seiner Königlichen Preußischen Gewehrfabrik Potsdam-Spandau wunschgemäß die freie Religionsausübung und stiftete an beiden Standorten katholische Kirchen.
Die Errichtung von sozialen Einrichtungen wie des Potsdamer Militärwaisenhauses 1724 oder des königlichen Warenlagerhauses lassen sich unter anderen auch auf die religiöse Einstellung des Königs zurückführen. Aus der Zeit zwischen 1717 und 1723 liegen zahlreiche Anweisungen zur Abschaffung der Leibeigenschaft auf den königlichen Domänen durch Friedrich Wilhelm vor.
Am 9. Januar 1727 verfügte Friedrich Wilhelm I. in einer weiteren Kabinettsorder die Umwandlung eines Lazaretts in ein Bürgerhospital und ordnete in einer Randbemerkung an: „Es soll das Haus die Charité heißen.“
1730 kam es wegen Friedrich Wilhelms Heiratsplänen zum Zerwürfnis zwischen ihm und seinem Sohn und Thronfolger, Friedrich, der daraufhin zusammen mit dem befreundeten Leutnant Hans Hermann von Katte vom Garderegiment Gendarmes seine bereits seit 1729 geplante Flucht aus Preußen in die Tat umsetzen wollte.
Der halbherzige Fluchtversuch Friedrichs scheiterte. In dessen Folge wurde er in der Festung Küstrin eingesperrt. Sein Freund und Fluchthelfer Hans Hermann von Katte wurde hingerichtet. Der König hatte das Urteil gegen Katte in die Todesstrafe umwandeln lassen, um ein Exempel zu statuieren. Seine Berater konnten ihn nur mit Mühe davon abbringen, dem Thronfolger Gleiches anzutun. Allerdings ließ er Friedrich zwingen, bei der Exekution seines Freundes zuzuschauen.
Die Ursachen für diesen schweren familiären Konflikt lagen in den Sorgen Friedrich Wilhelm I., dass der Sohn sein Lebenswerk wieder verkommen ließe. Er ließ seine Kinder und insbesondere Friedrich streng erziehen. Friedrich sollte die Ideale des Vaters, Strenge, Unbestechlichkeit, Stärke und Sparsamkeit von Anfang an befolgen. Der feinsinnige Sohn suchte aber immer wieder Zuflucht in Musik und Literatur, was zahlreiche Konflikte zwischen Vater und Sohn heraufbeschwor. Insbesondere akzeptierte der Vater die Musik nicht als Kunst, so dass diese als Verständigungsbasis zwischen den beiden nicht in Frage kam.
Noch während der Haftzeit Friedrichs kam es zur Versöhnung zwischen Vater und Sohn, und auch wenn das Verhältnis weiterhin schwierig war, konnten sich beide damit arrangieren. Der König erlaubte später seinem Sohn, sich samt dessen Gemahlin auf Schloss Rheinsberg zurückzuziehen und dort eigene Studien zu betreiben, wodurch sich Friedrich aus der Umklammerung seines Vaters befreite.
Mit zunehmendem Alter litt Friedrich Wilhelm an Gicht, die seinem ungesunden Lebensstil und einer erblichen Vorbelastung geschuldet war. Er konnte kaum noch reiten und musste sich immer häufiger im Rollstuhl fortbewegen. Am 31. Mai 1740 verstarb er im Potsdamer Stadtschloss an Wassersucht. Die Beisetzung erfolgte am 4. Juni in der Garnisonkirche zu Potsdam. Sein Sohn Friedrich II., später bekannt als Friedrich der Große, folgte ihm als König von Preußen nach.
ZWEITES KAPITEL
FRIEDRICH DER GROSSE
Friedrich wurde im Berliner Stadtschloss geboren und war der älteste überlebende Sohn von insgesamt 14 Kindern König Friedrich Wilhelms I. und dessen Gattin Sophie Dorothea von Hannover. Am 31. Januar 1712 wurde er auf den alleinigen Namen Friedrich getauft. Bis zu seinem sechsten Geburtstag lebte Friedrich gemeinsam mit seiner älteren Schwester Wilhelmine in der Obhut der nur französisch sprechenden Marthe de Rocoulle, einer in Frankreich geborenen Hugenottin, die schon seinen Vater betreut hatte.
Danach erhielt Friedrich eine strenge, religiös geprägte Erziehung nach den konkreten Vorgaben Friedrich Wilhelms, der den Tagesablauf des Kronprinzen pedantisch genau vorschrieb, vom „frühstücken in sieben Minuten Zeit“ bis zur Freizeit nach 17:00 Uhr, in der Friedrich tun könne, „was er will, wenn es nur nicht gegen Gott ist“. Der 1716 bestellte Erzieher Friedrichs, Jacques Égide Duhan de Jandun, ein hugenottischer Flüchtling, der dem König bei der Belagerung Stralsunds im Jahre 1715 durch seine besondere Tapferkeit aufgefallen war, unterrichtete Friedrich bis 1727. Duhan entwickelte eine enge persönliche Bindung zu seinem Schüler, erweiterte den vom König streng redigierten Stundenplan, indem er dem Prinzen auch Latein und Literatur nahebrachte, und war schließlich auch bei der Anschaffung der heimlichen Bibliothek des Thronfolgers behilflich.
1728 begann Friedrich heimlich mit dem Flötenunterricht bei Johann Joachim Quantz, wodurch sich die Konflikte zwischen dem nur auf das Militärische sowie Ökonomische fixierten Vater und dem Kronprinzen weiter zuspitzten. Körperliche und seelische Züchtigungen durch Friedrich Wilhelm gehörten zu dieser Zeit zur Tagesordnung in der königlichen Familie. Gleichwohl heizte der junge Friedrich diese Konflikte durch sein betont aufsässiges Verhalten seinem Vater gegenüber immer wieder an.
Friedrich suchte 1729 eine enge Freundschaft zum musischen und gebildeten acht Jahre älteren Leutnant Hans Hermann von Katte. Katte wurde Freund und Vertrauter Friedrichs, der ihn wegen dessen Weltgewandtheit bewunderte. Beide interessierten sich zudem für das Flötenspiel und die Dichtkunst. Im Frühjahr 1730, während einer von August dem Starken in Zeithain bei Riesa ausgerichteten Veranstaltung (dem Lustlager von Zeithain), offenbarte Friedrich seinem Freund den Plan, nach Frankreich zu fliehen, um sich der Erziehungsgewalt seines strengen Vaters zu entziehen.
Friedrich versuchte in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1730 zusammen mit dem Pagen Keith erfolglos, aus seinem Reisequartier bei Steinsfurt über Frankreich nach England zu fliehen, während Katte durch einen kompromittierenden Brief als Mitwisser entlarvt und wenig später verhaftet wurde. Friedrich selbst wurde in der Festung Küstrin unter Arrest gestellt.
Zunächst war Katte von einem preußischen Kriegsgericht wegen Desertion zu lebenslanger Festungshaft verurteilt worden. Friedrichs Vater aber ließ dem Gericht mitteilen, es möge sich nochmals zusammensetzen und ein neues Urteil fällen, womit er die Richter unmissverständlich aufforderte, ein Todesurteil gegen Katte zu verhängen. Schließlich wandelte Friedrich Wilhelm selber den – nach wie vor auf lebenslange Festungshaft lautenden – Spruch am 1. November 1730 per Allerhöchster Kabinettsorder in ein Todesurteil um. Es wurde am 6. November auf den Befehl des Königs vor den Augen Friedrichs, dessen Kopf von den Bewachern gegen die Gitterstäbe seines Gefängnisses gepresst wurde, in der Festung Küstrin durch Enthauptung vollstreckt. Friedrich wurde kurz vor dem Vollzug ohnmächtig.
Der König, der Friedrich anfangs ebenfalls wegen Verrats hinrichten wollte, verschonte ihn schließlich, einerseits auf die Fürsprache Leopolds von Anhalt-Dessau hin, andererseits auch aus außenpolitischen Erwägungen, nachdem sowohl Kaiser Karl VI. als auch Prinz Eugen sich schriftlich für den Kronprinzen verwandt hatten. Er wurde aber zur Festungshaft in Küstrin verurteilt.
Friedrich wiederum wurde zeitweilig sein prinzlicher Status aberkannt. Anfangs noch arrestiert, diente er ab 1731 in der Küstriner Kriegs- und Domänenkammer, bis er im November wieder in die Armee aufgenommen wurde und 1732 als Inhaber des früheren Regiments zu Fuß von der Goltz im damaligen Ruppin stationiert war. So lernte er Heeres- und Zivilverwaltung in eigener Anschauung kennen. Nachdem er 1732 einer Heirat mit der ungeliebten Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern – der Tochter Herzog Ferdinand Albrechts II. von Braunschweig – zugestimmt hatte, war der Konflikt mit dem Vater nach außen hin beigelegt und Friedrich als Kronprinz rehabilitiert.
Friedrich und Elisabeth Christine heirateten am 12. Juni 1733 im Schloss Salzdahlum. Es gab Ballett, eine Pastorale, in der der Kronprinz, der die Hauptrolle führte, Querflöte spielte, und Opern von Carl Heinrich Graun und Georg Friedrich Händel.
Die Ehe blieb kinderlos, was von verschiedenen Forschern darauf zurückgeführt wird, dass Friedrich möglicherweise wie sein Bruder Heinrich homosexuell war.
Mit Erlaubnis seines Vaters zog der Kronprinz 1736 mit seiner Gemahlin nach Rheinsberg und residierte dort auf Schloss Rheinsberg. Die folgenden Jahre bis zum Tode seines Vaters 1740 verbrachte er dort mit eigener Hofhaltung. In dieser Zeit widmete er sich dem Studium der Philosophie, Geschichte und der Poesie in einem selbstgeschaffenen Kreis meist älterer Schöngeister und Künstler, die sich in Rheinsberg aufhielten oder mit denen er korrespondierte.
1738 komponierte Friedrich seine erste Sinfonie.
Ein Jahr darauf, 1739, schrieb Friedrich, der bereits mit dem Vordenker der Aufklärung Voltaire korrespondierte, den Antimachiavell, einen Tugendkatalog des aufgeklärten Idealmonarchen. Spätere wichtige politische Schriften waren das Politische Testament und Regierungsformen und Herrscherpflichten, in denen er sein Verständnis des aufgeklärten Absolutismus darlegte.
Während der Rheinsberger Jahre pflegte Friedrich zwar einen höflichen und zuvorkommenden Umgang mit seiner Frau, aber nach seiner Thronbesteigung schloss er, wie er es schon vor der erzwungenen Heirat angekündigt hatte, Elisabeth Christine aus seiner Umgebung aus. Während Friedrich sich vom Hofleben in das Schloss Charlottenburg zurückzog, wies er ihr im Berliner Stadtschloss eine Wohnung zu und schenkte ihr als Sommerwohnsitz das Schloss Schönhausen.
Am 31. Mai 1740 bestieg Friedrich II. nach dem Tod seines Vaters den preußischen Thron. Zu den ersten Maßnahmen Friedrichs im Sinne der Aufklärung gehörte die Abschaffung der Folter. Schon seit längerer Zeit war die Folter in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit als Barbarei abgelehnt worden, und Gelehrte hatten ihre Abschaffung gefordert. Auch Friedrich sah in der Folter ein grausames und ungewisses Mittel zur Entdeckung der Wahrheit und war sein Leben lang der Ansicht, „lieber sollten zwanzig Schuldige freigesprochen als ein Unschuldiger geopfert werden“. Trotz des Widerspruchs seines Justizministers und anderer Ratgeber ordnete Friedrich am 3. Juni 1740 per Edikt an, „bei denen Inquisitionen die Tortur gänzlich abzuschaffen, außer bei dem crimine laesae maiestatis und Landesverrätherey, auch denen großen Mordthaten, wo viele Menschen ums Leben gebracht oder viele Delinquenten, deren Connexion herauszubringen nöthig, impliciret sind“. Ferner verfügte Friedrich, dass es zu einer Verurteilung fortan keines erfolterten Geständnisses mehr bedürfe, wenn „die stärksten und sonnenklare Indicia und Beweise durch viele unverdächtige Zeugen“ vorliegen. Die abschreckende Wirkung der Folter im Auge, ließ Friedrich das Edikt durch Cocceji zwar allen Gerichten bekanntgeben, untersagte aber im Unterschied zur Praxis bei Gesetzestexten seine Veröffentlichung. Im Jahre 1754 wurde die Folter ohne jeden Vorbehalt abgeschafft.
Die für Preußen in wirtschaftlicher Hinsicht nicht ganz uneigennützige Toleranz und Offenheit gegenüber Einwanderern und religiösen Minderheiten wie Hugenotten und Katholiken war keine Reform, sondern wurde schon vor seiner Amtszeit praktiziert. Der geflügelte Ausspruch „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ fasste diese Praxis nur in eine griffige Formel.
Sechs Monate nach seiner Thronbesteigung im Jahre 1740 begann Friedrich den Ersten Schlesischen Krieg. Auslöser für seinen Angriff auf Schlesien war der überraschend frühe Tod des habsburgischen römisch-deutschen Kaisers Karl VI., der ohne männlichen Erben geblieben war. Seine älteste Tochter Maria Theresia hatte gemäß einer bereits zu seinen Lebzeiten angeordneten Thronfolgeregelung, der sogenannten Pragmatischen Sanktion, die Nachfolge angetreten. Dieses Erbe weckte auch die Begehrlichkeiten anderer, dem Haus Habsburg verwandtschaftlich verbundener Nachbarn, so dass nach dem ersten preußischen Sieg in der Schlacht von Mollwitz Bayern, Sachsen und Frankreich Friedrichs Beispiel folgten und Maria Theresia angriffen. Dadurch weitete sich der anfängliche Konflikt um Schlesien zum Österreichischen Erbfolgekrieg aus. Friedrich nutzte dies für seine begrenzten Kriegsziele, sicherte sich im Separatfrieden von Breslau 1742 die Abtretung Schlesiens als souveränen Besitz und schied aus der Koalition aus.
Im folgenden Kriegsjahr wendete sich das militärische Blatt: Zwar verlor das Haus Habsburg den Kaiserthron an Karl Albrecht von Bayern, aber Maria Theresias Truppen konnten sich mit englischer Unterstützung behaupten und sogar zur Offensive übergehen. In dieser Situation begann Friedrich um den dauerhaften Besitz Schlesiens zu fürchten und trat an der Seite der Gegner Österreichs 1744 erneut in den Krieg ein. Er behauptete, den wittelsbachischen Kaiser schützen zu wollen, und marschierte in Böhmen ein, womit er erneut vertragsbrüchig wurde und den Zweiten Schlesischen Krieg eröffnete. Dies festigte den Ruf Friedrichs als eines höchst unzuverlässigen Bündnispartners. Der preußische Angriff auf Böhmen scheiterte jedoch, und Friedrich musste sich wieder nach Schlesien zurückziehen. Die österreichischen Truppen folgten zwar, verloren aber entscheidende Feldschlachten, und so konnte Friedrich 1745 schließlich im Frieden von Dresden die erneute Garantie seiner schlesischen Eroberungen erreichen.
Nach einer im Wesentlichen auf Aktivitäten des österreichischen Kanzlers Graf Kaunitz zurückgehenden Umkehrung der Allianzen (unter anderem wurde Frankreich zum Unterstützer Maria Theresias und England zum Freund des Preußenkönigs) ließ Friedrich II. Ende August 1756 seine Truppen ohne Kriegserklärung in das Kurfürstentum Sachsen einmarschieren und eröffnete so den Siebenjährigen Krieg. Damit kam er einem bereits abgesprochenen koordinierten Angriff einer Allianz praktisch aller direkten Nachbarn Preußens einschließlich der Großmächte Österreich, Frankreich und Russland um wenige Monate zuvor. Seines strategischen Geschicks wegen bürgerte sich für ihn endgültig der Beiname „der Große“ ein.
Die Niederlage von Kolin zerstörte Friedrichs Hoffnung auf einen kurzen, unkomplizierten Feldzug. Von nun an stellte er sich auf einen langen Waffengang ein. Seine Seelenlage verschlechterte sich zunehmend, zumal als er erfuhr, dass zehn Tage nach der Schlacht seine geliebte Mutter Sophie Dorothea in Berlin gestorben war. Eine Briefnotiz an den Herzog von Bevern vom 26. August 1757 belegt seine hoffnungslose Stimmung eindrücklich:
„Das seind schwere Zeiten, weiss Gott! und solche beklummene Umstände, dass man ein grausam Gelücke gebraucht, um sich aus allem diesen durchzuwicklen.“
Nach dem katastrophalen Ausgang der Schlacht bei Kunersdorf im August 1759 war Friedrich II. einige Zeit nicht mehr in der Lage, die Armee zu befehligen. Am Abend der Schlacht übertrug er den Oberbefehl auf seinen Bruder Prinz Heinrich und schrieb an den Staatsminister Graf von Finckenstein in Berlin:
„Ich habe heute morgen um 11 Uhr den Feind angegriffen. Wir haben sie bis zum Judenkirchhof bei Frankfurt zurückgedrängt. Alle meine Truppen haben Wunder an Tapferkeit vollbracht, aber dieser Kirchhof hat uns ungeheure Verluste gekostet. Unsere Leute gerieten durcheinander, ich habe sie dreimal wieder rangiert, am Ende war ich selber drauf und dran, gefangen zu werden, und musste das Schlachtfeld räumen. Meine Kleidung ist von Kugeln durchlöchert. Zwei Pferde wurden mir unter dem Leib erschossen, mein Unglück ist, dass ich noch am Leben bin. Unsere Niederlage ist enorm. Von einer Armee von 48.000 Mann habe ich keine dreitausend mehr. Indem ich dies schreibe, flieht alles, und ich bin nicht mehr Herr meiner Leute. Man wird gut daran tun in Berlin, an seine Sicherheit zu denken. Das ist ein grausamer Rückschlag, ich werde ihn nicht überleben; die Folgen dieses Treffens werden schlimmer sein als das Treffen selbst. Ich habe keine Reserve mehr, und, um nicht zu lügen, ich glaube, dass alles verloren ist. Ich werde den Untergang meines Vaterlandes nicht überleben. Adieu für immer! Friedrich“
Nach Kunersdorf stand die totale Niederlage für Preußen kurz bevor. Friedrich selber war tief getroffen: Es steht zu vermuten, dass Friedrich in den ersten schrecklichen Tagen nach Kunersdorf mit Todesgedanken spielte. Doch es kam zu einer unerwarteten Wendung: Anstatt auf Berlin zu marschieren, zögerten Österreicher und Russen volle zwei Wochen, bis sie am 1. September ostwärts abrückten. Friedrich war vorläufig gerettet und sprach erleichtert vom „Mirakel des Hauses Brandenburg“. An Prinz Heinrich schrieb er am 5. September aus dem Lager Waldow an der Oder:
„Ich habe Ihr Schreiben vom 25. erhalten und ich verkünde Ihnen das Wunder des Hauses Brandenburg: Während der Feind die Oder überquerte und nur eine zweite Schlacht zu wagen brauchte, um den Krieg zu beenden, ist er von Müllrose nach Lieberose abmarschiert.“
Die endgültige Wende kam, als am 5. Januar 1762 die russische Zarin Elisabeth starb. Elisabeths Nachfolger Peter III. verehrte Friedrich und schloss mit ihm überraschend einen Allianzvertrag. Nach der Ermordung Peters im Juli 1762 löste dessen Witwe und Nachfolgerin Katharina II. das Bündnis, nahm aber die antipreußische Politik Elisabeths nicht wieder auf. Damit war die antipreußische Koalition auseinandergebrochen. Maria Theresia und Friedrich schlossen 1763 den Frieden von Hubertusburg, der den Status quo ante festschrieb.
Preußen hatte sich unter Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg gegen den Widerstand von schließlich drei europäischen Großmächten (Frankreich, Österreich, Russland) und den Mittelmächten Schweden und Kursachsen behauptet und als neue Großmacht etabliert. Allerdings war Friedrich II. durch die Strapazen und persönlichen Verluste der Feldzüge bis 1763 früh gealtert. Die intellektuelle Weltoffenheit des jungen Königs aus seinen ersten Regierungsjahren wich der Verbitterung und einem ausgeprägten Zynismus. Trotzdem hatte er 1763 Preußen eine sichere existenzielle Basis im politischen Konzert der damaligen Mächte verschafft und neben Russland, Österreich, Frankreich und England als fünfte europäische Großmacht etabliert. 1769 war er beschäftigt mit seinem Neffen und dessen Cousine: nämlich mit der Ehescheidung zwischen Elisabeth Christine Ulrike von Braunschweig-Wolfenbüttel und dem Thronfolger Friedrich Wilhelm II.
Während der Regentschaft Friedrichs II. wurden Hunderte von Schulen gebaut. Das Landschulsystem krankte allerdings an der ungeregelten Lehrerausbildung. Häufig wurden ehemalige Unteroffiziere herangezogen, die des Lesens, Schreibens und Rechnens selbst nur lückenhaft mächtig waren.
Nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges ordnete er an der Westseite des Parks Sanssouci den Bau des Neuen Palais an, das 1769 fertiggestellt wurde und das überwiegend für Gäste seines Hofes genutzt wurde.
Im Zuge der Ersten Teilung Polens im Jahre 1772 kam es zur Annektierung polnischer Gebiete durch Russland, Preußen und Österreich. Preußen bekam das sogenannte Polnisch-Preußen oder Westpreußen.
Im Bayerischen Erbfolgekrieg (1778/1779), auch als „Kartoffelkrieg“ bekannt, vereitelte Friedrich II. die Bestrebungen des habsburgischen Kaisers Joseph II., Belgien gegen große Teile Bayerns zu tauschen. Ohne das Eingreifen Preußens wäre Bayern damals ein Teil Österreichs geworden. Das österreichische Festhalten am bayerisch-belgischen Tauschprojekt beantwortete Preußen mit der Gründung des protestantisch dominierten Fürstenbundes im Jahre 1785.
Im Jahr 1785 schloss Friedrich II. mit den Vereinigten Staaten einen Freundschafts- und Handelsvertrag, dessen Grundlage die Anerkennung der erst seit kurzem unabhängigen 13 Staaten der USA seitens Preußens darstellte. Zudem existiert darin ein Novum für damalige solche Verträge: Beide Seiten vereinbarten unbedingt humane Haft für Kriegsgefangene.
Friedrich starb am 17. August 1786 im Schloss Sanssouci in seinem Sessel. Obwohl Friedrich in einer zu seinen Lebzeiten vollendeten Gruft auf der Terrasse von Schloss Sanssouci neben seinen Hunden beerdigt werden wollte, ließ ihn sein Neffe und Nachfolger Friedrich Wilhelm II. in der Potsdamer Garnisonkirche in der hinter dem Altar befindlichen Gruft des Königlichen Monuments an der Seite seines Vaters Friedrich Wilhelm I. beisetzen.
DRITTES KAPITEL
WILHELM I
Wilhelm war der zweite Sohn des Kronprinzenpaares Friedrich Wilhelm von Preußen und Luise von Mecklenburg-Strelitz, Tochter des Herzogs Karl II. von Mecklenburg-Strelitz. Seine Erziehung wurde von Johann Friedrich Gottlieb Delbrück übernommen, der zuvor Rektor des Magdeburger Pädagogiums gewesen war.
Am 1. Januar 1807 – Preußen hatte am 14. Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage gegen Napoleon hinnehmen müssen – ernannte sein Vater den neunjährigen Wilhelm zum Leutnant. Wilhelm war 13-jährig, als seine Mutter Luise verstarb.
Seit März 1813 hatte Wilhelm einen neuen Erzieher in Gestalt des preußischen Oberst Johann Georg Emil von Brause erhalten, der ihm auch nach dem Ausscheiden aus der Gouverneursstellung im September 1817 in väterlicher Freundschaft lebenslang verbunden blieb. 1814 begleitete er, zum Hauptmann ernannt, seinen Vater auf den Feldzug in Frankreich, erwarb sich bei seiner Feuertaufe bei Bar-sur-Aube am 26. Februar das Eiserne Kreuz II. Klasse, zog am 31. März mit in Paris ein, folgte seinem Vater auch beim Besuch in England und führte, am 8. Juni 1815 konfirmiert und zum Major ernannt, ein Bataillon des 1. Garderegiments von neuem nach Frankreich, wo indes der Krieg schon zu Ende war.
Auch in Staatsangelegenheiten wurde er vom König zur Beratung herangezogen. Wiederholt wurde er in Staats- und Familienangelegenheiten an den Petersburger Hof gesandt.
Nachdem er 1826 auf die Heirat mit der Prinzessin Elisa Radziwill verzichtet hatte, weil diese vom König nicht als ebenbürtige Partnerin eines preußischen Prinzen angesehen wurde, vermählte er sich am 11. Juni 1829 mit der Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach, der Tochter des Großherzogs Karl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach, deren Schwester Maria die Gemahlin seines jüngeren Bruders Karl war.
Die Ehe kam letztendlich auf Betreiben seines Vaters zustande und verlief nicht sonderlich glücklich. Die intelligente, musisch begabte und am Weimarer Hof liberal erzogene Augusta war ihrem Mann intellektuell überlegen und fühlte sich am steifen und nüchternen Berliner Hof nicht wohl; Wilhelm fühlte sich dagegen von seiner Frau nicht angezogen. Aus der Ehe gingen dennoch zwei Kinder hervor:
Zwei Fehlgeburten verhinderten weitere Kinder.
Augusta war auch politisch interessiert; sie versuchte zeitlebens, ihren Mann in Richtung einer liberaleren Haltung zu beeinflussen, was ihr wohl zeitweise (so galt Wilhelm in den fünfziger Jahren geradezu als die große Hoffnung der Liberalen), aber nicht dauerhaft gelang. Otto von Bismarck schrieb viele Jahre später in seiner Autobiographie Gedanken und Erinnerungen über Wilhelms eigenwillige Gemahlin, dass sie zwar von hohem Pflichtgefühl getragen sei, aber aufgrund ihres königlichen Empfindens keine Autorität als ihre eigene gelten ließe.
Ab 1835 diente Schloss Babelsberg Wilhelm und Augusta als Sommersitz.
Nach dem Tod seines Vaters (1840) erhielt er als Thronfolger seines Bruders Friedrich Wilhelm IV. den Titel „Prinz von Preußen“ und wurde bald darauf zum General der Infanterie befördert.
Sein Eintreten für eine gewaltsame Niederschlagung der Märzrevolution in Berlin brachte ihm im Mai 1848 den Beinamen „Kartätschenprinz“ ein.
Es blieb dem preußischen Militär am 19. März angesichts der heftigen Barrikadenkämpfe nur der Weg des Rückzugs, wollte es unter dem zermürbenden Straßenkampf nicht nach und nach aufgerieben, politisiert oder nervlich zerrüttet werden. Der Prinz von Preußen war wegen seines Plädoyers für eine militärische Lösung bei den Anhängern der Revolution derart verhasst, dass er vom klug taktierenden König den Befehl erhielt, umgehend nach London zu reisen. Am 20. März wurde das Berliner Palais des Prinzen durch einen einfachen Mann vor Brandstiftung und Zerstörung gerettet, der auf die Wand die Worte „National-Eigentum“ schrieb.
Der Prinz floh mit Hilfe des Majors im Stab des Gardekorps August Friedrich Oelrichs aus Berlin und reiste unter dem Decknamen Wilhelm Oelrichs am 23. und 24. März nach London. Bei der Abreise soll Augusta den Major schriftlich instruiert haben, „welche Ansichten er dem Prinzen gegenüber geltend zu machen habe“. In London verkehrte Wilhelm mit Prinzgemahl Albert und anderen Staatsmännern und klärte seine politischen Anschauungen. An den deutschen Einheitsbestrebungen nahm er lebhaften Anteil.
Prinzessin Augusta weilte derweil mit den zwei Kindern in Potsdam. Anfang Juni kehrte Wilhelm nach Berlin zurück. Am 30. Mai hatte sich der Prinz in Brüssel öffentlich und schriftlich zur konstitutionellen Regierungsform für Preußen bekannt und so auf die Demonstration von 10.000 Berlinern gegen seine Rückkehr reagiert. Zum Abgeordneten in die preußische Nationalversammlung gewählt, nahm er zwar das Mandat an, aber, nachdem er in einer kurzen Rede seine konstitutionellen Grundsätze dargelegt hatte, kündigte er die Niederlegung seines Abgeordnetenmandats an und kehrte nach Potsdam zurück. Im September ernannte der König auf seinen Vorschlag einige Minister des neuen Ministeriums des Generals von Pfuel.
Am 8. Juni 1849 ernannte der Reichsverweser Johann von Österreich Wilhelm zum Oberkommandierenden der Operationsarmee. Aufgabe war die Niederschlagung der Revolutionen in der Pfalz und in Baden. Nachdem Wilhelm am 12. Juni bei Ingelheim einem Attentat entgangen war, unterwarf die Operationsarmee in wenigen Wochen die Aufständischen. Mit der Einnahme der Festung Rastatt, der letzten Bastion der Revolutionäre, wurde zugleich auch die Märzrevolution in Deutschland endgültig niedergeschlagen. Die Siegesfeier fand mit dem gemeinsamen Einzug des Großherzogs Leopold von Baden und Wilhelms am 19. August in Karlsruhe statt.
Am 12. Oktober zog er an der Spitze von Truppen, die in Baden gekämpft hatten, in Berlin ein und wurde zum Generalgouverneur der Rheinprovinz und der Provinz Westfalen ernannt. Seinen Wohnsitz nahm er in Koblenz, der Hauptstadt der Rheinprovinz.
Augusta und Wilhelm von Preußen residierten gemeinsam im Kurfürstlichen Schloss in Koblenz von 1850 bis 1858. Insbesondere Prinzessin Augusta fühlte sich in Koblenz wohl; hier hatte sie endlich die Gelegenheit, ein Hofleben zu gestalten, wie sie es aus ihrer Kindheit am Weimarer Hof gewöhnt war. Ihr Sohn Friedrich studierte im nahen Bonn Rechtswissenschaften und war damit der erste preußische Thronfolger, der eine akademische Ausbildung erhielt. Auch daran war Augustas Einfluss maßgeblich beteiligt.
Am Koblenzer Hof verkehrten insbesondere auf das Betreiben von Prinzessin Augusta hin liberale Männer.] Auch Wilhelm nahm unter dem Eindruck der 1848er Revolte eine politisch gemäßigtere Haltung an, die bei seinem regierenden Bruder auf Unwillen stieß. Kritisch wurde Prinzessin Augustas tolerante Haltung gegenüber dem Katholizismus beobachtet, die in der Koblenzer Zeit besonders offensichtlich wurde – eine Haltung, die man einer preußisch-protestantischen Prinzessin als unpassend empfand.
Die früher dem Prinzen ungünstige Stimmung war infolge seiner Zurückhaltung gegenüber den Positionen des politischen und kirchlichen Konservatismus so sehr in das Gegenteil umgeschlagen, dass er, besonders seit den Verwicklungen mit Österreich und seit dem Krimkrieg, als Hauptvertreter der Machtstellung Preußens galt, und dass alle Hoffnungen der patriotischen und liberalen Partei sich ihm zuwandten, als er während der Erkrankung des Königs am 23. Oktober 1857 als dessen Stellvertreter und ab 7. Oktober 1858 als Regent an die Spitze der Regierung trat. Nachdem er am 26. Oktober den Eid auf die Verfassung geleistet hatte, berief er am 5. November das liberale Ministerium Hohenzollern („Neue Ära“) und legte am 8. November in einem Erlass an dieses seine Regierungsgrundsätze und Ziele dar.
Zwar betonte er, dass von einem Bruch mit der Vergangenheit nicht die Rede sein könne; er erklärte sich aber entschieden gegen alle Scheinheiligkeit und Heuchelei; ebenso sprach er sich dagegen aus, dass Preußen sich in der auswärtigen Politik fremden Einflüssen hingebe, vielmehr müsse es durch eine weise Gesetzgebung, Hebung aller sittlichen Elemente und Ergreifung von Einigungsmomenten in Deutschland Eroberungen zu machen suchen. Diese Aussagen fanden im Volk und bei dem neu gewählten, überwiegend liberalen Abgeordnetenhaus Beifall, da vor allem der Einfluss der kirchlichen Konservativen und die russische Politik Friedrich Wilhelms IV. Unwillen hervorgerufen hatten.
Nach dem Tod seines Bruders Friedrich Wilhelm IV. am 2. Januar 1861 bestieg Wilhelm den preußischen Thron. Am 18. Oktober 1861 fand die prachtvolle Krönungsversammlung in Königsberg in der Schlosskirche statt. Wilhelm setzte sich selbst die Krone aufs Haupt und nahm das Zepter, den Reichsapfel und das Reichsschwert vom Altar, danach krönte er seine Frau zur Königin und sagte: „Von Gottes Gnaden tragen Preußens Könige seit 160 Jahren die Krone. Nachdem durch zeitgemäße Einrichtungen der Thron umgeben ist, besteige ich als erster König denselben. Aber eingedenk, dass die Krone nur von Gott kommt, habe ich durch die Krönung an geheiligter Stätte bekundet, daß ich sie in Demut aus seinen Händen empfangen habe.“
Die Krönung stellte einen Kompromiss zwischen der von Wilhelm bevorzugten Erbhuldigung und der von der Verfassung vorgeschriebenen Eidesleistung des Königs im Parlament dar und verstärkte das Misstrauen gegen die konstitutionellen Ansichten des Königs.
Am 14. Juli 1861 verübte der Student O. Becker in Baden-Baden ein Attentat auf Wilhelm, verwundete ihn aber nur leicht am Hals.
Die Neuwahlen am 6. Dezember 1861 wurden durch die neu gegründete Deutsche Fortschrittspartei sehr deutlich gewonnen. Mit dem Rücktritt des Ministeriums der Neuen Ära, das der König fallen ließ, weil es im Abgeordnetenhaus die Bewilligung der Mittel für die tatsächlich bereits durchgeführte Heeresreorganisation nicht erreichen konnte, begann der Verfassungskonflikt. Der König hielt zäh an der Heeresreform fest, auch weil er die staatsrechtliche Grundsatzfrage des Verhältnisses von König und Parlament berührt sah. Da er sich in seinen Machtbefugnissen als souveräner Herrscher in Frage gestellt sah, dachte er zeitweise sogar an Abdankung. Die entsprechende Urkunde war bereits unterzeichnet, als Otto von Bismarck den König von diesem Schritt abhielt. Bismarck erklärte sich bereit, als Ministerpräsident auch ohne genehmigten Haushalt zu regieren und die Heeresreform durchzusetzen.
Durch die Ernennung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten am 23. September 1862 und die Unterstützung seines Ministeriums gegen das Abgeordnetenhaus verlor der König seine frühere Popularität, wie sich besonders bei den 50-jährigen Erinnerungsfesten an die Befreiungskriege 1863 und an die Vereinigung verschiedener Provinzen mit Preußen 1865 zeigte. Während die Reformen im Innern stockten, vielfach ein Polizeiregiment zur Herrschaft kam, ließ sich der König von Bismarck zu einer entschiedenen Politik in der deutschen Frage bestimmen.
Die erste Gelegenheit bot der Deutsch-Dänische Krieg von 1864, in dem Preußen und Österreich gemeinsam als Wahrer deutscher Interessen in den mit Dänemark verbundenen Herzogtümern Schleswig und Holstein auftraten. Wie von Bismarck kalkuliert, kam es nach dem Sieg über die weitere Behandlung Schleswig-Holsteins zum Konflikt mit Österreich, mit dem Preußen damals noch immer um die Führung im Deutschen Bund konkurrierte.
Obwohl Wilhelm zunächst nur widerstrebend Bismarcks Politik gefolgt war, eine kriegerische Entscheidung gegen Österreich zu suchen, übernahm er im preußisch-österreichischen Krieg von 1866 selbst den Oberbefehl über das Heer und errang dank der überlegenen strategischen Planung des Generalstabschefs von Moltke den kriegsentscheidenden Sieg in der Schlacht von Königgrätz. Bei den Friedensverhandlungen folgte er wiederum Bismarcks Rat und verzichtete, wenn auch ungern, auf die Annexion Sachsens, um Bismarcks deutsche Einigungspläne nicht zu durchkreuzen.
Die durch den gewonnenen Krieg ausgelöste patriotische Begeisterung bot eine Gelegenheit zur Beendigung des Verfassungskonflikts. Wilhelm lenkte wieder stärker in liberale Bahnen ein. Die Minister der Konfliktsperiode wurden entlassen und machten Anhängern einer freisinnigen Reform Platz.
Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes vom 1. Juli 1867 wurde Wilhelm der Inhaber des Bundespräsidiums.
Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 übernahm Wilhelm wieder den Oberbefehl über die gesamte in Frankreich einrückende Armee, befehligte selbst bei Gravelotte und bei der Schlacht bei Sedan; zudem leitete er von Oktober 1870 bis März 1871 von Versailles aus nominell die militärischen Operationen und die politischen Verhandlungen über die Gründung des Deutschen Reichs. Tatsächlich spielt auch hierbei Bismarck die wesentliche Rolle. Wilhelm war nur schwer davon zu überzeugen, Preußen künftig in einem gesamtdeutschen Nationalstaat aufgehen zu lassen, auch wenn er selbst an dessen Spitze treten sollte. Der Annahme des Titels Deutscher Kaiser widersetzte er sich noch bis zum Vorabend der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles, die am 18. Januar 1871 stattfand.
Wilhelm fürchtete, dass die Kaiserkrone die preußische überschatten würde. Am Vorabend der Proklamation meinte er:
„Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens! Da tragen wir das preußische Königtum zu Grabe.“
Durch die Kaiserproklamation, welche am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles stattfand, nahm Wilhelm für sich und seine Nachfolger zur Krone Preußens den Titel eines Deutschen Kaisers an und versprach, „allzeit Mehrer des Deutschen Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung“.
Der Proklamation war ein erbitterter Streit über den Titel zwischen Bismarck und König Wilhelm vorausgegangen. Wilhelm war wenig motiviert, Kaiser zu werden; er achtete den Titel des preußischen Königs höher. Ob er nun „Deutscher Kaiser“ oder „Kaiser von Deutschland“ heißen sollte, blieb unentschieden. Letztlich blieb es bei der von Bismarck mit Rücksicht auf die deutschen Fürsten gewählten Bezeichnung „Deutscher Kaiser“. Der Kaiser war so verbittert, dass er Bismarck nicht einmal die Hand gab.
Wilhelm akzeptierte aber letztlich, dass die Politik des neuen Deutschen Reiches von Bismarck bestimmt wurde. Das zeigen seine Aussprüche wie „Bismarck ist wichtiger“ und „Es ist nicht leicht, unter einem solchen Kanzler Kaiser zu sein“.
In Übereinstimmung mit Bismarck war er bemüht, den äußeren Frieden durch Bündnisse mit den Nachbarmächten zu sichern. Zu diesem Zweck brachte er im September 1872 in Berlin im sogenannten Dreikaisertreffen den Dreikaiserbund zwischen dem Deutschen Reich, Russland und Österreich-Ungarn zustande, welcher die beiden letzteren Mächte einander annäherte und Frankreich politisch isolierte. Besuche des Kaisers in St. Petersburg und Wien 1873 und in Mailand 1875 dienten der weiteren Unterstützung dieser außenpolitischen Annäherung.
Der arbeitslose, sich in Berlin herumtreibende Klempnergeselle Max Hödel feuerte am 11. Mai 1878, als der Kaiser mit seiner Tochter, der Großherzogin von Baden, in offenem Wagen durch die Straße Unter den Linden fuhr, mit einem Revolver mehrere Schüsse gegen ihn ab, von denen nicht einer traf. Weil sich unter den Mitgliedskarten mehrerer politischer Parteien, die er bei seiner Festnahme bei sich hatte, auch eine der Sozialdemokratie befand, sah Bismarck sich am 24. Mai veranlasst, im Reichstag ein „Gesetz zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen“ zu beantragen. Dieser Gesetzesantrag fand jedoch keine Mehrheit im Reichstag.
Ein weiterer Attentäter feuerte drei Wochen später am Sonntag, dem 2. Juni, an fast der gleichen Stelle, noch bevor sich die Aufregung über das zweite Attentat gelegt hatte, aus einem Fenster Unter den Linden zwei Flintenschüsse gegen Wilhelm ab, als dieser allein in den Tiergarten fuhr. Der Kaiser wurde von dreißig Schrotkörnern an Kopf und Armen getroffen und schwer verwundet. Er überlebte nur durch die sein Haupt schützende Pickelhaube. Der Täter, Nobiling, ein Bauer, wurde gefasst, nachdem er Selbstmord versucht und sich dabei schwer verletzt hatte.
Die Verletzungen Wilhelms waren so schwer, dass er am 4. Juni den Kronprinzen Friedrich Wilhelm zum Stellvertreter ernannte. Die Empörung über die beiden Attentate nutzte Bismarck, um im Reichstag das Sozialistengesetz durchzubringen, indem er verbreiten ließ, Nobiling sei Sozialdemokrat gewesen.
Wilhelm I. erholte sich nur langsam und kehrte nach längerem Aufenthalt in Baden und Wiesbaden am 5. Dezember nach Berlin zurück, wo er die Regierung wieder übernahm. Im Juli wurde aus Anlass seiner „glücklichen Errettung“ im ganzen Reich die Kaiser-Wilhelms-Spende aus den Gaben von knapp 12 Millionen Spendern gesammelt. Der Ertrag von über 1,7 Millionen Mark bildete das Stammkapital einer freiwilligen Altersrenten- und Kapitalversicherung für gering bemittelte Klassen.
Der Schock des Attentats stärkte wider Erwarten die schwächelnde Gesundheit des Kaisers. Wilhelm nannte Nobiling später als seinen besten Arzt.
Bei der Einweihung des Niederwalddenkmals in Rüdesheim 1883 bereiteten Anarchisten einen Anschlag mit Dynamit auf Wilhelm I. vor. Wegen des feuchten Wetters versagte aber der Zünder.
Wilhelm, der im hohen Alter hohe Popularität genoss und für viele das „alte Preußen“ verkörperte, starb nach kurzer Krankheit im Dreikaiserjahr am 9. März 1888 im Alten Palais Unter den Linden und wurde am 16. März im Mausoleum im Schlosspark Charlottenburg beigesetzt.
VIERTES KAPITEL
WILHELM II
Als ältester Sohn des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen und dessen Frau Victoria, die 1861 zum Kronprinzenpaar wurden, war Wilhelm Enkel der britischen Königin Victoria sowie infolge der Verbindung seiner Großtante Charlotte mit Nikolaus I. von Russland auch ein Cousin zweiten Grades des Zaren Nikolaus II.
Keinen gesunden Thronfolger geboren zu haben, empfand Victoria als persönliches Versagen, und sie war nur schwer bereit, die Behinderung des Sohnes zu akzeptieren. Kaum etwas blieb unversucht, seine Behinderung zu beheben. Legendär sind Kuren wie das Einnähen des kranken Armes in ein frisch geschlachtetes Kaninchen oder Metallgerüste, die Wilhelm umgeschnallt wurden, um seine Haltung zu verbessern. Wilhelm, von Geburt behindert, verbrachte laut eigenen Aussagen „eine recht unglückliche Kindheit“.
Wie im Hochadel üblich, traten seine Eltern als unmittelbare Erzieher ganz hinter seinem calvinistischen Lehrer Georg Ernst Hinzpeter zurück. Als Siebenjähriger erlebte er den Sieg über Österreich 1866 mit der daraus resultierenden Vorherrschaft Preußens in Deutschland. Mit zehn Jahren, im damals üblichen Kadettenalter, trat er beim 1. Garde-Regiment zu Fuß formell als Leutnant in die preußische Armee ein. Als Zwölfjähriger wurde er mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches nach dem Sieg über Frankreich 1871 auch zweiter Anwärter auf den deutschen Kaiserthron und erhielt mit der Atlantik ein eigenes Schiff.
Nach dem Abitur am Friedrichsgymnasium in Kassel trat er am 9. Februar 1877 seinen wirklichen Militärdienst bei seinem Regiment, der 6. Kompanie, an. 1880 wurde er am 22. März, dem Geburtstag seines Großvaters Kaiser Wilhelm I., zum Hauptmann befördert. Bereits in diesen Jahren bildete sich bei ihm ein Verständnis seiner monarchischen Rolle, das den liberal-konstitutionellen Vorstellungen seiner Eltern zuwiderlief.
Seine folgenden Lebensstationen sind unter dem Aspekt einer Erziehung zum Monarchen zu sehen: Er sollte möglichst vielerlei Erfahrungen sammeln, erhielt aber in keinem Feld, nicht einmal im militärischen, die Chance, sich beruflich solide einzuarbeiten.
Zum Studium von vier Semestern von Oktober 1877 bis 1879 bezog er die von seinem Urgroßvater gegründete Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
1881 heiratete er Prinzessin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, auch als ein dynastischer Versöhnungsakt gegenüber dem von Preußen um seine Herrschaft über Schleswig-Holstein gebrachten Herzogshaus.
Bereits seit 1862 hatte Otto von Bismarck, zunächst als preußischer Ministerpräsident, ab 1871 als Reichskanzler, die politische Macht fest in seiner Hand konzentriert. Bismarck war nach drei siegreichen Kriegen und als Vereiniger Deutschlands zur stärksten kontinentaleuropäischen Macht ein weltweit respektierter Staatsmann. Wilhelm I. und Friedrich III. hatten ihm gelegentlich widersprochen, aber am Ende stets vertraut. Von diesem Vertrauen hing nach der Reichsverfassung der Reichskanzler auch ab, nicht vom Vertrauen des Reichstags. Bismarck baute selbstbewusst darauf, auch den dritten Kaiser lenken zu können.
Das Jahr 1888 ging als Dreikaiserjahr in die Geschichte ein. Nach dem Tod Wilhelms I. am 9. März 1888 regierte Friedrich III. auf Grund seines bereits fortgeschrittenen Kehlkopfkrebses nur für 99 Tage und starb am 15. Juni in Potsdam.
„Die Unternehmer und Aktionäre müßten nachgeben, die Arbeiter seien seine Untertanen, für die er zu sorgen habe; wollten die industriellen Millionäre ihm nicht zu Willen sein, so würde er seine Truppen zurückziehen; wenn dann die Villen der reichen Besitzer und Direktoren in Brand gesteckt, ihre Gärten zertreten würden, so würden sie schon klein werden“ (Wilhelm II. laut Otto von Bismarck, als er sich weigerte, Soldaten zur Niederschlagung eines Streiks im Ruhrgebiet zu schicken.)
Aussagen wie dieses Zitat und die Februarerlasse Wilhelms weckten in den ersten Jahren seiner Regentschaft in der Arbeiterschaft zeitweilig Hoffnungen auf einen sozialen Wandel im Reich. Die Sozialpolitik lag Wilhelm II. durchaus am Herzen. Preußen behielt das seit Anfang der 1850er Jahre bestehende Dreiklassenwahlrecht. Nach wie vor wurde die Regierung nicht vom Reichstag gewählt, sondern vom Kaiser ohne Berücksichtigung der parlamentarischen Verhältnisse bestimmt oder entlassen. Es war dem Kanzler aber auch nicht möglich, ohne Mehrheit im Parlament Gesetze zu erlassen oder den Haushalt zu beschließen.
Noch während Bismarcks Kanzlerschaft verkündete Kaiser Wilhelm II. in einer Proklamation an sein Volk die Devise „Ich will ein König der Bettler sein“ und forderte das Verbot der Sonntagsarbeit, der Nachtarbeit für Frauen und Kinder, der Frauenarbeit während der letzten Schwangerschaftsmonate sowie die Einschränkung der Arbeit von Kindern unter vierzehn Jahren. Außerdem forderte er bei dem zur Erneuerung anstehenden „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ die Streichung des Paragraphen, der es der Landespolizeibehörde erlaubte, „Verurteilten“ den „Aufenthalt in bestimmten Bezirken und Ortschaften“ zu versagen. Bismarck kommentierte dies als „Humanitätsduselei“ und verweigerte sich dem Kaiser. Seine Forderungen konnte der junge Kaiser erst mit Leo von Caprivi, dem Nachfolger Bismarcks, verwirklichen. Allerdings war Wilhelm II. bei allen sozialen Ambitionen so wenig ein Freund der Sozialdemokratie, wie Bismarck es gewesen war. Er hoffte, durch seine Reformen die Sympathien für die trotz der Sozialistengesetze erstarkte Sozialdemokratie zu schwächen und durch die Aufhebung des repressiven Sozialistengesetzes der SPD ihren Märtyrerbonus zu nehmen.
Die Sozialdemokraten ihrerseits ließen sich nicht von den Reformen Wilhelms II. beeindrucken und setzten unter August Bebel aus ihrem antimonarchistischen Selbstverständnis heraus weiter auf Fundamentalopposition. Obwohl sie den Fortschritt der im Arbeitsschutzgesetz zusammengefassten Reformen sahen, stimmten sie im Reichstag dagegen. Sie forderten grundlegende strukturelle Veränderungen, wie zum Beispiel eine Verfassungsänderung, Demokratisierung, ein ausgeweitetes Wahlrecht, Vorrang des Parlaments bei politischen Entscheidungen, eine Umstrukturierung des Haushalts, deutliche Senkung der Rüstungsausgaben, Freiheit für die Kolonien und anderes mehr, für den Kaiser unerfüllbare Anliegen, die seine Abneigung gegen die Sozialdemokratie stärkten.
Der Wohlstand der deutschen Arbeiterschaft stieg von Jahr zu Jahr, doch gelang es Wilhelm II. nicht, den Arbeitern in den Städten das Gefühl zu geben, anerkannte Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Bei vielen Reichstagswahlen und Landtagen wuchs der Stimmenanteil der SPD.
Diese Vorgänge ließen in Wilhelm II., der immer noch „ein König der Armen“ sein wollte, die These reifen, dass eine Versöhnung mit den Sozialdemokraten nicht möglich sei. Er rief schließlich in Königsberg „zum Kampf für Religion, Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes!“ auf. Schon 1887 hatte er, noch als Prinz, mit seiner Gemahlin den Evangelischen Kirchlichen Hilfsverein für Berlin gegründet, weil er durch Förderung der Kirchen die „soziale Frage“ lösen wollte; dem folgte 1890 der Evangelische Kirchenbau-Verein, Berlin, mit dessen Hilfe er auch außerhalb Berlins auf Kirchneubauten im Reich Einfluss nahm. Zugleich manifestierte er damit seine Vorstellung einer neuen Verbindung von „Thron und Altar“ in Fortführung einer Linie von Konstantin dem Großen über Otto den Großen zu ihm selbst.
In der letzten Periode der Regierungszeit Bismarcks hatte das Deutsche Reich einer „Kanzlerdiktatur“ geglichen, deren politische Ziele nicht die des jungen Kaisers waren. Bismarck wollte Russland als einen starken Verbündeten, Wilhelm II. vertraute hingegen nur auf Österreich-Ungarn. Bismarck wollte den „Kulturkampf“ gegen den politischen Katholizismus fortsetzen, der Kaiser war strikt dagegen. Bismarck wollte das Sozialistengesetz verschärfen, Wilhelm II. es abschaffen: „Ich will meine ersten Regierungsjahre nicht mit dem Blut meiner Untertanen färben!“ Als der Reichskanzler hartnäckig blieb, schickte der Kaiser am Morgen des 17. März 1890 den Chef seines Militärkabinetts, General v. Hahnke, in die Reichskanzlei: Der Kanzler solle am Nachmittag ins Schloss kommen und sein Abschiedsgesuch mitbringen. Mit Bismarcks Entlassung machte sich der Kaiser den Weg frei zu seinem persönlichen Regiment.
Am 20. März 1890 entließ Wilhelm II. seinen „Eisernen Kanzler“. Als Bismarcks Nachfolger ernannte Wilhelm II. General Leo von Caprivi, der vom Kaiser als „Mann der rettenden Tat“ gefeiert und ob seiner Leistungen in den Grafenstand erhoben wurde. Mit Caprivi glaubte Wilhelm II. eine anerkannte Persönlichkeit gefunden zu haben, mit der er seine geplante Politik der inneren Versöhnung sowie das Arbeitsschutzgesetz durchzusetzen hoffte.
Ein wichtiges außenpolitisches Ereignis fiel in das Jahr des Kanzlerwechsels. Der Rückversicherungsvertrag mit Russland widersprach teilweise den Bedingungen des Dreibundpaktes mit Italien und Österreich-Ungarn. Der Kaiser war gegen ein Verletzen des letztgenannten Paktes, während Bismarck den Rückversicherungsvertrag seinerzeit für unbedingt notwendig gehalten hatte. Jetzt ging es um seine Verlängerung. Von der Öffentlichkeit unbemerkt und von Caprivi hingenommen, wurde der 1890 auslaufende Rückversicherungsvertrag vom Deutschen Reich bewusst nicht erneuert. In Russland nahm man realistischerweise einen deutschen Kurswechsel an und begann sich Frankreich anzunähern.
Caprivis Kanzlerzeit war durch entschiedene Englandfreundlichkeit geprägt. Innenpolitisch war er einer der Hauptverantwortlichen für den Wandel des Deutschen Reiches von der Agrarwirtschaft zur industriellen Exportwirtschaft. Die Reformen in diesem Zeitraum trugen dazu bei, dass Deutschland wenig später Großbritannien überholen und zur Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 aufsteigen konnte. Der Begriff „Made in Germany“ wurde zu dieser Zeit ein Synonym für höchste Qualität.
Die turbulente Ersetzung des alten Deutschen Bundes durch das neu geschaffene Deutsche Reich ohne die deutschen Österreicher – die Kleindeutsche Lösung – brachte einige Probleme mit sich. Die rheinländische, süddeutsche und polnische Opposition gegen die preußische Vorherrschaft stützte sich auf das sich politisierende katholische Bürger-, Arbeiter- und Bauerntum. Als Partei des politischen Katholizismus formierte sich das „Zentrum“. Die Versuche Bismarcks, die katholischen Parteien in ihrer Arbeit zu behindern, führten zu Eingriffen in das Leben der Katholiken. Auch die Judenintegration, die es vorher außer in Preußen nur in wenigen anderen Staaten gab, war jung, und der merkliche soziale Aufstieg der jüdischen Bevölkerung nährte Neid und Antisemitismus in der Bevölkerung. In den östlichen Gebieten Preußens, vor allem in der Provinz Posen, gab es eine starke Unterdrückung der polnischen Minderheit, die zu Unruhen und Gefühlen der Ungerechtigkeit führte. Der Kaiser erkannte die Ernsthaftigkeit dieser Probleme und bezeichnete sie als eine seiner Hauptaufgaben.
Am besten gelang die Integrationspolitik gegenüber den Katholiken. Sie waren durch den Bismarckschen Kulturkampf benachteiligt und an der Teilnahme am politischen Leben sowie an der freien Ausübung ihrer Religion gehindert worden. Schon zu seiner Prinzenzeit war Wilhelm gegen diese Praktiken und befürwortete die Beendigung des Kulturkampfes. Um die Einigkeit zwischen Protestanten und Katholiken im Reich zu verbessern, zahlte das Reich die den Opfern vorenthaltenen Gelder zurück.
Die östlichen Provinzen Preußens (Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien) waren damals mehrheitlich von Deutschen bewohnt, minderheitlich von Polen, dazu regional von Kaschuben und Masuren. In der Provinz Posen stellten die Polen die Mehrheit. Seit der Bismarckzeit versuchte der Staat, die hier lebenden Polen zu germanisieren, was allerdings misslang und in offenen Protest mündete. Kaiser Wilhelm II. hob viele dieser Repressionen auf, die vor allem die Unterrichtssprache und später auch die des Gottesdienstes regelten, und erkannte die Polen als eigenes Volk und Minderheit im Deutschen Reich an.
Die Juden wurden im 1871 gegründeten Deutschen Reich zum ersten Mal freie und gleiche Bürger. Die Einschränkungen waren aufgehoben, die sie, von Land zu Land unterschiedlich, teils zu Schutzbefohlenen eines Herrschers machten und ihnen wirtschaftliche Beschränkungen auferlegten oder ihnen bestimmte Berufsverbote erteilten. Auch der Dienst bei Militär, in Schulen oder der Justiz stand ihnen jetzt offen.
Juden organisierten sich nicht in einer eigenen Partei. Dies widersprach ihrem Selbstverständnis, deutsche Staatsbürger zu sein, welches durch lange Tradition besonders in Preußen sehr stark ausgeprägt war.
Inzwischen hatte die öffentliche Meinung begonnen, den Kaiser grundsätzlich kritisch zu sehen, und eine Kampagne schadete ihm konkret: Schon 1906 hatte der Journalist Maximilian Harden in seiner Zeitschrift Die Zukunft die Kamarilla um den Kaiser und damit das „persönliche Regiment“ des Kaisers angegriffen. Zu besonders harten Auseinandersetzungen führte seine Enthüllung, dass Philipp zu Eulenburg, ein enger Freund und Berater des Kaisers, homosexuell sei, was damals noch strafbar war, und einen Meineid geleistet habe, als er dies leugnete. Es folgten drei Sensationsprozesse gegen Eulenburg, die trotz Freisprüchen das Ansehen des Kaisers beschädigten.
In der Julikrise 1914 spielte Wilhelm II. eine ambivalente Rolle. Er versuchte einerseits, den Frieden zu retten – durch einen fieberhaften Briefwechsel mit dem russischen Zaren („Lieber Nicky!“ – „Lieber Willy!“), der bei der nunmehr objektiven Kriegsentschlossenheit sämtlicher Kontinental-Großmächte gar nichts bewirkte. Andererseits drängte er zum Losschlagen. Faktisch steigerte der Kaiser letztlich die Kriegsgefahr, denn er ermächtigte Bethmann Hollweg nach dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914, Österreich-Ungarn eine Blankovollmacht für dessen aggressive Politik gegen Serbien zu erteilen.
Obwohl die Stärke Deutschlands immer mehr zugenommen hatte, hielt Wilhelm, mit seinen Ängsten vor „Sozialismus“, „Gelber Gefahr“, „slawischer Flut“ und seiner Idee vom „unvermeidlichen Gegensatz von Slawen und Germanen“, die Zeit für die letzte Abrechnung gekommen. Dabei unterschätzte er den serbienfreundlichen Panslawismus, mit dem seit 1905 die russische Politik die Unruhen im eigenen Reich zu bändigen fest entschlossen war. Der deutsche Botschafter in Wien Heinrich von Tschirschky drängte auf Wilhelms Anweisung zu einer Aktion gegen Serbien: Er solle „mit allem Nachdruck erklären, dass man in Berlin eine Aktion gegen Serbien erwarte und daß es in Deutschland nicht verstanden würde, wenn wir die gegebene Gelegenheit vorübergehen ließen, ohne einen Schlag zu führen“.
Faktisch wurde nach der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien die Außenpolitik von Kaiser und Kanzler dem deutschen Generalstab überlassen: Die entschlossene Mobilmachung im Russischen Reich erlaubte es nach dem Urteil der Generalität dem Deutschen Reich nicht, mit der Kriegserklärung an Russland und Frankreich länger zu warten, da sonst der deutsche Plan, bei einem Zweifrontenkrieg erst schnell Frankreich, dann Russland zu schlagen, undurchführbar zu werden drohte.
Wilhelm mischte sich in der Folge nicht in militärische Zielsetzungen ein, überließ diese aber nicht verfassungsgemäß dem Reichskabinett, sondern der Obersten Heeresleitung.
Im Verlauf des Ersten Weltkrieges 1914–1918 wurde die Bedeutung des Kaisers immer geringer. Besonders mit der Dritten Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und dem dominierenden Ludendorff wurde er 1916–1918 zunehmend von den politisch-militärischen Entscheidungen ausgeschlossen. Jedoch schob die Heeresleitung ihm 1917 die Entscheidung über die Wiederaufnahme des U-Boot-Kriegs zu. Er schloss sich gegen den Rat seines Reichskanzlers der Meinung der Militärs an, was im April 1917 zur Kriegserklärung der USA führen sollte. Diese machten später die Abdankung des Kaisers zur Bedingung für die Eröffnung von Friedensverhandlungen. Ab 1917 hatte Ludendorff eine faktisch diktatorische Position. Auf weitere Reichskanzlerwechsel nahm Wilhelm II. keinen Einfluss, die 1918er Reform der Reichsverfassung in Richtung auf eine parlamentarische Monarchie wurde ohne ihn versucht. Die „stille Diktatur der Obersten Heeres-Leitung“ war auch durch die Schwäche Kaiser Wilhelms bedingt, der in den beiden letzten Kriegsjahren immer hilfloser agierte, was die Position der Obersten Heeres-Leitung stärkte.
Wilhelm sah sein protestantisches Kaisertum, vor allem im Gegensatz zum Haus Habsburg, zunehmend als seine Sendung an:
„Das ultrabigotte Haus Parma erstrebt eine konfessionelle Einkreisung des vom verhassten Hohenzollernhaus regierten Deutschlands. Unter Wiens Führung, sollen im Bündnis mit ihm, Italien – durch Rückgabe von Trentino und Tirol gewonnen – Frankreich, Polen und Litauen bis ans Meer vereinigt werden! Daher Polens Selbständigkeit und die Wiederaufnahme der in Homburg beseitigten austropolnischen Lösung. Daher ein selbständiges Litauen unter katholischen Fürsten; daher der Widerstand gegen unsere Angliederung des Baltikums inklusive Liv- und Estland, die Litauen angeschlossen und katholisiert werden sollten, um uns vom Meer abzuschneiden.“
Nach der gescheiterten Frühjahrsoffensive im Westen 1918, den Erfolgen der Westalliierten an der Westfront und dem drohenden Zusammenbruch des verbündeten Österreich-Ungarn verlangte die Oberste Heeresleitung am 28. September 1918, ein Waffenstillstandsgesuch an die Kriegsgegner zu richten und zugleich die Regierung des Deutschen Reichs auf eine breitere Grundlage zu stellen.
In mehreren diplomatischen Noten machte US-Präsident Woodrow Wilson die Gewährung des Waffenstillstands von einer Abdankung des Kaisers abhängig. Die USA weigerten sich, vorher Friedensverhandlungen aufzunehmen. Da sie infolge von Wilsons 14-Punkte-Programm als die gemäßigtste der kommenden Siegermächte galten, fand seine Forderung Widerhall in Deutschland.
Am 16. Oktober 1918 empfahl die Fortschrittliche Volkspartei Wilhelm II. die freiwillige Abdankung. Reichskanzler Prinz Max von Baden betrieb diese seit dem 28. Oktober; am Tag darauf reiste Wilhelm von Berlin nach Spa in Belgien. In Anbetracht der Stimmung im Volk und der Meinung des Kabinetts hielt Wilhelm die Armee noch am ehesten für loyal. Diese Hoffnungen zerschlugen sich im Laufe des Kieler Matrosenaufstands und der Novemberrevolution. Um radikaleren Forderungen der Revolutionäre die Spitze zu nehmen, verlangten auch die Sozialdemokraten am 7. November den Rücktritt von Kaiser und Kronprinz. Am Tag darauf sprach sich auch die Zentrumspartei für die Abdankung aus.
Die letzte, von den Ereignissen bereits überholte Initiative Wilhelms war der am späten Vormittag des 9. November gefasste Entschluss, zwar als Kaiser, nicht aber als preußischer König abzudanken. Die Revolution hatte mittlerweile Berlin erfasst. Während in Spa an einer entsprechenden Abdankungsurkunde gearbeitet wurde, traf die Nachricht ein, dass Max von Baden seinerseits die Abdankung Wilhelms als Kaiser und König bekanntgegeben und dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert das Amt des Reichskanzlers übertragen hatte. Durch dieses Manöver versuchte der badische Prinz in letzter Minute, den revolutionären Druck zu kanalisieren und die faktisch schon nicht mehr bestehende Monarchie als solche zu retten. Am selben Tag riefen Philipp Scheidemann (SPD) und Karl Liebknecht (Spartakusbund) die Republik aus.
Wilhelm floh nach Hollans.
Der Text der Abdankungsurkunde:
„Ich verzichte hierdurch für alle Zukunft auf die Rechte an der Krone Preussens und die damit verbundenen Rechte an der deutschen Kaiserkrone. Zugleich entbinde Ich alle Beamten des Deutschen Reiches und Preussens sowie alle Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften der Marine, des Preussischen Heeres und der Truppen der Bundeskontingente des Treueides, den sie Mir als ihrem Kaiser, König und Obersten Befehlshaber geleistet haben. Ich erwarte von ihnen, dass sie bis zur Neuordnung des Deutschen Reichs den Inhabern der tatsächlichen Gewalt in Deutschland helfen, das Deutsche Volk gegen die drohenden Gefahren der Anarchie, der Hungersnot und der Fremdherrschaft zu schützen.
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Kaiserlichen Insiegel. Gegeben Amerongen, den 28. November 1918. Wilhelm.“
Sein von ihm selbst ausgewählter Grabspruch lautet:
„Lobet mich nicht, denn ich bedarf keines Lobes;
Rühmet mich nicht, denn ich bedarf keines Ruhmes;
Richtet mich nicht, denn ich werde gerichtet werden.“
Er selbst hat verfügt, dass eine „Umbettung seiner Gebeine in deutsche Erde“ erst nach der Wiedererrichtung der Monarchie in Deutschland durchzuführen sei.
FÜNFTE SEKTION
DIE PÄPSTE DES XX. JAHRHUNDERTS
ERSTES KAPITEL
LEO XIII
Gioacchino Pecci entstammte dem niederen Landadel. Sein Vater war Kriegskommissar und Oberst. Bereits der Knabe galt als hochbegabt und entwickelte eine Vorliebe für das Lateinische. Er studierte von 1818 bis 1824 am Jesuitenkolleg in Viterbo, von 1824 bis 1832 folgte das Theologiestudium am Collegium Romanum. Die Ausbildung für den päpstlichen Diplomatendienst in Rom dauerte von 1832 bis 1837. Pecci promovierte 1835 zum Doktor beider Rechte.
1837 wurde der Theologe vom Kardinal Carlo Odescalchi zum Priester geweiht. Bereits von 1838 bis 1841 war er päpstlicher Delegat in Benevent, danach in der gleichen Funktion in Perugia.
1843 ernannte ihn Gregor XVI. zum Erzbischof von Tamiathis und sandte ihn als Nuntius nach Belgien, von wo er allerdings auf Wunsch des Königs wieder abberufen wurde. Von 1846 bis 1878 war er Bischof von Perugia. Am 19. Dezember 1853 wurde er zum Kardinal kreiert. Er vertrat dort eine konservative Linie. Zur Stärkung der Traditionen sollte die von ihm vorgenommene Reform des Theologiestudiums dienen.
In der Umbruchphase der Loslösung Umbriens vom Kirchenstaat war Pecci Anführer der Bischöfe gegen das italienische Staatskirchentum. Mitte der siebziger Jahre öffnete Pecci sich gegenüber der modernen Kultur und Technik. Nach dem Tod des Kardinalstaatssekretärs Giacomo Antonelli wurde er zum Camerlengo ernannt. In dieser Funktion hatte Pecci die Papstwahl von 1878 zu leiten, bei der er selbst als Kandidat am 20. Februar nach zweitägigem Konklave, dem ersten in der Sixtinischen Kapelle, zum Nachfolger von Pius IX. gewählt wurde.
Die Krönung Leos XIII. erfolgte am 3. März 1878 in der Sixtinischen Kapelle. Seine angeschlagene Gesundheit schien auf ein Übergangspontifikat hinzudeuten.
Die Wahl des Papstnamens Leo war als Zeichen der Verehrung für Leo XII. gewählt, aber auch ein Signal für den von ihm angestrebten Wandel in der Stellung des Papsttums.
Ohne mit der Politik seiner Vorgänger zu brechen, erstrebte er als Antwort auf die Nöte seiner Zeit die Restauration der von ihm als vorbildlich erachteten hochmittelalterlichen Ordnung von Kirche und Staat. Dabei stand die Reform des Theologiestudiums mit ihrer Orientierung an Thomas von Aquin an erster Stelle. Sein persönliches Vorbild war Innozenz III. 1891 ließ er dessen Leichnam nach Rom überführen und setzte ihn in San Giovanni in Laterano bei.
Die Hinwendung zum Mittelalter fand ihren symbolischen Ausdruck im Kirchenbau jener Zeit; vornehmlich wurden neogotische Gotteshäuser errichtet. Das nachrevolutionäre Europa aber verurteilte seine Konzeption eines universalen Papsttums mit geistlichem Führungsanspruch.
Die berühmte Enzyklika Rerum Novarum (1891) begründete den Ruf Leos XIII. als „Arbeiterpapst“. Der Papst entwickelte mit dieser Enzyklika eine Lehre von der menschlichen Person und ihren Rechten, von der Ordnung der Wirtschaft, von der Koalitionsfreiheit der Arbeiter und der sozialen Verpflichtung des Staates. Seitdem kann man von einer lehramtlich fundierten kirchlichen Soziallehre sprechen.
In der Auseinandersetzung mit dem italienischen Staat untersagte der Papst den Katholiken die parlamentarische Mitwirkung. Durch Zugeständnisse an Bismarck (gegen den Willen der Zentrumspartei) beendete Leo XIII. den Kulturkampf. Er forderte die französischen Katholiken zum Frieden auf, denn er wollte seine Kräfte auf die Auseinandersetzung mit Italien konzentrieren.
Bei der Beilegung der Streitigkeiten mit der Schweiz und den lateinamerikanischen Ländern war er erfolgreich. Er knüpfte engere Kontakte zu den USA und Russland, die Beziehungen zu England und Spanien verbesserten sich. Die Vermittlung im Konflikt um die Karolinen, ein geschickter taktischer Zug Bismarcks, wertete zusätzlich die internationale Stellung des Papstes auf.
Papst Leo XIII. hat sich auch für eine Beendigung der Schismen zu den Orthodoxen Kirchen und zu den Anglikanern engagiert, indem er von ihnen forderte, dass sie sein Primat anerkennen und die Anglikaner ihre Weihe-Riten für ungültig erklärten.
Leo XIII. forderte mit dem Apostolischen Schreiben Orientalium dignitas von den anderen Kirchen, dass sie sich in der Frage des Primats dem Papst unterordnen.
Die apostolische Bulle Apostolicae curae erklärt die Weihe von Diakonen, Bischöfen und Priestern in den Anglikanischen Kirchen für ungültig. Gleichzeitig werden die Weihen der Orthodoxen und Orientalischen Kirchen anerkannt. Die Freimaurerei wird in der gleichen Bulle verurteilt.
Im Bewusstsein der universalen Stellung des Papsttums verstärkte Leo XIII. den römischen Zentralismus. Die Bischöfe erhielten häufig genaue Instruktionen und päpstliche Interventionen in den einzelnen Ländern wurden immer häufiger. Dazu wurde die Stellung der Nuntien gegenüber den Bischöfen gestärkt. Auch die zunehmenden Pilgerfahrten nach Rom und Reformen der Orden (Franziskaner, Benediktiner) dienten zur Verstärkung der Bindungen von Klerus und Laien an den Heiligen Stuhl.
Unter Leo XIII. wurde die Weltmission auf eine neue organisatorische Grundlage gestellt. Es gab gleichsam einen Globalisierungsschub bei den kirchlichen Strukturen.
Der Papst unterstützte die historische Forschung und öffnete 1881 das Vatikanische Archiv für Gelehrte aller Konfessionen. 1891 gründete er die vatikanische Sternwarte in der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo, die großartige naturwissenschaftliche Forschungseinrichtung des Vatikans. In der Enzyklika Providentissimus Deus ermutigte Leo zum Bibelstudium, warnte dabei aber vor rationalistischen Interpretationen, die die Inspiration der Schrift leugnen.
Leo XIII. förderte die Verehrung des Herzens Jesu, dem er am 11. Juni 1899 die gesamte Menschheit weihte. Ebenso war er Förderer der Marienfrömmigkeit, insbesondere des Rosenkranzes. Im Zuge seiner Marienverehrung veröffentlichte er alleine sieben Enzykliken zum Rosenkranz.
ZWEITES KAPITEL
PIUS X
Geboren wurde Pius X. als Giuseppe Melchiorre Sarto in der Provinz Venetien gehört, die kirchlich dem Bischof von Treviso untersteht und bis 1866 unter österreichischer Herrschaft war. Nach zwei Jahren Volksschule wurde er auf das Gymnasium geschickt. 1850 trat er in das Priesterseminar zu Padua ein und empfing 1858 von Bischof Farina das Sakrament der Priesterweihe. Als Kaplan wirkte er in Venetien, ab 1867 war er Pfarrer. 1875 wurde er Domherr, 1884 Bischof von Mantua, 1893 Erzbischof und Patriarch von Venedig und Kardinal. Damit gehört Sarto zu den Päpsten, die ihre Laufbahn als einfache Seelsorger auf dem Lande begannen.
Nach viertägigem Konklave wurde er am 4. August 1903 im siebten Wahlgang zum Nachfolger von Papst Leo XIII. gewählt. Nachdem er gewählt war, nahm er den Namen Pius an, den zuletzt der Papst des Unfehlbarkeit-Dogmas, Pius IX., getragen hatte. Die Krönung fand am 9. August 1903 im Petersdom statt.
Pius X. begann sein Reform-Pontifikat mit dem Schreiben zur Hebung der Kirchenmusik. Darin schrieb er unter anderem vor, zur Besetzung von Sopran- und Altstimmen allein unkastrierte Knaben einzusetzen und verbot damit praktisch die Beschäftigung von Kastraten in Kirchenchören und damit auch im Sixtinischen Chor. Dieses endgültige Verbot entzog der Kastrationspraxis zur Förderung einer Sängerkarriere die letzte Basis.
Weiterhin reformierte Pius X. die Römische Kurie, widmete sich der Katechese und den Priesterseminaren und leitete eine Reformgesetzgebung ein. In Erinnerung bleiben wird Pius X. vor allem als der Papst, der den Modernismus in mehreren Veröffentlichungen verurteilt hat. Seine Enzykliken wurden von Land zu Land sehr unterschiedlich rezipiert. In Deutschland fassten sie ihre Gegner als eine Kampfschrift gegen Kants Erkenntnisphilosophie auf, die verhindern wollte, dass Luther und der ganze Protestantismus Eingang in die katholische Kirche finden würde.
Pius X. war ein großer Förderer der Katholischen Aktion. In seiner an die italienischen Bischöfe gerichteten Enzyklika über die Gründung und die Förderung der Katholischen Aktion legte er die Prinzipien und die Ziele fest und verurteilte den politischen und sozialen Modernismus.
Von der pastoralen Zielsetzung des kirchlichen Lehramts überzeugt, ging er einerseits als unbeugsamer antimodernistischer Papst in die Geschichte ein, andererseits führte er durchgreifende innerkirchliche Reformen von bleibendem Wert ein, insbesondere in Bezug auf die Eucharistie, für deren Feier er als Prinzip die lebendige Teilnahme des Volkes formulierte. Dieses Prinzip wurde später vom Zweiten Vatikanischen Konzil aufgegriffen. Berühmt wurde Pius X. durch seine Empfehlung des täglichen Kommunion-Empfangs sowie durch die Zulassung der Kinderkommunion. Sein Anliegen war es, der Religion innerhalb der Gesellschaft eine größere Wirksamkeit zu verschaffen.
In sein Pontifikat fallen mehrere Auseinandersetzungen mit europäischen Staaten, die dazu führten, dass die diplomatischen Beziehungen zu Spanien und Frankreich abgebrochen und 1905 das Konkordat mit Frankreich aufgehoben wurde, letzteres, weil das überwiegend katholische Land die weltweit erste Trennung von Staat und Kirche (laicité) eingeführte hatte.
Im Gegensatz zu seinem Nachfolger verfolgte Pius X. keine strikt neutrale Haltung zum beginnenden Ersten Weltkrieg. Er schätzte Kaiser Franz Joseph I. und legte „stets allergrößtes Gewicht auf die Erhaltung der besten Beziehungen zu Österreich“. Gleichzeitig näherte man sich dem deutschen Reich an. Hatte er am 24. Juni 1914 durch seinem Kardinalstaatssekretär mit Serbien ein Konkordat geschlossen, so meldete einen Monat später ein Telegramm des bayerischen Gesandten beim Heiligen Stuhl: „Der Papst billigt ein scharfes Vorgehen Österreichs gegen Serbien.“ Und auch der österreichische Gesandte bestätigte seinem Außenminister am 27. Juli, der Kardinalstaatssekretär hoffe, die Monarchie werde „bis zum Äußersten gehen“.
Pius starb am 20. August 1914 in Rom. Seine Grabinschrift nennt ihn sanft und von Herzen demütig. .
Pius X. wurde von Papst Pius XII. im Jahr 1951 selig- und im Jahr 1954 heiliggesprochen. Seitdem ist sein Leichnam in einem Glassarg im Petersdom aufgebahrt, das Gesicht durch eine Metallmaske verdeckt. Er ist der erste heiliggesprochene Papst seit Pius V. im 16. Jahrhundert.
DRITTES KAPITEL
BENEDIKT XV
Giacomo della Chiesa wurde in Genua als Sohn einer markgräflichen Adelsfamilie geboren. Im Jahre 1875 erlangte er den staatlichen Doktorgrad der Rechtswissenschaften. Erst danach gestattete ihm sein Vater das Studium für das Priesteramt; hierfür wurde er Seminarist in Rom. Er schloss die Schule der vatikanischen Diplomatie 1880 mit einem Doktorat in Kirchenrecht ab. Am 21. Dezember 1878 empfing er das Sakrament der Priesterweihe. Den größten Teil seiner kirchlichen Laufbahn verbrachte er im Vatikan.
Kardinal Rampolla, elf Jahre älter als er, war sein Freund und Mentor. Ihm diente er zunächst in Madrid und später ab 1887, als dieser zum Kardinalstaatssekretär an der Kurie berufen wurde, als Sekretär. Während dieser Zeit half della Chiesa bei der Vermittlung zur Lösung eines Konfliktes zwischen Deutschland und Spanien um die Karolinen-Inselgruppe im Pazifik sowie bei der Organisation von Hilfsaktionen während einer Choleraepidemie. Als Rampolla mit der Wahl von Pius X. aus dem bisherigen Amt ausschied und Kardinal del Val ihm nachfolgte, behielt Giacomo della Chiesa zunächst seine Position als Substitut des Staatssekretariats.
Aufgrund seiner engen Beziehung zum frankreichfreundlichen Rampolla, dem Architekten der vergleichsweise offenen Außenpolitik Leos XIII. und Favoriten im Konklave von 1903, wurde der fleißige, energische, aber wenig imposant auftretende della Chiesa bald durch die neue, konservativ geprägte Kirchenführung aus dem diplomatischen Dienst entfernt. Am 16. Dezember 1907 wurde er zum Erzbischof von Bologna ernannt. Die Bischofsweihe spendete Papst Pius X. ihm am 22. Dezember 1907 als Zeichen der Verbundenheit persönlich.
Erst am 25. Mai 1914 wurde della Chiesa als Kardinal in das Kardinalskollegium aufgenommen. Mit den neuen Würden ausgestattet, hielt er beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Rede, in welcher er die Position und Aufgaben der Kirche angesichts der Weltlage beschrieb, die Notwendigkeit von Neutralität und den Willen zum Frieden betonte und die Milderung der Leiden des Kriegs beschwor.
Am 3. September 1914 wurde della Chiesa zum Papst gewählt und nahm unter Bezugnahme auf das Andenken des Papstes Benedikt XIV., der auch Erzbischof von Bologna gewesen war, den Namen Benedikt XV. an.
Die Krönung erfolgte kriegsbedingt in aller Eile in der Sixtinischen Kapelle. Sein Stil war bisweilen ironisch, aber sehr durchsetzungsstark. Trotz bester Fähigkeiten konnte Benedikt XV. kaum öffentliche Popularität gewinnen.
Das Pontifikat Benedikts war geprägt durch den Krieg und dessen Auswirkungen. Benedikt XV., der persönlich eher auf Seiten Frankreichs stand, aber in seinen Positionen strikte Neutralität wahrte, organisierte humanitäre Hilfe und unternahm mehrere erfolglose Versuche zu Friedensverhandlungen. Das erste Rundschreiben erließ er hierzu wenige Tage nach seinem Amtsantritt. Im Jahre 1915 wandte er sich erneut in mit drastischen Worten an die kriegführenden Nationen.
Besonders bekannt wurde die Friedensnote Benedikts XV. am dritten Jahrestag des Kriegsbeginns (1. August 1917). Darin schlug der Papst als neutraler Vermittler allen kriegführenden Mächten Friedensverhandlungen vor. Er forderte Abrüstung, eine effektive internationale Schiedsgerichtsbarkeit zur Vermeidung künftiger Kriege und den Verzicht auf Gebietsabtretungen. Damit wurden vom Vatikan wesentliche Grundzüge der internationalen Friedensbewegung der Vorkriegszeit aufgegriffen. Der Plan wurde ausgeschlagen, da sich jede der Kriegsparteien als durch ihn benachteiligt ansah. Der Vatikan wurde sogar von den Verhandlungen zum Waffenstillstand ausgeschlossen. Seine am 23. Mai 1920 veröffentlichte Enzyklika war ein Plädoyer für die Versöhnung der Völker. Benedikt wandte sich darin gegen die harten Maßnahmen der Sieger im Friedensvertrag von Versailles.
Innerkirchlich beendete Benedikt XV. angesichts der neuen Weltlage die Exzesse des Antimodernismus, die das Ende der Ära Pius X. geprägt hatten. In den Missionsgebieten der Dritten Welt förderte er die Ausbildung des einheimischen Priesternachwuchses, der möglichst bald die europäischen Missionare ersetzen sollte.
Er unternahm Versuche, die Beziehungen zur antiklerikal eingestellten Regierung Frankreichs (1913–1920 unter Poincaré) zu verbessern, indem er die französische Nationalheldin Jeanne d’Arc im Mai 1920 heiligsprach. Die diplomatische Anerkennung des Heiligen Stuhls durch Frankreich und Großbritannien gilt als sein politischer Erfolg.
Die Friedensdoktrin Benedikts XV. wurde fester Bestandteil des kirchlichen Lehramts seiner Nachfolger. Das zweite vatikanische Konzil forderte schließlich, einen Zustand der Welt herbeizuführen, in dem der Krieg völlig untersagt wird.
Benedikt XV. starb 1922 im Alter von 67 Jahren. Er zählt nicht zu den bekannteren Päpsten des 20. Jahrhunderts. Seine friedensfreundliche Haltung unterschied sich von der Haltung der meisten anderen Monarchen und Staatsführer seiner Zeit.
In seiner Exhortation vom 28. Juli 1915 bezeichnete Benedikt XV. den Krieg als „grauenhafte Schlächterei“, was in einer deutschen Übersetzung zu einem „entsetzlichen Kampf“ abgemildert wurde. Karl Kraus übersetzte es (Die letzten Tage der Menschheit) als „fürchterliches Morden“.
„Im heiligen Namen Gottes, unseres himmlischen Vaters und Herrn, um des gesegneten Blutes Jesu willen, welches der Preis der menschlichen Erlösung gewesen, beschwören Wir Euch, die Ihr von der göttlichen Vorsehung zur Regierung der kriegsführenden Nationen bestellt seid, diesem fürchterlichen Morden, das nunmehr seit einem Jahr Europa entehrt, endlich ein Ziel zu setzen. Es ist Bruderblut, das zu Lande und zur See vergossen wird. Die schönsten Gegenden Europas, dieses Gartens der Welt, sind mit Leichen und Ruinen besät. Ihr tragt vor Gott und den Menschen die entsetzliche Verantwortung für Frieden und Krieg. Höret auf Unsere Bitte, auf die väterliche Stimme des Vikars des ewigen und höchsten Richters, dem Ihr werdet Rechenschaft ablegen müssen. Die Fülle der Reichtümer, mit denen Gott der Schöpfer die Euch unterstellten Länder ausgestattet hat, erlauben Euch gewiss die Fortsetzung des Kampfes. Aber um was für einen Preis? Darauf mögen die Tausende junger Menschenleben antworten, die alltäglich auf den Schlachtfeldern erlöschen.“
VIERTES KAPITEL
PIUS XI
Der Theologe Achille Ratti wurde 1879 zum Priester geweiht, als dreifach promovierter Gelehrter 1882 zum Professor in Mailand berufen und 1888 Bibliothekar an der Biblioteca Ambrosiana in Milano. Im Jahr 1907 wurde er deren Präfekt, aber schon 1911 von Papst Pius X. nach Rom berufen. Dort wurde er zunächst Vizepräfekt und 1914 Präfekt der Vatikanischen Bibliothek. Im Jahr 1918 ernannte ihn Papst Benedikt XV. zum Apostolischen Visitator in Polen, dann 1919 zum Nuntius in Warschau. Die Bischofsweihe erfolgte in Warschau. Als einziger akkreditierter Diplomat blieb der Nuntius in der polnischen Hauptstadt während der drohenden Belagerung durch die Rote Armee im Polnisch-Sowjetischen Krieg 1919–1921. Er gewann dadurch große Achtung unter Diplomaten und die Liebe der Polen. 1920 wurde Ratti zusätzlich Päpstlicher Kommissar für die Abstimmungsgebiete Oberschlesien, Ostpreußen und Westpreußen. In dieser Funktion verärgerte seine Neutralität beide Seiten, so dass er 1921 abberufen wurde, um Erzbischof von Milano und kurz darauf Kardinal zu werden. Nach dem überraschenden Tod des Papstes wurde der Mailänder Kardinal bereits am 6. Februar 1922 nach viertägigem Konklave zum Papst gewählt und am 12. Februar 1922 gekrönt.
Mit seiner Antritts-Enzyklika Ubi arcano Dei vom 23. Dezember 1922 verkündete der neue Papst sein Programm: Friede Christi in Christi Reich. Er machte sich ausdrücklich die pastoralen und politischen Anliegen seiner beiden Vorgänger zu eigen, verurteilte den sozialen Modernismus und entwickelte positive Leitlinien für eine friedfertige Gesellschaftsordnung auf dem Fundament der katholischen Religion.
Unter Pius XI. gelang die Lösung der „Römischen Frage“ nach der Souveränität des Kirchenstaates. Am 11. Februar 1929 schloss er mit Mussolini die Lateranverträge, durch welche die Vatikanstadt die Unabhängigkeit erlangte. Außerdem wurde in den Lateranverträgen auch der Katholizismus zur Staatsreligion erklärt, Religionsunterricht obligatorisch und antikirchliche Propaganda verboten. Die Beziehungen zur faschistischen Regierung verschlechterten sich aber zusehends. Dies führte 1931 zur Veröffentlichung der Enzyklika Non abbiamo bisogno.
Sein bedeutendstes Konkordat ist neben den Lateranverträgen wohl das Reichskonkordat mit dem Deutschen Reich vom 10. September 1933. Oft wird Pius XI. und auch seinem Nachfolger Pius XII. vorgeworfen, sich nicht deutlich genug gegen den Nationalsozialismus gewandt zu haben. Früh wurde er von Edith Stein auf die Judenverfolgung hingewiesen. Verteidiger weisen jedoch darauf hin, dass die 1937 erschienene auf Deutsch verfasste Enzyklika „Mit brennender Sorge“, die in Deutschland im Geheimen verteilt werden musste, sehr wohl die nationalsozialistische Ideologie verurteilte.
„Wer die Rasse, oder das Volk, oder den Staat, oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt oder andere Grundwerte menschlicher Gemeinschaftsgestaltung – die innerhalb der irdischen Ordnung einen wesentlichen und ehrengebietenden Platz behaupten – aus dieser ihrer irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge. Ein solcher ist weit von wahrem Gottesglauben und einer solchem Glauben entsprechenden Lebensauffassung entfernt.“
Ging diese Enzyklika vor allem auf den Bruch des Reichskonkordats durch die Nationalsozialisten ein, sollte in der danach geplanten Enzyklika Humani generis unitas („Die Einheit des Menschengeschlechts“) direkt die nationalsozialistische Rassenideologie verurteilt werden. Der Papst beauftragte einen deutschen Berater sowie zwei weitere Jesuiten mit einem Entwurf. Es kam allerdings nicht zur Veröffentlichung der Enzyklika, denn die Arbeiten an dem Text konnten nicht mehr zu Lebzeiten des Papstes abgeschlossen werden. Zudem waren die Auswirkungen einer Veröffentlichung ungewiss. Teile des Konzeptes der „verborgenen Enzyklika“ verwendete allerdings später Pius XII., nämlich in der Enzyklika Summi pontificatus. Auch nach der Enzyklika verurteilte Pius XI. die Judenverfolgung scharf. Zu Tränen gerührt, sagte er im September 1938 zu belgischen Pilgern, dass „kein Christ irgendeine Beziehung zum Antisemitismus haben darf“.
Noch 1937 wurde eine weitere Enzyklika, Divini redemptoris, veröffentlicht. Sie prangerte den Kommunismus an wie den Nationalsozialismus und ergriff angesichts der Kirchenverfolgung auch Partei gegen die „Gräuel des Kommunismus in Spanien“. Allerdings wird Pius XI. seit der Öffnung der vatikanischen Archive für die Zeit seines Pontifikats im Herbst 2006 „eine Distanz, wenn nicht gar Opposition des Papstes gegen den Generalísimo“ zugeschrieben. Es sei jedenfalls „falsch, den Ratti-Papst als Verbündeten Francos hinzustellen“.
FÜNFTES KAPITEL
PIUS XII
Eugenio Pacelli wurde am 2. März 1876 in Rom geboren und zwei Tage darauf in einer Pfarrkirche in Rom von seinem Onkel Don Giuseppe Pacelli getauft. Seine Familie war seit Generationen mit dem Vatikan verbunden.
Eugenio Pacelli besuchte das staatliche Gymnasium in Rom, war dort stets Klassenbester und wurde daraufhin als Hochbegabter von Kardinal Vannutelli, einem Freund seines Vaters, gefördert. Zu seinen Vorlieben gehörten Reiten, Schwimmen und klassische Musik; er spielte die Violine. Nach dem Schulabschluss 1894 studierte er zuerst Philosophie an der Päpstlichen Universität Gregoriana, anschließend katholische Theologie am päpstlichen Institut Sant’Apollinare. Er war ein Jahr lang Gasthörer an der staatlichen Universität La Sapienza. Seit dem zweiten Semester durfte er wegen Gesundheitsproblemen bis zum Examen 1899 mit päpstlicher Sondererlaubnis zuhause wohnen.
Am 2. April 1899, einem Ostersonntag, weihte ein Vertreter des Kardinalvikars von Rom und lateinischer Patriarch von Antiochien Pacelli zum Priester. 1901 promovierte Pacelli zum Doktor der Theologie. Noch im selben Jahr trat er auf Empfehlung Vannutellis in den Dienst des vatikanischen Kardinalstaatssekretärs del Val. 1902 promovierte er zum Doktor der beiden Rechte. Damit hatte er sich für eine Karriere als Kirchendiplomat in seiner Familientradition entschieden. Am 3. Oktober 1903 wurde er Sachbearbeiter in der neu geschaffenen Kongregation für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten, wobei er das erste gesamtkirchliche Gesetzbuch, mit ausarbeitete. 1908 lehnte Pacelli auf Wunsch des Papstes eine Berufung an die Katholische Universität von Amerika in Washington ab. 1909 wurde er Professor an der Päpstlichen Diplomatenakademie in Rom. Von 1909 bis 1914 war er zudem Professor für kanonisches Recht am Institut Sant’Apollinare.
Seit 1912 war Pacelli Konsultor für das Heilige Offizium. Im Juni 1914 erreichte er ein Konkordat mit dem damaligen Königreich Serbien und erwarb sich damit den Ruf eines Spezialisten für solche Verträge.
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 übertrug Papst Benedikt XV. Pacelli die Leitung humanitärer Aufgaben des Vatikans. Er sammelte bis zum Kriegsende Angaben über Kriegsgefangene aller Kriegsparteien und bereitete deren Austausch vor.
Am 20. April 1917 ernannte der Papst ihn zum Nuntius für die Apostolische Nuntiatur in München. Da es damals in Preußen keinen Nuntius gab, vertrat er den Vatikan im gesamten Deutschen Reich. Seit Juni 1917 sollte er bei der deutschen Regierung für eine päpstliche Friedensinitiative werben. Vom 26. bis 28. Juni verhandelte er dazu mit Reichskanzler von Bethmann Hollweg, am 29. Juni empfing ihn Kaiser Wilhelm II. Am 24. Juli unterbreitete Pacelli dem Kaiser einen Vermittlungsentwurf mit sieben Friedensbedingungen und beantwortete dessen Einwände dagegen. In der durch seinen Bericht genährten Annahme, der Kaiser sei kompromissbereit, veröffentlichte der Papst am 1. August 1917 seinen Friedensappell. Doch alle Kriegsparteien lehnten die darin enthaltenen Vorschläge ab. Daraufhin nahm Pacelli von der Linie Benedikts, der Vatikan müsse durch eigene Initiativen aktiv für Frieden eintreten, Abstand und vertrat fortan eine strikte Neutralität in politischen Fragen.
Am 29. April 1919 wurde die Nuntiatur in München von Anhängern der Münchner Räterepublik besetzt. Pacelli wurde mit dem Revolver bedroht und sein Dienstwagen beschlagnahmt, aber, nach etlichen Protesten, einige Tage später beschädigt zurückgegeben. Pacelli maß diesem Vorgang jedoch „keinen antireligiösen Charakter“ bei und betrachtete ihn als Bagatelle.
In seinen Berichten an den Vatikan übernahm Pacelli Polemiken gegen die Räterepublik als „sehr harte russisch-jüdisch-revolutionäre Tyrannei“.
Pacellis Haltung zur Räterepublik war so: „Obwohl der Verlauf der Revolutionsmonate der antikommunistischen und – wegen der Beteiligung jüdisch-russischer Revolutionäre – der antisemitischen Propaganda in Bayern starken Auftrieb gab, scheint die von Zeitgenossen bewunderte persönliche Bescheidenheit, Geduld und Zurückhaltung Pacellis glaubwürdiger als der Versuch, den späteren Papst bereits in den ersten Jahren seines Münchner Aufenthaltes als frühen Antisemiten entlarven zu wollen.“ Man unterstreicht dies unter anderem mit Pacellis Intervention zugunsten der jüdischen Gemeinde von München, das Einfuhrverbot dringend benötigter Palmwedel für das Laubhüttenfest aus Italien – auch entgegen kanonischem Recht – zu umgehen.
Am 22. Juni 1920 wurde Pacelli zum Nuntius für die Weimarer Republik ernannt. Mit Besorgnis beobachtete er seit März 1923 antikatholische Tendenzen rechtsgerichteter Protestanten, die die Jesuiten und Juden als gemeinsame Feinde des Deutschtums ansahen und bekämpften, und warnte deshalb vor ökumenischer Annäherung. Er erlebte den Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8./9. November 1923 in München mit, berichtete dem Vatikan direkt davon und hob dessen antikatholischen Charakter hervor. Im Mai 1924 nannte er den Nationalsozialismus die „vielleicht gefährlichste Häresie unserer Zeit“.
Am 18. August 1925 verlegte er seinen Amtssitz in das neue Palais der Reichs-Nuntiatur in Berlin-Tiergarten. Er sprach inzwischen fließend Deutsch und stellte deutsches Personal an, das bis zu seinem Lebensende bei ihm blieb. Von 1918 bis 1930 verbrachte er seine Sommerferien am Bodensee bei den Lehrschwestern vom Heiligen Kreuz. Aus dieser Kongregation kam seine lebenslange Haushälterin und Sekretärin Pascalina.
Nach dem Amtsantritt des neuen Papstes Pius XI. handelte er für diesen Konkordate zwischen dem Vatikan und den Ländern Bayern und Preußen aus. Ein Konkordat mit Baden bereitete er vor; das angestrebte Konkordat mit dem Deutschen Reich kam nicht zustande. Im August 1929 sandte er dem Wiener Nuntius einen ausführlichen Bericht über Adolf Hitler, den er als „berüchtigten politischen Agitator“ darstellte, dessen Putschversuch zu Recht gescheitert sei. Nach der Erinnerung von Pascalina soll Pacelli 1929 über Hitler gesagt haben:
„Dieser Mensch ist völlig von sich selbst besessen, alles, was nicht ihm dient, verwirft er, was er sagt und schreibt, trägt den Stempel seiner Selbstsucht, dieser Mensch geht über Leichen und tritt nieder, was ihm im Weg ist – ich kann nur nicht begreifen, dass selbst so viele von den Besten in Deutschland dies nicht sehen oder wenigstens aus dem, was er schreibt und sagt, eine Lehre ziehen. – Wer von all diesen hat überhaupt das haarsträubende Buch ‚Mein Kampf‘ gelesen?“
Am 9. Dezember 1929 wurde Pacelli aus Deutschland abberufen und vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg verabschiedet. Am 16. Dezember ernannte der Papst ihn zum Kardinal. Er bat den Papst mehrfach vergeblich, Diözesanbischof eines italienischen Bistums werden zu dürfen.
Der Papst ernannte Pacelli am 7. Februar 1930 zum Kardinalstaatssekretär, am 25. März zudem zum Erzpriester und Vermögensverwalter des Petersdoms. Fortan war Pacelli der wichtigste außenpolitische Berater und Mitarbeiter des Papstes. Er traf den Papst das ganze Jahr hindurch etwa alle zwei Tage zu einer Audienz über alle aktuellen Fragen, deren Ergebnisse er ebenso wie seine Antworten auf diplomatische Anfragen für den Privatgebrauch notierte. Diese seit 2003 zugänglichen Notizen erlauben Einblicke in seine Amtsführung und Entscheidungen. Sein Amt erhielt zusätzliches Gewicht, weil die für besondere außenpolitische Ereignisse zuständige Kongregation für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten von 1930 bis 1939 kaum noch einberufen wurde.
Am 12. Oktober 1932 unterschrieb Pacelli das Konkordat mit Baden, am 5. Juni 1933 das Konkordat mit der Republik Österreich und am 8. Juli das Reichskonkordat mit der nationalsozialistischen Regierung, das am 20. Juli in Kraft trat. Vorausgegangen waren Hitlers kirchenfreundliche Regierungserklärung, die Rücknahme der Dekrete der deutschen Bischöfe, die die Unvereinbarkeit von Katholizismus und Nationalsozialismus erklärt hatten, die Zustimmung der katholischen Zentrumspartei zum Ermächtigungsgesetz, ihre Selbstauflösung und die absehbare Gleichschaltung der katholischen Verbände. Darum wollten Pius XI. und Pacelli nun staatliche Garantien für die katholische Religionsausübung: Dafür verpflichtete sich der Vatikan wie schon beim Italien-Konkordat mit Mussolini zu politischer Neutralität. Dies kam Hitlers Absicht entgegen, politische Aktivitäten der deutschen Bistümer, katholischen Orden und Verbände rechtlich zu unterbinden und international Prestige zu gewinnen.
Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs vom 12. März 1938 versicherten Österreichs katholische Bischöfe Hitler am 18. März ihre bedingungslose Loyalität. Sie erhofften sich davon die Beibehaltung des Österreich-Konkordats. Daraufhin veröffentlichte Pacelli am 6. April 1938 eine Richtigstellung: Der Vatikan habe die österreichische Bischofserklärung nicht autorisiert. Zudem erklärte er US-Präsident Franklin D. Roosevelt am 19. April 1938 in einem geheimen Memorandum: Der Vatikan werde niemals bereit sein, einem Abkommen von Bischöfen oder Regierungen zuzustimmen, das „in Gegensatz zum göttlichen Gebot sowie zur Freiheit und zu den Rechten der Kirche“ stehe. Die deutsche Regierung habe das Reichskonkordat und das Bemühen des Vatikans zum Interessenausgleich fortlaufend missachtet. In den Folgemonaten hielt Hitler seine Zusage, das Österreich-Konkordat zu respektieren, nicht ein und dehnte das Reichskonkordat auch nicht auf Österreich aus.
Bis 1939 bereiste Pacelli viele Staaten Europas und Amerikas, darunter 1934 Südamerika und im Oktober und November 1936 die Vereinigten Staaten. So wurde er international bekannt. Pacelli vermittelte auch im Konflikt der römisch-katholischen Kirche mit der Regierung Mexikos und im Spanischen Bürgerkrieg. Die Ermordung Tausender katholischer Priester in dessen Verlauf verstärkte im Vatikan die Furcht vor dem Bolschewismus. Am 19. März 1937 erschien die Enzyklika Divini redemptoris, die den „atheistischen Sowjetkommunismus“ verdammte und Staaten nannte, wo Christen aufgrund kommunistischer Ideologie verfolgt wurden.
Gegen häufige Übergriffe der SA und Gestapo auf katholische Gruppen hatte Pacelli oft päpstliche Protestnoten an die Reichsregierung gesandt. Im Juli 1936 informierte er die Deutsche Bischofskonferenz von der Absicht des Papstes, einen Hirtenbrief zu diesen Rechtsbrüchen zu erlassen. In einem Vorgespräch verlangten die deutschen Bischöfe jedoch eine Enzyklika. Pacelli wollte jede offizielle Verurteilung des Nationalsozialismus verhindern, die als einseitige politische Stellungnahme wirken konnte, und stimmte diesem Verlangen erst zu, nachdem der Papst eine entsprechende Verurteilung des Kommunismus beschlossen hatte. Er erstellte dann die Schlussfassung der Enzyklika Mit brennender Sorge, die am 21. März 1937 erschien.
Dabei überarbeitete er den Vorentwurf von Kardinal Faulhaber mit Hilfe eines ihm vorliegenden Gutachtens, in dem das Heilige Offizium nationalsozialistische Ideologien als Irrlehren definiert und zurückgewiesen hatte. Dieser geheime Syllabus wurde erst 2004 durch Öffnung der Vatikanarchive bis 1939 bekannt.
Pacelli stellte Faulhabers Entwurf eine Einleitung voran, die die Verstöße des NS-Regimes gegen das Reichskonkordat beklagte. Faulhabers Einleitung hatte von „großer Sorge“ über „die Entwicklung des kirchlich religiösen Lebens“ in Deutschland gesprochen; Pacelli änderte dies zu „brennender Sorge und steigendem Befremden“ über „den Leidensweg der Kirche, die wachsende Bedrängnis der ihr in Gesinnung und Tat treu bleibenden Bekenner und Bekennerinnen“.
Um dem NS-Regime keinen Vorwand zu geben, das Konkordat aufzukündigen, betonte Pacellis Einleitung, es sei auf dessen Wunsch zustande gekommen. Die Regierung allein sei für die Vertragsbrüche verantwortlich:
„Wenn der von Uns in lauterer Absicht in die deutsche Erde gesenkte Friedensbaum nicht die Früchte gezeitigt hat, die Wir im Interesse Eures Volkes ersehnten, dann wird niemand in der weiten Welt, der Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu hören, heute noch sagen können, die Schuld liege auf Seiten der Kirche und ihres Oberhauptes. Der Anschauungsunterricht der vergangenen Jahre klärt die Verantwortlichkeiten.“
Im zweiten, theologischen Teil ergänzte Pacelli einen Passus zur katholischen Kirchenlehre, der mit dem Satz begann:
„Die von dem Erlöser gestiftete Kirche ist eine – für alle Völker und Nationen.“
In ihr sei Raum zur Entfaltung der besonderen Eigenschaften jeder Volksgemeinschaft, deren Vielfalt die Kirche begrüße und fördere. Gottes Einheitsgebot setze der Trennung der Nationen in der Kirche eine Grenze. Dies stellte die katholische Alternative zur nationalsozialistischen Rassenlehre heraus, die die Einheit der Menschheit bestritt und sie in feindliche Rassen und Völker zerteilte.
Ferner fügte er den Satz ein:
„Wer die Rasse oder das Volk oder den Staat oder die Staatsform zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und verfälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge.“
Pacelli nannte den Nationalsozialismus nicht beim Namen, bezeichnete aber die Vorstellung eines „nationalen Gottes“ und einer „Nationalreligion“ als Irrlehre. Dass der kirchliche Autoritätsanspruch sich auch auf die Geltung und Bewahrung der Menschenrechte erstreckte, wie es das Gutachten des Offiziums betonte, ließ Pacelli fort und notierte dazu:
„Der Papst will die Hoffnung, so gering sie auch sein mag, nicht ausschließen, dass die Situation sich bessern könnte.“
Die Pacelli-Fassung verschärfte Faulhabers Entwurf und stellte die lehramtliche Kritik an der Ideologie des Nationalsozialismus genauer heraus.
Botschafter, Bischöfe und Nuntii informierten Pacelli laufend, frühzeitig und detailliert über die Lage in Deutschland, besonders über die sich verschärfende Judenverfolgung. Seit Januar 1933 baten viele Prominente ihn darum, auf den Papst einzuwirken, um die Judenverfolgung öffentlich anzuprangern. Doch Pacelli sprach dieses Thema in seinen regelmäßigen Audienzen mit Pius XI. 1933–1939 nach Aktenlage fast nie an und ließ alle Bittbriefe bis auf einen unbeantwortet.
Am 1. April 1933 – dem Tag des Judenboykotts – beauftragte der Papst ihn damit, zu sondieren, „ob und wenn ja was“ der Heilige Stuhl gegen „antisemitische Exzesse in Deutschland“ tun könne. Pacelli notierte dazu: „Es könnten Tage kommen, in denen man sagen können muss, dass in dieser Sache etwas gemacht worden ist.“ Auf seine Anfrage wies Nuntius Cesare Orsenigo am 8. April auf das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ hin: Fortan sei Eintreten für die Juden identisch mit Protest gegen ein Staatsgesetz. Der Vatikan könne sich unmöglich in innere Staatsangelegenheiten einmischen, zumal er vorher nicht gegen „antideutsche Propaganda“ protestiert habe. Er müsse sich heraushalten und Stellungnahmen zur „Judenfrage“ den deutschen Bischöfen überlassen. Dem folgte Pacelli, obwohl auch die deutschen Bischöfe nicht gegen Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte protestierten, sondern allenfalls für getaufte Juden eintraten.
Am 9. April 1933 appellierte der mit dem Papst seit 1920 befreundete Wiener Rabbiner und Hebraist Arthur Zacharias Schwarz über Pacelli an Pius XI.
„Wenn es Eurer Heiligkeit möglich wäre, auszusprechen, dass auch das gegen die Juden geübte Unrecht ein Unrecht bleibt, so würde ein solches Wort den Mut und die Moral von Millionen meiner jüdischen Brüder erhöhen.“
Am 22. April telegrafierte der New Yorker Rabbiner William Margolis an ihn:
„Im Namen von all dem, was der Christenheit heilig ist, flehe ich Sie an, Ihre Stimme zu erheben, um Hitlers Verfolgungen klar zu verurteilen. Ihre Kritik wird weitreichenden Einfluss auf die deutsche Regierung haben und zu einer Änderung der Politik führen.“
Nach seinen Notizen legte Pacelli dem Papst keine dieser Bitten vor, nur die von Edith Stein. Die damals im Vatikan unbekannte Katholikin jüdischer Herkunft schilderte eindringlich die Judenverfolgung und machte die NS-Regierung für viele Selbsttötungen unter den Verfolgten verantwortlich. Diese Verantwortung falle auch „auf die, die dazu schweigen“. Nicht nur Juden, auch Tausende Katholiken warteten seit Wochen darauf, „dass die Kirche Jesu Christi ihre Stimme erhebe“, um der Judenverfolgung durch eine sich christlich nennende Regierung „Einhalt zu tun“. Erzabt Raphael Walzer übergab ihren Brief Pacelli am 12. April 1933 persönlich. Am 20. April antwortete dieser an Walzer, er habe diesen Brief „pflichtgemäß Seiner Heiligkeit vorgelegt“; er bete mit dem Papst um den Schutz der Kirche und den Mut aller Katholiken, die aktuellen Probleme zu überstehen. Zur Judenverfolgung und Bitte um einen Papstprotest nahm er nicht Stellung.
Auch zu den Nürnberger Gesetzen und den Novemberpogromen 1938 ist weder eine interne noch öffentliche Reaktion Pacellis, der genau über die Vorgänge informiert war, und keine Unterredung mit dem Papst belegt. Bei einem Treffen mit deutschen Kardinälen im März 1939 erklärte er dies mit dem Festhalten am Reichskonkordat:
„Die Welt soll sehen, dass wir alles versucht haben, um in Frieden mit Deutschland zu leben.“
Jedoch bemühte er sich im päpstlichen Auftrag vergeblich um Aufnahme verfolgter, besonders getaufter Juden in außereuropäischen Staaten.
Pius XI. plante seit Sommer 1938 ein Lehrschreiben gegen den Rassismus und Antisemitismus, zu dem er weder das zuständige Heilige Offizium noch Pacelli beauftragte. Zudem wollte er am 11. Februar 1939, dem Zehnjahrestag der Lateranverträge, die Leugnung der nationalsozialistischen Judenverfolgung in der italienischen Presse und die rassistischen Gesetze des italienischen Faschismus vom Juli 1938 als Bruch des Italien-Konkordats öffentlich anprangern. Pacelli dagegen wollte diesen Konfrontationskurs vermeiden, um das Konkordat nicht zu gefährden und Mussolini als Vermittler gegenüber Hitler zu behalten. Als Pius XI. am 10. Februar 1939 starb, ließ Pacelli die schon gedruckten Exemplare der geplanten Papstrede vernichten, wie es seine Aufgabe als Camerlengo war.
Pacelli wurde am 2. März 1939, seinem 63. Geburtstag, im dritten Wahlgang des Konklave zum Papst gewählt und am 12. März auf der Loggia des Petersdoms gekrönt. Seine Wahl wurde weltweit begrüßt. Die New York Times sah ihn als Wunschnachfolger seines Vorgängers „Seite an Seite mit den demokratischen Völkern, um die Unabhängigkeit des menschlichen Geistes und die Brüderlichkeit der Menschheit gegen die ungeistigen Methoden neuzeitlicher Barbarei zu verteidigen“.
Das NS-Regime sandte als eine von sehr wenigen Regierungen keine Delegation zur Amtseinführung des neuen Papstes. Im Völkischen Beobachter hieß es am 3. März 1939:
„Wir in Deutschland haben von diesem Papst nichts zu erwarten! Die Kirche unter Pius XII. wird mehr als sonst Politik machen, aber nicht so roh und polternd wie unter Pius XI., feiner, diskreter und steiler.“
In einer Privataudienz versicherte Pius XII. dem deutschen Botschafter beim Vatikan schon am 3. März 1939 seinen „heißen Wunsch für Frieden zwischen Kirche und Staat“. Dabei werde die Regierungsform der Diktatur nicht stören, da die Kirche nicht berufen sei, zwischen politischen Systemen zu wählen.
Gleich zu Beginn seines Pontifikats wurde Pius XII. mit der Kriegsgefahr konfrontiert. Am 15. März 1939 brach Hitler das Münchner Abkommen und ließ die „Rest-Tschechei“ besetzen. Daraufhin forderten Vertreter der Westmächte, darunter der Erzbischof von Canterbury, Pius auf, einen internationalen Protest aller Kirchen gegen die Diktaturen Europas anzuführen. Auch die katholischen Bischöfe Frankreichs erwarteten seit Juni 1939 eine päpstliche Verurteilung von Hitlers Aggressionspolitik. Als diese ausblieb, übten katholische Zeitungen dort offen Kritik an seiner Amtsführung.
Nachdem Hitler am 28. April 1939 den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt und das deutsch-britische Flottenabkommen gekündigt hatte, schlug Pius eine europäische Fünfmächtekonferenz zur Beilegung der Konflikte vor. Auch wegen seiner vorherigen Passivität reagierte keine der angesprochenen Regierungen positiv darauf. Über die Nuntiaturen versuchte Pius weiter, Einfluss zu nehmen, und erfuhr so im Mai, Großbritannien werde Polen auf jeden Fall beistehen, falls Hitler Danzig besetzen werde. Vom 24. bis 28. August verlangte Frankreichs Botschafter beim Vatikan dreimal, der Papst müsse den bevorstehenden deutschen Angriff auf Polen, ein katholisches Land, verdammen.
Pius hielt dagegen an der politischen Neutralität fest und ließ offen, auf welcher Seite im Kriegsfall Recht und Moral stünden. Er erklärte demgemäß in einer Rundfunkrede am 24. August: Mit dem Frieden sei nichts verloren, aber alles könne mit dem Krieg verloren werden. Hinter den Kulissen drängte er Mussolini, mäßigend auf Hitler einzuwirken. Am 31. August erwog er, direkt nach Berlin und Warschau zu reisen, appellierte dann aber von Rom aus an die deutsche und polnische Regierung, keine Zwischenfälle zu provozieren und die Spannungen nicht zu verschlimmern. Zu spät – denn beide Seiten hatten die Mobilmachung ihrer Armeen schon eingeleitet.
Wie sein Vorgänger Benedikt XV. im Ersten, so veröffentlichte Pius XII. im Zweiten Weltkrieg allgemeine Friedensappelle, wobei er klare Schuldzuweisungen konsequent vermied und keine Kriegspartei namentlich nannte. Am 14. September 1939 beklagte er im Vatikan erstmals den Kriegsausbruch und erklärte seine Absicht, einen für alle Beteiligten ehrenhaften Frieden zu vermitteln. Dies wiederholte er bis zum Kriegsende öfter.
Am 26. September 1939 nannte er den Krieg eine „entsetzliche Gottesgeißel“ und hoffte auf Frieden durch „versöhnenden Ausgleich“, der auch der katholischen Kirche künftig „größere Freiheit“ schenken möge. Am 30. September, nach der Kapitulation der meisten polnischen Truppen, lobte er die „großen Taten“ der Polen und hoffte, trotz bekannter Absichten der „Feinde Gottes“ möge das „katholische Leben“ Polens weiterbestehen.
Am 20. Oktober 1939 erschien seine erste Enzyklika Summi pontificatus. Sie verurteilte Staats-Vergötzung, Verlust moralischer Normen und religiöse Leere und erklärte diese aus der weltweiten Nichtachtung des Christentums. Sie betonte die Gleichheit aller Menschen, ermahnte Staaten zu Verhandlungen und Verträgen und warb für weltweites Mitgefühl mit den Polen, deren Blutopfer eine „erschütternde Anklage“ erhöben. Nur dieses Mal nannte er ein Volk namentlich und verurteilte so implizit den deutschen Angriffskrieg und die Besetzung Polens.
Das NS-Regime verbot am 10. November 1939 nicht die Verlesung, aber die Verbreitung und Diskussion der Enzyklika. Französische Flugzeuge warfen 88.000 Flugblätter mit dem Text über deutschen Städten ab, während die Deutschen eine gefälschte Version, in der „Deutschland“ „Polen“ im Text ersetzte, in Polen verteilten. Pius veranlasste auch humanitäre Hilfen für Kriegsopfer; sein Hilfswerk leitete Giovanni Battista Montini, der spätere Papst Paul VI.
Auf päpstliche Anweisung sendete Radio Vatikan am 21. Januar 1940:
„Die Bedingungen des religiösen, politischen und wirtschaftlichen Lebens haben das edle polnische Volk, insbesondere in den von den Deutschen besetzten Gebieten, in einen Zustand von Terror, Abstumpfung und, wir möchten sogar sagen: von Barbarei versetzt. Die Deutschen benutzen dieselben Mittel und vielleicht noch schlimmere als die Sowjets.“
Am 10. Mai 1940 sandte Pius XII. nach dem deutschen Angriff auf die Beneluxstaaten Sympathietelegramme an ihre Monarchen. Am Folgetag notierte er für seine Mitarbeiter den Inhalt eines Gespräches mit dem aus Warschau zurückgekehrten italienischen Konsul:
„Er bestätigte – in voller Übereinstimmung mit seiner Gattin –, dass es unmöglich ist, sich die Grausamkeit und den Sadismus vorzustellen, mit denen die Deutschen oder, besser gesagt, die Gestapo – geführt von Himmler, einem wirklichen Verbrecher, und zusammengesetzt aus widerlichen Individuen – das polnische Volk quälen und es zu zerstören versuchen.“
Am 12. Mai 1940 verteidigte er gegenüber dem italienischen Botschafter Alfieri seine Sympathietelegramme und ging auf die Lage in Polen ein:
„Sie kennen genau und vollständig die fürchterlichen Dinge, die in Polen geschehen. Wir müssten feurige Proteste dagegen erheben, und das einzige, was Uns davon abhält, ist das Wissen, dass Unser Sprechen den Zustand dieser Unglücklichen nur noch verschlimmern würde.“
Angesichts des deutschen Einmarsches in die Sowjetunion 1941 interpretierte Pius XII. die Enzyklika Divini Redemptoris seines Vorgängers Pius XI. neu. In ihr hatte der Papst den Katholiken eine Zusammenarbeit mit dem Kommunismus untersagt. Neu an der Deutung Pius’ XII. war, dass er zwischen einem Volk und seiner jeweiligen Regierung streng differenzierte. Diese neue Interpretation ließ Pius XII. über diplomatische Kanäle den amerikanischen Bischöfen übermitteln, mit der Folge, dass diese nun die von ihnen lange abgelehnte Hilfe der USA für die bedrängte Sowjetunion akzeptierten und die amerikanischen Waffen- und Ausrüstungslieferungen unterstützten. Ein internes Dokument enthüllt die Hoffnungen, die der Vatikan damit verband: Kurz nach dem Beginn des Überfalls rechnete der Papst damit, dass Hitler Stalin schnell bezwingen könnte, da die Blitzkriegtaktik erneut aufzugehen schien. Eine solche Entwicklung könne für die Kirche nichts Gutes bedeuten, da der Nationalsozialismus nach dem Endsieg das Christentum verdrängen wolle. Eine Beeinflussung des Krieges zugunsten Stalins wollte Pius aber ebenfalls nicht bewirken, denn auch von diesem Diktator sei eine Kirchenverfolgung zu erwarten, wenn er weitere europäische Länder unter seine Kontrolle gebracht habe. Die im Vatikan erhoffte Entwicklung bestand darin, dass die amerikanische Waffenhilfe für Stalin nur so zaghaft ausfalle, dass sowohl das deutsche Reich wie auch die Sowjetunion ihre Kräfte in einem langen Krieg erschöpfen würden. Der Kommunismus sollte besiegt werden, der Nationalsozialismus stark geschwächt aus der Auseinandersetzung hervorgehen und sodann „zur Strecke gebracht werden“.
Die Nationalsozialisten sahen in Pius XII. einen ihrer Gegner. So schrieb Joseph Goebbels am 9. Januar 1945 in sein Tagebuch: „Die ‚Prawda‘ leistet sich wieder einen starken Ausfall gegen den Papst. Es mutet geradezu humoristisch an, dass der Papst hier als Faschist angeprangert wird, der mit uns im Bunde stände, um Deutschland aus der schwierigen Situation zu retten.“
Am 27. November 1940 publizierte das Heilige Offizium einen Dekrets-Entwurf, der die seit Januar 1940 laufende Aktion – die vom NS-Regime angeordnete Ermordung Kranker und Behinderter – als „unmenschliches und frevelhaftes Verbrechen“ verurteilte. Pius XII. strich diese vier Worte, da sie ihm, obwohl gerechtfertigt, zu polemisch erschienen, und nannte die Morde „nicht erlaubt“. Sie seien Verstöße gegen das „natürliche und positive göttliche Recht“. Am 2. Dezember erschien das Dekret in seiner abgemilderten Fassung.
Dass entschiedenes Eintreten für die bedrohten Kranken und Behinderten die deutsche Regierung zur Mäßigung nötigen konnte, bewies Clemens August Graf von Galen, der Bischof von Münster mit drei Predigten im Juli und August 1941 gegen die sogenannte Euthanasie. Das NS-Regime stellte daraufhin diese Morde – wenigstens zeitweise – ein, und das, obwohl das deutsche Episkopat von Galens Haltung nicht aktiv unterstützte. Pius XII. hatte 1933 als Kardinalstaatssekretär gegen die Wahl von Galens zum Bischof von Münster votiert, begrüßte nun aber dessen öffentlichen Protest in einem Brief an Bischof Konrad von Preysing vom 30. September 1941 als Beweis dafür, „wie viel sich durch offenes und mannhaftes Auftreten innerhalb des Reichs immer noch erreichen lässt“. Zugleich erklärte er, dass er selbst nicht ebenso protestieren werde:
„Wir betonen das, weil die Kirche in Deutschland auf Euer öffentliches Handeln umso mehr angewiesen ist, als die allgemeine politische Lage dem Oberhaupt der Gesamtkirche in seinen öffentlichen Kundgebungen pflichtmäßige Zurückhaltung auferlegt.“
1946 ernannte Pius XII. von Galen auch wegen seiner gleichsam stellvertretenden Proteste zum Kardinal.
Berichte über Deportationen von Juden in den Osten bekam der Vatikan zum ersten Mal von Kardinal Innitzer aus Wien. Später erreichten den Vatikan ähnliche Meldungen von Nuntiaturen oder Apostolischen Gesandtschaften aus anderen Ländern. Außerdem wurden regelmäßig BBC-Meldungen in den Vatikan gegeben. Hervorzuheben ist das Memorandum von Gerhard Riegner, der das Büro des Jüdischen Weltkongresse in Genf leitete. In dem Memorandum vom Frühjahr 1942 fassten er und sein Mitarbeiter Lichtheim Berichte über Massendeportationen in den Osten zusammen und sprachen von Indizien über die Ermordung zahlreicher Deportierter. Das Memorandum wurde den Alliierten und dem Berner Nuntius übergeben. Im August 1942 reichte Riegner den Alliierten ein Telegramm nach, in dem er neue alarmierende Berichte zusammenfasste über die brutalen Umstände bei den Deportationen und über ein geplantes Programm zur Auflösung (Liquidierung) von Ghettos. Der Vatikan wurde vom US-Botschafter beim Vatikan über das Riegner-Telegramm unterrichtet. Im Namen seiner skeptischen Regierung fragte Taylor nach, ob dem Vatikan Berichte vorlägen, die die Angaben bestätigen könnten. Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione bedankte sich für den Bericht, erklärte aber, der Vatikan könne diese und andere Nachrichten über harte Maßnahmen gegen Nichtarier derzeit nicht auf ihre Genauigkeit hin überprüfen. Dieser vorsichtigen Beurteilung standen die Meldungen des slowakischen Nuntius Giuseppe Burzio vom 27. Oktober 1941 und 9. März 1942 über Erschießungen an Juden im Osten nicht entgegen. Burzio hatte lediglich Informationen vom Hörensagen weitergegeben. Weder er noch der Vatikan konnten diese Berichte verifizieren.
Übereinstimmend bezeugen die privilegierten Geheimarchivforscher, dass der Vatikan während des Krieges über keine gesicherten Informationen zum NS-Genozid am europäischen Judentum verfügte. Die Historiker arbeiteten maßgeblich an der elfbändige vatikanischen Aktenedition zum Zweiten Weltkrieg, und Professor Gumpel war der Untersuchungsrichter im Seligsprechungsprozess Pius’ XII.
„Solange der Krieg andauerte, lag Dunkelheit über dem Schicksal der Deportierten. Man kannte die mörderischen Bedingungen, unter denen die Transporte stattfanden. Man zweifelte nicht daran, daß Unterernährung, Zwangsarbeit und Epidemien in den überbevölkerten Lagern Abertausende von Opfern forderten. Man nahm die Berichte über Massaker in Polen, in Russland und anderswo ernst. Aber über diesen eindeutigen Fakten und den Berichten von einigen wenigen Entkommenen über die Todeslager lag ein dichter Nebelschleier, den sogar die Verwandten und die jüdischen Glaubensbrüder der Opfer nicht durchdringen konnten oder wollten.“
„Wusste der Papst vom Auschwitz-Drama? Er wusste nicht mehr als die Juden in Amerika und Großbritannien, und er wusste soviel wie die Regierungen. Man macht darauf aufmerksam, dass die Meldungen über massenhafte Judenermordungen sehr ambivalent waren. Weder in Washington noch in London oder bei Zeitungen und jüdischen Organisationen lagen gesicherte Informationen vor. Selbst die Ankläger bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen seien bei ihren Recherchen überrascht gewesen vom Ausmaß der Judenvernichtung.“
„Man wusste, dass eine große Zahl von Juden nach Osten deportiert wurde, aber sogar die amerikanische Regierung fragte Ende 1942 im Vatikan an, ob er diese Zahlen bestätigen könnte. Sie glaubte es auch nicht. Kein Mensch wußte damals etwas Genaueres, auch die Amerikaner nicht, geschweige denn von 6 Millionen Juden, die vernichtet werden sollten.“
Auch ein unabhängiger Historiker rät in seiner zum Standardwerk gewordenen Studie: Pius XII. und der Holocaust, zur Vorsicht bei der Beurteilung des vatikanischen Kenntnisstandes über das Ausmaß der Judenvernichtung. Die Informationsquellen des Vatikans seien nicht gut gewesen. Auch habe man nach den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg allen Grund gehabt, sehr vorsichtig zu sein bei der Beurteilung von Gräuel-Nachrichten.
Außerdem konnte man damals kaum die Tötung von Juden von der Tötung zahlreicher anderer Unschuldiger in den Kriegsgebieten unterscheiden.
Im Dezember 1942 gingen viele dringende Appelle beim Vatikan ein, sich für die Juden in Osteuropa einzusetzen. Daraufhin entschied Pius XII. erstmals, persönlich deutlicher Stellung zu beziehen anstatt über seine Nuntien zu agieren. In seiner Weihnachtsansprache vom 24. Dezember 1942 bekundete er seine Sorge um die
„Hunderttausende, die ohne eigenes Verschulden, bisweilen nur aufgrund ihrer Nationalität oder Rasse dem Tod oder fortschreitender Vernichtung preisgegeben sind“.
Er nannte hier absichtlich weder die Nationalsozialisten noch bestimmte Opfergruppen ausdrücklich.
Gegenüber den Kardinälen erwähnte Pius am 2. Juni 1943 die
„Bitten derjenigen, die sich mit angsterfülltem Herzen flehend an Uns wenden. Es sind dies diejenigen, die wegen ihrer Nationalität oder wegen ihrer Rasse von größerem Unheil und schwereren Schmerzen gequält werden und die auch ohne eigene Schuld bisweilen Einschränkungen unterworfen sind, die ihre Ausrottung bedeuten.“
Die westliche Presse, allen voran die New York Times, verfolgte aufmerksam die Stellungnahmen des Heiligen Stuhls. Die New York Times berichtete 1940 von einer Audienz des deutschen Außenministers Joachim von Ribbentrop, nach der der Außenminister dem Papst vorwarf, auf der Seite der Alliierten zu stehen und dass Pius XII. mit einer Liste von nationalsozialistischen Grausamkeiten geantwortet haben soll:
„In den flammenden Worten, mit denen sich der Papst an Herrn von Ribbentrop richtete, verteidigte der Heilige Vater die Juden in Deutschland und Polen.“
Auf seine Weihnachtsansprache 1941 reagierte die New York Times:
„Die Stimme von Pius XII. ist eine einsame Stimme im Schweigen und in der Dunkelheit, welche Europa an dieser Weihnacht umfangen. Er ist so ziemlich der einzige Regierende auf dem europäischen Kontinent, der es überhaupt wagt, seine Stimme zu erheben. Indem er eine wirklich neue Ordnung forderte, stellte sich der Papst dem Hitlerismus in die Quere. Er ließ keinen Zweifel daran, dass die Ziele der Nazis mit seiner Auffassung vom Frieden Christi unvereinbar sind.“
Ebenso schrieb die New York Times Weihnachten 1942:
„In dieser Weihnacht ist der Papst mehr denn je die einsame aufbegehrende Stimme im Schweigen eines Kontinents. Papst Pius drückt sich so leidenschaftlich aus wie jeder Regierende an unserer Seite, indem er ausführt, dass diejenigen, die an einer neuen Weltordnung bauen wollen, für die freie Wahl einer Regierung und der Religion eintreten müssten. Sie müssten sich dagegen wehren, dass der Staat aus Individuen eine Herde mache, über die er dann verfüge wie über leblose Dinge.“
Auch in seiner Korrespondenz mit den deutschen Bischöfen machte Pius XII. deutlich, dass er davon ausging, eine verständliche Botschaft verkündet zu haben:
„Zu dem, was im deutschen Machtraum zurzeit gegen die Nichtarier vor sich geht, haben Wir in Unserer Weihnachtsbotschaft ein Wort gesagt. Es war kurz, wurde aber gut verstanden.“
Allein die Regierungen der USA und Großbritanniens hätten sich vom Papst eine noch deutlichere Äußerung gewünscht. So führte der britische Gesandte beim Heiligen Stuhl aus:
„…dass eine solch umfassende Verurteilung, die ebensogut das Bombardement deutscher Städte gemeint haben könnte, nicht dem entspricht, was die englische Regierung erbeten hat“.
Franklin D. Roosevelts Sonderbotschafter berichtete von einem sichtlich erstaunten Papst, der diese Vorhaltungen nicht teilte:
„Was die Weihnachtsbotschaft anbelangt, so machte der Papst mir den Eindruck, dass er aufrichtig glaubt, er habe sich klar genug geäußert, um alle, die im Vergangenen darauf bestanden, er solle einige Worte zur Verurteilung der nationalsozialistischen Grausamkeiten sagen, zufriedenzustellen. Er schien überrascht, als ich ihm sagte, nicht alle Leute seien derselben Ansicht. Er sagte mir, seines Erachtens sei es für alle Welt klar, dass er die Polen, die Juden und die Geiseln meinte, als er von Hunderttausenden von Menschen sprach, die man getötet oder gefoltert habe, ohne ihnen irgendwelche Schuld beimessen zu können, ja manchmal nur auf Grund ihrer Rasse oder ihrer Nationalität. Im großen und ganzen meinte er, seine Botschaft müsse vom amerikanischen Volk gut aufgenommen werden, und ich sagte ihm, ich stimmte mit ihm überein.“
Auch die Nationalsozialisten hatten seine Weihnachtsansprache verfolgt und in ihrem Sinne interpretiert. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS kommentierte die Weihnachtsansprache 1942 folgendermaßen:
„… eine einzige Attacke gegen alles, für das wir einstehen. Der Papst sagt, dass Gott alle Völker und Rassen gleichwertig ansieht. Hier spricht er deutlich zugunsten der Juden. Er beschuldigt das deutsche Volk, Ungerechtigkeiten gegenüber den Juden zu begehen, und macht sich zum Sprecher der jüdischen Kriegsverbrecher.“
Außenminister von Ribbentrop befahl daraufhin dem Gesandten beim Vatikan, dem Vatikan als Reaktion auf die Weihnachtsansprache 1942 mit Vergeltungsmaßnahmen zu drohen. Der Gesandte, der dem Auftrag seines Berliner Vorgesetzten nachkam, berichtete, dass der Papst dem deutschen Gesandten zunächst schweigend zugehört habe. Dann habe er in aller Ruhe gesagt, ihn bekümmere nicht, was ihm zustoßen werde. Doch käme es zu einem Konflikt zwischen der Kirche und dem deutschen Staat, so würde der Staat den Kürzeren ziehen. Kommentar:
„Der Papst ist so wenig durch Drohungen zu beeinflussen wie wir selbst.“
Auch von jüdischer Seite wurde das Verhalten Pius’ anerkannt:
„Das Volk von Israel wird nie vergessen, was Seine Heiligkeit für unsere unglücklichen Brüder und Schwestern in dieser höchst tragischen Stunde unserer Geschichte tut. Das ist ein lebendiges Zeugnis der göttlichen Vorsehung in dieser Welt. –“
Am 21. Juni 1943 entsandte Pius seinen Nuntius in Berlin zu Hitler. Dieser berichtete:
„In allerhöchstem Auftrag bin ich vor einigen Tagen nach Berchtesgaden geflogen. Ich wurde vom Führer und Kanzler Hitler empfangen, aber sobald ich das Thema Juden und Judentum angeschnitten hatte, drehte sich Hitler ab, ging ans Fenster und trommelte mit den Fingern gegen die Scheibe. Sie können sich vorstellen, wie peinlich es mir war, im Rücken meines Gesprächspartners mein Vorhaben vorzutragen. Ich tat es trotzdem. Dann drehte sich plötzlich Hitler um, ging an einen Tisch, wo ein Glas Wasser stand, faßte es und schleuderte es wütend auf den Boden. Mit dieser hochdiplomatischen Geste durfte ich meine Mission als beendet und gleichzeitig leider als abgelehnt betrachten.“
Gleich nach der Machtübernahme in Italien und der Befreiung Mussolinis befahl Hitler die Deportation aller Juden aus Rom. Der Befehl wurde mündlich und schriftlich übermittelt.
Einige Tage nach der Judenrazzia bestimmte Pius XII. kraft seines Amtes allgemeines Kirchenasyl für alle jetzt untergetauchten und flüchtigen Juden in Rom und im besetzten Italien. Zu den Asylorten zählten die Klöster, andere kirchliche Häuser und Institute, die Patriarchalbasiliken, der päpstliche Sommersitz Castel Gandolfo und der Vatikan selbst. Nach verlässlichen Schätzungen konnten sich allein in Rom bis zur Befreiung am 4. Juni 1944 in mindestens 150 Einrichtungen rund 4500 Juden versteckt halten.
Mittlerweile ist in der Forschung unstrittig, dass die folgenreiche Asylorder von Pius XII. persönlich kam.
Die unverhohlene Asylaktion war eine offene Provokation Berlins. Pius hatte mit ihr die Lateranverträge gebrochen und als Oberhaupt des neutralen Vatikanstaates auch das Völkerrecht. Klaus Kühlwein deutete das überraschende Asyldekret als abrupte Kehrtwende der vatikanischen Politik und schrieb pointiert von einem „Damaskus-Erlebnis“ bei Pius XII.
Während der deutschen Besatzung Roms unterlief Pius die Verhaftungswelle wirkungsvoll, indem er Pater Pankratius Pfeiffer direkte Order erteilte, für wen er sich im Einzelnen bei der Besatzung oder bei der SS einzusetzen habe. Auf diese Weise konnten viele Menschen befreit werden, die die Besatzer bereits inhaftiert hatten, darunter Kommunisten, Royalisten und Juden. Bei dem alsbald als „Engel von Rom“ stadtbekannten Pankratius Pfeiffer machten viele italienische Familien Eingaben für ihre gefangenen Angehörigen. 90 Prozent der später als „Pfeiffers Liste“ bekannt gewordenen Initiativen gehen auf direkte Order Pius’ XII. zurück.
Zu erwähnen ist, dass während dieser Zeit Pius XII. selbst Gefangener im Vatikan war. Schon zu Beginn der Machtübernahme in Rom plante Hitler die Entführung des Papstes und seine Internierung in Deutschland. Einen entsprechenden Befehl zur Vorbereitung der Aktion erteilte er SS-General Wolff. Allerdings zögerte Hitler so lange mit dem endgültigen Einsatzbefehl, dass die Aktion am Ende nicht mehr ausgeführt werden konnte. Pius selbst rechnete ernsthaft mit einer Besetzung des Vatikans und der Verhaftung seiner Person. Für diesen Fall hatte er einen schriftlichen Amtsverzicht vorbereitet.
Nach der Befreiung Roms durch die Alliierten bekam Pius zahlreiche Dankbesuche und Dankschreiben von jüdischen Organisationen und einzelnen Repräsentanten für seine Rettungsaktion durch Kirchenasyl. Gegenwärtig mehren sich sogar unter den Kritikern Pius’ XII. die Stimmen, diesen Papst als einen „Gerechten unter den Völkern“ zu ehren.
Im Frühjahr 1943 verhinderte Pius XII. auf diplomatischem Wege die Fortsetzung der von der kollaborierenden slowakischen Regierung betriebenen Judendeportationen. Dieser Schritt wird vereinzelt unter den Verdacht gestellt, der Papst habe in erster Linie dem Ansehen der Kirche helfen wollen. Denn in der Slowakei bekleidete der Priester Jozef Tiso das Amt des Präsidenten, und auch weitere hohe Staatsämter wurden von Geistlichen ausgeübt. Der Außenminister des Vatikans stellte fest, dass die slowakische Beteiligung an den Judendeportationen dem Ansehen der Kirche massiv schaden könnte. In der Vermutung, dass die Juden nach Kriegsende auf der Seite der Sieger stehen würden, habe der Papst sodann zum Handeln geraten. Eine andere Sicht der Dinge lässt aber auch den Schluss zu, dass Pius XII. es in diesem Einzelfall besonders leicht hatte, da der Präsident der Slowakei ein Priester war. Weitere diplomatische Eingaben ähnlicher Intention an andere Regierungen hatten nicht den gleichen Erfolg.
Der Vatikan weigerte sich, die deutschen Eroberungen (Polenfeldzug) und Annexionen in Polen (Generalgouvernement Polen) anzuerkennen, solange nicht entsprechende Friedensverträge unterzeichnet seien. Hitler antwortete damit, dass er das Reichskonkordat fortan ausschließlich auf das Gebiet des Altreichs anwende. Dies bedeutete eine Einengung des Zuständigkeitsbereichs des vatikanischen Nuntius in Deutschland auf ebendieses Gebiet. Wenn der Vatikan die deutsche Anwesenheit in diesen besetzten und eroberten Gebiete nicht anerkenne, so Hitler, dann anerkenne Deutschland auch nicht das Recht des Heiligen Stuhles, mit ihm irgendein diesen Raum betreffendes Problem zu erörtern. So wurde in den deutsch besetzten Gebieten durch die Reichsregierung ein „vertragsloser Zustand“, also ein konkordatsloser Status, herbeigeführt. Von diesem Moment an hatte das deutsche Außenministerium einen leichten Vorwand, die Appelle und Proteste des Heiligen Stuhles, die sich auf Vorkommnisse in jenen Gebieten bezogen, abzuweisen. Eingaben dieses Inhalts wurden den jeweiligen Überbringern teilweise urschriftlich zurückgegeben und fanden daher nicht den Eingang in die entsprechenden Archive oder blieben in den Registerschränken des Auswärtigen Amts liegen.
Zudem waren allein in Polen etwa 2000 Priester und Ordensleute, darunter vier Bischöfe, ermordet worden. Die Struktur der katholischen Kirche in Polen war so sehr zerstört, dass das Verbliebene keine zentral gesteuerten Maßnahmen mehr erlaubte. Vatikanischer Diplomatenverkehr in das Generalgouvernement war aufgrund der genannten Haltung der Reichsregierung nur höchst eingeschränkt möglich. Ab Mitte 1943 bestand praktisch kein Kontakt zwischen Vatikan und polnischer Kirche mehr.
Dem Verhalten von Pius XII. lag die Erkenntnis zu Grunde, dass ein öffentlicher Protest die Nationalsozialisten nicht dazu bewegen würde, ihre Haltung zu ändern, sondern im Gegenteil diese provozieren würde, noch schärfere Maßnahmen zu ergreifen. Ob sich diese Befürchtungen bewahrheitet hätten, muss offenbleiben. Dass aber ein öffentlicher Protest des Vatikans das NS-Regime von seinem Willen, die Juden vollständig zu vernichten, abgebracht hätte, kann aus heutiger wie damaliger Perspektive ausgeschlossen werden.
Dass es auf laute öffentliche Proteste hin zu gezielter Repression kommen konnte, belegen die Geschehnisse in den Niederlanden. Dort hatten die katholischen Bischöfe gegen die bevorstehenden Deportationen protestiert, woraufhin die deutsche Besatzungsmacht Ende 1942 gezielt Juden katholischen Glaubens inhaftierte und deportierte. Arthur Seyß-Inquart bezeichnete die Deportation katholischer Juden in einer Stellungnahme vom 3. August als „Gegenmaßnahme gegen den Hirtenbrief vom 26. Juli“.
Pius sah sich daher gezwungen, eine Abwägung zu treffen:
„Den an Ort und Stelle tätigen Oberhirten überlassen Wir es, abzuwägen, ob und bis zu welchem Grade die Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen und Druckmitteln im Falle bischöflicher Kundgebungen sowie andere vielleicht durch die Länge und Psychologie des Krieges verursachten Umstände es ratsam erscheinen lassen, trotz der angeführten Beweggründe, ad maiora mala vitanda Zurückhaltung zu üben. Hier liegt einer der Gründe, warum Wir selber Uns in Unseren Kundgebungen Beschränkung auferlegen; die Erfahrung, die Wir im Jahre 1942 mit päpstlichen, von Uns aus für die Weitergabe an die Gläubigen freigestellten Schriftstücken gemacht haben, rechtfertigt, soweit Wir sehen, Unsere Haltung.“
Pius XII. unterließ es nicht, den Bischöfen in Deutschland Mut zuzusprechen, ihrerseits für die Menschlichkeit einzustehen und sich nicht durch den Gedanken an einen „Vaterlandsverrat“ davon abhalten zu lassen. Er ermunterte sie sogar, in einzelnen Fragen ihre Stimme zu erheben. Hierdurch trat Pius XII. offen der auf Beschwichtigung und Nichtkonfrontation ausgerichteten Linie der Deutschen Bischofskonferenz entgegen. Diese in der Deutschen Bischofskonferenz mehrheitlich vertretene Linie wurde vor allem von ihrem Vorsitzenden Kardinal Bertram, dem Erzbischof von Breslau, vorgegeben. Ihr entgegengetreten sind im Wesentlichen nur Clemens August Graf von Galen, Johannes Baptista Sproll, Konrad von Preysing und Kardinal Faulhaber.
„Man wende nicht ein, dass bischöfliche Kundgebungen, die mutvoll der eigenen Regierung gegenüber für die Rechte der Religion, der Kirche, der menschlichen Persönlichkeit, für Schutzlose, von der öffentlichen Macht Vergewaltigte eintreten, gleichviel ob die Betroffenen Kinder der Kirche oder Außenstehende sind – dass solche Kundgebungen eurem Vaterland in der Weltöffentlichkeit schaden. Jenes mutvolle Eintreten für Recht und Menschlichkeit stellt euer Vaterland nicht bloß, wird euch und ihm vielmehr in der Weltöffentlichkeit Achtung schaffen und kann sich in Zukunft sehr zu seinem Besten auswirken. Es hat Uns, um ein naheliegendes Beispiel zu nehmen, getröstet, zu hören, dass die Katholiken, gerade auch die Berliner Katholiken, den sogenannten Nichtariern in ihrer Bedrängnis viel Liebe entgegengebracht haben, und Wir sagen in diesem Zusammenhang ein besonderes Wort väterlicher Anerkennung wie innigen Mitgefühls dem in Gefangenschaft befindlichen Prälaten Lichtenberg.“
Von den Verurteilungen des Nationalsozialismus, die sein Vorgänger Pius XI. während seiner Amtszeit öffentlich ausgesprochen hatte, nahm Pius XII. nie etwas zurück noch relativierte er sie jemals.
Als wichtigste Lehrentscheidung dieses Papstes gilt die Apostolische Konstitution Munificentissimus Deus vom 1. November 1950, die die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel als Dogma proklamierte. Dies war das erste Mal seit dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 – und bis heute einzige Mal –, dass ein Papst von seiner Unfehlbarkeit in Fragen der Lehre Gebrauch machte. Dem folgte am 11. Oktober 1954 die Enzyklika Ad coeli reginam, die das Fest vom Königtum Marias einsetzte.
Zur Soziallehre und vielen sozialen und politischen Fragen nahm Pius XII. in Form zahlreicher Vorträge, Ansprachen und Radiobotschaften Stellung, darunter 1944 zu Regierungsformen: Die christlich geläuterte parlamentarische Demokratie sei autoritären Systemen heute vorzuziehen. Traditionell bevorzugte die katholische Kirche wegen ihrer eigenen monarchischen Struktur eher die Monarchie. Die Aufzeichnungen seiner Äußerungen zur Soziallehre umfassen über 4000 Seiten.
Die von seinem Vorgänger begonnene Enzyklika zum Antisemitismus stellte Pius XII. nicht fertig und erwähnte sie nie. Der Entwurf dazu wurde erst 2003 bei der Freigabe des Archivs aus der Regierungszeit Pius’ XI. bekannt. Ein Kirchenhistoriker führt die Entscheidung seines Nachfolgers nicht auf eine Billigung des Antisemitismus, sondern auf sein Amtsverständnis zurück: Für Pius XII. sollte der Heilige Stuhl als Oberhaupt aller Katholiken strikte Neutralität in politischen Fragen wahren, zu denen er auch die „Judenfrage“ gezählt habe. Wichtige Aussagen über die Einheit des Menschengeschlechtes sind allerdings in seine Antrittsenzyklika Summi pontificatus übernommen worden.
Erhebliche Folgen besonders in Italien hatte das Dekret des Heiligen Offiziums vom 1. Juli 1949, das jedem Katholiken mit der Exkommunikation drohte, der einer kommunistischen Partei beitritt, kommunistische Bücher und Zeitschriften herausgibt, sie liest oder in ihnen schreibt. Papst Pius XII. verkündete dieses Dekret am 13. Juli 1949.
Pius XII. erleichterte auch die Konversion von verheirateten protestantischen Pfarrern, die katholische Priester werden wollen. Er brach damit mit dem Brauch, die Ehe des Protestanten zu trennen und die Frau ins Kloster zu schicken.
Die Alliierten lehnten den Wunsch des Papstes, an den Friedensverhandlungen mit den „kleinen Verlierern“ des Zweiten Weltkrieges teilzunehmen, ab.
In zwei Konsistorien 1946 und 1953 ernannte Pius XII. insgesamt 56 neue Kardinäle. Er erweiterte und internationalisierte damit das Heilige Kollegium, so dass es seither Vertreter aller Kontinente umfasst. Er schloss weitere Konkordate mit Portugal, Spanien, der Dominikanischen Republik und Bolivien. Er förderte die Herausbildung einer einheimischen Kirchenhierarchie in Staaten der „Dritten Welt“, um deren Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu betonen (unter anderem Republik China, Südafrika, Birma).
Pius XII. nahm 33 Heiligsprechungen vor, darunter die seines frühen Förderers Pius X. Vor den Kardinälen äußerte sich der Papst am 2. Juni 1945 rückblickend zum Nationalsozialismus und zur Lage in Deutschland. In seiner Weihnachtsbotschaft 1950 gab er öffentlich bekannt, dass das Grab des Apostels Petrus in einer römischen Nekropole bei Ausgrabungsarbeiten unter dem Hochaltar des Petersdoms in Rom gefunden worden sei.
In vielen Darstellungen wird erwähnt, dass er abmagerte und auch tagelang an Schluckauf litt. Heute werden die Symptome als Folge seiner über Jahre anhaltenden Überanstrengung gedeutet.
Im Laufe der 1950er Jahre ließ die Schaffenskraft des alternden Papstes nach. Der französische Philosoph Jean Guitton bezeugt, dass Pius XII. angesichts der Zeitumstände eine klare Vorahnung davon hatte, dass er der letzte Papst typisch römischer Tradition sein würde, seine Nachfolger also vor neuen Fragen stehen. So sah der Papst bereits voraus, dass sein Nachfolger ein Konzil einberufen werde; er selbst hatte dazu bereits in den 40er Jahren umfangreiche Vorarbeiten durchführen, jedoch wegen seiner abnehmenden Gesundheit wieder unterbrechen lassen. Sie wurden später von Johannes XXIII. zur Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils herangezogen, dessen Dokumente vielfach auf das umfangreiche Lehramt Pius’ XII. Bezug nehmen und ihn über tausend Mal und damit (nach der Hl. Schrift) am häufigsten zitieren. Dabei sind diese Zitate nach den Worten Papst Benedikts XVI. „nicht nur Anmerkungen zur Bekräftigung dessen, was im Text gesagt wurde, sondern sie bieten einen Interpretationsschlüssel dafür“, weshalb die Lehre des Pacelli-Papstes heute noch von größter Bedeutung für die katholische Kirche ist.
Papst Pius XII. starb am 9. Oktober 1958 im Alter von 82 Jahren in Castel Gandolfo an den Folgen eines Schlaganfalls. Sein Tod war noch mehr als der seines Vorgängers von weltweiter Würdigung und Anteilnahme begleitet.
In seinem „Testament“ schrieb er:
„Sei mir gnädig, o Herr, nach deiner großen Barmherzigkeit. Die Vergegenwärtigung der Mängel und Fehler, die während eines so langen Pontifikates und in solch schwerer Zeit begangen wurden, hat mir meine Unzulänglichkeit klar vor Augen geführt.“
SECHSTES KAPITEL
JOHANNES XXIII
Angelo Giuseppe Roncalli wurde als Sohn von Giovanni Battista Roncalli und dessen Ehefrau Marianna in ärmlichen Verhältnissen am Rand der Alpen geboren. Er wuchs mit zwölf Geschwistern in einer bäuerlichen Großfamilie auf. Ein besonderes Verhältnis hatte der junge Angelo zu seinem Großonkel, der für sein Glaubensleben richtungsweisend wurde. Die Begabung des Knaben wurde durch den Gemeindepfarrer erkannt und gefördert. Mit privatem Lateinunterricht förderte der Pfarrer seinen Schüler. Doch Angelos Vater war dagegen, da er auf dessen Arbeitskraft nicht verzichten konnte und einem Priesterberuf seines Sohnes skeptisch gegenüberstand. Nur mühsam konnte der Vater überzeugt werden. 1892 wurde Angelo ins Vorbereitungsseminar in Bergamo aufgenommen. Anschließend konnte er das theologische Seminar besuchen. 1901 leistete er seinen einjährigen Wehrdienst für das Königreich Italien ab. Anschließend studierte er in Rom, wo er am 18. Dezember 1903 zum Diakon geweiht wurde. Ein Jahr später schloss er sein Studium mit der Promotion zum Doktor der Theologie ab.
Am 10. August 1904 wurde Roncalli zum Priester geweiht. Anlässlich der Priesterweihe wurde er dem damaligen Papst Pius X. vorgestellt. Früh lernte er auch die späteren Päpste Achille Ratti und Eugenio Pacelli kennen. Von 1905 bis 1914 wirkte Roncalli als Sekretär des Bischofs Graf Tedeschi von Bergamo, den er zeitlebens sehr verehrte. Mit dem Bischof unternahm Roncalli viele Auslandsreisen, unter anderem 1906 ins zum Osmanischen Reich gehörende Palästina. Er blieb seinem Seminar in Bergamo als Professor weiterhin verpflichtet und lehrte dort Kirchengeschichte.
Mit der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn am 23. Mai 1915 wurde Roncalli wie alle seine vier Brüder eingezogen. Er diente erst als Sanitätssoldat, später wurde er Militärseelsorger. 1916 wurde Roncalli zum Leutnant befördert und an die Front versetzt, im Oktober 1917 war er als Feldkaplan bei der Schlacht um Caporetto im Reservelazarett in Bergamo eingesetzt. Erst im Frühjahr 1919 wurde er aus dem Militärdienst entlassen.
Nach dem Krieg wirkte er als Studentenpfarrer. Von Papst Benedikt XV. 1921 nach Rom versetzt, wurde er zum Präsidenten des Zentralrates des Päpstlichen Missionswerks in Italien und zum Monsignore erhoben. Am 3. März 1925 wurde Roncalli zum Apostolischen Visitator für Bulgarien ernannt, wo er den Weg zum regionalen Dialog zwischen der katholischen und orthodoxen Kirche ebnete. Für diese Aufgabe bedurfte es der Bischofsweihe, die er am 19. März 1925 empfing. Sein Wahlspruch lautete: „Gehorsam und Friede“.
1934 folgte die Ernennung Roncallis zum apostolischen Delegaten und Vikar für die Türkei und Griechenland. In der Türkei Atatürks war Roncalli als Bischof von Konstantinopel für die kleinen christlichen Gemeinden als Seelsorger tätig. Atatürk schaffte den Islam als Staatsreligion ab. Die Jungtürken waren den Armeniern, Griechen und Aramäern – und damit den größeren christlichen Minderheiten – feindlich gesinnt. Es war verboten, in der Öffentlichkeit geistliche Tracht zu tragen. Hier wurde Roncalli vom Zweiten Weltkrieg überrascht. Während des Krieges verhalf er Juden zur Flucht aus dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Ungarn. Roncalli versuchte, eine größere jüdische Flüchtlingsgruppe, die ohne Verpflegung in der Türkei festgesetzt worden war, zu befreien. Als diplomatische Verhandlungen mit Franz von Papen erfolglos waren, erbat er von den deutschen Bischöfen ein Schreiben, aus dem hervorgehen sollte, dass es sich bei der Gruppe um deutsche Katholiken handele, die zum Geburtsort des heiligen Paulus von Tarsus pilgern wollten. Dieses Schreiben wurde als echt anerkannt und ebnete den vermeintlichen Katholiken den weiteren Weg.
Am 22. Dezember 1944 wurde er von Papst Pius XII. als Apostolischer Nuntius nach Frankreich versetzt. Diese Aufgabe war nicht einfach und erforderte diplomatisches Geschick, da sein Vorgänger im Amt mit dem Regime unter Pétain zusammengearbeitet hatte. Durch seine freundliche Art konnte Roncalli die Franzosen schnell für sich gewinnen, und es gelang ihm auch, einen Großteil der Bischöfe, die der neuen französischen Regierung unter de Gaulle nicht genehm waren, im Amt zu halten.
Am 12. Januar 1953 wurde er von Papst Pius XII. zum Kardinal und zum Patriarchen von Venedig ernannt. Das gute Einvernehmen mit der französischen Regierung zeigte sich darin, dass der Präsident der Französischen Republik einer alten Gepflogenheit gemäß dem neu ernannten Kardinal den Kardinalshut aufsetzte.
Nach dem Tod des Papstes Pius XII. wurde Roncalli am 28. Oktober 1958 zum Papst gewählt.
Die Krönung des neuen Papstes am 4. November 1958, dem Fest des heiligen Karl Borromäus, beeindruckte die Weltöffentlichkeit, als der Papst sich mit Bezug auf seinen Taufnamen Giuseppe mit „Ich bin Josef, euer Bruder“ vorstellte.
Nach seiner Wahl wurde Roncalli wegen seines hohen Alters und seiner konservativen Frömmigkeit in der Presse als Übergangspapst und Kompromisslösung bezeichnet, erwies sich jedoch bald als einer, der Mut zu historischen Veränderungen hatte. Am 25. Januar 1959 kündigte er vor zahlreichen Kardinälen in der Basilika Sankt Paul vor den Mauern unerwartet die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils an, das am 11. Oktober 1962 feierlich eröffnet wurde. Seine Vorgänger Pius XI. und Pius XII. hatten schon über eine Wiedereröffnung des abgebrochenen I. Vatikanischen Konzils nachgedacht.
Gegenüber dem französischen Philosophen Jean Guitton, den der Papst als ersten Laien-Beobachter zum Konzil einlud, bekannte er sich dazu, schon sehr lange, seit Leo XIII. 1902 von den getrennten Brüdern sprach, über die Ökumene nachgedacht zu haben. Das Konzil sollte das „Aggiornamento“ („Aktualisierung“) der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert einleiten und versinnbildlichen. Dass dies mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch erreicht wurde, zeigen die 16 beschlossenen Texte. Historische Verdienste erwarb sich Johannes XXIII. um die Überwindung der Kubakrise, als er mittels eines Briefes zwischen dem katholischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow vermittelte, ebenso durch zahlreiche Friedensinitiativen, zum Beispiel durch seine Enzyklika Pacem in terris.
Am 11. Mai 1963 wurde dem Papst ein Preis für Humanität, Frieden und Brüderlichkeit unter den Völkern im Quirinalspalast in Rom überreicht. Dies war auch der letzte öffentliche Auftritt des Papstes.
Im alltäglichen Leben als Papst nahm er historische Veränderungen vor. Er schaffte den Fußkuss und die bislang vorgeschriebenen drei Kniefälle bei Privataudienzen ab. Seine einzige Reise führte ihn eine Woche vor der Eröffnung des Konzils im Oktober 1962 nach Loreto und Assisi, um für das Gelingen desselben zu beten. Er war damit der erste Papst seit Pius IX. der, von der Sommerresidenz Castel Gandolfo abgesehen, Rom für eine Reise verlassen hatte, weshalb ihn die Römer in Anspielung auf die Kirchen vor den römischen Mauern Giovanni fuori le mura nannten.
Den Abschluss des Konzils erlebte Johannes XXIII. nicht mehr, denn am 3. Juni 1963 erlag er einem Krebsleiden. Er starb im apostolischen Palast. Nachdem sein Leichnam konserviert worden war, wurde er feierlich in den Vatikanischen Grotten beigesetzt.
Papst Paul VI. eröffnete 1970 den Seligsprechungsprozess für seinen Vorgänger. Von Papst Johannes Paul II. wurde Johannes XXIII. am 3. September 2000 seliggesprochen, zusammen mit dem Konzilspapst des 1. Vatikanums Pius IX. Seit seiner Seligsprechung ruhen seine Reliquien in einem gläsernen Reliquienschrein im Petersdom unter dem Altar des Heiligen Hieronymus.
Am 27. April 2014, dem Weißen Sonntag (Barmherzigkeits-Sonntag), wurde Johannes XXIII. gemeinsam mit Johannes Paul II. von Papst Franziskus heiliggesprochen. An der feierlichen Zeremonie auf dem Petersplatz nahm in Anwesenheit von rund einer Million Menschen neben vielen Kardinälen, Bischöfen und Priestern auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. teil.
SIEBENTES KAPITEL
PAUL VI
Giovanni Battista Montini war der Sohn von Giorgio Montini, einem Zeitungsverleger und Politiker, und von Giuditta Montini. Er studierte zunächst in Brescia 1916–1920 Katholische Theologie und empfing dort am 29. Mai 1920 die Priesterweihe. Anschließend studierte Montini in Rom an der Päpstlichen Diplomatenakademie und an der Päpstlichen Universität Gregoriana von 1920 bis 1923 ziviles und kanonisches Recht sowie Philosophie.
Seit 1922 arbeitete Montini im vatikanischen Staatssekretariat, wo er bis 1954 wirkte. Nebenamtlich war Montini von 1925 bis 1933 Generalassistent des katholischen Studentenverbandes Italiens. Als solcher hatte er Auseinandersetzungen mit dem faschistischen Regime. Von 1937 an war Montini als Substitut ein enger Mitarbeiter von Staatssekretär Pacelli, dem späteren Pius XII., den er auf seinen Auslandsreisen begleitete. Während Montini sich nach dem Tode von Kardinalstaatssekretär Maglione 1944 als Substitut vorwiegend den innerkirchlichen Aufgaben widmete, beschäftigte sich sein Kollege Tardini mit den kirchenpolitischen Aufgaben. Dabei verkörperte Tardini eher die Tradition, während Montini für viele bereits die Zukunft darstellte.
Pius XII. hatte 1952 die Namen seiner beiden Mitarbeiter Montini und Tardini an die Spitze der neuen Kardinalsliste gesetzt und teilte dies im Januar 1953 den damals anwesenden Kardinälen im Konsistorium mit. Nachdem diese abgelehnt hatten, ernannte der Papst die beiden 1952 zu Pro-Staatssekretären (ohne Bischofsrang und ohne Kardinalswürde). Montini, der im Namen des Papstes oft Reden geschrieben und gehalten hatte, schickte er zwei Jahre später, nach dem Tod Kardinal Schusters, überraschend als Erzbischof nach Mailand. Pacelli hatte seinem Mitarbeiter bewusst pastorale Erfahrungen mitgeben wollen. Die Bischofsweihe wurde Montini am 12. Dezember 1954 im Petersdom von Kardinal Tisserant gespendet; der Papst, durch Krankheit verhindert dies selbst zu tun, beteiligte sich an der Feier mit einer Ansprache über Funk.Montini widmete sich nun mit aller Kraft der Großstadtseelsorge in der norditalienischen Metropole. Sein Hauptaugenmerk galt der Arbeiterwelt und dem Bau neuer Kirchen, wofür er sein Privatvermögen hergab.
Während des Pontifikats des bereits schwer kranken Pius XII. hatte Montini, wegen seiner Nähe zum linken Flügel der italienischen Partei Democrazia Cristiana als „sozial-liberal“ verdächtigt, starke Gegner in der römischen Kurie und ihrer Umgebung. So unterstützte er die innovative Laienorganisation Opus Dei auch gegen Aktivitäten führender Jesuiten.
Nach dem Tode von Papst Pius XII. wurde Montini als „papabile“ gehandelt, obwohl er nicht Kardinal war. Den Kardinalshut bekam er erst am 15. Dezember 1958 durch Johannes XXIII. und wurde damit als Kardinal in das Kardinalskollegium aufgenommen. In dieser Zeit bereiste Montini Brasilien und die USA, er besuchte in Afrika Ghana, den Sudan, Kenia, den Kongo, Rhodesien, Südafrika und Nigeria.
Im Verlauf des Zweiten Vatikanischen Konzils, bei dem Montini Mitglied der Kommission für die außerordentlichen Aufgaben war, hielt er sich in der Öffentlichkeit und in der Konzils-Aula auffallend zurück und sprach nur zweimal zu den versammelten Bischöfen. Hinter den Kulissen entfaltete der Kardinal jedoch eine rege Überzeugungstätigkeit, was die programmatische Gestaltung des Konzils anging. Johannes XXIII., der seinen Mitarbeiter sehr schätzte, hatte absichtlich keine enge Richtung vorgegeben, damit dieses Konzil eine Eigendynamik entwickeln konnte. Diese Offenheit führte aber unter den Teilnehmern zu einer anfänglichen Richtungslosigkeit. Montini gelang es, diese kritische Phase zu überwinden. Von einigen Kardinälen wurde er dadurch bereits als möglicher Nachfolger des Papstes angesehen.
Nach dem Tod Johannes’ XXIII. am 3. Juni 1963 trat am 19. Juni das Kardinalskollegium zum Konklave zusammen. Bald wurde Montini zum Papst gewählt und nahm den Papstnamen Paul VI. an. Die Krönungszeremonie fand am 30. Juni auf dem Petersplatz statt. Im Jahr 1964 legte Paul VI. die Tiara ab und führte sie nur noch in seinem Wappen. Er war der letzte Papst, der damit gekrönt wurde.
Paul VI. führte das von seinem Vorgänger Johannes XXIII. einberufene Zweite Vatikanum zu Ende. Es war nach außen ein großer Erfolg für die katholische Kirche, da ihre Selbstkorrektur von Andersdenkenden positiv aufgenommen wurde.
„Von diesem römisch-katholischen Zentrum aus ist niemand von Prinzips wegen unerreichbar; auf der Linie dieses Prinzips können und müssen alle erreicht werden. Für die katholische Kirche ist niemand fremd, niemand ausgeschlossen, niemand fern. Diesen Unseren universellen Gruß richten Wir auch an Euch, Menschen, die Ihr Uns nicht kennt; Menschen, die Ihr Uns nicht versteht; Menschen die Ihr Uns nicht für Euch nützlich, notwendig und freundlich glaubt; und auch an Euch, Menschen, die Ihr, für Euch denkend, auf diese Weise Gutes zu tun, Uns anfeindet! Ein aufrichtiger Gruß, ein besonderer Gruß, aber voll von Hoffnung; und heute, glaubt es, voller Wertschätzung und Liebe.“
Dieses kurze Zitat fasst die Absichten des Papstes gut zusammen, es waren aber noch andere Problemfelder anzugehen. Paul VI. verwirklichte eine Reihe der von dem Zweiten Vatikanischen Konzil angestoßenen Maßnahmen, wie die Liturgiereform. Ferner reformierte der Papst 1965 das Heilige Offizium und schuf daraus die Kongregation für die Glaubenslehre. Am 30. Juni 1968 formulierte Paul VI. das Credo des Gottesvolkes.
Montini hatte weder die Volkstümlichkeit seines Vorgängers noch das Charisma seiner Nachfolger. Geschwächt durch Alter und Krankheit bot er besonders in der Spätphase seines Pontifikats mehr ein Bild der Hilflosigkeit. Er verfügte aber viele Reformen, ohne davon Aufhebens zu machen. Zur Abschaffung der über 400 Jahre währenden Institution des Index der verbotenen Bücher genügte 1965 ein Nebensatz in der Anordnung zur Umgestaltung des Heiligen Offiziums. Die apostolischen Schreiben Marialis cultus und Evangelii nuntiandi, im Anschluss an die Bischofssynode, nahmen aktuelle theologische Entwicklungen auf und waren Ausdruck eines zugleich moderneren und stärker aus der Bibel schöpfenden Verständnisses der Marienverehrung und der Aufgabe der kirchlichen Verkündigung und Mission.
Umstritten ist bis heute die Enzyklika Humanae vitae von 1968, in der Paul VI. zwar die Eigenverantwortung der Eltern billigte, die Verurteilung künstlicher Methoden der Empfängnisverhütung aber aufrechterhielt. Das Schreiben erhielt insofern eine besondere Aufmerksamkeit, als die Markteinführung der Antibabypille wenige Jahre zurücklag. Daher bekam der Papst von Gegnern der Enzyklika den spöttischen Beinamen „Pillen-Paul“. Infolge der durch Paul VI. veranlassten Veränderungen, insbesondere der Liturgiereform im Anschluss an das Zweite Vatikanum, spalteten sich die Priesterbruderschaft Pius X. um den Erzbischof Marcel Lefebvre mit rund 120.000 Anhängern ab. Im Ganzen konnte erstmals nach einem Konzil der Neuzeit die Einheit der Kirche gewahrt werden.
In dieser Form eine Neuheit waren die Auslands- und Pilgerreisen Pauls VI. Als Montini am 4. Dezember 1963, zum Schluss der zweiten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanums, den darauf nicht vorbereiteten Konzilsvätern ankündigte, er werde vom 4. bis 6. Januar 1964 eine Reise ins Heilige Land unternehmen, kam dies überraschend, da seit 150 Jahren keiner seiner Vorgänger mehr italienischen Boden verlassen hatte. Es sollte die erste Pilgerfahrt sein, die je ein Papst ins Heilige Land unternahm, noch dazu in einer Zeit, als dieses Territorium politisch umstritten und gefährlich war. Die Reise, die zu den heiligen Stätten in Israel und Jordanien führte, fand weltweite Beachtung. In Jerusalem traf Paul VI. mit Patriarch Athinagoras von Konstantinopel zusammen. Dies war die erste Begegnung der Oberhäupter von Ost- und Westkirche seit dem Treffen von Papst Eugen IV. mit Patriarch Joseph II. auf dem Konzil von Ferrara 1439, und sie führte 1965 zur Aufhebung der gegenseitigen Exkommunikationen zwischen den Patriarchaten von Konstantinopel und Rom aus dem Morgenländischen Schisma von 1054. Mit der Reise hatte die katholische Kirche überdies faktisch den Staat Israel anerkannt.
Es war der Auftakt für viele Auslandsreisen des Papstes und seiner Nachfolger. Im Jahre 1964 kam Paul VI. noch nach Indien und sprach am 4. Oktober 1965 vor der UNO-Vollversammlung in New York. Der Friedensappell des Papstes dort gehört zu seinen meistbeachteten politischen Reden. Eine weitere Reise führten ihn 1967 nach Fatima.
Am 27. November 1970, dem zweiten Tag seiner letzten Auslandsreise durch Asien und Ozeanien, entging Paul VI. in der philippinischen Hauptstadt Manila nur knapp dem Messerattentat des vermutlich geistesgestörten bolivianischen Kunstmalers Amor Flores, der sich als Priester verkleidet hatte.
In ökumenischer Hinsicht entwickelte Paul VI. neben dem Dialog mit der Orthodoxie auch den Dialog mit der Altkatholischen Kirche weiter, die bereits Konzils-Beobachter entsandt hatte. Während frühere Päpste ab 1723 die Wahlanzeigen eines altkatholischen Erzbischofs von Utrecht regelmäßig mit einer Bannbulle quittierten, verfasste Montini 1969 erstmals an den designierten altkatholischen Erzbischof Marinus Kok einen persönlichen Glückwunschbrief. Im Laufe seines Pontifikats wurde mehrfach versucht, für die Altkatholiken eine, das Ostkirchendekret fast wortwörtlich übernehmende, Regelung zu schaffen. Dieses vom Konzil beschlossene Dekret über die katholischen Ostkirchen ermöglicht die beschränkte Eucharistie-Gemeinschaft zwischen der katholischen und den orthodoxen Kirchen.
In das Pontifikat Pauls VI. fällt auch eine diplomatische Öffnung den kommunistischen Teilen der Welt gegenüber. Bereits am Rande der UNO-Vollversammlung 1965 hatte es ein erstes informelles Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko gegeben. Im folgenden Jahr ersuchte Gromyko offiziell um eine Zusammenkunft mit dem Papst, zu der es am 27. April 1966 im Vatikan kam. Neben Gesprächen über die weltpolitische Gesamtlage forderte Montini bei diesem Treffen vor allem Religionsfreiheit in den Staaten des Ostblocks. In den folgenden Jahren gab es mehrere Treffen zwischen Diplomaten des Heiligen Stuhls und der Sowjetunion in Moskau und im Vatikan. Damit entfernte sich Paul VI. von der strikt antikommunistischen Haltung seit Pius XII., wonach Kontakte mit kommunistischen Staaten weitgehend abgelehnt wurden. Ziel des Papstes war es, durch die vorsichtige Annäherung den schweren Stand der katholischen Kirche im Ostblock zu mildern. Am 1. Januar 1968 führte Paul VI. für diesen Tag für die Weltkirche den Weltfriedenstag ein.
Am 16. März 1978 wurde der christdemokratische Politiker Aldo Moro von den Roten Brigaden entführt. Dieser und Montini waren seit Moros Studienzeit befreundet, er war ab 1939 in der Leitung des katholischen Studentenverbands aktiv, dessen geistlicher Leiter der spätere Papst einmal war. Paul VI. setzte sich persönlich für die Freilassung Moros ein, indem er sich mit einem handschriftlichen Brief an die Entführer wandte. Doch trotz dieser Bemühungen wurde der Politiker schließlich ermordet; Montini selbst hielt später die Messe im Rahmen des Staatsaktes für Moro.
Nach der Kommunion erlitt der Papst einen schweren Herzinfarkt, an dessen Folgen er am 6. August 1978 starb. Paul VI. wurde in den vatikanischen Grotten bestattet, seinem Wunsch entsprechend in einem Erdgrab.
Johannes Paul II. eröffnete am 11. Mai 1993 das Seligsprechungsverfahren Pauls VI. Papst Franziskus sprach Paul VI. selig.
ACHTES KAPITEL
JOHANNES PAUL I
Albino Luciani wurde im norditalienischen Forno di Canale geboren und stammte aus armen Verhältnissen. Im Alter von elf Jahren trat er 1923 in das Knabenseminar in Feltre ein, ein Internat, in dem Jungen auf den Lebensweg als Priester vorbereitet wurden.
Nachdem er von 1928 bis 1935 das Priesterseminar auf dem „Gregoriano“ in Belluno besucht hatte, empfing er am 7. Juli 1935 die Priesterweihe. Danach war er zwei Jahre als Kaplan in seinem Heimatort tätig, ehe er 1937 zum Vizerektor des „Gregoriano“ ernannt wurde, eine Stellung, die er bis 1947 innehatte. Dort lehrte er Theologie. Am 23. November 1946 stellte sich Luciani der Disputation seiner Doktorarbeit und wurde magna cum laude zum Doktor der Theologie promoviert. Er übernahm diverse Funktionen in seiner Heimatdiözese. Er veröffentlichte einige bemerkenswerte Publikationen, unter anderem eine Sammlung von Briefen an bedeutende Persönlichkeiten – von Jesus Christus bis Pinocchio. Am 27. Dezember 1958 wurde er im Zuge der ersten Bischofsweihen des neuen Papstes Johannes XXIII. Bischof von Vittorio Veneto. Paul VI. ernannte ihn am 15. Dezember 1969 zum Patriarchen von Venedig und nahm ihn am 5. März 1973 als Kardinal in das Kardinalskollegium auf.
Nach dem Tod Papst Pauls VI. wurde Luciani am 26. August 1978 nach einem nur eintägigen Konklave zum Papst gewählt. Die Wahl Lucianis kam für die Weltöffentlichkeit und vermutlich auch für ihn selbst unerwartet.
Seinen Papstnamen wählte er, da er das Erbe seiner beiden Vorgänger Johannes XXIII. und Paul VI., nämlich die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils (an dem er als Bischof auch teilgenommen hatte), wahren wollte. Es ging ihm darum, den Gegensatz, der in der öffentlichen Meinung zwischen beiden konstruiert wurde, zu mildern. Als erster Papst trug er damit einen Doppelnamen, und er war der bislang einzige Papst, der seinem neuen Namen bereits selber die I. anfügte. Davor wurden Ordnungszahlen erst ab dem zweiten Namensträger angefügt.
Am 3. September 1978 wurde er feierlich ins Amt eingeführt – am gleichen Tag wie sein großes Vorbild Gregor der Große im Jahr 590. Als erster Papst der Neuzeit verzichtete er auf die traditionelle prunkvolle Krönung mit der Tiara und ließ sich mit der Feier einer Messe ins Amt einführen. Ebenso lehnte er die Verwendung der Sedia gestatoria (der Sänfte der Päpste) zunächst ab, nutzte sie nach Überredung durch die Kurie jedoch fortan insgesamt viermal.
Der Papst gewann durch sein freundliches Auftreten („Der lächelnde Papst“) sofort auch bei Nichtkatholiken Sympathie. Als erster Papst verwendete er in offiziellen Schreiben und Ansprachen für sich selbst nicht mehr die Anrede „Wir“, sondern „ich“. Mit dem Verzicht auf die Papstkrönung und den Majestätsplural gab er auch seinen Nachfolgern das Maß vor. Überhaupt rückte er von vielen kleinen Traditionen und Gepflogenheiten ab und hob damit die Distanz des hohen Amtes zugunsten größerer Nähe zu den Menschen seiner Umgebung auf. Er war der erste Papst, der selbst ein Telefon bediente und auf den Kniefall der Schweizergarde bei seinem Vorübergehen im Vatikan verzichtete.
In seinem kurzen, nur 33 Tage dauernden Pontifikat hatte er nicht die Zeit zu reisen, Heiligsprechungen vorzunehmen, ein Regierungsprogramm vorzulegen oder Enzykliken o. ä. zu veröffentlichen. Er bekannte sich in seinen wenigen Ansprachen jedoch ohne Einschränkung zu den Lehren seiner Vorgänger, was angesichts der Wahl des Doppelnamens niemanden wundern konnte. Luciani hatte trotzdem sein eigenes und von seinen Vorgängern unabhängiges Profil. Einige schon ab 1947 veröffentlichte Abhandlungen lassen es erkennen. Am 10. September 1978 sprach er in einer Angelus-Ansprache von Gott als Vater (Papa), „aber noch mehr ist er Mutter“.
Nach einem Pontifikat von nur 33 Tagen starb Johannes Paul I. in der Nacht vom 28. zum 29. September 1978. Er wurde in der Krypta des Petersdoms bestattet.
NEUNTES KAPITEL
JOHANNES PAUL DER GROSZE
Karol Wojtyła wurde am 18. Mai 1920 in Wadowice, einer Kleinstadt bei Krakau, geboren. Seine Eltern waren der ehemalige Unteroffizier Karol, der als Schneider tätig war, und Emilia. Die Mutter starb, als Karol acht Jahre alt war. Im Alter von 12 Jahren verlor er seinen älteren Bruder Edmund, der am 5. Dezember 1932 als junger Mediziner in Bielitz an Scharlach starb. Seine ältere Schwester verstarb noch vor seiner Geburt.
In seiner Kindheit war Wojtyła sehr sportlich und spielte oft Fußball als Torwart. Er war ein Fan des Sportklubs Krakau. In seinen prägenden Jahren wurde er durch zahlreiche Kontakte mit der jüdischen Gemeinde in Wadowice beeinflusst. Oft wurden Fußballspiele in der Schule zwischen einer jüdischen und einer katholischen Mannschaft organisiert. Karol Wojtyła spielte oft freiwillig als Torwart bei der jüdischen Mannschaft, wenn diese nicht genug Spieler hatte. Mit Jerzy Kluger, einem seiner damaligen Freunde, war er bis zu seinem Tod sehr eng befreundet.
Ab 1930 besuchte er das Gymnasium und wirkte ab 1934 bei Theateraufführungen mit. Wojtyła war Ministrant, galt als strebsamer Schüler und beendete die Schule mit Bestnoten. Im Sommer 1938 siedelte er mit dem Vater nach Krakau über und schrieb sich zum Studium der Philosophie und Polnischen Literatur an der Jagiellonen-Universität ein. Drei Jahre später, im Jahre 1941, starb sein Vater.
An der Universität schloss sich Wojtyła der Experimentaltheatergruppe „Studio 39“ an, in der er bis 1943, zuletzt im Untergrund, wirkte. Er verfasste literarische Texte: Neben diversen Gedichten schrieb er 1940 das dreiteilige Drama Jeremia, ein biblisch inspiriertes Mysterienspiel mit politischem Bezug. Ebenso engagierte er sich im Rhapsodischen Theater. Sein Mysterienspiel „Im Laden des Goldschmieds“ wurde 1960 veröffentlicht.
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde die Universität von der deutschen Besatzungsmacht geschlossen, 183 Professoren wurden im Zuge der Sonderaktion Krakau verhaftet, ein Teil von ihnen kam in Konzentrationslagern ums Leben. Wojtyła führte seine Studien in der Untergrunduniversität fort, wurde aber zur Zwangsarbeit in einem Steinbruch sowie vom Frühjahr 1942 bis August 1944 in einer Chemiefabrik verpflichtet. So konnte er seine Deportation zur Zwangsarbeit nach Deutschland verhindern.
Wadowice und Krakau sind Orte, die bis zum Zweiten Weltkrieg sehr stark durch die jüdische Kultur beeinflusst waren, was prägend für Wojtyłas positives Verhältnis zum Judentum war.
Im Oktober 1942 trat er ins geheime Priesterseminar der Erzdiözese Krakau ein. Von August 1944 bis Kriegsende 1945 fand er Zuflucht in der Residenz des Erzbischofs Adam Stefan Sapieha.
Am 1. November 1946 empfing Wojtyła im Geheimen die Priesterweihe von Adam Stefan Sapieha und promovierte in den folgenden zwei Jahren auf dessen Anweisung in Rom am Angelicum über die Glaubensdoktrin beim heiligen Johannes vom Kreuz. Am 3. Juli 1947 erwarb er das Lizenziat der Theologie, im Juni 1948 das Doktorat der Philosophie (mit der Note summa cum laude).
Im Anschluss war Karol Wojtyła als Kaplan in Niegowić und später in der Krakauer Studentenkirche St. Florian tätig, wo er bald für seine Predigten bekannt wurde. Er wurde Ende 1948 zum Doktor der Theologie promoviert.
Ab 1953 lehrte Wojtyła als Professor für Moraltheologie in Krakau und bekam 1954 einen Lehrauftrag für Philosophie und Sozialethik an der Katholischen Universität von Lublin, wo er sich 1953 mit einer Arbeit „Beurteilung der Rekonstruktionsmöglichkeiten einer christlichen Ethik auf der Basis der Voraussetzungen des ethischen Systems“ von Max Scheler habilitierte.
Am 28. September 1958 wurde Karol Wojtyła zum Weihbischof in Krakau geweiht. Wojtyła nahm aktiv am Zweiten Vatikanischen Konzil teil; sein Hauptaugenmerk lag dabei auf den Gebieten Religionsfreiheit und einer zeitgemäßen Verkündigung der kirchlichen Lehre, die die Konzilsdokumente Dignitatis humanae und Gaudium et Spes behandeln.
Am 13. Januar 1964 folgte Wojtyła Erzbischof Baziak im Amt des Erzbischofs von Krakau. Sein Episkopat in Krakau war vor allem durch eine „sanfte“ Konfrontation mit dem kommunistischen Regime Polens geprägt. Sein Beharren auf dem Bau der Arka Pana, einer Kirche in der neuen Arbeiterstadt Nowa Huta, und seine Predigten, in denen er oft die freie Ausübung der Religion für alle Polen forderte, zeigten ihn als unerschrockenen Antikommunisten. 1965 war er maßgeblich an dem Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder beteiligt, in dem zur Versöhnung zwischen beiden Völkern aufgerufen wurde. Auch dies machte ihn zum Objekt scharfer Attacken der kommunistischen Machthaber. Am 26. Juni 1967 wurde Wojtyła zum Kardinal erhoben. In dieser Zeit hörte Karol Wojtyła mit der aktiven wissenschaftlichen Arbeit nicht auf, er publizierte 1969 ein philosophisches „Credo“ seines eigenen Personalismus in der Monographie „Person und Tat“ und nahm an verschiedenen polnisch-italienischen philosophischen Kongressen und Konferenzen teil.
Im Zuge der kirchlichen Bemühungen um eine deutsch-polnische Aussöhnung besuchte Wojtyła 1974 die Bundesrepublik Deutschland und zelebrierte mit Kardinal Döpfner am 19. September eine Heilige Messe im Karmel Heilig Blut am Rande der KZ-Gedenkstätte Dachau. Als Papst sprach er später 48 der im Konzentrationslager Dachau inhaftierten Priester selig. Ein letzter Deutschlandbesuch vor seiner Wahl erfolgte 1978 an der Seite des Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński.
Die Amtszeit von Johannes Paul II. als Papst dauerte vom 16. Oktober 1978 bis zu seinem Tod am 2. April 2005. In diese mehr als 26 Jahre fielen weltgeschichtlich das Ende des Kalten Krieges, der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa mit der Entstehung neuer Nationalstaaten sowie die Kriege in Afghanistan, im ehemaligen Jugoslawien und im Irak.
Johannes Paul II. suchte stärker als seine Vorgänger die Öffentlichkeit und scheute die Massenmedien nicht. Bei seinen öffentlichen Auftritten vor großen Menschenversammlungen wirkte er als charismatische Persönlichkeit.
Am 16. Oktober 1978 wurde Karol Wojtyła von den 111 zum Konklave versammelten Kardinälen in der Sixtinischen Kapelle als Nachfolger des am 28. September 1978 verstorbenen Johannes Paul I. zum nach kirchlicher Zählung 264. Papst und Bischof von Rom gewählt. Damit war er der erste nicht-italienische Papst seit Hadrian VI. (Utrecht, heute Niederlande) sowie der erste slawische Papst der Kirchengeschichte. Johannes Paul II. war bei seiner Wahl mit 58 Jahren der jüngste Papst seit Pius IX. Zudem war er in außerordentlich guter körperlicher Verfassung. Im Gegensatz zu anderen Päpsten vor ihm trieb er Sport, er schwamm und fuhr regelmäßig Ski. Der Papst soll mehr als hundertmal heimlich den Vatikan verlassen haben, um Ski zu laufen.
Am 4. März 1979 veröffentlichte Johannes Paul II. seine Antrittsenzyklika Redemptor Hominis, die ihn als Papst der Menschenrechte erscheinen ließ und den markanten Satz enthielt: Der Weg der Kirche ist der Mensch.
In den ersten Jahren des Pontifikats standen das Beharren auf der Religionsfreiheit und eine damit verbundene Konfrontation mit den kommunistischen Regimes Osteuropas im Vordergrund. Die Außenpolitik Johannes Pauls II. gegenüber dem Ostblock unterschied sich hier von der seiner kompromissbereiteren Vorgänger. Die polnische Parteiführung konnte eine Pastoralreise in die Heimat aufgrund seiner Popularität nicht verhindern. Vom 2. bis 10. Juni 1979 besuchte er zum ersten Mal als Papst sein Heimatland Polen. In Polen sahen etwa zehn Millionen Menschen den Papst, ein Viertel der gesamten polnischen Bevölkerung. Johannes Paul II. wurde zum Symbol des polnischen Widerstands. Symbolträchtig war sein Besuch in Polen nicht zuletzt deswegen, weil sich 1979 zum 900. Mal der Tod Stanislaus von Szczepanows jährte, eines Vorgängers Wojtyłas im Amt des Bischofs von Krakau, der wegen seines Widerstands gegen den tyrannischen König Bolesław II. eine Symbolfigur des polnischen Freiheitswillens ist und als Nationalheld verehrt wird.
Am 13. Mai 1981 feuerte der türkische Terrorist Ali Agca um 17:17 Uhr aus nächster Nähe mindestens zwei Pistolenschüsse auf Johannes Paul II. ab, als dieser im offenen Papamobil auf dem Weg zur Generalaudienz in langsamer Fahrt die auf dem Petersplatz versammelte Menschenmenge passierte. Eine Kugel traf den Papst an der linken Hand und an der Schulter, eine zweite drang in seinen Unterleib ein. Sofort in das Gemelli-Krankenhaus gebracht, konnte sein Leben durch eine fünfstündige Operation gerettet werden. Gegen den Rat der Ärzte kehrte er schon am 3. Juni in den Vatikan zurück. Eine schwere postoperative Virusinfektion zwang ihn jedoch dazu, sich am 20. Juni für weitere 24 Tage in die Klinik zu begeben.
Die Hintermänner des Attentats wurden beim sowjetischen Geheimdienst KGB vermutet. Es blieb allerdings lange Zeit eine Vermutung, da Agca sich bis März 2005 beharrlich über die Hintergründe des Attentats ausschwieg. 2006 kam ein Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments zu dem Schluss, dass das Attentat im Auftrag Breschnews vom russischen Geheimdienst in Zusammenarbeit mit dem bulgarischen Geheimdienst verübt worden sei. Aufsehen erregte der Papst, als er den Attentäter, dem er schon auf dem Krankenbett vergeben hatte, nach der Genesung im Gefängnis besuchte.
Da die Marienverehrung für Johannes Paul II. besonders wichtig war und das Attentat am Gedenktag Unserer Lieben Frau in Fatima verübt wurde, an dem sich in dem portugiesischen Fatima 1917 die erste Marienerscheinung ereignet hatte, schrieb Johannes Paul II. seine Rettung der Gottesmutter zu und bedankte sich mit einer Wallfahrt in den portugiesischen Wallfahrtsort. Dabei brachte er das Geschoss, das ihm aus dem Bauch entfernt worden und inzwischen vergoldet und in eine kleine Krone gefasst war, der Madonna von Fatima als Geschenk dar.
Am 12. Mai 1982, während der Pilgerreise des Papstes in Portugal zum Dank, dass er das Attentat überlebt hatte, versuchte der ultrakonservative katholische Priester Krohn, Anhänger des französischen Bischofs Lefebvre, mit einem Bajonett ein weiteres Attentat auf den Papst zu verüben, konnte jedoch von den Leibwächtern überwältigt werden. Der Attentäter begründete sein Handeln mit der „Rettung“ der katholischen Kirche vor den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Johannes Paul II. nahm die repräsentativen Aspekte des Papstamtes verstärkt wahr. Dies zeigte sich vor allem in den 104 Auslandsreisen des Papstes, Pastoralbesuche genannt, auf denen er 127 Länder besuchte. Seine Reisetätigkeit trug ihm rasch den Spitznamen „Eiliger Vater“ ein. Johannes Paul II. unternahm während seiner Amtszeit mehr Auslandsreisen als alle früheren Päpste zusammen. Auf seine erste Reise, die ihn in die Dominikanische Republik, nach Mexiko und auf die Bahamas führte, begab er sich bereits rund drei Monate nach seiner Wahl. Wenn Johannes Paul II. ein Land zum ersten Mal betrat, zeigte er durch seinen Kniefall und das Küssen des Bodens seine Ehrerbietung.
Von politischer Bedeutung waren insbesondere die Reisen in sein Heimatland, durch die er den polnischen Widerstand gegen das kommunistische Regime stärkte.
Vom 28. Mai bis 2. Juni 1982 besuchte Johannes Paul II. als erster Papst seit der Trennung der anglikanischen Kirche vor 450 Jahren Großbritannien. Während des Aufenthalts wurde er von Königin Elisabeth II. empfangen und besuchte einen ökumenischen Gottesdienst in der Kathedrale von Canterbury. Im Jahr 2000 begab sich der Papst auf eine Reise ins Heilige Land (Israel, Jordanien, Palästinensergebiete).
Am 15. Januar 1995 hielt der Papst in Manila vor vier Millionen Menschen den größten Gottesdienst in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche. Es war zugleich die größte bekannte Versammlung in der Geschichte der Menschheit. Am 21. Januar 1998 führte ihn eine Pilgerreise ins sozialistische Kuba.
Die Bundesrepublik Deutschland besuchte Johannes Paul II. als Papst erstmals im November 1980, weitere Deutschlandbesuche folgten in den Jahren 1987 und 1996. Österreich besuchte er in den Jahren 1983, 1988 und 1998, die Schweiz 1982, 1984, 1985 und 2004.
Neben den Reisen waren insbesondere die persönlichen Treffen mit weltlichen Machthabern und religiösen Würdenträgern, mit denen der Papst oftmals Zeichen setzte, charakteristisch für die Amtszeit Johannes Pauls II. So empfing er 1982 den Palästinenserführer Jassir Arafat. Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer – am 1. Dezember 1989 – traf er Michail Gorbatschow – es war das einzige Mal, dass ein Generalsekretär der KPdSU von einem Papst empfangen wurde. Im März 1999 fand im Vatikan ein Treffen des Papstes mit dem iranischen Präsidenten Mohammed Chatami statt, was als historisches Ereignis bewertet wurde.
Am 27. Oktober 1986 kam es in Assisi zu einem von Johannes Paul II. initiierten interreligiösen Friedenstreffen mit hochrangigen Vertretern der großen Weltreligionen, bei dem der Papst alle Religionen einlud, jeder in seiner Tradition, für den Frieden zu beten. Unter dem Eindruck der Anschläge des 11. Septembers und des darauf folgenden Kriegs in Afghanistan organisierte der Papst am 24. Januar 2002 ein zweites Gebet der Weltreligionen.
Zahlreiche informelle Treffen gab es mit der Philosophin Anna-Therese Tymieniecka, mit der ihn eine enge persönliche und fachliche Freundschaft verband. Sie besuchte ihn zuletzt am Tag vor seinem Tod. Die Bedeutung dieser Beziehung für den Papst wird durch den dokumentierten intensiven Briefwechsel deutlich.
Mit der Öffnung der Heiligen Pforte am 25. Dezember 1999 begannen die Feierlichkeiten für das Heilige Jahr 2000. Am 12. März 2000 sprach der Papst ein „Mea culpa“ für die Kirche wegen ihrer Verfehlungen wie Glaubenskriege, Judenverfolgungen und Inquisition aus. Acht Tage später begann eine Reise nach Israel, Jordanien und in die Palästinensergebiete, bei welcher er die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel besuchte und an der Klagemauer betete.
Im Heiligen Jahr wurde das bis dahin vom Vatikan geheimgehaltene sogenannte „dritte Geheimnis von Fatima“ durch Kurienkardinal Joseph Ratzinger der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Darin soll die Erscheinung von Fatima das Attentat auf einen Papst vorhergesagt haben, eine Prophezeiung, die Johannes Paul II. auf sich bezog.
Das Heilige Jahr war zugleich das Jahr des 80. Geburtstags Johannes Pauls II. Zu diesem Anlass am 18. Mai 2000 widmete der Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz dem Papst eine Ode.