ECCE HOMO


MEMOIREN VON TORSTEN SCHWANKE



ERSTES KAPITEL
MEIN ELTERNHAUS

Ich war vielleicht vier Jahre, jedenfalls konnte ich schon Fahrrad fahren, mein erstes kleines Kinderfahrrad. Ich trug eine kurze bayrische Lederhose. Mein Haar war hellblond und kurz geschnitten. Ich fuhr, so schnell es ging, vom Blaufärberweg auf die Auto-Auffahrt, den schmalen Weg zwischen der Garage und Nachbars Bohnenbeeten vorbei, um die Ecke, über den Rasen und - fuhr direkt in den Graben, der unseren Garten von Lenz' Park trennte. Das ist eine meiner frühsten Erinnerungen.

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Stefan war zwei Jahre älter als ich, aber von Ende August bist Anfang November war er drei Jahre älter. Kindliche Mathematik. Zwischen unserm Garten und Lenz' Park, vor Omas Küchenfenster stand ein Haselnussbaum, in den Stefan kletterte, aber herunterfiel und mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus musste. Ich bin auch einmal in einen Baum geklettert und auch heruntergefallen und zwar direkt in die Brennesseln, mit nackten Armen und Beinen. Nur die Nachbarin Frau Reimer hörte mein Wehgeschrei, kam und verarztete mich in ihrer Küche mit "Onkel Reimers gutem Schnaps".

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In Lenz' Park, vor meinem Zimmerfenster, stand ein schöner alter Kastanienbaum. Stefan und ich hatten ein blaues Schiffstau hineingehängt, so konnten wir gut in den Baum klettern. Auf dem Kastanienbaum sammelten sich die Tauben und gurrten. Hinter Lenz' Park stand die kleine Katholische Kapelle Sankt Wiho, und man sah den schiefen Kirchturm der evangelischen Kirche Sankt Ansgari, Stefans und meiner Taufkirche. So war das das Bild meiner Kindheitsheimat: Kastanienbaum, Taubengegurr und Glockenläuten. Als Papa und Mama mir später in Oldenburg eine Wohnung kaufen wollten, sah ich in einer Wohnung vorm Balkon einen Kastanienbaum, hörte von dort Taubengurren und in der Nähe Kirchenglocken (der Katholischen Kapelle Sankt Christopherus und der evangelischen Kirche Martin Luther). Da wusste ich, hier kann ich Heimat finden.

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Am Ende unseres Gartens hatte Papa einen kleinen Obstgarten angelegt, da wuchs Rhabarber, Stachelbeeren, schwarze und rote Johannesbeeren. Von dem Rhabarber machte meine Mutter leckeren Pudding, mit warmer Vanillesauce serviert. Von den Stachelbeeren machte sie einen leckeren Kuchen, die sauren Stachelbeeren versüßte sie mit Baiser, weißem Zuckerschaum. Aus den Johannesbeeren machte sie Gelee. Wir gingen auch mit den Eltern in den Wald und sammelten wilde Brombeeren und Himbeeren. Mama machte Marmelade daraus. Oder wir gingen auf die Erdbeerplantagen und sammelten Erdbeeren für Marmelade und Torte. Wenn Mama Erdbeermarmelade machte, freute ich mich immer über den Erdbeerschaum. Wenn Oma (die nebenan wohnte) Geburtstag hatte, am 2. Juni, durfte ich mir immer einen Kuchen wünschen, dann wünschte ich mir selbstgemachte Erdbeertorte mit Schlagsahne.

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In Lenz' Park, den wir pflegten und nutzen durften, stand ein alter knorriger Apfelbaum. Die Apfelsorte hieß Boskop, die waren groß und recht sauer. Aber ich liebte sie. Als ich das Lesen für mich entdeckt hatte, aß ich beim Lesen immer Boskop-Äpfel. Aber den "Griepsch", das Gehäuse, ließ ich im Zimmer liegen, worüber meine Mutter mit mir schimpfen musste. Neben dem Boskop-Baum standen da auch noch ein Birnbaum, ein Pflaumenbaum, ein Baum mit süßen Kirschen, da war ein Brombeerstrauch, weiter stand da eine fast dreihundertjährige Blutbuche, und zur Osterzeit war der Park bedeckt mit weißen, gelben und violetten Krokusblumen. Von daher kann ich sagen, dass der Krokus eigentlich meine Lieblingsblume ist, den ich später in Oldenburg im Garten meiner Freundin Evi beobachtete, wenn ich unterm Kastanienbaum auf der Wiese lag, dem Taubengurren lauschte, den Schmetterlingen zuschaute und den Hummeln, wie sie die Krokusblüten heimsuchten, das ist die Erotik der Natur.

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Aber nicht nur süßes Obst liebte ich, sondern auch das künstliche Brausepulver mit Waldmeistergeschmack. Ich feuchtete den Zeigefinger mit Speichel an, steckte ihn in die kleine Papiertüte, das Brausepulver schäumte auf und blieb am Finger haften, den ich dann ableckte. Dazu las ich einen epischen Roman von Michael Ende, indem auch chinesische Mandarinen und die Prinzessin Ping-Pong vorkamen. Auch kaufte ich mir manchmal eine Tüte mit Weingummi am Kiosk. Besonders liebte ich auch die Dänischen Lakritze, die Mama und Papa von Butterfahrten mitbrachten. Mama hatte in der Küche in einem Schrank sehr hoch oben ein großes Glas mit Bonbons, eigentlich unerreichbar und uns nur spärlich zugeteilt. Aber manchmal, wenn ich allein war, kletterte ich auf die Spüle und klaute mir einen Bonbon. Auch hatte Mama in Papas spärlich frequentierter Bar ein Packung mit Schokolade-Minze-Täfelchen, daraus ich mir manchmal den Inhalt raubte, die Packung leer zurückließ, "damit es keiner merkt". Wenn ich mir einmal Kartoffelchips kaufte, sagte mein Vater: So etwas essen nur primitive Leute. - Ich wollte zwar nie zu den primitiven Leuten gehören und war mir auch immer bewusst, nicht einer von denen zu sein, aber heimlich aß ich doch Kartoffelchips. Oma hatte in ihrem Wohnzimmerschrank eine Schale mit Bonbons, und wenn ich zu ihr kam, durfte ich mir öfter einen kleinen Bonbon nehmen.

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Die hochberühmte Nachtigall habe ich nie gehört. In unserm Garten waren vor allem die Amseln unsere täglichen Gäste, das Weibchen in braungrauer Tarnfarbe zum Schutz der Brut, das Männchen im samtschwarzen Frack und goldgelbem Schnabel. Die Amseln nahmen Schneckenhäuschen in den Schnabel und zertrümmerten sie auf einem Pflasterstein, um an das leckere Innere, das weiche Fleisch der Schnecke zu kommen. Auch Meisen waren in Lenz' Park, ich glaube Blaumeisen, die schön sind wie schwebende blaue Blumen. Von meinen geliebten Tauben hab ich schon gesprochen. Ich kannte natürlich das Märchen von Aschenputtel mit seinem Ruckediguh. Später, wenn ich eine Taube vom Himmel schweben sah, dachte ich spontan, der Heilige Geist kommt auf mich herab. Aber auch Schwalben bauten ihr Nest an unserer Garage. Wenn ich später in einem alten chinesischen Gedicht übersetzte: Und wie ein Schwalbenpaar bauen wir unser Nest an des Edlen Haus, dann musste ich an die Schwalben meines Elternhauses denken.

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Vor Omas Hintertür, die zur Küche führte, waren unter den Steinplatten immer viele Ameisen. Da Oma nicht wollte, dass die in ihre Küche kamen, übergoss sie den ganzen Palast der Königin mit heißem Wasser. Ich verteidigte das Recht der Ameisen auf Leben. Auch waren in dem kleinen Beet vor unserer Terrasse immer viele Nacktschnecken, die die Nutzpflanzen zerfraßen, und gegen sie wurde gekämpft, indem man Salz auf ihre nacktes Fleisch streute. Ich selbst aber war auch grausam: Im Winter sperrte ich einen Frosch in einen Topf mit Wasser ein und ließ ihn im Eis einfrieren. Da waren auf den Steinen unserer Terrasse kleine winzige Tierchen, wie hellrote Punkte, die, wenn ich sie mit dem Finger zerdrückte, dennoch weiter leben. Auch staunte ich sehr über den Regenwurm, der, wenn ich ihn in der Mitte mit dem Messer durchschnitt, als zwei kleine Regenwürmer weiter lebte.

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Da wir nah an der Nordseeküste wohnten, bekamen wir vom Hafen in Norddeich immer guten Fisch. Mama briet auf der Terrasse den Fisch, damit nicht das ganze Haus danach roch. Besonders liebte ich die panierten Seezungen, aber auch die gebratenen Schollen und den Brathering. Aber Kult war es, wenn Mama einen Beutel Krabben mitbrachte. In Ostfriesland gibt es ja Wettbewerbe, wer am schnellsten Krabben puhlen konnte. Mama und ich puhlten die Krabben, und es gab diese dann auf einem kräftigen Schwarzbrot mit Butter, manchmal noch mit einem Spiegelei. Auch kam immer Freitags der Fischwagen an den Blaufärberweg, wohl noch aus Erinnerung an alte christliche Zeiten: Freitags ist Fisch-Tag, da fasten wir und enthalten uns des Fleischgenusses, weil der Herr Jesus am Freitag für uns gekreuzigt worden ist.

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In der Adventszeit backte Mama leckere Kekse, besonders gut waren die Vanillekipferln und die Haferflockenplätzchen. Mama sagte dann: Abendrot, Abendrot, die Englein backen Brot. Zum heiligen Nikolaus stellten wir am Vorabend einen Teller mit Schwarzbrot vor die Haustür, für das Pferd des heiligen Nikolaus. Der gute Bischof ließ uns dafür ein Stiefelchen voll Schokolade da. Abend am heiligen Nikolaustag ritt dann der heilige Bischof auf seinem Pferd durch Hage, warf Bonbons unter die Kinder. Hinter ihm ritt sein schwarzer Knecht Ruprecht mit der Rute für ungezogene Kinder. In der Adventszeit sang Mama mit uns Weihnachtslieder, manchmal spielte ich Flöte dazu. Mama konnte sehr schön singen. Stille Nacht, heilige Nacht, einsam wacht nur das hochheilige Paar, Knabe im blonden lockigen Haar, Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem, ihr Kinderlein, kommet, o Tannenbaum, süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit, ich steh an deiner Krippe hier, Maria und Josef, die lagen im Stroh... Mama und Papa schlossen das Wohnzimmer ab, drinnen wurden die Geschenke unter den Weihnachtsbaum gelegt, der war erleuchtet von echten Kerzen, nicht etwa von elektrischem Licht, es hieß, Kinder, der Weihnachtsmann ist gerade da. Wir gingen dann erst zu Oma rüber, da war zuerst Bescherung. Meistens bekam ich von Oma einen Schlafanzug, einen Taler und Schokolade. Oma hatte Heringssalat gemacht, das war mit Kartoffeln unser Festessen. Dann gingen wir wieder in unser Haus zur Bescherung. Das schönste Weihnachtsgeschenk war ein Fort mit Yankees, Cowboys und Indianern. Einmal bekam ich einen technischen Baukasten geschenkt, darin war ich aber nicht sehr geschickt. Mitternachts gingen Oma und Mama mit Stefan und mir in die Ansgarikirche zum Weihnachtsgottesdienst. Mama sang: Es ist ein Ros entsprungen, und ich verstand: Es ist ein Ross entsprungen. Da war die Krippe, der Stall von Bethlehem, die schöne Maria mit ihrem Josef, die heiligen drei Könige, die Hirten, das Jesusbaby. Oma hat auch in der Vorweihnachtszeit gebacken, vor allem Christstollen. Wenn sie dann zu Neujahr Neujahrskekse backte, gab sie mir den gebackenen Teig und ich rollte sie an einer hölzernen Wäscheklammer zum Röllchen.

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Sylvester Abend ging Papa mit Stefan und mir hinters Haus und entzündete Feuerwerk, aber keine Raketen, sondern Sonnenräder, die waren wir kreisende, tanzende, Funken sprühende Sonnen. Dann kamen wir Brüder zu Oma und schliefen bei Oma. Mama und Papa gingen dann feiern zu Freunden. Vor Mitternacht weckte uns Oma, wir bekamen Limonade und Salzstangen und guckten uns Sylvesterfeiern im Fernseher an. Um Mitternacht traten Oma, Stefan und ich auf dem Blaufärberweg uns das Feuerwerk über Hage anzusehen. In den kommenden Tagen knallte ich noch mit den sogenannten Laubfröschen, die ich in Spielzeugautos steckte und so die Autos in die Luft jagte.

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Sitz nicht so nah vorm Fernseher, sonst kriegst du viereckige Augen! mahnte Mama. Ich erinnere mich an die Winnetou-Filme. Old Shatterhand hätte ich gerne zum Vater gehabt. Mit meinem Freund Andreas spielte ich Cowboy und Indianer, er war schwarzhaarig, also war er Winnetou, ich war blond, ich war Old Shatterhand, und Karin war schwarzhaarig und war Nscho-Tschi, die Squaw, die ich versuchte zu küssen. Aber ich erinnere mich auch noch an viele Filme mit Marilyn Monroe, die ich nicht als ein Lustobjekt betrachtete, ich war ja noch ein Kind, nein, sie war so etwas wie eine Mutter für mich. Ja, ich war das Kind von Old Shatterhand und Marilyn Monroe! Auch erinnere ich mich an die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste, eine Art Marionettentheater für Kinder. Und ich liebte die Sendung mit dem Bücherwurm, das war ein Wurm, der die besten neuen Kinderbücher vorstellte. Aber vor allem kam Musik aus dem Fernseher. Mama liebte ja die Musik. Ich bin mit der Schlagermusik der siebziger Jahre groß geworden. Wir sahen den europäischen Schlagerwettbewerb, hörten allwöchentlich die Schlagerhitparade. Vielleicht hab ich so reimen gelernt und nicht etwa von Rainer Maria Rilke. Aber den stärksten Eindruck hinterließ die schwedische Disco-Gruppe Abba, deren Musik harmonisch und fröhlich war, und die junge blonde Sängerin Agneta war keine Frau, sondern eine schwedische Göttin.

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Meine Eltern hatten sich von Freunden ein Lamm geliehen, das weidete von Frühling bis Herbst in Lenz' Park, bis es zurückgegeben wurde. Es waren mehrere Lämmer mehrere Jahre bei uns. Über ein Schaf schrieb ich ein Gedicht: Fressen, Pissen, Schlafen, so geht sein Leben hin. Einmal hatten wir ein schwarzes Lamm, das nannten wir Petra, das starb aber an einem Bandwurm. Die Schafe standen angepflockt im hohen Gras des Parkes und ersparten die Sense, der Pflock wurde immer wieder versetzt. Aber einmal, als meine Eltern im Urlaub waren und ich bei Oma wohnte, hatte der Regen den Boden aufgeweicht, das Schaf hatte den Pflock herausgezogen und war fortgelaufen. Ich eilte hinterher, es wieder zu bringen. Nachbarn hatten es gefunden und mir wieder übergeben. Ich kam deswegen zu spät zur Schule und sagte dem Lehrer entschuldigend: Ich musste erst unser Schaf einfangen. Und die ganze Klasse lachte.

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Ostern feierten wir eigentlich nicht christlich, sondern heidnisch. Mama legte Eier in Salzwasser ein, die Soleier wurden dann mit Essig, Öl, Salz und Pfeffer gefüllt gegessen. Mama färbte auch Ostereier, aber nicht mit künstlicher bunter Farbe, sondern mit Zwiebelschalen, was ein schönes Braun ergab. Mit Papa gingen Stefan und ich in den Garten und spielten Boccia mit bunten Ostereiern. Bei Oma gab es bunte Eier, Schokolade und einen Taler in einem grünen Osterhasennest. Zu Ostern kamen aber damals noch christliche Spielfilme im Fernsehen. Ich erinnere mich an einen Jesusfilm, und zwar einzig und allein an die Szene, da Petrus den Jesus dreimal verleugnet hatte, wie Jesus ihn da anschaute, und Petrus bitterlich weinte. Diesen Blick Jesu habe ich tief in der Seele empfunden. Auch sah ich den Film Quo Vadis über die römische Christenverfolgung unter Kaiser Nero. Daher kommt wohl meine große Liebe zu Petrus, der mir persönlich der liebste unter den Aposteln ist. Wenn wir auf einem Spaziergang Angler an einem Wasser sahen, sagte Mama: Petri Heil!

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Sonntags gingen wir zwar nicht in die Kirche, aber es war uns doch ein besonders feierlicher Tag. Am Sonnabend hörten wir abends im Fernseher die kurze Predigt, das Wort zum Sonntag. Meine Indianerfreunde im Wald sagten zu mir: Predige uns nicht schon wieder das Wort zum Sonntag! Am Sonntagmorgen frühstückten wir nicht wie sonst in der Küche, sondern im Wohnzimmer. Es gab statt der gewöhnlichen Margarine gute Butter. Mama machte im Radio klassische Musik an, manchmal gab es im Radio noch eine Sonntagsandacht. Oma zog am Sonntag immer ein besonders schönes Kleid an und trank den Tee aus einem besonders festlichen Geschirr.

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In der Schule hatten wir Religionsunterricht, ich bekam dazu eine bebilderte Kinderbibel. Ich erinnere mich an einen Nachmittag in der blauen Dämmerung, da las ich allein zuhause in meinem Zimmer in der Kinderbibel. Ich las vom Knaben Samuel, der im Tempel Gottes lebte mit dem alten Priester Eli. Nachts hörte er eine Stimme ihn rufen: Samuel, Samuel! Der Knabe dachte, der alte Priester habe ihn gerufen und ging zu ihm, der aber schickte ihn wieder ins Bett. Da hörte er wieder die Stimme seinen Namen rufen. Er ging wieder zu dem Priester, und der erkannte, dass Gott den Knaben anruft und sagte: Nächstes Mal, wenn du gerufen wirst, sage: Rede, Herr, dein Knecht hört. So tat der Knabe, als er zum dritten Mal beim Namen gerufen wurde: Rede, Herr, dein Knecht hört. - Als ich das las, sah ich die Szene lebendig vor mir, wie der Knabe Samuel von Gott zum Propheten berufen wurde. Meine erste Berufung war ja meine Taufe am 16. Januar 1966, aber diese Szene war meine zweite Berufung.

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Eines Tages hatte ich ein neues Buch: Germanische Götter und Heldensagen. Da war von Thor die Rede, dem Donnergott. Ich bin ja nach ihm benannt. Torsten heißt: der Steinhammer des Donnergottes! Da war ein prosaische Nacherzählung des Nibelungenliedes. Ich liebte die ersten siebzehn Abenteuer bis zum Tode Siegfrieds. Kriemhilds Rache und König Etzel, den Hunnen, das war mir zu grausam. Da gab es aber auch das schöne Gudrunlied, die christliche Schwester des Nibelungenliedes, das spielte in Dänemark und Friesland und Sturmland - meiner Heimat. Und wenn von Kriemhilde oder Gudrun die Rede war: Und das holde Mägdelein mit seinen langen Zöpfen schaute aus der Kemenate auf den Recken - dann dachte ich an meine blonde Nachbarin Gudrun. Dazu kamen unsere häufigen Sommerferien in Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland, bis zum Nordkap. Und so habe ich in meiner Kindheit die germanische Seele tief in mich aufgenommen. Ich war nicht ein Ostfriese aus dem Landkreis Norden, ich war ein Germane, einer vom stolzen alten Volk der Friesen! Eala freya fresena - es lebe das freie Friesland!

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Papa hatte mir verboten, Comics zu lesen. So musste ich mir meine Indianercomics heimlich kaufen. Ich legte sie in eine Schatzkiste und vergrub sie in Lenz' Park, wo ich sie heimlich im Baumschatten las. Mein Onkel Arno las Groschenhefte vom Bahnhof, Cowboygeschichten zweispaltig auf schlechtem Zeitungspapier. Er schenkte mir einige Hefte. Papa verbot mir, so etwas zu lesen. Wütend warf ich meine guten Kinderbücher aus dem Regal und rief: Dann will ich das aber auch nicht mehr lesen. Nachträglich bin ich Papa dankbar dafür. Er hat zwar selbst keine Bücher gelesen, nur sozialdemokratische illustrierte Zeitschriften wie Stern und Spiegel, aber er hatte Acht darauf, dass ich keinen Schund lese. Oma las auch Groschenhefte, Arztromane. Sie hatte in der Küche einen Kalender, auf dem jeden Tag ein neuer Weisheitsspruch stand, den lasen wir immer zusammen. Einmal fragte ich Oma, ob sie in der Schule auch Goethe gelesen. Da lachte sie und sagte: Goethe? Ach mein lieber Junge!

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Mein erstes Kartenspiel, dass ich öfter mit Stefan und Mama spielte, war das einfache Mau-Mau. Dann brachten Papa und Mama uns Rommée und Canasta bei, das spielten wir zu viert. Wenn ich allein war und mir die Zeit vertreiben wollte, legte ich mit Karten Patiencen. Papa war sehr gut im Skat. Ich hab es nie begriffen. Papa traf sich regelmäßig mit Freunden zum Skatspielen, sie saßen dann zu viert im Wohnzimmer, die Ehefrauen spielten mit Mama in der Küche ein anderes Kartenspiel. Papa gewann auch oft bei Skatwetbbewerben große Schinken. Auch spielten Stefan und ich mit Karten, da man Autos oder Schiffe oder Flugzeuge mit ihren Stärken gegeneinander antreten lässt.

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Als Stefan noch klein war, da konnte er das nuckeln nicht lassen. Er nuckelte am Daumen, er nuckelte am Zipfel der Bettdecke. Mama strich Daumen und Zipfel mit einer bitteren Flüssigkeit ein, und Stefan verlor die Lust am Nuckeln.

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Papa hatte mir in seinem Werkzeugkeller ein Gewehr aus Holz gebastelt, damit ich mit meinen Freunden im Wald Indianer spielen konnte. Einmal hat er mir auch Pfeil und Bogen gemacht, damit ich Robin Hood spielen könne. Mein Holzgewehr hat mir der Nachbarsjunge Uwe geklaut, er leugnete es zwar, aber ich sah es bei ihm. Als ich mir aber im Geschäft kleine Soldatenfiguren und kleine Panzer gekauft hatte, hat Papa mir verboten, damit zu spielen. Als ich ihm sagte: Ich bin schon seit drei Tagen im Krieg mit meinen Freunden, da sagte Papa, der zweite Weltkrieg habe sechs Jahre gedauert, da war ich doch sehr erschrocken. Später, als ich mit meiner Freundin Karine ihre Kinder erzog, hatte mein lieber Juri von seinem Zeuger auch Soldaten und Panzer geschenkt bekommen. Karine und ich sahen uns nur an und warfen gemeinsam das Kriegsspielzeug in den Mülleimer.

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Die erste Poesie, die ich kennen lernte, war die Bibel und die Kirchenlieder. Dann kamen in kindlicher Form Edda, Nibelungenlied und Gudrunlied. Dann aber hörte ich in der Vertonung einer deutschen Musikgruppe die ersten Gedichte meines Lebens, von dem deutschen Romantiker Novalis: Wenn die so singen oder küssen / mehr als die Tiefgelehrten wissen. Und: Wer Schmetterlinge lachen hört, / der weiß wie Wolken schmecken. Und eine andere deutsche Musikgruppe zitierte das Gedicht an die Göttin der Morgenröte vom französischen Genie Arthur Rimbaud.

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Die erste Geschichte, die ich schrieb, war eine Festschrift zum Geburtstag meiner Oma, ein Fest beschreibend, da die Gäste in den Bäumen saßen und Trompeten bliesen und der Pastor kam mit der Bibel. Mit dreizehn Jahren saß ich in meinem Zimmer zur Stunde der blauen Abenddämmerung und schaute auf die Schwarzerle vorm Fenster und auf den Himmel und schrieb meine ersten Verse in ein Schulheft, zeigte es meinen Eltern, die aber nichts dazu sagten. Dann schrieb ich für meinen Vater zum Geburtstag eine Kriminalgeschichte, die von einem kriminalisierenden Pastor handelte und einer mörderischen Giftspinne. Mit meinem Freund Christian machte ich eine kleine Zeitung in einer Auflage von sieben Exemplaren, da ich ein Gedicht veröffentlichte und einen Text über ägyptische Hieroglyphen. Dann kaufte ich mir ein Blankobuch, auf dem Umschlag stand: Notizen eines verkannten Genies, und in dieses leere Buch schrieb ich meine ersten Gedichte, hauptsächlich Liebeslyrik in freien Versen für meine Pubertäts-Geliebte Hedda.

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Papas Bruder Onkel Hartmut hatte vier Töchter, einmal kam meine Cousine Petra zu Besuch, es war Sommer, wir spielten halbnackt im Garten, und Papa spritzte uns mit Wasser aus dem Wasserschlauch ab. Dann war ich mit Petra allein in meinem Zimmer. Wir spielten Wachküssen: Ich legte mich aufs Bett und tat, als ob ich schliefe, Petra kam und küsste mich wach. Das wiederholten wir so oft, bis wir uns genug geküsst hatten. Das war mein erster Kuss.

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Ich lernte in der Musikschule zwei Jahre lang Notenlesen und Flötespielen. Mama sang Weihnachtslieder und ich begleitete sie auf der Flöte. Zu Weihnachten bekam ich einmal eine chromatische Mundharmonika und ich übte O Tannebaum darauf. Dann bekam ich das alte Bahnhofsklavier von Omas Schwester. Ich hatte Herrn Krämer als Musiklehrer, der selbst Saxophon in einer Jazzband spielte. Erst musste ich Fingerübungen machen. Aber eines Tages konnte ich aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach spielen. Herr Krämer kam zu uns nach Hause, und auch Mama erfüllte sich ihren Kindheitswunsch, Klavier zu spielen. Später wollte ich dann keine Klassik mehr spielen, ich spielte stattdessen Blues und Boogie Woogie. Dann aber hörte das auf mit dem Klavierspiel. Ich bekam von Mama ihre akustische Gitarre geschenkt, mit der sie früher in der Baltrumer Gitarrengruppe gespielt hatte. Vorher bastelte Papa mir noch im Werkzeugkeller eine Gitarre ohne Saiten. Und wenn im Radio Eric Clapton von Layla sang, tat ich so, als ob ich die Gitarre spielte. Ich lernte die Blues-Tonleiter spielen. Einmal spielte ich Gitarre, da kam Mama rein und sagte: Na, lässt du sie wieder weinen? Papa kaufte mir dann eine elektrische Gitarre. Im Radio gab es eine Sendung, da wurde mit Bass und Schlagzeug der Blues-Rhythmus gespielt, und ich spielte auf der E-Gitarre mein Solo dazu. Mit einer Schulfreundin machte ich Musik, sie spielte Akkordeon und ich die E-Gitarre, wir spielten Lieder von den Beatles und Bob Dylan. Ich habe auch noch Blues-Mundharmonika gelernt, und noch lange mit Freunden musiziert. Aber eines Tages hörte alles Musizieren auf und ich liebte die Musik nur noch als Zuhörer. Als ich aber einmal meinem Onkel Arno, der in einem Männerchor sang, ein Lied zu Martini vorsang, sagte er: Du kannst nicht singen. Und er hat recht, ich bin nicht im geringsten in der Lage, mit meiner Stimme irgendeinen Ton zu treffen. Doch meine Liebe zur Musik hab ich wohl von Mama geerbt.

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Wenn Stefan und ich im selben Zimmer, ja im selben Bett einschliefen, erzählten wir uns meist schaurige Märchen vom Wolf im Walde. Natürlich kannte ich Grimms Märchen. Einmal kam Mamas Jugendfreundin und Cousine Ursel mit ihrem Mann zu Besuch. Der Mann stand abends im Badezimmer und rasierte sich nass (Papa benutze einen Rasierapparat und das Rasierwasser Tabac), der Mann setzte mir etwas Rasierschaum auf meine neugierige Nase und fragte, ob man mir auch Gutenachtgeschichten erzähle. Und dann erzählte er mir eine Gutenachtgeschichte.

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Ich war evangelisch-lutherisch getauft und konfirmiert. Ich war dreimal mit den katholischen Pfadfindern im Zeltlager. Und ich war in einer evangelikalen Freikirche zur Kinderbibelstunde. Das muss wohl die Vorsehung Gottes so eingerichtet haben, denn auch später im Erwachsenenleben als entschiedener Jünger Jesu hielt ich mich unter Katholiken und Lutheranern und Evangelikalen auf. Aber in meiner Kindheit kannte ich nur ein einziges Gebet, das ich oft wiederholte, mehr eine Art Stoßseufzer: Herr, wirf Hirn vom Himmel!

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Zu meiner Konfirmation kam mein geliebter Vetter Achim und schenkte mir eine Schallplatte von Eric Clapton. Papa hatte gesagt, ich müsse nicht wegen der Geschenke zur Konfirmation gehen, ich würde auch ohne Konfirmation Geschenke bekommen. Ich wollte aber zur Konfirmation. Oma gab mir ihre Bibel, die sie 1927 auf Baltrum vom Pastor zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatte, eine Lutherbibel in Frakturschrift (ich habe sie nach Omas Tod von Mama geerbt und hüte sie als kostbare Reliquie) und ihr Gesangbuch: Ein feste Burg ist unser Gott! Im Konfirmationsunterricht lernte ich das Vaterunser auswendig, vor Kerzen dachten wir an die armen Kinder in Afrika, dann sangen wir als Friesen noch den Shanty what shall we do with a drunken sailor! Dann war ich im schwarzen Anzug zum ersten evangelischen Abendmahl eingeladen. Als ich vor dem Kelch kniete bekam ich Nasenbluten. Es musste wohl so sein, denn ich ward berufen, nicht nur das verblutende Herz Jesu anzubeten, sondern selbst ein verblutendes Herz zu haben...


ZWEITES KAPITEL
VOM HASCHISCH

Ich wohnte bei meinen Eltern und hatte Kontakt zu unserem Nachbarn Uwe, der zwei Jahre älter war als ich, und der eine große Schallplattensammlung mit Krautrock hatte. Bei ihm lernte ich Eloy und Novalis kennen. Eines Tages schenkte er mir einen kleinen Brocken Hasch. Ich wusste nicht, wie damit umgehen. Ich legte es auf einen Teelöffel und erwärmte den Teelöffel mit einem Feuerzeug, dann tat ich das Haschisch in eine Tasse Tee. Ich stellte aber keine Wirkung fest. Aber das war der Anfang.

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Mein Freund Christian hatte zuhause eine kleine selbstgebastelte Wasserpfeife, ein kleiner Pfeifenkopf von der Größe einer Zigarettenspitze, auf einem ordinären Wasserglas. Ich fragte, was das sei. Er log, das sei, um Zigarettenrauch zu kühlen. Dann aber gestand er, es sei, um Haschisch zu rauchen. Nun erlebte ich meinen ersten Rausch. Wir hörten Genesis, the Lamb lies down on Broadway. Ich saß im Sessel, er stand über mir, ließ eine Schere über meinem Oberkörper fallen, fing sie wieder auf, das wiederholte er mehrmals, ich war gequält und geängstigt, aber ich war vom Haschisch so gelähmt, dass ich micht nicht im geringsten bewegen oder wehren konnte. Dennoch hat mich das nicht abgeschreckt, sondern ich war nun süchtig geworden, vielleicht wegen dem intensiven Genuss der psychedelischen Musik.

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Ich hatte mit Christian Haschisch geraucht. Er hatte aus dem Physiklabor der Gymnasiums einen Liebigkühler geklaut und daraus eine Wasserpfeife gemacht. Da rief mich meine Geliebte Hedda bei Christian an, ihr Fahrrad sei kaputt, ob ich kommen könne, es zu reparieren. Ich dachte: Was für ein profanes Alltagsthema! Ich schwebe gerade in goldenen Wolken, auf den Flügeln der Musik, und sie will, dass ich irdische Praxis übe. Ich ging dennoch hin, benahm mich aber beim Versuch, das Fahrrad zu reparieren, dermaßen ungeschickt und weltfremd und psychisch-merkwürdig, dass Hedda fragte: Was hast du, was ist mit dir? Ich sagte ihr nichts von meinem Rausch. Dabei hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihr etwas Wesentliches vorenthielt und Geheimnisse mit ihr hatte.

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Bei meinem Freund Christian drehte sich im Leben alles nur noch ums Haschisch. Er züchtete selber Hanfpflanzen in seinem Zimmer. Er las Carlos Castaneda, was mir nie gefallen hat. Er saß mit drei andren Freaks auf dem Sofa, sie rauchten ein gewaltiges Kawumm-Pfeifenrohr, und saßen dann schweigend und apathisch zusammen. Er las Bücher über Drogen wie Tollkirsche, Stechapfel und Kokain. Ich aber hatte Gorkis Mutter gelesen und über die Friedensbewegung Kontakte zum Marxismus und Leninismus bekommen. Weder der Drogenrausch mit Christian noch die sexuellen Räusche mit Hedda befriedigten meine Seele, ich suchte mehr, die Befreiung der Menschheit, den Weltfrieden, und meinte das im Kommunismus zu finden. Auf meine Reise in den Kommunismus nahm ich aber das Haschisch mit.

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Ich hatte einen Freund kennengelernt, Michael, ein Arbeitersohn, ohne Interesse an der Ideologie, mit ihm rauchte ich Haschisch, wir hörten dann Pink Floyd, die psychedelische Musik und das Haschisch erzeugten Visionen oder Halluzinationen. Eines Abends ging ich berauscht mit Michael zu Christian. Wir kamen an einem Wald vorbei. In meiner Tasche hatte ich meine Blockflöte. Ich nahm den Flötenkopf ab, blies hinein und fächelte mit der Hand vor der Öffnung, so erzeugten Atem und Holz sehr hohe, singende Töne. Da kam aus dem Wald eine Fledermaus und umkreiste mich. Ich hörte auf zu flöten, sie verschwand. Ich flötete wieder, sie kam zurück zu mir. Das muss wohl Orpheus so gegangen sein, als er seine Klagelieder für seine tote Eurydice spielte und die ganze Natur ihm folgte.

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Mit Christian trampte ich durch Deutschland. Und in der Nähe von Frankfurt nahm uns ein Wagen voll junger Leute, Männer und Frauen, mit, die in Partylaune waren und lachten. Eine junge Frau stand aufrecht im Cabriolet. Wir hörten Genesis, lilywhithe Lilith. Der Wagenlenker war der Sohn des berühmten deutschen Schriftstellers Peter Härtling, der einen Roman über Hölderlin geschrieben hat (den ich nie gelesen habe). So kam ich in das Haus von Peter Härtling. Dort habe ich mit seinem Sohn im Wohnzimmer Haschisch geraucht. Die Wände waren voller Bücher, ich erinnere mich an die Gesamtausgabe von Marx und Engels

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Christian hatte Stechapfel gesammelt. Wir hatten uns in meinem Zimmer im elterlichen Haus verabredet, und wollten zusammen Stechapfeltee trinken. In einem Buch stand, dass ein so Berauschter über eine Straße ging, weil keine Autos dort fuhren, dachte er, es fuhren aber sehr viele Autos dort, die er nicht sah und hörte. Christian und ich bekamen plötzlich - Gott sei Dank - Angst und tranken den Stechapfeltee nicht.

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Ich hatte im Umfeld der kommunistischen und Friedens-Bewegung Friedrich und Theda kennen gelernt, die ein Paar waren. Thedas Mutter war eine stadtbekannte Feministin, die Bücher über die Große Göttin schrieb. Friedrich hatte mich zu sich aufs Land eingeladen zum Haschischrauchen. Er hatte extra für mich Brausepulver gekauft, puren Zucker mit künstlichem Fruchtgeschmack, der schäumte im Mund, wenn er sich mit dem Speichel vermischte. Auch Schokolade schmeckte im Haschischrausch süßer. Theda aber bat mich, als sie in Sommerurlaub fahren wollte, solange ihre Marihuana-Pflanzen bei mir zuhause zu pflegen. Wir hatten hinterm eigenen Garten einen verwilderten Park. Da war eine Wiese voll von Brenn-Nesseln. Mitten unter diese stellte ich die Töpfe mit Thedas Marihuana-Pflanzen. Aber wir hatten in dem Park auch ein angepflocktes Schaf, das sich eines Tages losgerissen hatte und Thedas Pflanzen alle aufgefressen. Wie nun Marihuana auf Schafe wirkt, konnte ich nicht beobachten. Theda glaubte mir die Geschichte nicht, sie dachte, ich hätte alles selbst geraucht. Denn es gab unter den Haschischsüchtigen viel Egoismus und Diebstahl und Betrug, wie ich oft erfahren.

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In der Discothek "Meta" an der Nordsee hinterm Deich tanzte ich im Vollrausch von Bier, Wodka und Haschisch auf der highway to hell, unter dem Dröhnen von hell's bells. Ich sagte: ich tanzte, aber es war nur ein ekstatisches Zucken und berauschtes Taumeln. Da sprach mich Sonja an. Wir gingen über den Deich an die Nordsee und küssten uns. Ich verbrachte drei Monate, einen ganzen Winter in ihrem Bett, im Rausch von Alkohol und Rauschgift und im sexuellen Rausch. Aber innerlich fühlte ich mich wie ein einsamer Steppenwolf in der verschneiten russischen Taiga, den kalten Mond um Erbarmen anheulend. Ich hatte die Vision, dass ich in einem Moor immer tiefer versinke, dass meine Freunde am Rande stehen wie Baumstümpfe, mir aber keiner eine helfende Hand reicht. Sonja traf ich dann eines Tages nackt auf dem Schoß meines "besten Freundes" Volker. Das waren die berühmten Orgien des Dionysos.

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In meiner ersten eigenen Wohnung, einem Zimmer im Haus einer Witwe, habe ich den Rausch mit einer Frau erlebt. Ich las Berthold Brecht: Mags, wenn Tugend einen Hintern und ein Hintern Tugend hat. Und in dieser Vereinigung in einer Nacht, berauscht von Alkohol und Hasch, hatte ich in der sexuellen Ekstase Schauungen von himmlischen Erdbeerfeldern. Eines Tages hatte ich ein kleines Stück Haschisch gekauft, und als ich es aus der Aluminiumfolie auswickelte, sah ich, dass es schimmlig geworden war. In großer Angst mich zu vergiften warf ich das Haschisch weg. Später sagte mir ein Kiffer, der Schimmel sei das Beste am Haschisch.

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Ich traf mich mit Friedrich und Theda. Friedrich hatte eine originale orientalische Wasserpfeife. Er legte schweres schwarzes Afghanisches Haschisch auf. Ich wurde davon so schwer und bleiern, ich konnte mich nicht bewegen, nicht erheben. Ich war ganz der Musik und den akustischen und optischen Halluzinationen ausgeliefert. Schließlich schaffte ich es nachts aufs Fahrrad. Mein Weg nach Hause war eine lange einsame Landstraße. Ich fuhr, schien mir, durch einen Tunnel aus Stacheldraht, der sich immer enger zusammenzog. Ich hatte große Angst. Erst als ich vor einem Haus anhielt und von einem Baum einen Apfel pflückte, erlosch der Alptraum. Das habe ich ungefähr drei Nächte nacheinander erlebt. Immer erlöste mich der Apfelbaum.

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Eines Tages stand ich in meines Vaters Werkzeugkeller. Ich war berauscht und hatte vom Haschisch rote Augen. Mein Vater packte mich mit Gewalt und schrie: Sieh mir in die Augen! Nimmst du Drogen? Ich beschimpfte ihn wütend und schlug um mich. Meine Mutter kam dazu und rief verzweifelt: Dass ist nicht mehr mein Sohn! Ich erkenne meinen Sohn nicht wieder!

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Meine schulischen Leistungen hatten natürlich stark nachgelassen aufgrund des Dauerrausches von Wodka, Bier und Haschisch. In der naturwissenschaftlichen Fächern hate ich die schlechtmöglichste Zensur. Es ging noch etwas in Englisch, da wir Shakespeares Macbeth lasen. Ich liebte den Auftritt der Hexen. Aber ich fehlte auch oft im Englischunterricht. Freude machte mir nur der Deutschunterricht. Ich war verliebt in die junge Deutschlehrerin. Wir lasen Schillers Räuber, Thomas Manns Tod in Venedig und Nietzsches Geburt der Tragödie. Da ich in einem schweren Abgrund einer psychischen Krise versunken war, traf sich meine Deutschlehrerin mit mir zu einem seelsorgerlichen Gespräch. Sie riet mir, alles aufzuschreiben. Das tat ich auch. Ich führte meine ganze Jugend über ausführliche Tagebücher, die ich nach meiner Bekehrung zu Christus in der ausbrechenden Psychose alle im heimatlichen Wald verbrannte.

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Ich musste die elfte Klasse des Gymnasiums wiederholen. So lernte ich Erich kennen. Mit ihm zusammen schwänzte ich die Schule. Er hatte eine grüne Ente, mit der fuhren wir durch Ostfriesland und saßen in irgendwelchen Cafés. Ich las Lenin, völlig berauscht las ich seinen Kommentar zu Hegels Dialektik. Erich war Anarchist, er liebte Erich Mühsam, den anarchistischen Dichter. Mein Idol war Lenin, Erichs Idol war Ché Guevarra. Wir rauchten viel zusammen und hörten dann Bob Dylan. Wir machten auch Blues-Musik zusammen mit Gitarre, Blues-Mundharmonika und Gesang. Öfter übernachtete ich auch bei ihm. Eines Nachts fuhren wir in der Ente durch den ostfriesischen Nebel und kamen an eine Pferdeweide. Ich wollte die Pferde füttern und pflückte große Pflanzen und sie aßen sie gerne. Erst am nächsten Morgen merkte ich, dass es Brenn-Nesseln gewesen waren, die mich nun nüchtern brannten, berauscht hatte ich nichts gemerkt.

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Erich und ich waren beide in Maike verliebt. Wir waren zwanzig, sie dreizehn. Sie lebte allein, ihre Mutter war tot und ihr Vater in Brasilien. Wir rauchten zu dritt Haschisch. Erich war mit ihr zusammen. Ich sagte: Immer wenn ich komme, hat ein anderer das Rätsel vor mir schon gelöst. - Sie sagte: Ich bin kein Rätsel, ich bin ein Geheimnis... Jahre später traf ich Maike noch einmal in der Discothek Meta. Ich war akut psychotisch und berauscht von Haschisch und Bier und trug in mir den festen Entschluss, mich umzubringen. Maike und ich nahmen uns in die Arme: Schön, dass du noch lebst, sagte ich. Es war wie die Umarmung von zwei Todgeweihten.

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Erich war auch gut befreundet mit Hedda, meiner ersten Geliebten. Hedda hat ein eigenes Zimmer. Erich und Hedda qualmten mit der Haschischpfeife und hörten the Dark Side of the Moon von Pink Floyd, und ich lag draußen berauscht vor dem Fenster und sehnte mich gequält nach Heddas Leib, ihren Brüsten, ihrem Schoß. Sie ist später in die Szene der Heroin-Süchtigen geraten, hat aber wohl den Absprung geschafft. Nun ist sie Rechtsanwältin mit Ehemann und Kindern.

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Erich war auch mit Matthias befreundet. Der war fünfzehn und hatte lange blonde Haare, war schlank und schön wie ein Mädchen. Wir trafen uns zu dritt in meiner Wohnung. Matthias brachte seine zahme Ratte Mathilde mit. Ich hatte große Angst. Später in der Psychose hatte ich paranoide Wahnvorstellungen von Raten der Hölle. Ich schwärmte für Matthias. Später, in meiner Psychose, sah ich ihn noch einmal wieder. Ich dachte in meinem Wahn, in meinem früheren Leben sei ich ein chinesischer Poet zur Zeit der Tang-Dynastie gewesen. Als Chinese müsste ich natürlich einmal Opium rauchen. Ich traf Matthias wieder, der inzwischen Heroin-süchtig geworden war. Wieder ein Liebesgruß zweier Todgeweihten. Wir wollten Mohnsamen sammeln und selber Opium bereiten. Es kam aber nicht dazu. Gott sei Dank.

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Muse, schweige von Marion! Die russische Weisheit hat ihr Urteil über dieses Phänomen gesprochen. Dostojewski sagte: Und er dichtete so lange an diesem armen blassen Mädchen herum, bis sie zur Jungfrau Maria wurde.... Und Anna Achmatowa schrieb:

Du hast mich ausgedacht. So etwas gibt es nicht,
So etwas kann es auf der ganzen Welt nicht geben.
Das heilt kein Arzt, das lindert kein Gedicht,
Der Schatten dieses Spuks quält dich dein ganzes Leben.

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Ich war verliebt in ein Paar Augen. Die ganze Nacht verbrachte ich im Haschischrausch. Morgens, übernächtigt, überwach, hypersensibel durch Schlafentzug und Haschisch, ging ich zum Haus der Geliebten. Ich kam an einer Wiese vorbei, die in Stille und Morgenröte lag, da weideten Pferde. Da sah ich das Reich des Friedens, das Himmelreich, das Reich der himmlischen Pferde…

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Erich war in ein sehr hübsches Mädchen namens Sonja verliebt. Erich sagte immer, er sei Er und Ich. Offensichtlich war ich in jedes Mädchen verliebt, in das Erich sich verliebt hatte. Erich, Sonja, Marion und ich fuhren zu einem Fest neuheidnischer Naturverehrer. Wir saßen in der Nacht am Lagerfeuer vor einem Bauernhof auf Strohhalmen und trommelten wie die Indianer und zupften die Gedärme der Gitarren wie Baal. Ich schmiegte mich an Sonja. Erich und ich besuchten Sonja einmal zuhause, wir gingen dann aus dem Haus, da man bei ihr nicht rauchen durfte, und rauchten eine Haschischpfeife auf dem Abeneuerspielplatz meiner Kindheit, wo ich als Knabe mich in Nscho-Tschi verliebt hatte, Winnetous Schwester.

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Erich und ich wollten mit seiner Ente durch Europa fahren und uns den Lebensunterhalt mit Straßenmusik verdienen. Matthias wollte vielleicht mitkommen, ich sagte aber zu Erich: Nur ohne die Ratte. Matthias sagte ab. Marion wollte erst mitkommen, sagte dann aber auch ab, lieh mir aber ihr Akkordeon. Erich und ich fuhren - natürlich - zuerst nach Holland, parkten irgendwo in der Natur, rauchten Haschisch, musizierten etwas, stritten uns und fuhren heim.

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Ich arbeitete in einer Gruppe gegen die Arpartheit in Südafrika, wir probten ein Theaterstück, dass ich geschrieben hatte, wir probten im Gemeindehaus der evangelischen Kirche. Da hatte ich mir eine Bibel geklaut. Erich war bei mir, wir rauchten Haschisch, dann nahm er die Bibel in die Hand und las mir theatralisch das Buch der Apokalypse vor. Davon ward ich so wütend, dass ich ihm an den Hals sprang und ihn würgte, bis er aufhörte.

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Nach dem Gymnasium ward ich Schriftsetzer bei einem Zeitungsverlag. Die Ausbildung dauerte drei Jahre. Oft wachte ich morgens auf, zündete eine Kerze an, trank einen Tee, rauchte Haschisch, hörte Beethoven oder Hans Eisler, blieb im Bett liegen, träumte vor mich hin, bis mich die solidarischen Kollegen anriefen, ich sei schon wieder viel zu spät, ich müsse kommen, oder sie könnten es nicht länger geheimhalten. Auch im Betrieb rauchte ich Haschisch auf der Wiese draußen oder in der Dunkelkammer. Ich war ein faulen, schlechter Arbeiter. Die Arbeiter sagten, ich müsse bald studieren, sie hörten schon, wie die Studenten mir zujubelten.

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Nach meiner Lehre und vor dem Beginn des Studiums wohnte ich bei einem jungen Pärchen, die im Sommer 1989 über Prag aus der DDR geflohen waren und nun in Ostfriesland lebten. Er trank jeden Abend eine Flasche Rotwein und sprach von Nietzsche, sie, Birgit, war anmutig wie eine expressionistische Muse, ich wollte sie küssen. Nach dem Fall der Berliner Mauer bekamen sie Besuch von drei Freundinnen aus dem Osten. Deren erster Wunsch in der neugewonnenen Freiheit war es, Haschisch zu probieren. Der Mann bat mich, ihnen etwas zu besorgen. Das tat ich auch, gab es ihnen, sie freuten sich wie Kinder über Schokolade.

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Ich war nach Oldenburg zum Studium der Germanistik und Geschichte gezogen. Mein Bruder lebte noch alleine und gab mir ein Zimmer ab. Eines Abends war ich in der Oldenburger Innenstadt in einer Discothek. Vor der Tür sprach mich ein Freak an. Ich nahm ihn mit in mein Zimmer, wir rauchten Haschisch zusammen. Mein Bruder war nicht da. Am nächsten Tag war ich in der Universität. Ich las gerade Wielands Agathon und sah in den tausenden jungen schönen Studentinnen lauter griechische Nymphen. Berauscht vom Haschisch und von der Frauenschönheit kam ich nach Hause. Der Freak hatte einen angebrannten Löffel und ein Band zum Abbinden da gelassen. Mein Bruder dachte, ich sei heroinsüchtig geworden und hatte meine Eltern alarmiert, die waren sofort gekommen. Mein Vater, meine Mutter und mein Bruder saßen über mich zu Gericht, ich stand da als Angeklagter. Mein Vater schrie mich an: Zeig uns deine Arme! - ob ich Einstiche hätte. Ich zeigte ihm wütend meine Arme. Er sagte: Wir geben dir Geld, dass du studieren kannst, und nicht, dass du Drogen nimmst! Ich schrie ihn an: Leck mich doch am Arsch mit deinem Geld!

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Ein Bekannter hatte mir ein kleines Stück Papier, getränkt mit LSD geschenkt. Ich legte es auf die Zunge und sah sofort eine Nebelwelt mit giftgelben Spinnen. Sofort spuckte ich das LSD wieder aus. Ich wusste, hinter dieser Tür wartet ein gigantischer Alptraum auf mich. Bei allem Haschisch- und Alkohol-Konsum bin ich Gott doch dankbar, dass er mich vor LSD und Heroin, Stechapfel und Opium bewahrt hat.

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Ich hatte mich auf den ersten Blick in Karine verliebt. Sie hatte einen göttlichen Glanz um sich, den Glanz der Aphrodite. Aber ich trug auch noch Marion im Herzen, von der ich oft träumte. Karine hatte Eine Seele in ihren zwei Brüsten, aber ich hatte zwei Seelen in meiner Mannesbrust: die eine Seele, die Karine-Seele, wollte alle irdische Lust, die andere Seele, die Marion-Seele, wollte hinauf ins Reich der Götter und Geister. So war ich di-psychos, wie die Bibel es nennt. Ich las Anna Achamatowas Poem ohne Held. Angetan von diesem Geisterspuk, gequält von meiner inneren Zerrissenheit und berauscht vom Haschisch stieg ich in der Sylvesternacht 1991 in Osternburg in Oldenburg über die Mauer auf den jüdischen Friedhof, setzte mich vor die Kapelle und sah zu den Sternen. Da erschien mir eine geheimnisvolle Frau. Sie hatte keinen irdischen Leib, sondern war nur Astralleib oder Aura oder reiner Äther. Dennoch war sie eine Frau, in ein rotes Kleid gekleidet und einen blauen Mantel, mit kastanienbraunen Haaren. Sie sah mich freundlich ernst an aus Augen, die wie Sterne waren, sagte aber nichts.

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Ich war mit Karine in ein kleines Zimmer gezogen. In der Nähe war ein Wäldchen und ein verschwiegener Teich, menschenleer. Ich las viel Marina Zwetajewa. Sie hatte Anfang des 20. Jahrhunderts ein Liebesgedicht geschrieben an den, der sie in hundert Jahren lieben wird. Das war ich. Sie hatte mir ein Liebesgedicht geschrieben. Ich ahnte, Marina im Jenseits, sie liebt mich. Mit dieser heimlichen Liebe im Herzen und berauscht vom Haschisch ging ich an den stillen See. Da setzte ich mich nieder. Beten konnte ich noch nicht, aber Gedanken ins Jenseits senden. Da sah ich auf der anderen Seite des Sees wieder diese geheimnisvolle Frau. Sie trug ein langes violettes Kleid. Sie und ihr Kleid waren nur aus Licht. Sie schwebte über dem Gras. Sie sah zu mir herüber wie eine Freundin oder Schwester. Aber wieder schwieg die geheimnisvolle Frau. Ihr Gesichtsausdruck war wieder freundlich-ernst, aber auch gewissermaßen liebevoll-mahnend, mein Leben in Ordnung zu bringen.

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Das THC hatte sich an meinen Synapsen festgesetzt, so hatte ich auch Halluzinationen, Visionen, ohne unmittelbar vorher Haschisch geraucht zu haben. Es war die langsam heranschleichende Psychose. Mit Karine fuhr ich nach Darmstadt zu unsrer Freundin Evi (Kleopatra-Isis). Ich fuhr eigentlich in den Odenwald an die Quelle, da Siegfried hinterrücks ermordet wurde. Unterwegs hatte ich ein Gesicht: Ich sah am Himmel eine Frau in einem langen goldenen Mantel, auf dem Haupt eine goldene Krone. Ihre Gestalt war umgeben von einer hellroten, mandelförmigen Mandorla als ihrem Heiligenschein (heilig nicht nur um das Haupt, sondern um die ganze Gestalt). Ich sah ihr Herz, es war aus loderndem Feuer. Ich wusste, es war das Feuer der göttlichen Liebe. Zu ihrer rechten Seite sah ich einen Engel ohne Flügel, kleiner als sie, ein Jüngling, der hielt eine goldene Harfe in dem Arm. Da hatte ich den Gedanken: Das bin ja ich!

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Mit Karine war ich in Südfrankreich, in der Provence, an einem Seitenarm der Rhone, der Ardeche, in einem Weinbergtal. Ich hatte Tagträume von Karine als sumerischer Muttergöttin und von antiken Dionysosprozessionen. Ich suchte die mythologischen Götter. Ich hatte einen Kanister voll Rotwein und trank. Eines Abends gingen Karine und ich schweigend an die Ardeche. Am anderen Ufer stieg eine Felsenwand auf. Da hatte ich wieder eine Halluzination. Ich sah auf den Felsen fließendes grün-weißes Licht. Dann sah ich eine Hütte, die war aus geistigem Licht. Und in der Hütte stand eine Frau (ganz Geist, ganz Licht). Sie war schlank und groß, gekleidet in ein langes weißes Kleid. Um die Stirn trug sie ein weißes Stirnband. Sie erschien mir wie eine heilige antike Hohepriesterin. Ohne laut zu sprechen, sprach ich sie in meinem Inneren an: Gibt es die Götter? Und im Inneren meiner Seele hörte ich eine zärtlich-sanfte Frauenstimme: Das Göttliche ist in dir!

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Mit Karine fuhr ich ins französische Baskenland. In den Pyrenäen lebten wir auf dem Pic du Midi in einer einsamen Hirtenhütte. Nur ein alter baskischer Hirte war noch da, der nur baskisch sprach, der hütete seine Schafherde mit einem dreibeinigen Hund. Karine und ich ernährten uns nur von Reis mit Salz und Butter und klarem Wasser aus der Quelle. Aber auch hier hatte ich wieder eine Halluzination. Ich stand im Wohnraum der Hirtenhütte. Auf dem Kaminsims stand eine Kerze in der Form einer Madonna. Eine Holztreppe führte in das obere Stockwerk, wo Karines und mein Schlafzimmer war. Am oberen Ende der Treppe erschien mir wieder die Königin meiner Halluzinationen. Sie trug ein ganz reines weißes Kleid, das reichte bis zu den Füßen. Um die Brust trug sie einen goldenen Gürtel. Ihr Haupt war von Licht umgeben. In den Armen hielt sie eine goldene antike Lyra.

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Karine bekam Besuch von Babette aus Berlin. Babette las in meinem Buch mit Gedichten von Karoline von Günderode und vertonte ein Lied von ihr und sang es. Babette wohnte in einer kleinen verfallenen Hütte vor Emden, wo ich sie besuchte. Wir rauchten Haschisch zusammen. Sie las im Alten Testament. Ich ging in der Abenddämmerung vor der Hütte spazieren. Die Luft war dunkel, grauschwarz, die Natur war schattig, vor mir floss ein kleiner Graben, das war wohl der Fluss Lethe aus dem Jenseits, der Fluss des Vergessens. Auf der anderen Seite kam ein Schatten auf mich zu, ein Mann im schwarzen Anzug, einen schwarzen dreieckigen Hut auf dem Kopf, den er vor mir zog und mich schweigend grüßte. Ich dachte: Das ist Hölderlins Geist, ein Schatte aus den elysischen Feldern. (Ich studierte nämlich in der wissenschaftlichen Gesamtausgabe Hölderlins jedes Detail seiner Poesie.)

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Karine besuchte einen jungen Mann in Berlin. Ich war rasend eifersüchtig, dachte, sie werde mit untreu und mit dem Typen intim. Ich las eine Ode von Horaz an Lydia, da er seine verzehrende Eifersucht zum Ausdruck bringt. In der Abenddämmerung ging ich berauscht durch Osternburg und sah am Himmel den Abendstern, das ist der Planet Venus oder die Göttin Venus. Und ich betete zur Göttin Venus, sie möge Karine zu mir zurückbringen. Der Abendstern funkelte grünweiß auf, als sei mein Gebet erhört. Karine kam zurück und bekannte, sie habe an jenem Abend schon im Bett des Typen gelegen, habe plötzlich aber Gewissensbisse bekommen, sei aufgestanden und zu mir zurück gekommen.

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Ich mag von der zweijährigen akuten Psychose nicht schreiben. Ich hatte eine blühende Phantasie eines Wahnsinnigen. Ich war im Himmel und sah Christi Angesicht, ich sah und hörte meinen Schutzengel Mahanajim, ich sah Sankt Michael mit seinem Schwert, aber ich sah auch mein voriges Leben und meine Geburt in China im achten Jahrhundert, ich sah die Immaculata Maria als chinesische Göttin der Barmherzigkeit Guan Yin, ich sah die Ratten der Hölle, ich roch den Schwefelgestank der Hölle, ich ward versucht vom Satan mit einem Bibelwort, mir selbst das Leben zu nehmen, ich sah im Augenblick des Verblutens Christi Auferstehung, Christus am Abendmahlstisch, Maria Magdalena gehüllt in lange goldene Haare und die Madonna mit dem Jesuskind auf dem Arm. Meine Mutter fand mich halb tot und blutüberströmt vor ihrem Haus und rief: Mein Sohn, ach mein Sohn! Anschließend kam ich in die Psychiatrie, wo ich ein Jahr blieb und keine Halluzinationen mehr hatte und kein Haschisch mehr rauchte.


DRITTES KAPITEL
DIE DÄMONEN

Mein erster Protest richtete sich gegen meine Großmutter, die eigentliche elterliche Autorität in meiner Kindheit. Ich sollte mit dem Rasenmäher ihren Rasen mähen und auch die Gänseblümchen mit abmähen. Da protestierte ich im Namen der Lebensrechte der Gänseblümchen. Dann plagten die Nacktschnecken meine Oma, weil sie ihre Erdbeerpflanzen ruinierten, und meine Oma streute den Nacktschnecken Salz auf die nackte Haut. Und vor der Tür zu ihrer Küche plagte sie das fleißige Volk der Ameisen, die ins Haus kamen. Da übergoss sie den Staat der Königin der Ameisen mit kochendem Wasser. Ich rebellierte, ich protestierte im Namen der fleißigen Ameisen-Arbeiter und der Nacktschnecken der freien Liebe gegen die göttliche Autorität meiner Großmutter. So wurde ich zum Rebellen.

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Bevor ich meine ersten Liebesgedichte schrieb, schrieb ich "philosophische Meditationen", ich erinnere mich an einen Dialog zwischen mir und "Herrn Mark Engel". Dieser Herr Mark Engel verkündete die Anarchie. Ich kannte nicht die Theoretiker weder der Anarchie noch des Marxismus, ich dachte nur, Marxismus und Anarchismus sind die Lehren der Herrschaftslosigkeit, einer Gesellschaft ohne Unterdrückung, einer Welt der Freiheit. Und Freiheit wollte ich, vor allem erst einmal Freiheit von Vater und Mutter und Freiheit von den Lehrern der Schule. Jugend begeistert sich immer für Freiheit! Die Frage ist nur, welche Lehre bringt Freiheit? Und zwar, wie Nietzsche sagt, nicht nur Freiheit VON etwas, sondern Freiheit FÜR etwas. Aber ich wollte nur heraus aus dem Elternhaus und frei sein wie die Vögel. Aber das war meine erste "Begegnung" mit Marx und Engels.

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Ich saß im Elternhaus und hörte Radio, da kam die Nachricht, dass zur Unterdrückung der freien Arbeitergewerkschaft Solidarnosc in Polen das Militär die Macht übernommen, der General Jaruselski das Kriegsrecht über Polen verhängt hatte. Im Polen ward in Gdansk (Danzig) die erste freie Gewerkschaft unter Führung von Lech Walesa gegründet worden. Nach dem Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II in seiner Heimat, da er auf einer Massenkundgebung von Solidarität (Solidarosc) und von der Herabkunft des Heiligen Geistes auf Polen gesprochen, hatte sich Solidarnosch massiv ausgebreitet in Polen. Das alles hörte ich nicht im Radio, das wusste ich auch nicht. Ich sah sozusagen nur ein weltgeschichtliches Drama von Gut und Böse. Die Guten, das waren die freiheitsdurstigen Arbeiter der Untergrundgewerkschaft, die Bösen, das war der General, das Militär mit dem Kriegsrecht. Das allein lernte ich. Das das Militär Kommunistisch war und die Arbeiter katholisch, das war mir nicht im geringsten bewusst. Ich solidarisierte mich im Herzen mit dem Kampf der Arbeiter gegen das Militär.

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In der Schule hatte ich einen neuen Gemeinschaftskunde-Lehrer bekommen, frisch von der Universität, mit Vollbart und langen Haaren. Ich schrieb einen Schulaufsatz und malte unter den Aufsatz das A im Kreis, das Zeichen der Anarchie. Der Lehrer beurteilte die Arbeit und schrieb zum Anarchie-Zeichen: Wenn Sie wissen wollen, was Anarchie ist, lesen Sie das Buch "der kurze Sommer der Anarchie" von Hans-Magnus Enzenberger. - Ich las das Buch, eines berühmten zeitgenössischen Schriftstellers Lobpreis der Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg. - Im Spanischen Bürgerkrieg hatten sich die Kommunisten in Stalinisten und Trotzkisten gespalten. Stalin unterstützte die stalinistische Kommunistische Partei mit Mitarbeitern des sowjetischen Geheimdienstes, die die Gegner der Kommunisten folterten. Die Kommunisten und die Anarchisten stritten miteinander. Einig war sich die Front der Linken nur darin, ob Stalinisten, Trotzkisten oder Anarchisten, dass die Christen in Spanien blutig zu verfolgen seien. Die Spanische Kirche hat im Spanischen Bürgerkrieg 40 000 Märtyrer hervorgebracht. Manche sagen, der Spanische Bürgerkrieg war der eigentliche Anfang des Zweiten Weltkrieges. Die Internationalen Brigaden aus militanten Kommunisten aller europäischen Länder kämpfte unter Stalins Einfluss gegen den Diktator Franco, der von Hitler und Mussolini unterstützt wurde. Mit diesem Buch über die Anarchie endete aber auch meine "anarchistische Phase", und wie ich zum Anhänger des Sowjetkommunismus wurde, erzähle ich das nächste Mal.

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Im Haus meiner Jugendgeliebten im Kult der Freien Liebe fand ich unter den Büchern ihrer Mutter ein Buch: Die Mutter, von dem russischen Schriftsteller Maxim Gorki. Mich interessierte der Titel. Es war ein Roman über die Kommunistische Partei in Russland. Hier war meine Erste Liebe zum Mysterium Russland. Die Jugend liebt Verwegenheit, Rebellen, Störtebecker, Robin Hood, Lenin, Ché Guevara, Kämpfer für die Rechte der Armen, Kämpfer für die Gerechtigkeit, Helden. Es war eine romantische Verklärung der russischen kommunistischen Bewegung. Berthold Brecht hat aus dem Roman ein Theaterstück gemacht, das von Hanns Eisler vertont wurde. Maxim Gorki war der Begründer des "sozialistischen Realismus", einer ganz und gar unpoetischen Literatur-Schule. Sie war eigentlich die Erfindung von Stalin. Stalin nannte den Schriftsteller "Ingenieur der Seele". Übrigens stellte meine Freundin mich ihrer Mutter vor und sagte: Er schwärmt für Lenin! - Warum? fragte mich die Mutter. Ich sagte: Weil er den Zaren gestürzt hat. - Sie fragte: Was war denn so schlecht am Zaren? - Da war ich perplex und stumm. Das hatte ich noch nie gehört, dass irgendein vernünftiger Mensch auch nur Ein gutes Haar an einem Zaren oder Kaiser finden könne. Inzwischen hat die russisch-orthodoxe Kirche den von den Bolschewiki ermordeten Zaren Nikolaus II als Märtyrer für den christlichen Glauben mit vielen tausenden anderen Märtyrern heilig gesprochen. Aber so kam ich über die Dichtkunst zum russischen Kommunismus.

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Vor mir stand die Frage, ob ich in einigen Jahren zur Bundeswehr gehe oder den Wehrdienst verweigere, mich der Gewissensprüfung vorm Staat unterziehe und Zivildienst leiste. Ich schrieb einen satirischen Dialog: Gewissensprüfung eines Kriegsdienstanwärters. Dort musste einer peinlich genau beweisen, wie er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, im Militär zu dienen. Mit diesem Text ging ich privat zu meinem Politiklehrer, der mir das Buch über die spanischen Anarchisten empfohlen hatte. Er las meine satire, fand sie gut und verwies mich an eine Monatszeitung, die von einem sozialdemokratischen Gymnasiallehrer herausgegeben wurde. Dort wurde meine Satire veröffentlicht. Nach einer kurzen Phase, da ich ein Buch mit Liebesgedichten (in freien Versen) vollgeschrieben hatte und zwanzig Seiten lange Liebesbriefe, wandte ich mein Schreibertalent nun ganz allein dem politischen Journalismus zu. Ich schrieb Flugblätter, Pamphlete, politische Aufsätze. Meine Beredsamkeit (die meine Kindheitsfreunde die Beredsamkeit eines Predigers nannten) strömte sich aus in den Reden eines Agitatoren, eines Propagandisten.

*

Ich kam, ich weiß nicht mehr wie, in ein Haus eines Arztes. Seine Frau war Christin. In ihre Tochter Ursula verliebte ich mich, sie war wunderschön, ihre Schwester Anne war wohl in mich verliebt. Aber ihr Bruder war Marxist und gab mir zwei Bücher: Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels und ein Buch von Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Das Manifest verstand ich recht gut, es war einfach geschrieben, aber doch von sprachlicher Schönheit: Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus. Nur die Beurteilung des vormarxistischen, französischen, utopischen Sozialismus konnte ich nicht verstehen, dazu fehlte mir das Wissen. Lenin dagegen, nun, ich verstand kein Wort, es war ein Tanz von Zahlen und ökonomischen Fachbegriffen, trocken und unpoetisch. Aber es machte den Eindruck einer tief sachlichen Wissenschaftlichkeit, was immer leicht den Eindruck von objektiver Wahrheit macht. Der junge Marxist erklärte mir, im atomaren Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion sei Amerika der Agressor und die Sowjetmacht nur defensiv, sei eigentlich die größte Friedensbewegung der Welt. Wir lebten alle in großer Angst vor einem dritten atomaren Weltkrieg. Der junge Marxist wies mich daraufhin, dass eine Gruppe eines sozialistischen Jugendverbandes gegründet werden solle und lud mich dazu ein. Ich ging auch tatsächlich hin.

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Ich nahm teil an der Gründung der Ortsgruppe Norden der Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Jugend (SDAJ), der Jugendorganisation der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Anwesend waren ein Funktionär der SDAJ aus Bremen, die Parteivorsitzende der DKP Norderney (ein alte schreckliche Hexe), und einige Gymnasiasten, keineswegs Arbeiter, nämlich neben mir Volker, Folkert, Thomas, Werner, später kamen Sonja und Karin hinzu. Nur Werner war der Sohn eines Arbeiters. Die Monatszeitschrift der SDAJ war das Magazin "elan", das wir auf der Straße verkaufen sollten. Wir bekamen ein Parteibuch, in das wir monatliche Marken zu kleben hatten, die unsere Mitgliedsbeiträge waren. Ein Schein, denn DKP und SDAJ wurden mit Millionenbeiträgen aus der DDR finanziert. Wir wurden alle gleich zu Funktionären: Volker wurde Gruppenvorsitzender, ich schrieb die Sitzungsprotokolle, Werner war Kassierer. Unser Hauptaugenmerk wurde auf die Mitarbeit an der Friedensbewegung der BRD gerichtet, die protestierte gegen die Aufstellung US-amerikanischer Atomraketen auf dem Boden der BRD, allerdings kaum oder gar nicht gegen die Stationierung sowjetischer Atomraketen auf dem Boden der DDR (die zuerst erfolgt war).

(Fragment)


VIERTES KAPITEL
DON JUAN

Als der Gott der Schönen Liebe mich in den Schoß meiner Mutter gelegt hatte, machte ich meine erste Erfahrung mit der Frauenliebe. Meine Tante Petheda erzählte mir: Ich wollte deine Mutter besuchen, da traf ich deinen Vater, der besorgt aussah und sagte: Doris ist krank. Ich ging zu deiner Mutter, sie lag im Bett und sagte unglücklich: Ach, ich bin wieder schwanger. - Dieses Unglück meiner Mutter legte sich auf meine Seele als ein schwarzer Schleier der Traurigkeit, des Gefühls, nicht gewollt und nicht geliebt zu sein auf Erden. Dieser Fluch wird mich bis an mein Lebensende plagen. Als ich geboren wurde, öffnete meine Großmutter ihr Herz für mich und nahm mich als ihren Liebling an. In meiner Kindheit war meine Großmutter, eine Witwe, also eine Jungfrau, die Stellvertretung der Gottesliebe an, davon ich mir das Gottesbild angeeignet habe, dass Gott eine Große Mutter ist. Darum ward ich auch psychotisch, als meine Großmutter starb, darum in der Stunde des Todes meiner Großmutter begann ich, GOTT anzubeten.

*

Meine Eltern hatten gebaut ein Haus für sich und ihre zwei Söhne und gleich daneben ein Haus für die Großmutter. Auch der kleine Blaufärberweg in Hage bestand erst aus Sand. Gegenüber war das Haus von Familie Athen, die auch neugebaut hatten. Meine Mutter und Frau Athen feierten das Richtfest des Athener Hauses mit einem kleinen Umtrunk geistiger klarer Getränke. Ich lag im Kinderwagen, war ein kleines hilfloses Baby. Die Tochter Athen war zwei oder drei Jahre alt. Die Tochter Athen neigte sich mit ihrem blonden Kopf über mich im Kinderwagen und schaute mich mit großen neugierigen Augen an. Vielleicht kommt daher meine heidnische Verehrung der blauäugigen Jungfrau Athene, der Tochter Zeus, die ich immer lese als eine heidnische Prophezeiung auf die göttliche Frau Weisheit.

*

Die Nachbarstadt meines Geburtsortes Hage (Garten) hieß Norden, benannt nach Njörd, dem germanischen Meeresgott. In Norden dienten die friesischen Priester dem Gott der Friesen, Forsete, auf einem heiligen Hügel. Dort baute der heilige Ludger eine Kirche. Der heilige Ludger wurde immer begleitet von einem weißen Schwan. In Norden heißt die lutherische Kirche Ludgeri-Kirche und die katholische Kirche Sankt Ludger. Ludger segelte nach Helgoland, der Insel, wo sich das Hauptheiligtum der Friesen befand, damals hieß die Insel Forsete-Land. Da gab es einen heiligen Hain mit heiligen Pferden, aus deren Bewegung die friesischen Priester weissagten. Ludger begegnete dem Barden Bernlef, der blind war. Auf die Fürbitte Ludgers hin gab Jesus dem Bernlef das Augenlicht wieder. Bernlef ward Christ und dichtete die Psalmen Davids als Barde in friesischer Sprache nach. In Norden weissagten die Priester nicht aus Pferden, sondern aus weißen Schwänen, die im heiligen Schwanenteich lebten. Und dort stand ich vierjähriger Knabe mit der vierjährigen Marita M. von Hannover, der Tochter von Freunden meiner Eltern. Marita hatte ein weißes Hemd an und einen schwarz-rot-karierten Rock. Zusammen fütterten wir die Enten, Gänse und Schwäne des heiligen Schwanenteiches. Auch waren dort Taubenhäuser, Käfige mit Fasanen und Pfauen, Gehege mit Wellensittichen und Nymphensittichen und ein Gehege mit Ziegen und Zicklein. Ich war wahrlich das hässliche Entlein des Märchens, ich lebte unter Entenküken, von einer Entenmutter und einem Erpelvater erzogen, und bin doch in Wahrheit ein wunderschöner Singschwan, der singt voll Jubel, wenn er den Heiland Tod nahen kommen weiß. Ich bin der Singschwan des friesischen Heiligtums, und Marita meine erste Muse.

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Meine Eltern gingen mit ihren Freunden aus Hannover im Lütetsburger Park spazieren. Marita und ich spazierten mit. Da lag eine ostfriesische Häuptlingsburg, ein Wasserschloss, in einem großen englisch-chinesischen Park mit vielen Kanälen und weißen Brücken. Da gab es den goldenen Pavillon der Freundschaft und da gab es die Insel der Seligen. Auf der Insel der Seligen gab es eine Ruhebank mit der Inschrift: Hier ruhe dich aus, du vielgeprüfter Pilgrim nach der Insel der Seligen. Und dort saßen Marita und ich Seite an Seite, Hand in Hand.

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Meine Mutter war immer noch befreundet mit ihrer Jugendfreundin. Deren Ehemann gab meinem Vater immer Stern und Spiegel, was andres las mein Vater nicht. Die beiden hatten zwei Töchter: Bärbel war so alt wie mein Bruder, Doris, die jüngere, war so alt wie ich. Mein Bruder Stefan konnte die Bärbel haben, die war größer und dicker und hatte dunklere Haare. Mein Schatz war Doris, die war schlank und hatte lange helle Locken. Wir spielten Ping-Pong. Ich als wiedergeborener Chinese war in keiner Sportart gut als im Ping-Pong. Unsre beiden Familien machten auch zusammen Urlaub auf der Insel Langeland in der Ostsee. Da wuchs viel Mohn (Poppie). Ich badete mit Doris in der Ostsee. In der griechischen Mythologie ist Doris eine Nymphe, eine Tochter des Meeresgottes. Meine Mutter fragte mich: Ob ich lieber kleine oder große Brüste möge? Denn ihre Freundin Wilhelmine hatte große Brüste. Peinlich, Mama, du bist peinlich! An eine Antwort kann ich mich nicht erinnern. Später, ich war etwa vierzig Jahre alt, besuchte ich aus Oldenburg meine Eltern in Hage. Um nicht den Abend mit ihnen verbringen zu müssen, fuhr ich mit dem Rad von Hage nach Norden, ging ins Hotel zur Post, der ostfriesischen Intellektuellen-Kneipe. Da saß Doris am Nachbartisch. Sie war Meisterin des Ping Pong. Sie war sportlich-dynamisch-schlank, aber kein muskulöses Mannsweib, hatte lange braune Locken und ein wunderschönes Gedicht. Ich lieh mir von der Wirtin einen Schreibblock und einen Kugelschreiber, schrieb ein Liebesgedicht für Doris, gab es ihr, sie lächelte mich an und bedankte sich freundlich.

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Mein Vater arbeitete in der Sparkasse und meine Mutter vormittags als Sekretärin im Büro eines Bauunternehmers. Manchmal nahm sie mich mit ins Büro, dann zeichnete ich auf der großen Zeichenplatte. Der Bauunternehmer hatte zwei Töchter, der Name der Älteren war, meine ich, Elke, und die jüngere, etwas jünger als ich, hieß Dörte. Dörte wurde meine Spielfreundin. Wir spielten, was ihr gefiel, mit ihren Püppchen und ihrem Miniatur-Kaufmannsladen. Zuhause versuchte ich im Sandkasten, mit Steinen und Schlamm statt Zement Mauern zu bauen. Mit Dörte spielte ich auch Ping Pong im Garten. Sie hatte kurze blonde Locken, hellblaue Augen wie Sommerhimmel und Sommersprossen auf der süßen Nase. Einmal war ich mit Dörte und ihrem Vater mit dessen Segelboot auf dem Ewigen Meer in Ostfriesland segeln, das Segelboot lag schief im Wind und das vom Wind aufgepeitschte Wasser spritzte ins Boot. Später, als ich etwa zwanzig war, hörte ich, dass eine junge Frau, in die ich gerade verliebt war, bei Dörte auf deren Geburtstagsfeier war. Dörte wohnte nahe an meinem Elternhaus. Ich nahm mir eine Kasperle-Puppe, verfasste ein Gedicht, mit dem ich um Einlass zur Geburtstagsfeier bat, ließ den Kasper das Gedicht vortragen, Dörte lächelte und ließ mich ein in das Haus der Liebe.

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Mein Freund Andreas war Katholik, ich war Lutheraner, aber das kümmerte uns nicht, wir spielten Zusammen Indianer im Wald und auf dem Abenteuerschauplatz. Ich hatte die gesammelten Werke von Karl May gelesen und die Winnetou-Filme im Fernsehen gesehen. Old Shatterhand hätte ich gerne zum Vater gehabt. Da ich blond und nordisch war, spielte ich den Old Shatterhand, Andreas, da er schwarzhaarig war, spielte Winnetou. Die Dritte im Bunde war Karin, sie hatte kurze schwarze Locken und ein hübsches Gesicht. Sie spielte Winnetous Schwester, die Tochter Inntschutschunas, die Squaw Nscho-Tschi (Schöner Tag). Und wie allgemein bekannt, liebten sich Old Shatterhand und Nscho Tschi. Die Häuptlingstochter war ja auch die Fürsprecherin für den Deutschen beim Apachen-Häuptling. Und da Karin einen so süßen Mund ("sweet lips! sweet upper lip", sagt Byron), darum begehrte ich Nscho Tschi zu küssen, und tatsächlich, sie küsste mich. Das war das Erste Mal! Die Erste, die ich geküsst, war eine Indianerin. (Sie tat mir auch etwas leid, denn ihr Vater war trockener Alkoholiker und durfte nicht einmal eine Likör-Praline essen.)

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In naher Nachbarschaft wohnte Sonja. An ihre Eltern kann ich mich gar nicht erinnern. Meine geliebte Oma hatte in ihrem Garten einen Schmetterlingsflieder, der lila blühte, auf den Blütendolden saßen immer viele bunte Schmetterlinge, vor allem der Monarch! Dann der Admiral! Aber auch in Massen der gemeine Kohlweißling! Ich wollte sie fangen und sammeln. Meine weise Großmutter sagte: Die schönen farbigen Schmetterlinge darfst du nicht berühren, denn dann verlieren sie ihr Puder, ihre Schminke, dann sehen sie aus wie graue Motten und sterben. - So, dachte ich, ist es mit den Mädchen: Wenn man sie nur anschaut, sind sie wie Monarchinnen schön, wenn man sie aber berührt, werden sie zu gemeinen Motten und sterben. - Sonja teilte meine Leidenschaft für die Schmetterlinge. Das griechische Wort für Schmetterlinge und für Seele ist das selbe: Psyche. Und wo Psyche ist, da ist nach den Neuplatonikern der Eros nicht fern... Sonja hatte auch einen Schmetterlingsflieder im Garten, und wir sammelten Schmetterlinge zusammen. Einmal durfte ich auch in ihr Mädchenzimmer. Wir saßen auf dem Bett nebeneinander und sprachen. Da ward mir so anders zumute, es war so schwül, irgendwie halb magnetisch und halb elektrisch, und Sonja hatte so ein schönes weißes lachendes Vollmondgesicht und kurze schwarze Locken. Das war wohl das Frühlingserwachen des vorpubertären Eros. Der Gott kam zärtlich wie ein Schmetterling zu mir…

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So ist das mit der menschlichen Liebe, der irdischen Liebe, die die Griechen in Aphrodite vergöttert haben, sie ist eine Mischung aus Hass und Liebe. Der vorpubertäre Eros machte mit dem Hormonstoß von Testesteron meine Seele unruhig und orientierungslos. Ich beschimpfte meine Mutter als Hure. Mein Vater sagte, ob ich überhaupt wisse, was eine Hure sei? Nein, sagte ich. Das, erklärte er mir, sind Mädchen, die in den Häfen auf die Seemänner warten. Eigentlich liebte ich Karin, nicht die Indianerin, sondern Karin die Zweite, Karin die Große. Aber weil ich sie liebte, hasste ich sie auch. In der Schule plagte ich sie so sehr ich konnte, um nur ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Öfters nahm ich ihr den Mantel weg und warf ihn in den Abfalleimer. Eines Tages kam ihr Vater zu uns und beschwerte sich bei meiner Mutter über mich. Meine Mutter fragte mich, ob ich Karin in der Schule quäle. Nein, log ich. Da sagte meine Mutter (ich habe das Sprichwort nie vergessen können): „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er doch die Wahrheit spricht.“


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Ich war mit der sechsten Klasse aufs Gymnasium gekommen. Unsere Schule war das Ulrichs-Gymnasium in Norden, das war im Mittelalter ein Kloster Unserer Lieben Frau Maria gewesen. In meiner Klasse ware viele Schüler aus Norderney. Norderney wurde von Heinrich Heine besungen und von Wladimir Majakowski besucht. Eine Mitschülerin aus Norderney hieß Kerstin. Sie wurde von allen Kissi genant, ein passender Name. O what a bliss / to die from a kiss, sagt der englische Dichter. Kissi hatte kurze Haare, lockig und wirklich strahlend goldenblond. Sie war schlank, durch ihre leichte weiße Sommerbluse schimmerten ihre Brüste. Sie war die Schönste der Klasse und ich schwärmte für sie. Aber "sie sah mich einfach nicht", wie es in einem Pop-song heißt. Sie hatte einen Liebhaber, älter als sie, gut aussehend, männlich, Motorradfahrer mit Lederjacke. Mit dem stand sie auf dem Flur vor dem Klassenzimmer, und sie küssten sich. Das sah unser Lateinlehrer, ich sah es auch, und ich hörte den alten Lateinlehrer sagen: "Küssen in der Öffentlichkeit ist unsittlich." Kissi lachte und zeigte dabei ihre schönen Grübchen. 'Ihre beste Freundin war Helga, nicht so strahlend schön wie Kissi, aber mit einem schwesterlich-freundlichen Herzen, mehr von innere schönheit der Seele. Eines Tages, es war gerade die erste Schallplatte von Dire Straits erschienen, ich hörte das Lied "waters of love", da rief ich mit dem Telefon Helga auf Norderney an, ob sie mit mir gehen wolle. Sie sagte freundlich Nein, und damit war die Sache für mich erledigt.

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Ich war in die Pubertät gekommen mit einem Hormonstoß von Testosteron. Im Schulbus fiel mir morgens meine Mitschülerin Hedda auf, sie war groß, hatte lange blonde Haare und "eine interessante Figur" (wie Hölderlin sagt). Ich durfte sie besuchen. Ich verliebte mich in sie und warb um sie mit Gedichten und endlos langen Liebesbriefen. Sie war aber etwas größer als ich und wollte einen Freund, der größer war als sie. Ich schrieb: Ihr Frauen wollt einen Mann, der größer ist als ihr; ihr wollt also einen Mann, der auf euch herabschaut? - Ich habe immer zu den Frauen aufgeschaut. Es gelang mir aber, Heddas Herz zu erobern. Ich erinnere mich an den ersten Kuss, es war von ihr aus ein Zungenkuss, was ich nicht kannte. Die feierliche Entjungferung zelebrierten wir in Greetsiel im leerstehenden Haus einer Tasse nach einer Flasche Wein. In der Schule schickten wir uns durch die Bänke kleine Zettelchen mit Liebesbotschaften zu. "Ich liebe dich immer sehr" kürzten wir ab zu ILTIS. Da wir intim waren und Freude am Beischlaf hatten, schrieb ich ihr, sie sei eine Hure. Immer habe ich Frauen, die sich mir körperlich hingaben, für Huren gehalten. Als Kind hatte ich schon meine Mutter eine Hure genannt. Nach dem Motto: Wer sich mir hingibt, ist meiner nicht wert... Wir hatten ein gemeinsames Liebesnest in ihrem Haus auf dem Dachboden. Wir verbrachten die meiste Zeit mit Schmusen und Beischlaf. Bald reichte mir das nicht, diese "Lampe des Privaten" (wie Marx den Epikuräismus nannte). Ich ward politisiert durch die Friedensbewegung, die politisch kämpfte gegen das atomare Wettrüsten. Hedda blieb unpolitisch. So löste ich mich von ihr. Das war aber schmerzlich für beide. Wir waren ein halbes Jahr zusammen "selig im Himmelsbett" und ein halbes Jahr quälten wir uns gegenseitig mit einem "Scheidungsprozess".

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Ich war zu einem Treffen der Friedensbewegung gegangen, die demonstrierte gegen einen atomaren dritten Weltkrieg. Da ward ich eingeladen in das Haus eines Arztes, seine Frau war eine Christin und wollte eine internationale Politik nach dem Gesetz der Bergpredigt. Der Sohn war Marxist und schenkte mir das Kommunistische Manifest. Dann waren da noch zwei Töchter, Ursula und Anne. Ursula war makellos schön, ein rundliches Gesicht, sehr weiß, mit großen braunen Augen, besonders schöne lange schwarze Haare, glatt und in der Mitte gescheitelt, und hatte schöne ebenmäßige weiße Zähne. Ich verliebte mich in ihre makellose Schönheit. Für sie legte ich die Halskette mit dem Medaillon ab, auf dem Heddas Name stand. Ursels Mutter merkte das. Ursels Schwester Anne, die jüngere, war nicht sehr schön, aber auch nicht hässlich, nur irgendwie gewöhnlich. Ich glaube, sie hatte mich sehr gern. Ursel dagegen blieb irgendwie unnahbar, ohne mich aktiv zurückzuweisen, wandte sie mir doch nicht ihr Herz zu. Es war, als säße ich vor einem Bild der makellosen Schönheit, das man nur mit interesseloser, begierdeloser Bewunderung anbeten kann, das einem aber keine Liebe zuwendet, ein wenig wie der Gott des Aristoteles, den man wohl lieben kann, der aber selbst nicht liebt. Ursels Familie hatte ein Herz für Flüchtlinge aus dem kommunistischen Vietnam, später hat Ursula einen Vietnamesen geheiratet.

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In Norddeich am Meer, gleich hinter dem Deich, gab es eine Diskothek namens Meta. Später, wenn ich von Klopstock und seiner Meta las oder von Aristoteles und seiner Meta-Physik, musste ich an diesen Tanzschuppen an der Nordsee denken. Da sah ich ein junges Mädchen sehr anständig und ruhig tanzen zu zärtlicher Musik (nicht wie ich bacchantisch taumelnd) und ich verliebte mich in ihre Anmut. Sie war klein und von knabenhafter Figur, hatte schöne schlanke Beine, kurze schwarze Haare, jungenmäßig geschnitten, und ein sehr feines Gesicht. Ich sah sie auch im Gymnasium und mit ihrer Freundesclique in der Schülerkneipe Borke. Tatsächlich gelang es mir, sie anzusprechen, und, o Wunder, ich durfte sie besuchen. Sie wohnte in Norddeich bei ihren Eltern, ich etwa zehn Kilometer entfernt in Hage bei meinen Eltern. Wir saßen in ihrem Zimmer und erzählten aus unserem Leben. Sie hieß eigentlich Annabella - Anna nach ihrer Großmutter - aber sie wollte nur Bella (die Schöne) genannt werden. Ich erzählte von der kommunistischen Ideologie und sie von ihrem Christentum - so kamen wir nicht zusammen. Dennoch lud ich sie auf meinen 17. Geburtstag ein. Ich feierte mit meinen kommunistischen Freunden und Freundinnen im Party-Keller meines Elternhauses. Ich hörte das Lied: Love is a burning ring of fire - und hatte nur Bella im Sinn. Tatsächlich klingelte es und Bella stand vor der Tür. Ich war sehr aufgewühlt. In der kommenden Zeit, einige Monate lang, sprach ich sie öfter im Gymnasium an, um mich wieder mit ihr zu verabreden, aber sie fand immer neue Ausreden, bis ich - mich in jemand anderes verliebte.

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Ich hatte einen Freund, der war in ein dreizehnjähriges Mädchen verliebt. Und ich verliebte mich auch immer in die Mädchen, die er liebte. Maike war also 13, ich 18. Sie hatte ihre Mutter verloren und ihr Vater lebte in Brasilien. Sie wohnte in der Rosenallee bei einem älteren Ehepaar, der Mann war Kunstmaler. Als ich Maike mit meinem Freund besuchte, trank der Künstler gerade warmes Bier mit Kandiszucker. Wir waren zu dritt in Maikes Zimmer, auf dem Tisch lag ein Kreuzworträtsel. Ich sagte: Immer, wenn ich komme, hat schon jemand anderes das Rätsel gelöst. Maike verstand und sagte: Ich bin kein Rätsel, ich bin ein Geheimnis... Sie war klein und hatte lange rote Haare. Sie war sehr reif und selbständig für ihr Alter. So wie ich und mein Freund Erich (Er und Ich) war sie Haschischraucherin. Sie wurde davon aber nicht lethargisch wie ich, sondern quicklebendig und agil. Ich verlor sie aus den Augen, aber sie blieb verborgen in meinem Herzen. Fünfzehn Jahre später war ich wieder nach Norden gezogen, in den Schwanenpfad am Schwanenteich. Da war ich akut psychotisch und plante meinen Selbstmord. So ging ich in die Diskothek Meta und da traf ich Maike wieder. Sie schien mir immer noch 13 zu sein. Irgendwie umgab sie eine Aura von Lebensgefahr, vielleicht hatte sie eine Heroin-Sucht. Jedenfalls strahlten wir uns an und nahmen uns in die Arme (ich hatte fast väterliche Gefühle für sie) - Ave Cäsar, die Todgeweihten grüßen dich!

(Fragment)




FÜNFTES KAPITEL
DIE KINDHEIT DER ZWILLINGE


Am 12. 11. 2000 feierte ich meinen 35. Geburtstag nach. Karine war hochschwanger bei mir, und am nächsten Tag hat sie Juri geboren. Sie musste im Krankenhaus bleiben. Ich schenkte ihr ein Ikone der Gottesmutter.

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Als Juri klein war und sich Nuni nannte, sagte Karine zu mir: „Wenn du kommst, schaut Juri uns nicht mehr mit dem Arsch an.“

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Im Frühling 2003 sagte Karine mir am Telefon: „Toto, ich bin schwanger! Hilfst du mir?“

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In der Schwangerschaft lag Milan nah am Fruchtkuchen und aß sich satt. Simon war etwas im Hintergrund und unterernährt. Ich legte meine Hände auf Karines Bauch und segnete die Kinder in ihrem Bauch und sagte: Herzlich willkommen auf Erden, Zwillinge!

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Karine musste dann mit einem Kaiserschnitt geöffnet werden, so wurden die Zwillinge geholt. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, wurde Simon zuerst ans Tageslicht gehoben. Ich besuchte Karine im Krankenhaus. Die Zwillinge lagen als Frühgeburten in einem Brutkasten. Karine legte mir Simon in die Arme, er sah mich aus großen Augen an, er war sehr klein und dünn. Dann legte Karine mir Milan in die Arme, er war recht gut ausgebildet und lag mit geschlossenen Augen entspannt in meinen Armen, an meinem Herzen. Ihr Geburtstag war der 20. Oktober 2003.

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Einen Monat und einen Tag früher hatte Karines beste Freundin Evi ihren zweiten Sohn Tom geboren, am 19. 9. 2003. Die Zwillinge und Tom wurden später die besten Freunde.

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Ich hatte für Karine ein Bild auf eine Holzplatte gemalt: Karine mit Juri im Arm, und unten am Bildrand die Seelen der Zwillinge wie kleine Engel. Karine sagte: „Das bin ja nicht ich, sondern das ist Maria.“ Ich sagte: „Aber ich habe es nach einem Foto von dir mit Juri gemalt.“ Karine verehrte ich von nun an als meine kleine Gottesmutter auf Erden.

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Karine lebte nun mit ihrem Freund Detlef und Juri und Milan und Simon und der weißen Katze im Hasenweg in Oldenburg-Osternburg, am Ende der Stadt, schön in der Natur, in einem bäuerlichen Haus mit sehr großem Garten, ringsumher Weiden mit vielen Tieren und einem Spazierweg zum Kanal mit dem Deich voller Schafe und einem kleinen Wäldchen.

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Im Winter hatte mich Karine zum Kinderhüten eingestellt. Da sie ja oft nachts wach sein musste, brauchte sie ihren Mittagsschlaf. Der Weg zu Karine von mir dauerte mit dem Fahrrad etwa 40 Minuten, ich betete auf dem Weg immer das Rosenkranz-Gebet. Mittags teilte ich mir dann mit Detlef die Betreuung der Zwillinge. Detlef hielt meistens Simon in den Armen und ich Milan. Ich wiegte ihn hin und her in meinen Armen, murmelte immer „Ave Maria“ und gab ihm sein Fläschchen mit Milch, wenn er Hunger und Durst hatte. Da hätte ich so gerne eine Mutterbrust wie eine Frau gehabt, da hätte ich ihn so gerne gestillt. Aber Gott hat nur Karine als Frau und Mutter geschaffen und mich als Mann.

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Nachdem ich das so drei Monate gemacht, sagte ich zu Karine: Ich helfe dir weiter, aber ich nehme kein Geld mehr dafür. Ich will nicht dein Angestellter, sondern dein Freund sein. Ich tue es nicht um Geld, sondern aus Liebe.

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Milan war kräftig, er konnte an Karines Mutterbrust die Muttermilch saugen, die er brauchte. Aber Simon war schwach, er konnte nicht stark genug saugen. Karine wollte ihm aber keine künstliche Milch geben. So besorgte sie sich ein Gerät, eine Art Pumpe, mit der pumpte sie Muttermilch für Simon in ein kleines Fläschchen und gab ihm so die Milch. Da lag sie in ihrem Schlafzimmer mit der Pumpe an ihrer nackten Brust, und Karine und ich unterhielten uns dabei ganz entspannt, als es mich plötzlich überkam und ich sagte: „Karine, ich möchte auch von dir gestillt werden!“

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Im Winter waren Karine und ich im Wohnzimmer. Da war ein Sofa, das man ausziehen konnte und es so in ein Bett verwandeln. Da war ein Bücherregal, ein Fernseher, eine Musikanlage. An der Wand hing das Bild eines antiken Frauenkopfes aus Marmor, von Efeu überwuchert, vom Friedhof aus Paris. Dies Bild hatte ich Karine in unserer gemeinsamen Jugend geschenkt. Die Zwillinge standen auf der Fensterbank,ich hielt sie fest, wir schauten aus dem Fenster auf eine große Weide. Vom Himmel fiel Schnee. Die ganze Natur war weiß. Und da sang ich:

Schneeflöckchen,
Weißröckchen,
Wann kommst du geschneit?
Du kommst aus den Wolken,
Dein Weg ist so weit.

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Wenn Detlef Milan wickelte, sah er ihn an und sagte: „Du bist Dumpfi.“ Ich war empört. Nein, Milan ist nicht dumpf! Er sieht aus wie ein Pfirsich, und seine Lippen sind wie Karines Lippen so schön, dass ich sie immer küssen möchte: „Du sollst Knutschi heißen!“ („Knutschen“ nannte Karine das Küssen.)

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Waren an Milan die Lippen so appetitlich für einen Menschenfresser wie mich, so waren an Simon besonders seine Ohrläppchen appetitlich: „Du sollst Öhrchen heißen!“ Und ich versuchte immer, in Simons Ohrläppchen zu beißen. Aber er hörte sich gar nicht so gerne Öhrchen genannt. „So sollst du Püppchen heißen!“ Aber nein, Püppchen hörte er auch nicht gerne.

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Karine lernte das afrikanische Trommeln auf ihrer Djembe-Trommel in einer Trommelgruppe im Jugendzentrum Alhambra von einem Afrikaner. Während sie trommelte, schob ich die Zwillinge im Doppel-Kinderwagen durch die Gegend, und während sie schliefen, betete ich den Rosenkranz und sang Marienlieder. Manchmal kam ich eher zurück ins Jugendzentrum, und Milan und Simon hörten Karine beim Trommeln zu.

*

Wenn Karine mal abends feiern gehen wollte mit ihren Freundinnen, nahm Karines Mutter Maite die Zwillinge, Juri schlief dann bei mir zuhause, das war immer ungeheuer schön für mich. Ich las Juri vor, wir sahen Zeichentrickfilme von Bibel-Helden und malten Bilder, Juri malte am liebsten riesige Drachen mit sehr kleinem Drachentöter, wobei immer Blut floss. Auch malte ich für Juri Labyrinthe, er musste dann den Weg finden. Morgens gingen wir mit Apfelsaft und Brötchen auf den Spielplatz, mittags aß Juri mit mir im Imbiss, er Milchreis mit Zimt und Zucker, ich ein halbes Hähnchen mit Pommes frites.

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Maite wollte nicht Oma genannt werden, sondern Amani. Sie war vom stolzen Volk der Basken, und in der baskischen Sprache heißt Großmutter: Amani. Amani las den Zwillingen vor, fütterte sie, ließ sie mit Spielzeug spielen, sie schliefen dann bei ihr im Bett.

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Amani nannte Simon immer in ihrem gebrochenen Deutsch mit starkem französischen Akzent „Schimòn,“ mit Betonung auf der zweiten Silbe und das -on französisch durch die Nase gesprochen. Ich nannte die Zwillinge inzwischen auch „Schimi und Mimi“.

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Karine benutzte immer noch die Milchpumpe an ihrem Busen. Aber die war zu kräftig, so dass sich mit der Muttermilch Blut mischte. Karine war wie eine Pelikan-Mutter, von der man erzählt, dass sie mit ihrem Schnabel ihren Busen aufreißt, um ihre Küken mit ihrem eigenen Blut zu ernähren. Und so ist ja auch Jesus diese Pelikan-Mutter, der sein Herz aufreißt, um uns mit seinem Blut vom Tod zu erlösen.

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Wir fuhren alle in den Urlaub auf die ostfriesische Insel Baltrum. Am Bahnhof in Norden begrüßten uns meine Eltern. Karine schlief mit den Zwillingen in einem Bett, Evi schlief mit Tom und Quentin in einem Zimmer, und ich schlief mit Juri und Detlef in einem Doppelbett. Frühmorgens lagen dann da drei Säuglinge, Milan und Simon und Tom, und wurden von Karine und Evi gewickelt. Mittags machten alle Mittagsschlaf, ich führte dann den dreijährigen Juri im Bollerwagen durch das Naturschutzgebiet spazieren, er schlief dann im Frieden der Natur ein. Juri mochte gerne die frischen Fischbrötchen, aber Quentin war Vegetarier und stritt sich mit uns, es sei böse, Tiere zu essen. Ich sagte: „Tiere essen auch Tiere.“ Da sagte Quentin: „Dann ist die Natur auch böse.“ Ich ließ die streitende Gruppe allein und ging spazieren, da kam ich zur katholischen Kirche von Baltrum, der Altar hatte die Form einer riesigen Muschel, es begann gerade der Gottesdienst, der Priester bat mich, aus der Bibel vorzulesen. Nach dem Gottesdienst ging ich mit himmlischem Frieden im Herzen zu den Meinen zurück. Abends sprach ich mit Evi und Karine. Ich hatte ein Buch über die Jungfrau der göttlichen Weisheit gelesen. Die kann nur von Ehelosen gefunden werden, Mönchen oder Nonnen, nicht aber von Müttern, die nur an ihre Kinderstube denken. „Oh, dann können Evi und ich sie ja nicht finden“, sagte Karine.

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Karine wollte ihr Studium der Slawistik und Politik beenden und brachte darum vormittags Milan und Simon in eine Kinderkrippe. Dort lernten „die Kleinen“ (wie wir sie immer nannten) Mozarts Zauberflöte kennen. Milan war begeistert von Papageno, dem lustigen Vogelfänger. Ich schenkte den Kindern einen Film, eine Aufzeichnung der Zauberflöte für Kinder, von Marionetten gespielt. Auch machte ich selbst ein kleines buntes Kinderbuch über Papageno. Da malte ich die Königin der Nacht wie die Himmelskönigin Maria, auf einer Mondsichel stehend. Die Zwillinge wunderten sich und waren irritiert, denn die Königin der Nacht in der Zauberflöte ist eine böse Hexe, aber die Himmelskönigin Maria ist die gütige Mutter aller Kinder. Weil Milan von dem Vogelfänger so begeistert war, wollte ich ihm einen Singvogel im Käfig schenken, aber Karine sagte: „Tiere im Käfig, das gibt es bei mir nicht.“

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Einmal holten Karine und ich die Kleinen mit dem Auto von der Kinderkrippe ab. Da zitierte ich Karine einen Weisheitsspruch aus der Bibel: „Eine ständig redende Frau ist für einen stillen Weisen wie für einen alten gebrechlichen Mann ein Sandhügel, den er hinaufsteigen muss.“ Da sagte Karine: „Oh Toto, das ist frech!“

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Eines Abends rief mich Karine mit dem Telefon an: Milan hatte Fieber, ich solle kommen. Ich fuhr mit dem Bus zu ihnen. Im Wohnzimmer hatte Karine das Sofa in ein Bett verwandelt. Ich nahm Milan in die Arme und sprach beruhigend auf ihn ein, während ihm Karine ein Fieberzäpfchen in den Popo schob. Milans Augen waren vom Fieber ganz groß geworden, glänzend, fast glühend. Ich sah in seine Augen und sah in seinen Augen den leidenden Jesus. Ich blieb dann über Nacht und schlief mit Milan auf dem Schlafsofa. Ich trank noch eine Flasche Wein, sah in die Nacht hinaus in den Sternenhimmel und bat Maria, mich und Milan mit ihrem Sternenmantel zuzudecken. Es war Adventszeit, und als ich mich neben Milan legte und sein Händchen hielt, kam es mir vor, als sei Weihnachten und ich sei in Bethlehem im Stall und schlief mit dem göttlichen Jesuskind in einer Krippe.

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Einmal erklärte mir Karine, wie man Kinder in Windeln wickelt. Im Kinderzmmer neben den beiden Gitterbettchen stand eine Wickelkommode. Nun wickelte ich das erste Mal im Leben ein Kind. Ich sah eine Vision: Die Mutter Maria wickelte das Jesuskind, dann bat sie den heiligen Josef, das Jesuskind zu wickeln. Maria wusch die Leinenwindeln selbst. Und als die Heiligen Drei Könige kamen, das Kind anzubeten, gab Maria ihnen einee saubere Windel mit als Reliquie.

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In der Vorweihnachtszeit saßen Karine und ich mit den drei Kindern im Wohnzimmer. Karine hatte ein Buch mit Weihnachtsliedern, die sie uns vorsang. Sie konnte wirklich sehr schön singen.

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An eine Weihnachtsfeier bei mir zuhause kann ich mich noch erinnern. Ich hatte Kerzen anzeündet und das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach angemacht. Karine wartete mit den Kindern im Schlafzimmer. Da klingelte es an der Tür, das Christkind brachte die Bescherung. Die Kinder kamen ins Wohnzimmer und packten die Geschenke aus. Der Tisch war voll Süßigkeiten und Nüssen und Kuchen. Juri bekam eine Musikanlage und eine Geschichte von Narnia als Hörbuch. Simon sagte: „Oh, Juri hat viel zu viel bekommen.“ Und dann machten wir es uns auf den Sofas gemütlich und hörten das Narnia-Buch. Und auch die Kleinen waren fasziniert. In der Folge bekamen sie alle drei alle Narnia-Bücher als Hörbücher. Drei Narnia-Bücher waren auch verfilmt, die sahen wir uns an. Die Kinder waren wirklich begeistert von Narnia. C.S. Lewis, das hast du gut gemacht.

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Pünktlich zum Heiligen Abend fuhr Karine mit allen Kindern und mit Amani nach Hamburg zu Opa Konrad und seiner Frau Christel.

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Karine hatte eine junge Frau, eine Studentin angestellt, die die Wohnung saubermachte. Sie hieß Kathrin und war wirklich wunderschön. Ich sagte zu ihr: „Wenn ich Maler wäre, würde ich dich malen.“ Sie war auch sehr lieb zu den Kindern. Ich übernachtete öfters im Wohnzimmer und betreute dann morgens alle drei Kinder, wenn Karine noch schlief. Manchmal kam auch Detlef vorbei und war bei den Kindern. Einmal sagte Kathrin zu mir: „Wenn ich morgens komme, weiß ich immer, wer da ist, du oder Detlef. Wenn Detlef da ist, schweigen alle oder sitzen vor dem Fernseher, wenn du da bist, hört man fröhliche Kinderstimmen mit dir scherzen.“

*

Wenn ich die Kleinen abends ins Bett brachte, jeden in sein Gitterbettchen, las ich ihnen vor. Ich musste immer ganz gleichmäßig vorlesen, nicht pathetisch wie im Theater, auch durfte ich den Text nicht vorsingen wie in der Kirche. Dann machte ich ein Kreuz an die Bettchen. Ich hatte immer ein kleines Fläschchen Weihwasser bei mir, damit segnete ich die Kinder. Ich hielt dann ihre Händchen, bis sie eingeschlafen waren. Ich betete noch mit ihnen:

Maria, breit den Mantel aus,
Mach Schirm und Schild für uns daraus,
Lass uns darunter sicher stehn,
Bis alle Stürm‘ vorüber gehen.
O Mutter voller Güte,
Uns allezeit behüte!

Oder:

Schlaf selig und süß,
Schau im Traum‘s Paradies!

Oder:

Zwei Engel stehen zu deiner Rechten,
Zwei Engel stehen zu deiner Linken,
Zwei Engel stehen an deinem Kopf,
Zwei Engel stehen an deinen Füßen,
Zwei Engel schweben über dir
Und zeigen dir den Weg ins Paradies.

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Im Winter gingen Karine und ich mit den Kindern in die verschneite Natur. Das war vielleicht eine Aufregung, bis alle winterfest angezogen waren. Karine und ich zogen die Kinder mit dem Schlitten über die verschneiten Wege. Natürlich machten wir auch eine Schneeballschlacht und bauten einen Schneemann. Ein Weg auf unserm Spaziergang hieß „zu den sieben Bösen“, das war ordentlich schaurig! Wer waren wohl diese sieben Bösen? Aber wenn man den Weg ging, kam man zu gar nichts Bösem, sondern zu einem Pferd. Und Karine hatte immer einen Apfel dabei, dass die Kinder das Pferd füttern konnten.

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In der Natur umher waren viele Tiere zu sehen. Auf den Wiesen war manchmal ein scheuer Hase zu sehen oder ein scheues Reh, auf den Weiden standen Pferde, einmal sah ich ein Rebhuhn, auf den Weiden standen Kühe und auf dem Deich am Kanal weideten Schafe. Einmal ging ich mit den Kindern spazieren, da stellte sich uns ein Ziegenbock in den Weg.

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Über die Vorfahren: Karine ist in Paris geboren, also eigentlich eine Französin, sie lebte aber vom vierten Lebensjahr in Deutschland, studierte später in Berlin und Paris. Karines Mutter Maite (eigentlich Marie-Therese) ist baskischer Abstammung (aus dem französischen Baskenland). Karines Vater Konrad stammte aus Ostpreußen, Königsberg, heute Russland, war aber Weltbürger, lebte in Paris und Brüssel und Amerika, zuletzt in Hamburg.

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Im Garten hielt Karines Nachbarin Steffi einen Han und eine Schar Hennen. Das war sehr interessant zu beobachten. Der Hahn hieß Manni und war nicht gerade zärtlich, wenn er eine seiner Hennen bestieg. Die Hennen mit ihren Küken waren ausgebrochen liebevoll. Ich sagte einmal zu Karine: „Ich habe nicht das Herz eines Vaters, sondern das Herz einer Großmutter.“ Da lächelte Karine und sagte: „Du bist keine Großmutter, sondern eine Glucke.“

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Einmal kam auch Luise, die Großmutter väterlicherseits. Sie gab uns allen Brathähnchen aus. Sie sagte zu Karine: „Da Detlef sich so wenig um die Kinder kümmert, aber Toto so viel, scheint mir, dass Toto der Vater ist und du, Karine, hast die Kinder nur Detlef untergeschoben.“ Das erzählte mir Karine amüsiert. Karine und ich wussten ganz genau, dass ich nicht der leibliche Vater war, da wir nicht miteinander geschlafen hatten.

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Öfter, wenn ich bei Karine im Wohnzimmer geschlafen, mussten wir nachts mit den Kleinen ins Kinderkrankenhaus, denn sie hatten öfter Bronchialkatarrh oder Fieber. Das war anstrengend, schweißte uns aber noch mehr zusammen. Ich ging auch mit Karine und allen drei Kindern zur Kinderärztin. Karine sagte: „Das ist unser Hausfreund.“ Milan hatte ein kleines Loch im Herzen. Die Ärztin untersuchte das Herz mit einem Ultraschallgerät, und auf dem Computerbildschirm konnte ich wie in einem Film das Innere des Herzens Milans sehen. Was für eine wunderbare Schöpfung Gottes!

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Im Sommer fuhren wir alle in die Ferien nach Rügen: Konrad, Maite, Karine, Detlef, Juri, Milan und Simon und ich. Alle hatten ihre Zimmer in der Ferienwohnung, ich aber schlief allein im Wohnwagen. Einmal schlief Juri bei mir im Wohnwagen, da war nachts ein Sturm und Regen und Donner und Blitz, das war sehr majestätisch. Ich las in einem alten philosophischen Epos aus Indien: Dem Weisen ist Gold nicht mehr wert als ein Kieselstein. Das stimmt, denn auch Karines Kinder waren an Kieselsteinen mehr interessiert als an Geldmünzen. Die Vermieter der Ferienwohnung hatten einen Hund, einen Rottweiler. Aber Opa Konrad ging mit Milan und Simon zu dem Rottweiler. Das fand ich sehr gefährlich. Einmal erzählte mir Konrad: „Die Zwillinge spielten vorm Haus Ball, der Ball rollte auf die Straße, die Kinder hinterher, Detlef sah zu und rührte sich nicht. Da war der Typ für mich gestorben.“ Ich hatte neue Kosenamen: Simon nannte ich Chou-Chou (schlaf schön) und Milan nannte ich Mignon (niedlich). Aber Maite fand das gar nicht lustig. Wir sind jeden Tag an den Strand gegangen. Abends hab ich immer meinen Rotwein getrunken und in meinem philosophischen Buch aus Indien gelesen. Eines Tages machten wir einen Ausflug zum Kap Arkona. Da war ein Leuchtturm und ein Saal, wo traditionell Hochzeit gefeiert wurde. Karine sagte zu mir: „Toto, sollen wir hier heiraten?“ Ich: „Aber Karine, ich bin doch ein eheloser Mönch.“ Abends sagte ich zu Karine: „Oder wollen wir doch heiraten?“ Ich wollte nämlich gerne Papa für die Kinder sein. Karine: „Ach, wir sollten das doch lassen. Ich liebe dich wie einen Bruder und noch mehr.“ Und so blieb ich Mönch. Ich ging zum Strand und sah den Sonnenuntergang, der Horizont und das Meer war ganz golden, da verlobte ich mich mit der Weisheit Gottes.

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Was ich fast vergessen hätte: Karine war im Meer baden, ich war mit Konrad und den Kindern in einem Strandcafé, Konrad und ich tranken Bier. Konrad ließ Milan und Simon den Schaum auf dem Bier probieren, aber es schmeckte ihnen nicht. Mit zwei Jahren das erste Bier!

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Karine begann, chinesische Atem-Meditationen zu machen. Um das zu lernen, fuhr sie Nach Berlin zu einer Verwandten, die in einer chinesischen Meditationsgruppe war. Karine nahm Milan und mich mit. Milan war zwei Jahre alt. Juri blieb bei Detlef, Simon bei Amani. Vormittags war Karine dann in Berlin im Tiergarten meditieren, ich ging mit Milan im Kinderwagen spazieren. Wir waren an einem Ententeich, da sang ich ihm Alle meine Entchen vor. Dann waren wir in einer katholischen Kirche, ich zeigte ihm die Statue der Mutter Gottes. Über dem Taufbecken war eine steinerne Taube. Milan sagte: „Piep“. Dann waren wir bei einem Bauernhof und sahen uns die Pferde und die Schweine an. Auf einer Wiese ließen Leute Drachen steigen. Da war eine Frau mit einem kleinen Schoßhund. Milan hatte eigentlich Angst vor Hunden, aber diesen Schoßhund hat er gestreichelt. Nachmittags spielten wir, er spielte gerne mit Bauklötzen, da baute er einen Turm und setzte den letzten Stein drauf und zeigte mir sein Kunstwerk. Er sagte „Mama“ zu mir. Ich dachte: Die Weisheit Gottes ist ein göttliches Kind und es spielt vor Gott Vaer. Am Anfang der Welt hat das göttliche Kind mit den Bausteinen von Elementen und Atomen den Kosmos gebaut, und als es fertig war, hat es den Kosmos dem Vater im Himmel gezeigt, und der hat den Sohn Gottes für seine Arbeit gelobt. Mit Karine waren wir auch im Zoo. Da sahen wir Affenmütter mit Kinderaffen auf dem Rücken, gefährlich aussehende Gorilla-Männchen, ein Elefantenbaby, einen Tiger, Kamele und Dromedare und Lamas, und im Streichelzoo streichelte Milan kleinen Ziegen. Das war mein Berlin, die Hauptstadt Deutschlands.

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Als Tom drei Jahre alt war, bat Evi mich, dass ich mich auch um Tom kümmere. So hab ich noch einen Pflegesohn bekommen. Wenn Evi und ich mit Tom und Quentin zu Karine und ihren Kindern fuhren, dann schwatzten Karine und Evi miteinander, Juri spielte mit Quentin, Tom spielte mit Milan und Simon, und ich saß im Garten und rauchte und langweilte mich. Wenn Karine mit ihren Kindern zu Evi kam, dann saßen wir in Evis schönem Garten, die Kleinen spielten im Garten, schaukelten, kletterten in die Bäume, Juri verschwand in Quentins Zimmer, Karine sprach mit Evi, ich saß auf der Gartenbank und fühlte mich wie ein alter Patriarch aus dem Alten Testament, der sah auf seine Frauen und vielen Kinder, die alle fröhlich waren, und dankte seinem Gott.

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Nach den Hörbüchern mit den Narnia-Romanen schleppte ich weitere Hörbücher an: Die Märchen der Gebrüder Grimm, Die Märchen aus Tausend und Einer Nacht, Griechische Heldensagen. Die Kinder hörten sehr gerne Hörbücher.

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Auch alle meine Asterix-Comics hatte ich Karines Kindern geschenkt. Sie liebten Asterix und Obelix. Und Karine las sie auch sehr gerne vor und amüsierte sich immer sehr über Obelix, das gab dann viel Gelächter beim Lesen. Es gab auch Zeichentrickfilme über Asterix, die sahen wir uns auch an.

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Ich liebte das Versepos Reinecke Fuchs von Goethe. Und ich schrieb auch ein mittelalterliches Gedicht Reinecke Fuchs in ein hochdeutsches Gedicht um, das las ich Juri vor und er sagte: „Dafür, dass das von Toto ist, ist es nicht schlecht.“ Ich musste Simon und Milan immer Geschichten von Reinecke Fuchs erzählen. Nur Tom mochte Reinecke Fuchs nicht, weil er Tiere tot biss, und Tom liebte kleine Tiere.

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Wenn ich vor Karines Haus saß und rauchte, dann kamen Milan und Simon und standen um mich. Milan sagte: „Hör auf zu rauchen!“ Und Simon sagte: „Erzähl uns eine Geschichte!“ Simon hatte auch sehr viel Phantasie und erfand lange Geschichten.

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Ich erzählte Simon und Milan von Odysseus und Salomo. Odysseus hatte ein großes Holzpferd gebaut und im Bauch des Pferdes griechische Krieger versteckt und sann das Pferd den Feinden geschenkt, die es in ihre Burg Troja holten, da kamen nachts die Krieger aus dem Pferd und besiegten die Feinde. Das hatte Athene, die Göttin der Weisheit, dem schlauen Odysseus eingegeben. Und Salomo, der weise König von Israel, hatte die Königin von Saba aus dem Süden eingeladen. Da wollte er wissen, ob sie schöne oder behaarte Beine habe. Also bedeckte er den Boden seines Saales mit blauen Edelsteinen. Die Königin von Saba hielt es für Wasser und hob ihren Rock, dass er nicht nass wird. So konnte der weise Salomo ihre Beine sehen. Da fragte mich Simon: Wer ist klüger, Odysseus oder Salomo? Diese Frage erzählte ich meinem Prieester, und er war schwer beeindruckt von dieser intelligenten Frage.

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Ich hatte auch zuhause ein Hörbuch mit Gedichten für Kinder. Da hörten Milan und Simon den „Knaben im Moor“ von Anette von Droste-Hülshoff besonders gerne, das war so unheimlich schaurig. Aber auch wenn Goethes „Rattenfänger von Hameln“ vorgesungen wurde, freuten sich die beiden Knaben.

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Einmal saßen Karine und ich mit den Kindern beim Mittagessen. Ich betete: „Komm Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns gegeben hast.“ Karine sagte: „Ja, wenn Toto da ist, wird bei uns gebetet. Aber das Gebet heißt: Komm Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.“ Karine hatte ein Ritual, das ihr soviel wie ein Segnen der Mahlzeit war. Beim Kochen verwendete sie wenig Salz, und wenn dann der Teller mit Essen vor jedem stand, dann streute sie mit der rechten Hand jedem eine gute Prise Salz auf die Mahlzeit. Das war ihre Segensgebärde.

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Die Kinder mochten gerne Spinat mit Spiegelei und Kartoffelpüree, Spinatpizzaa, Milchreis mit Zimt und Zucker, Crepes mit Marmelade, Reibekuchen oder Kartoffelpuffer, Kräuterbutter-Baguette und Salatgurken mit Kräutersalz, selbstgemachte Gemüsepizza und Spaghetti mit Tomattensauce und Zwiebeln und Schafskäse.

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Es gab natürlich auch fröhliche Kindergeburtstage. Da war das Haus dann voll Kinderfreunden aus dem Kindergarten. Es gab eine Schatzsuche, da Karine eine Kiste mit Süßigkeiten und Spielzeug irgendwo in der freien Natur versteckt hatte und rote Bänder in die Bäume gehängt, so mussten die Kinder die Schatzkiste suchen. Es gab genügend Kuchen. Juri liebte vor allem den Bienenstichkuchen. Abends bereitete ich für alle Kinder einen Backofen voll Pommes frites und Pfannen voll Bratwürstchen.

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Einmal machten wir in meinem Geburtsort Hage Urlaub. Meine Eltern hatten uns eine Ferienwohnung in Berumbur gemietet, wir waren jeden Tag am See baden. Morgens schlief Karine länger, dann ging ich mit den Kindern zum Spielplatz, wo wir frische Croissants und Apfelschorle frühstückten. Mittags machten alle Mittagsschlaf, ich ruhte mich im Gebet aus. Einmal war ich mit Milan allein im See, da dachte ich: Ich will Milan heimlich taufen. Ich goss ihm also dreimal mit der hohlen Hand etwas Wasser über sein blondes Köpfchen und sagte: Hiermit taufe ich dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und in deinem Namen widersage ich dem Bösen und folge Jesus nach. Das erzählte ich später meinem Beichtvater, er sagte, das sei keine gültige Taufe. Wir waren auch einen Nachmittag bei meinen Eltern. Meine Mutter machte Reibekuchen für alle. Sie stellte dazu den Zuckertopf auf den Tisch. Karine gab mir einen Wink mit den Augen, ich solle heimlich den Zuckertopf wegstellen. Ich spielte dann mit den Kindern Fußball im Garten meiner Eltern. Mein Vater sagte zu den Kindern: „Toto ist eine Flasche, was den Fußball betrifft.“ Das fand ich sehr verletzend. Zum Abschieed schenkten meine Eltern jedem Kind eine Stoffpuppe von den Figuren der japanischen Karten, die sie sammelten.

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Wir spielten auch in Karines Garten Fußball. Da gab es sogar ein richtiges Fußballtor. Nur wenn ich den Ball trat, flog er irgendwohin, ich konnte wirklich nicht zielen. Aber wir hatten Spaß. Wir spielten auch Verstecken im Haus und im Freien. Besonders im großen Garten gab es gute Verstecke. Sonst tobten wir gerne im Wohnzimmer auf dem Schlafsofa, dann griffen mich alle drei Knaben an und wir rangen und kämpften unter viel Gelächter. Im Garten gab es auch eine Rutsche, und im Sommer ein Planschbecken. Besonders gerne rutschten die Kinder die Rutsche hinunter direkt in das Planschbecken.

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Ich kaufte allen drei Kindern Ritterschwerter aus Holz. Es gab Frauen, die meinten, ich solle doch kein Kriegsspielzeug verschenken. Aber die Knaben spieltern gerne Ritter. Sie kämpften besonders gerne gegen die Brennesseln im Garten und hieben den Feinden die Köpfe ab. Juri hatte von Detlef allerdings kleine Soldaten und Panzer geschenkt bekommen, und Karine und ich waren uns einig und warfen die Panzer weg.

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Ostern kam ich am Sonntagvormittag. Karine hatte Schokoladenostereier und andere Süßigkeiten (Juri mochte keine Schokolade) im Garten versteckt. Da suchten die Kinder, und wer suchet, der findet, wir saßen dann im Ostergarten, Karine und ich tranken Kaffee, und die Kinder vernaschten ihre Süßigkeiten.

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Einmal waren wir spazieren, wir drangen durch ein Dickicht von Gestrüpp, da fragten die Kinder nach der Bedeutungen ihrer Namen. „Milan heißt: der Liebe. Simon heißt: der von Gott Erbetene. Juri heißt: der Landmann.“ Juri war enttäuscht. Aber Juris Namensheiliger war Sankt Juri (Sankt Georg), der Schutzpatron der Ritter und Drachentöter. Simons Namensheiliger war der heilige Simon Stock, dem die Mutter Gottes Maria erschienen und ihm ein Stück ihres Schutzmantels geschenkt. Milans Namensheiliger war der heilige Maximilian Kolbe, der im KZ Auschwitz sich den Nazis angeboten, sie sollten doch ihn töten anstelle des jüdischen Familienvaters. „Karine heißt: die Geliebte. Torsten heißt: der Donnerhammer Gottes.“

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Zu einem Kindergeburtstag machte ich eine Einladungskarte mit dem Bild von Botticelli, Athene, die Göttin der Weisheit, mit einem Zentauren darstellend, eine Ikone des florentinischen Neuplatonismus. Simon sah sich Athene an und urteilte mit Kennerblick: „Das muss wohl eine Hamadryade sein.“ Apropos Botticelli. Sein Gemälde Primavera oder der Frühling war Juris Lieblingsbild, die Göttin des Frühlings war sein Schönheits-Ideal.

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Karine machte eine Kur auf der nordfriesischen Insel Sylt. Für drei Tage besuchte ich sie mit Juri. Juri und ich schliefen in der Jugendherberge. Wir lasen Prinz Eisenherz zusammen. Tags waren wir mit Karine am Strand. Mittags schlief Karine mit Juri in der Jugendherberge, ich saß draußen und betete: Die Toten sind in Gott, und Gott ist allgegenwärtig, also sind die Toten auch allgegenwärtig, sie sind mitten unter uns, nur unsichtbar. - Die Zwillinge waren in der Zeit bei ihrer Großmutter. Anschließend reiste ich mit Milan und Simon nach Sylt, Juri blieb bei der Großmutter (sie fand ihn anbetungswürdig). Ich reiste mit den Zwillingen zuerst zu Konrad, ihrem Opa, nach Hamburg. Dort ging ich mit Milan und Simon in die Kirche des heiligen Josef mit dem Pflegekind Jesus und empfahl ihm unsere Reise. Mit Konrad fuhren wir zu Karine nach Sylt, die Kinder schliefen bei Karine im Kurheim, ich und Konrad in einer Ferienwohnung, er erzählte mir abends beim Wein aus seinem Leben. Eines Mittags saß ich allein am Strand und sah auf das Meer, da schwebte die Jungfrau Maria über dem Meer, es war ein Meer der Liebe, ich dachte an die Weisheit Gottes, das Hätschelkind von Gottvater, die Weisheit Gottes war mir wie ein kleiner blonder vierjähriger Knabe. Ich sprach zu Karine von der „platonischen Knabenliebe“. Eines Mittags kam ich vom Meer, ging zu Karine und den Zwillingen ins Kurheim und machte Karine kniend und mit einem Blume in der Hand einen Heiratsantrag – den dritten in meinem Leben, keiner anderen Frau hab ich je einen Heiratsantrag gemacht, aber Karine sagte: „Aber du liebst doch Evi!“ Es war Ostern, Karine hatte Schokoladeneier versteckt, mitten im Brombeerendorngestrüpp, Konrad humpelte hinter uns her, die Kinder freuten sich. Wir waren auch im Schwimmbad, Die Kinder konnten noch nicht schwimmen, ich hielt sie, dass sie auf meinen Armen im Wasser sich bewegen konnten. Konrad sagte: „Bei mir haben sie Angst, aber bei dir sind sie ganz ruhig.“ Karine war wunder-wunderschön im Bikini.

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In Oldenburg waren wir auch öfters schwimmen, zum einen im Schwimmbad, da machte Juri seinen Schwimmkurs, Karine schwamm ihre Bahnen, ich spielte mit den Kleinen im Kleinkinderplanschbecken. Das Wasser war lauwarm. Juri sagte: „Das Wasser ist so warm, weil die kleinen Kinder immer ins Wasser pinkeln.“ Wir waren auch am Oldenburger Tilly-See baden, Karine schwamm, ich spielte mit den drei Kindern halb am Strand, halb im Wasser. Karine war so schön, wie eine Najade.

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Milan und Simon übernachteten oft bei mir. Sie schliefen in meinem Schlafzimmer, ich schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa. Morgens schauten die Kinder biblische Zeichentrickfilme, ich betete in der Zeit mein Morgengebet auf dem Balkon. Dann gingen wir zum Bäcker, kauften Croissants und Apfelsaft und gingen zum Spielplatz, frühstückten dort, die Kinder spielten, ich sah ihnen zu. Mittags gingen wir in den Imbiss und aßen Pommes frites. Dann holte Karine sie wieder ab.

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Einmal übernachteten Milan und Simon und ihr bester Freund Tom bei mir. Der Bibelfilm morgens zeigte, wie Abraham dachte, er müsse seinen Sohn opfern. Milan und Simon hatten etwas Angst, aber Tom sagte: „Das geht aber gut aus!“ Tatsächlich sagte Gott zu Abraham: Opfere deinen Sohn nicht. Ich saß auf dem Balkon, die drei Knaben drängelten sich um meine Knie, ich spielte Menschenfresser und wollte Simon in sein appetitliches Öhrchen beißen. Tom verstand den Spaß nicht, wollte seinen Freund Simon verteidigen und biss mir ins Ohr, er biss mein Ohr blutig. Nachdem wir im Wäldchen auf dem Spielplatz gewesen, spielten die drei Knaben friedlich in meiner Wohnung mit dem Spielzeug. Dann kamen Evi und Karine, ihre Söhne abzuholen. Karine sah den Frieden unter den Kindern und sagte zu Evi: „Toto hats drauf mit der Kindererziehung.“

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Ich hatte noch von meiner Wallfahrt ins Marien-Heiligtum Lourdes in Südfrankreich ein kleines Fläschchen in Form der Jungfrau Maria, gefüllt mit Lourdes-Wasser. Ich gab den Kindern immer einen kleinen Schluck, bis einer der Zwillinge sie eines Tages ganz leer trank. Karine sagte: „Was ist denn da drin?“ Ich sagte: „Das ist allerreinstes Quellwasser.“

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Milan schenkte ich einen Trinkbecher mit den beiden Engelskindern zu Füßen der Sixtinischen Madonna. Aus Gerechtigkeit kaufte Karine noch zwei solcher Trinkbecher für Juri und Simon.

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Einmal gab es Streit zuhause, Karine schimpfte mit den Kindern und verteilte Ohrfeigen. Da rief Milan: „Ich zieh hier aus! Ich zieh zu Toto!“ Einmal sagte Milan: „Die Welt sollte nur aus Torstens bestehen.“

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Karine wollte, dass die Kinder Musikunterricht bekommen. Wir brachten Juri zur musikalischen Früherziehung. Im Auto fiel mir plötzlich ein Lied ein von Charlie Chaplin aus dem Film „der große Diktator“, und ich sang: „Wir Arier, wir Arier, wir kämpfen gegen Volk und Vegetarier.“ Die Kinder sangen alle drei kräftig mit. Karine lachte, hoffte aber, dass die Kinder das nicht in der Öffentlichkeit singen. Als Milan und Simon zur musikalischen Früherziehung kamen, saß ich mit den Zwillingen vor dem Unterrichtsraum und wartete auf den Unterrichtsbeginn, und erzählte den Kindern von Frau Weisheit. Da sagte Milan strahlend: „Ich weiß, wer Frau Weisheit ist – Maria!“ Da kam eine Musiklehrerin aus einem Raum und sagte zu mir: „Sie haben ja eine sehr schöne Bass-Stimme, aber bitte reden Sie etwas leiser, sonst kann meine Schülerin nicht Geige lernen.“

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Bei mir zuhause sagte Milan einmal: „Du sollst mal Gott malen! Gott und Jesus und die Taube und Maria!“ Ich zeichnete also Gottvater mit langem Bart auf seinem Thron, rechts von ihm Jesus stehen und ein Kreuz in den Armen, zwischen ihnen die Taube und unter der Taube Maria auf einer Mondsichel, alles nur in Umrissen mit einem schwarzen Stift. Milan malte das Bild dann in den lustigsten Farben aus, ich glaube, Gottes Gesicht sah aus wie ein Regenbogen.

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Ich hatte zuhause auch ein kleines Bild von Amor, dem kleinen Liebesgott der alten Römer. Amor war ein sechsjähriger nackter Knabe mit Flügeln an den Schultern und Pfeil und Bogen in den Händen. Ich sagte: „Wen Amors Pfeil trifft, der beginnt zu lieben.“ Da spielte Milan Amor, schoss mir einen Pfeil ins Herz, ich stöhnte auf und sagte: „Oh ich liebe dich!“ Da lachte der kleine Amor vor Freude und wiederholte das Spiel noch mehrmals.

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Milan und Simon und vorher Juri auch waren im Naturkindergarten. Eine ihrer Kindergärtnerinnen war die blonde Bärbel, die mit mir in Ostfriesland aufs Gymnasium gegangen war und in die ich als Lehrling einmal etwas verliebt war. Einmal brachte ich mit Karine die Zwillinge in den Kindergarten, auf dem Rückweg gab ich Karine einen Kuss auf ihren schönen Mund. „Oh, nun gibst du mir auch noch einen Kuss auf den Mund“, sagte sie lächelnd. Besonders schön fand ich immer im November das Laufen mit den Laternen, wenn der ganze Kindergarten und alle Eltern durch die Natur zogen und die Kinder sangen: „Dort oben leuchten die Sterne, hier unten leuchten wir“ Da ging ich sehr gerne mit.

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Karine machte eine Kur in einem anthroposophischen Kurhaus, Maite und ich blieben bei den Kindern. Juri ging schon zur Schule. Ich brachte die Zwillinge mit dem Fahrradanhänger zum Kindergarten und holte sie mittags ab. Ich kaufte ein, Maite kochte, sie als Französin konnte lecker kochen. Nachmittags spielten wir. Abends brachte ich Juri in Karines Schlafzimmer ins Bett, ich las ihm Erich Kästner vor, wir plauderten noch etwas, bis er einschlief. Maite brachte die Zwillinge ins Bett, aber die standen wieder auf und kamen zu Juri und mir, und warteten, bis ich sie auch ins Bett gebracht hatte: „Schlafe selig und süß, schau im Traum das Paradies“… Dann setzte ich mich in den Garten, trank eine Flasche Rotwein, las in der Bibel, betete und schrieb Gedichte. Karine rief dann an und sprach mit Maite, wie es den Kindern gehe. Am Ende der zwei Wochen fragte ich Milan: “Wie hat es dir gefallen mit Amani und Toto?“ Und Milan sagte: „Nicht gut, wir mussten jeden Tag Zähne putzen...“

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Als ich mit Maite die Kinder hütete, ging ich eines Vormittags auf dem Hasenweg zum Deich und zu den Schafen spazieren, da war heiterer klar blauer Oktoberhimmel, die „liebe Sonne“ (wie Juri sie immer nannte) schien mild, aber kräftig, da sah ich die Sonnenstrahlen wie eine goldene Straße des Lichts, die von der Erde zum Himmel führte, und am Ende der goldenen Straße des Lichts war der Himmel offen, da saß auf dem weißen Thron Gottes die Schöne Liebe!

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Karine wollte, dass Milan und Simon getauft werden und dass ich ihr Pate werde. Ich sprach auch schon mit einer evangelischen Pastorin darüber. Leider kam es nicht mehr dazu.

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Ich nahm Juri einmal an einem Sonntag morgen mit in die Heilige Messe. Juri fragte mich: „Glaubst du an Gott?“ Ich sagte: „Ja.“ Er sagte: „Und ich glaube noch viel mehr an Gott als du!“ In der Heiligen Messe rief der Priester alle Kinder an den Altar, Juri stand da mit einem Haufen Kinder, sie beteten: „Vater unser, der du bist im Himmel!“ An einem Dienstag Nachmittag nahm ich einmal Milan und Simon ins Gemeindehaus mit, wo Heilige Messe gefeiert wurde. Der Priester gab den Kindern Kinderbilderbücher, in denen sie während der Messe blätterten. Als der Priester mir den Leib Christi reichte, machte er ein Kreuzzeichen auf die Stirn bei Milan und Simon und sagte: „Jesus ist euer bester Freund!“ Dann sah Simon das kleine Stück Brot, das der Priester in Jesus verwandelte hatte, und sagte: „Aha, das ist also Jesus?“ Ich sagte: „Ja.“

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Es war im Advent des Jahres 2009. Wir machten am Nachmittag einen Spaziergang. Alle drei Kinder rannten voraus, wir verloren sie aus dem Blick. Karine humpelte. Der Hasenweg war gefroren und spiegelglatt. Karine hakte sich bei mir ein und so gingen wir langsam und vorsichtig Arm in Arm weiter. Da sagte Karine: „Wir sind wie ein altes Ehepaar, Totolino. Wenn du bei mir bist, hab ich keine Angst vorm Tod.“ Überall lag Schnee, auf dem Weg, auf den Wiesen zu beiden Seiten, auf den kahlen Bäumen, die silberweißen Birken waren noch weißer geworden vom Schnee, es war ein weißer Nebel in der Luft. So war wirklich alles um uns ein mildes weißes Licht. Ich sagte: „Mir ist, als ob wir gerade in den Himmel spazieren.“ Und so war es auch, eine weiße Wolke nahm uns auf.

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Dieses schrieb der arme Torsten Schwanke. Gott verzeih ihm seine Sünden alle.