MEMOIREN VON TORSTEN SCHWANKE
ERSTES
KAPITEL
MEIN
ELTERNHAUS
Ich
war vielleicht vier Jahre, jedenfalls konnte ich schon Fahrrad
fahren, mein erstes kleines Kinderfahrrad. Ich trug eine kurze
bayrische Lederhose. Mein Haar war hellblond und kurz geschnitten.
Ich fuhr, so schnell es ging, vom Blaufärberweg auf die
Auto-Auffahrt, den schmalen Weg zwischen der Garage und Nachbars
Bohnenbeeten vorbei, um die Ecke, über den Rasen und - fuhr direkt
in den Graben, der unseren Garten von Lenz' Park trennte. Das ist
eine meiner frühsten Erinnerungen.
*
Stefan
war zwei Jahre älter als ich, aber von Ende August bist Anfang
November war er drei Jahre älter. Kindliche Mathematik. Zwischen
unserm Garten und Lenz' Park, vor Omas Küchenfenster stand ein
Haselnussbaum, in den Stefan kletterte, aber herunterfiel und mit
einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus musste. Ich bin auch
einmal in einen Baum geklettert und auch heruntergefallen und zwar
direkt in die Brennesseln, mit nackten Armen und Beinen. Nur die
Nachbarin Frau Reimer hörte mein Wehgeschrei, kam und verarztete
mich in ihrer Küche mit "Onkel Reimers gutem Schnaps".
*
In
Lenz' Park, vor meinem Zimmerfenster, stand ein schöner alter
Kastanienbaum. Stefan und ich hatten ein blaues Schiffstau
hineingehängt, so konnten wir gut in den Baum klettern. Auf dem
Kastanienbaum sammelten sich die Tauben und gurrten. Hinter Lenz'
Park stand die kleine Katholische Kapelle Sankt Wiho, und man sah den
schiefen Kirchturm der evangelischen Kirche Sankt Ansgari, Stefans
und meiner Taufkirche. So war das das Bild meiner Kindheitsheimat:
Kastanienbaum, Taubengegurr und Glockenläuten. Als Papa und Mama mir
später in Oldenburg eine Wohnung kaufen wollten, sah ich in einer
Wohnung vorm Balkon einen Kastanienbaum, hörte von dort Taubengurren
und in der Nähe Kirchenglocken (der Katholischen Kapelle Sankt
Christopherus und der evangelischen Kirche Martin Luther). Da wusste
ich, hier kann ich Heimat finden.
*
Am
Ende unseres Gartens hatte Papa einen kleinen Obstgarten angelegt, da
wuchs Rhabarber, Stachelbeeren, schwarze und rote Johannesbeeren. Von
dem Rhabarber machte meine Mutter leckeren Pudding, mit warmer
Vanillesauce serviert. Von den Stachelbeeren machte sie einen
leckeren Kuchen, die sauren Stachelbeeren versüßte sie mit Baiser,
weißem Zuckerschaum. Aus den Johannesbeeren machte sie Gelee. Wir
gingen auch mit den Eltern in den Wald und sammelten wilde Brombeeren
und Himbeeren. Mama machte Marmelade daraus. Oder wir gingen auf die
Erdbeerplantagen und sammelten Erdbeeren für Marmelade und Torte.
Wenn Mama Erdbeermarmelade machte, freute ich mich immer über den
Erdbeerschaum. Wenn Oma (die nebenan wohnte) Geburtstag hatte, am 2.
Juni, durfte ich mir immer einen Kuchen wünschen, dann wünschte ich
mir selbstgemachte Erdbeertorte mit Schlagsahne.
*
In
Lenz' Park, den wir pflegten und nutzen durften, stand ein alter
knorriger Apfelbaum. Die Apfelsorte hieß Boskop, die waren groß und
recht sauer. Aber ich liebte sie. Als ich das Lesen für mich
entdeckt hatte, aß ich beim Lesen immer Boskop-Äpfel. Aber den
"Griepsch", das Gehäuse, ließ ich im Zimmer liegen,
worüber meine Mutter mit mir schimpfen musste. Neben dem Boskop-Baum
standen da auch noch ein Birnbaum, ein Pflaumenbaum, ein Baum mit
süßen Kirschen, da war ein Brombeerstrauch, weiter stand da eine
fast dreihundertjährige Blutbuche, und zur Osterzeit war der Park
bedeckt mit weißen, gelben und violetten Krokusblumen. Von daher
kann ich sagen, dass der Krokus eigentlich meine Lieblingsblume ist,
den ich später in Oldenburg im Garten meiner Freundin Evi
beobachtete, wenn ich unterm Kastanienbaum auf der Wiese lag, dem
Taubengurren lauschte, den Schmetterlingen zuschaute und den Hummeln,
wie sie die Krokusblüten heimsuchten, das ist die Erotik der Natur.
*
Aber
nicht nur süßes Obst liebte ich, sondern auch das künstliche
Brausepulver mit Waldmeistergeschmack. Ich feuchtete den Zeigefinger
mit Speichel an, steckte ihn in die kleine Papiertüte, das
Brausepulver schäumte auf und blieb am Finger haften, den ich dann
ableckte. Dazu las ich einen epischen Roman von Michael Ende, indem
auch chinesische Mandarinen und die Prinzessin Ping-Pong vorkamen.
Auch kaufte ich mir manchmal eine Tüte mit Weingummi am Kiosk.
Besonders liebte ich auch die Dänischen Lakritze, die Mama und Papa
von Butterfahrten mitbrachten. Mama hatte in der Küche in einem
Schrank sehr hoch oben ein großes Glas mit Bonbons, eigentlich
unerreichbar und uns nur spärlich zugeteilt. Aber manchmal, wenn ich
allein war, kletterte ich auf die Spüle und klaute mir einen Bonbon.
Auch hatte Mama in Papas spärlich frequentierter Bar ein Packung mit
Schokolade-Minze-Täfelchen, daraus ich mir manchmal den Inhalt
raubte, die Packung leer zurückließ, "damit es keiner merkt".
Wenn ich mir einmal Kartoffelchips kaufte, sagte mein Vater: So etwas
essen nur primitive Leute. - Ich wollte zwar nie zu den primitiven
Leuten gehören und war mir auch immer bewusst, nicht einer von denen
zu sein, aber heimlich aß ich doch Kartoffelchips. Oma hatte in
ihrem Wohnzimmerschrank eine Schale mit Bonbons, und wenn ich zu ihr
kam, durfte ich mir öfter einen kleinen Bonbon nehmen.
*
Die
hochberühmte Nachtigall habe ich nie gehört. In unserm Garten waren
vor allem die Amseln unsere täglichen Gäste, das Weibchen in
braungrauer Tarnfarbe zum Schutz der Brut, das Männchen im
samtschwarzen Frack und goldgelbem Schnabel. Die Amseln nahmen
Schneckenhäuschen in den Schnabel und zertrümmerten sie auf einem
Pflasterstein, um an das leckere Innere, das weiche Fleisch der
Schnecke zu kommen. Auch Meisen waren in Lenz' Park, ich glaube
Blaumeisen, die schön sind wie schwebende blaue Blumen. Von meinen
geliebten Tauben hab ich schon gesprochen. Ich kannte natürlich das
Märchen von Aschenputtel mit seinem Ruckediguh. Später, wenn ich
eine Taube vom Himmel schweben sah, dachte ich spontan, der Heilige
Geist kommt auf mich herab. Aber auch Schwalben bauten ihr Nest an
unserer Garage. Wenn ich später in einem alten chinesischen Gedicht
übersetzte: Und wie ein Schwalbenpaar bauen wir unser Nest an des
Edlen Haus, dann musste ich an die Schwalben meines Elternhauses
denken.
*
Vor
Omas Hintertür, die zur Küche führte, waren unter den Steinplatten
immer viele Ameisen. Da Oma nicht wollte, dass die in ihre Küche
kamen, übergoss sie den ganzen Palast der Königin mit heißem
Wasser. Ich verteidigte das Recht der Ameisen auf Leben. Auch waren
in dem kleinen Beet vor unserer Terrasse immer viele Nacktschnecken,
die die Nutzpflanzen zerfraßen, und gegen sie wurde gekämpft, indem
man Salz auf ihre nacktes Fleisch streute. Ich selbst aber war auch
grausam: Im Winter sperrte ich einen Frosch in einen Topf mit Wasser
ein und ließ ihn im Eis einfrieren. Da waren auf den Steinen unserer
Terrasse kleine winzige Tierchen, wie hellrote Punkte, die, wenn ich
sie mit dem Finger zerdrückte, dennoch weiter leben. Auch staunte
ich sehr über den Regenwurm, der, wenn ich ihn in der Mitte mit dem
Messer durchschnitt, als zwei kleine Regenwürmer weiter lebte.
*
Da
wir nah an der Nordseeküste wohnten, bekamen wir vom Hafen in
Norddeich immer guten Fisch. Mama briet auf der Terrasse den Fisch,
damit nicht das ganze Haus danach roch. Besonders liebte ich die
panierten Seezungen, aber auch die gebratenen Schollen und den
Brathering. Aber Kult war es, wenn Mama einen Beutel Krabben
mitbrachte. In Ostfriesland gibt es ja Wettbewerbe, wer am
schnellsten Krabben puhlen konnte. Mama und ich puhlten die Krabben,
und es gab diese dann auf einem kräftigen Schwarzbrot mit Butter,
manchmal noch mit einem Spiegelei. Auch kam immer Freitags der
Fischwagen an den Blaufärberweg, wohl noch aus Erinnerung an alte
christliche Zeiten: Freitags ist Fisch-Tag, da fasten wir und
enthalten uns des Fleischgenusses, weil der Herr Jesus am Freitag für
uns gekreuzigt worden ist.
*
In
der Adventszeit backte Mama leckere Kekse, besonders gut waren die
Vanillekipferln und die Haferflockenplätzchen. Mama sagte dann:
Abendrot, Abendrot, die Englein backen Brot. Zum heiligen Nikolaus
stellten wir am Vorabend einen Teller mit Schwarzbrot vor die
Haustür, für das Pferd des heiligen Nikolaus. Der gute Bischof ließ
uns dafür ein Stiefelchen voll Schokolade da. Abend am heiligen
Nikolaustag ritt dann der heilige Bischof auf seinem Pferd durch
Hage, warf Bonbons unter die Kinder. Hinter ihm ritt sein schwarzer
Knecht Ruprecht mit der Rute für ungezogene Kinder. In der
Adventszeit sang Mama mit uns Weihnachtslieder, manchmal spielte ich
Flöte dazu. Mama konnte sehr schön singen. Stille Nacht, heilige
Nacht, einsam wacht nur das hochheilige Paar, Knabe im blonden
lockigen Haar, Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem, ihr
Kinderlein, kommet, o Tannenbaum, süßer die Glocken nie klingen als
zu der Weihnachtszeit, ich steh an deiner Krippe hier, Maria und
Josef, die lagen im Stroh... Mama und Papa schlossen das Wohnzimmer
ab, drinnen wurden die Geschenke unter den Weihnachtsbaum gelegt, der
war erleuchtet von echten Kerzen, nicht etwa von elektrischem Licht,
es hieß, Kinder, der Weihnachtsmann ist gerade da. Wir gingen dann
erst zu Oma rüber, da war zuerst Bescherung. Meistens bekam ich von
Oma einen Schlafanzug, einen Taler und Schokolade. Oma hatte
Heringssalat gemacht, das war mit Kartoffeln unser Festessen. Dann
gingen wir wieder in unser Haus zur Bescherung. Das schönste
Weihnachtsgeschenk war ein Fort mit Yankees, Cowboys und Indianern.
Einmal bekam ich einen technischen Baukasten geschenkt, darin war ich
aber nicht sehr geschickt. Mitternachts gingen Oma und Mama mit
Stefan und mir in die Ansgarikirche zum Weihnachtsgottesdienst. Mama
sang: Es ist ein Ros entsprungen, und ich verstand: Es ist ein Ross
entsprungen. Da war die Krippe, der Stall von Bethlehem, die schöne
Maria mit ihrem Josef, die heiligen drei Könige, die Hirten, das
Jesusbaby. Oma hat auch in der Vorweihnachtszeit gebacken, vor allem
Christstollen. Wenn sie dann zu Neujahr Neujahrskekse backte, gab sie
mir den gebackenen Teig und ich rollte sie an einer hölzernen
Wäscheklammer zum Röllchen.
*
Sylvester
Abend ging Papa mit Stefan und mir hinters Haus und entzündete
Feuerwerk, aber keine Raketen, sondern Sonnenräder, die waren wir
kreisende, tanzende, Funken sprühende Sonnen. Dann kamen wir Brüder
zu Oma und schliefen bei Oma. Mama und Papa gingen dann feiern zu
Freunden. Vor Mitternacht weckte uns Oma, wir bekamen Limonade und
Salzstangen und guckten uns Sylvesterfeiern im Fernseher an. Um
Mitternacht traten Oma, Stefan und ich auf dem Blaufärberweg uns das
Feuerwerk über Hage anzusehen. In den kommenden Tagen knallte ich
noch mit den sogenannten Laubfröschen, die ich in Spielzeugautos
steckte und so die Autos in die Luft jagte.
*
Sitz
nicht so nah vorm Fernseher, sonst kriegst du viereckige Augen!
mahnte Mama. Ich erinnere mich an die Winnetou-Filme. Old Shatterhand
hätte ich gerne zum Vater gehabt. Mit meinem Freund Andreas spielte
ich Cowboy und Indianer, er war schwarzhaarig, also war er Winnetou,
ich war blond, ich war Old Shatterhand, und Karin war schwarzhaarig
und war Nscho-Tschi, die Squaw, die ich versuchte zu küssen. Aber
ich erinnere mich auch noch an viele Filme mit Marilyn Monroe, die
ich nicht als ein Lustobjekt betrachtete, ich war ja noch ein Kind,
nein, sie war so etwas wie eine Mutter für mich. Ja, ich war das
Kind von Old Shatterhand und Marilyn Monroe! Auch erinnere ich mich
an die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste, eine Art
Marionettentheater für Kinder. Und ich liebte die Sendung mit dem
Bücherwurm, das war ein Wurm, der die besten neuen Kinderbücher
vorstellte. Aber vor allem kam Musik aus dem Fernseher. Mama liebte
ja die Musik. Ich bin mit der Schlagermusik der siebziger Jahre groß
geworden. Wir sahen den europäischen Schlagerwettbewerb, hörten
allwöchentlich die Schlagerhitparade. Vielleicht hab ich so reimen
gelernt und nicht etwa von Rainer Maria Rilke. Aber den stärksten
Eindruck hinterließ die schwedische Disco-Gruppe Abba, deren Musik
harmonisch und fröhlich war, und die junge blonde Sängerin Agneta
war keine Frau, sondern eine schwedische Göttin.
*
Meine
Eltern hatten sich von Freunden ein Lamm geliehen, das weidete von
Frühling bis Herbst in Lenz' Park, bis es zurückgegeben wurde. Es
waren mehrere Lämmer mehrere Jahre bei uns. Über ein Schaf schrieb
ich ein Gedicht: Fressen, Pissen, Schlafen, so geht sein Leben hin.
Einmal hatten wir ein schwarzes Lamm, das nannten wir Petra, das
starb aber an einem Bandwurm. Die Schafe standen angepflockt im hohen
Gras des Parkes und ersparten die Sense, der Pflock wurde immer
wieder versetzt. Aber einmal, als meine Eltern im Urlaub waren und
ich bei Oma wohnte, hatte der Regen den Boden aufgeweicht, das Schaf
hatte den Pflock herausgezogen und war fortgelaufen. Ich eilte
hinterher, es wieder zu bringen. Nachbarn hatten es gefunden und mir
wieder übergeben. Ich kam deswegen zu spät zur Schule und sagte dem
Lehrer entschuldigend: Ich musste erst unser Schaf einfangen. Und die
ganze Klasse lachte.
*
Ostern
feierten wir eigentlich nicht christlich, sondern heidnisch. Mama
legte Eier in Salzwasser ein, die Soleier wurden dann mit Essig, Öl,
Salz und Pfeffer gefüllt gegessen. Mama färbte auch Ostereier, aber
nicht mit künstlicher bunter Farbe, sondern mit Zwiebelschalen, was
ein schönes Braun ergab. Mit Papa gingen Stefan und ich in den
Garten und spielten Boccia mit bunten Ostereiern. Bei Oma gab es
bunte Eier, Schokolade und einen Taler in einem grünen
Osterhasennest. Zu Ostern kamen aber damals noch christliche
Spielfilme im Fernsehen. Ich erinnere mich an einen Jesusfilm, und
zwar einzig und allein an die Szene, da Petrus den Jesus dreimal
verleugnet hatte, wie Jesus ihn da anschaute, und Petrus bitterlich
weinte. Diesen Blick Jesu habe ich tief in der Seele empfunden. Auch
sah ich den Film Quo Vadis über die römische Christenverfolgung
unter Kaiser Nero. Daher kommt wohl meine große Liebe zu Petrus, der
mir persönlich der liebste unter den Aposteln ist. Wenn wir auf
einem Spaziergang Angler an einem Wasser sahen, sagte Mama: Petri
Heil!
*
Sonntags
gingen wir zwar nicht in die Kirche, aber es war uns doch ein
besonders feierlicher Tag. Am Sonnabend hörten wir abends im
Fernseher die kurze Predigt, das Wort zum Sonntag. Meine
Indianerfreunde im Wald sagten zu mir: Predige uns nicht schon wieder
das Wort zum Sonntag! Am Sonntagmorgen frühstückten wir nicht wie
sonst in der Küche, sondern im Wohnzimmer. Es gab statt der
gewöhnlichen Margarine gute Butter. Mama machte im Radio klassische
Musik an, manchmal gab es im Radio noch eine Sonntagsandacht. Oma zog
am Sonntag immer ein besonders schönes Kleid an und trank den Tee
aus einem besonders festlichen Geschirr.
*
In
der Schule hatten wir Religionsunterricht, ich bekam dazu eine
bebilderte Kinderbibel. Ich erinnere mich an einen Nachmittag in der
blauen Dämmerung, da las ich allein zuhause in meinem Zimmer in der
Kinderbibel. Ich las vom Knaben Samuel, der im Tempel Gottes lebte
mit dem alten Priester Eli. Nachts hörte er eine Stimme ihn rufen:
Samuel, Samuel! Der Knabe dachte, der alte Priester habe ihn gerufen
und ging zu ihm, der aber schickte ihn wieder ins Bett. Da hörte er
wieder die Stimme seinen Namen rufen. Er ging wieder zu dem Priester,
und der erkannte, dass Gott den Knaben anruft und sagte: Nächstes
Mal, wenn du gerufen wirst, sage: Rede, Herr, dein Knecht hört. So
tat der Knabe, als er zum dritten Mal beim Namen gerufen wurde: Rede,
Herr, dein Knecht hört. - Als ich das las, sah ich die Szene
lebendig vor mir, wie der Knabe Samuel von Gott zum Propheten berufen
wurde. Meine erste Berufung war ja meine Taufe am 16. Januar 1966,
aber diese Szene war meine zweite Berufung.
*
Eines
Tages hatte ich ein neues Buch: Germanische Götter und Heldensagen.
Da war von Thor die Rede, dem Donnergott. Ich bin ja nach ihm
benannt. Torsten heißt: der Steinhammer des Donnergottes! Da war ein
prosaische Nacherzählung des Nibelungenliedes. Ich liebte die ersten
siebzehn Abenteuer bis zum Tode Siegfrieds. Kriemhilds Rache und
König Etzel, den Hunnen, das war mir zu grausam. Da gab es aber auch
das schöne Gudrunlied, die christliche Schwester des
Nibelungenliedes, das spielte in Dänemark und Friesland und
Sturmland - meiner Heimat. Und wenn von Kriemhilde oder Gudrun die
Rede war: Und das holde Mägdelein mit seinen langen Zöpfen schaute
aus der Kemenate auf den Recken - dann dachte ich an meine blonde
Nachbarin Gudrun. Dazu kamen unsere häufigen Sommerferien in
Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland, bis zum Nordkap. Und so
habe ich in meiner Kindheit die germanische Seele tief in mich
aufgenommen. Ich war nicht ein Ostfriese aus dem Landkreis Norden,
ich war ein Germane, einer vom stolzen alten Volk der Friesen! Eala
freya fresena - es lebe das freie Friesland!
*
Papa
hatte mir verboten, Comics zu lesen. So musste ich mir meine
Indianercomics heimlich kaufen. Ich legte sie in eine Schatzkiste und
vergrub sie in Lenz' Park, wo ich sie heimlich im Baumschatten las.
Mein Onkel Arno las Groschenhefte vom Bahnhof, Cowboygeschichten
zweispaltig auf schlechtem Zeitungspapier. Er schenkte mir einige
Hefte. Papa verbot mir, so etwas zu lesen. Wütend warf ich meine
guten Kinderbücher aus dem Regal und rief: Dann will ich das aber
auch nicht mehr lesen. Nachträglich bin ich Papa dankbar dafür. Er
hat zwar selbst keine Bücher gelesen, nur sozialdemokratische
illustrierte Zeitschriften wie Stern und Spiegel, aber er hatte Acht
darauf, dass ich keinen Schund lese. Oma las auch Groschenhefte,
Arztromane. Sie hatte in der Küche einen Kalender, auf dem jeden Tag
ein neuer Weisheitsspruch stand, den lasen wir immer zusammen. Einmal
fragte ich Oma, ob sie in der Schule auch Goethe gelesen. Da lachte
sie und sagte: Goethe? Ach mein lieber Junge!
*
Mein
erstes Kartenspiel, dass ich öfter mit Stefan und Mama spielte, war
das einfache Mau-Mau. Dann brachten Papa und Mama uns Rommée und
Canasta bei, das spielten wir zu viert. Wenn ich allein war und mir
die Zeit vertreiben wollte, legte ich mit Karten Patiencen. Papa war
sehr gut im Skat. Ich hab es nie begriffen. Papa traf sich regelmäßig
mit Freunden zum Skatspielen, sie saßen dann zu viert im Wohnzimmer,
die Ehefrauen spielten mit Mama in der Küche ein anderes
Kartenspiel. Papa gewann auch oft bei Skatwetbbewerben große
Schinken. Auch spielten Stefan und ich mit Karten, da man Autos oder
Schiffe oder Flugzeuge mit ihren Stärken gegeneinander antreten
lässt.
*
Als
Stefan noch klein war, da konnte er das nuckeln nicht lassen. Er
nuckelte am Daumen, er nuckelte am Zipfel der Bettdecke. Mama strich
Daumen und Zipfel mit einer bitteren Flüssigkeit ein, und Stefan
verlor die Lust am Nuckeln.
*
Papa
hatte mir in seinem Werkzeugkeller ein Gewehr aus Holz gebastelt,
damit ich mit meinen Freunden im Wald Indianer spielen konnte. Einmal
hat er mir auch Pfeil und Bogen gemacht, damit ich Robin Hood spielen
könne. Mein Holzgewehr hat mir der Nachbarsjunge Uwe geklaut, er
leugnete es zwar, aber ich sah es bei ihm. Als ich mir aber im
Geschäft kleine Soldatenfiguren und kleine Panzer gekauft hatte, hat
Papa mir verboten, damit zu spielen. Als ich ihm sagte: Ich bin schon
seit drei Tagen im Krieg mit meinen Freunden, da sagte Papa, der
zweite Weltkrieg habe sechs Jahre gedauert, da war ich doch sehr
erschrocken. Später, als ich mit meiner Freundin Karine ihre Kinder
erzog, hatte mein lieber Juri von seinem Zeuger auch Soldaten und
Panzer geschenkt bekommen. Karine und ich sahen uns nur an und warfen
gemeinsam das Kriegsspielzeug in den Mülleimer.
*
Die
erste Poesie, die ich kennen lernte, war die Bibel und die
Kirchenlieder. Dann kamen in kindlicher Form Edda, Nibelungenlied und
Gudrunlied. Dann aber hörte ich in der Vertonung einer deutschen
Musikgruppe die ersten Gedichte meines Lebens, von dem deutschen
Romantiker Novalis: Wenn die so singen oder küssen / mehr als die
Tiefgelehrten wissen. Und: Wer Schmetterlinge lachen hört, / der
weiß wie Wolken schmecken. Und eine andere deutsche Musikgruppe
zitierte das Gedicht an die Göttin der Morgenröte vom französischen
Genie Arthur Rimbaud.
*
Die
erste Geschichte, die ich schrieb, war eine Festschrift zum
Geburtstag meiner Oma, ein Fest beschreibend, da die Gäste in den
Bäumen saßen und Trompeten bliesen und der Pastor kam mit der
Bibel. Mit dreizehn Jahren saß ich in meinem Zimmer zur Stunde der
blauen Abenddämmerung und schaute auf die Schwarzerle vorm Fenster
und auf den Himmel und schrieb meine ersten Verse in ein Schulheft,
zeigte es meinen Eltern, die aber nichts dazu sagten. Dann schrieb
ich für meinen Vater zum Geburtstag eine Kriminalgeschichte, die von
einem kriminalisierenden Pastor handelte und einer mörderischen
Giftspinne. Mit meinem Freund Christian machte ich eine kleine
Zeitung in einer Auflage von sieben Exemplaren, da ich ein Gedicht
veröffentlichte und einen Text über ägyptische Hieroglyphen. Dann
kaufte ich mir ein Blankobuch, auf dem Umschlag stand: Notizen eines
verkannten Genies, und in dieses leere Buch schrieb ich meine ersten
Gedichte, hauptsächlich Liebeslyrik in freien Versen für meine
Pubertäts-Geliebte Hedda.
*
Papas
Bruder Onkel Hartmut hatte vier Töchter, einmal kam meine Cousine
Petra zu Besuch, es war Sommer, wir spielten halbnackt im Garten, und
Papa spritzte uns mit Wasser aus dem Wasserschlauch ab. Dann war ich
mit Petra allein in meinem Zimmer. Wir spielten Wachküssen: Ich
legte mich aufs Bett und tat, als ob ich schliefe, Petra kam und
küsste mich wach. Das wiederholten wir so oft, bis wir uns genug
geküsst hatten. Das war mein erster Kuss.
*
Ich
lernte in der Musikschule zwei Jahre lang Notenlesen und
Flötespielen. Mama sang Weihnachtslieder und ich begleitete sie auf
der Flöte. Zu Weihnachten bekam ich einmal eine chromatische
Mundharmonika und ich übte O Tannebaum darauf. Dann bekam ich das
alte Bahnhofsklavier von Omas Schwester. Ich hatte Herrn Krämer als
Musiklehrer, der selbst Saxophon in einer Jazzband spielte. Erst
musste ich Fingerübungen machen. Aber eines Tages konnte ich aus dem
Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach spielen. Herr Krämer kam zu
uns nach Hause, und auch Mama erfüllte sich ihren Kindheitswunsch,
Klavier zu spielen. Später wollte ich dann keine Klassik mehr
spielen, ich spielte stattdessen Blues und Boogie Woogie. Dann aber
hörte das auf mit dem Klavierspiel. Ich bekam von Mama ihre
akustische Gitarre geschenkt, mit der sie früher in der Baltrumer
Gitarrengruppe gespielt hatte. Vorher bastelte Papa mir noch im
Werkzeugkeller eine Gitarre ohne Saiten. Und wenn im Radio Eric
Clapton von Layla sang, tat ich so, als ob ich die Gitarre spielte.
Ich lernte die Blues-Tonleiter spielen. Einmal spielte ich Gitarre,
da kam Mama rein und sagte: Na, lässt du sie wieder weinen? Papa
kaufte mir dann eine elektrische Gitarre. Im Radio gab es eine
Sendung, da wurde mit Bass und Schlagzeug der Blues-Rhythmus
gespielt, und ich spielte auf der E-Gitarre mein Solo dazu. Mit einer
Schulfreundin machte ich Musik, sie spielte Akkordeon und ich die
E-Gitarre, wir spielten Lieder von den Beatles und Bob Dylan. Ich
habe auch noch Blues-Mundharmonika gelernt, und noch lange mit
Freunden musiziert. Aber eines Tages hörte alles Musizieren auf und
ich liebte die Musik nur noch als Zuhörer. Als ich aber einmal
meinem Onkel Arno, der in einem Männerchor sang, ein Lied zu Martini
vorsang, sagte er: Du kannst nicht singen. Und er hat recht, ich bin
nicht im geringsten in der Lage, mit meiner Stimme irgendeinen Ton zu
treffen. Doch meine Liebe zur Musik hab ich wohl von Mama geerbt.
*
Wenn
Stefan und ich im selben Zimmer, ja im selben Bett einschliefen,
erzählten wir uns meist schaurige Märchen vom Wolf im Walde.
Natürlich kannte ich Grimms Märchen. Einmal kam Mamas
Jugendfreundin und Cousine Ursel mit ihrem Mann zu Besuch. Der Mann
stand abends im Badezimmer und rasierte sich nass (Papa benutze einen
Rasierapparat und das Rasierwasser Tabac), der Mann setzte mir etwas
Rasierschaum auf meine neugierige Nase und fragte, ob man mir auch
Gutenachtgeschichten erzähle. Und dann erzählte er mir eine
Gutenachtgeschichte.
*
Ich
war evangelisch-lutherisch getauft und konfirmiert. Ich war dreimal
mit den katholischen Pfadfindern im Zeltlager. Und ich war in einer
evangelikalen Freikirche zur Kinderbibelstunde. Das muss wohl die
Vorsehung Gottes so eingerichtet haben, denn auch später im
Erwachsenenleben als entschiedener Jünger Jesu hielt ich mich unter
Katholiken und Lutheranern und Evangelikalen auf. Aber in meiner
Kindheit kannte ich nur ein einziges Gebet, das ich oft wiederholte,
mehr eine Art Stoßseufzer: Herr, wirf Hirn vom Himmel!
*
Zu
meiner Konfirmation kam mein geliebter Vetter Achim und schenkte mir
eine Schallplatte von Eric Clapton. Papa hatte gesagt, ich müsse
nicht wegen der Geschenke zur Konfirmation gehen, ich würde auch
ohne Konfirmation Geschenke bekommen. Ich wollte aber zur
Konfirmation. Oma gab mir ihre Bibel, die sie 1927 auf Baltrum vom
Pastor zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatte, eine Lutherbibel
in Frakturschrift (ich habe sie nach Omas Tod von Mama geerbt und
hüte sie als kostbare Reliquie) und ihr Gesangbuch: Ein feste Burg
ist unser Gott! Im Konfirmationsunterricht lernte ich das Vaterunser
auswendig, vor Kerzen dachten wir an die armen Kinder in Afrika, dann
sangen wir als Friesen noch den Shanty what shall we do with a
drunken sailor! Dann war ich im schwarzen Anzug zum ersten
evangelischen Abendmahl eingeladen. Als ich vor dem Kelch kniete
bekam ich Nasenbluten. Es musste wohl so sein, denn ich ward berufen,
nicht nur das verblutende Herz Jesu anzubeten, sondern selbst ein
verblutendes Herz zu haben...
ZWEITES
KAPITEL
VOM
HASCHISCH
Ich
wohnte bei meinen Eltern und hatte Kontakt zu unserem Nachbarn Uwe,
der zwei Jahre älter war als ich, und der eine große
Schallplattensammlung mit Krautrock hatte. Bei ihm lernte ich Eloy
und Novalis kennen. Eines Tages schenkte er mir einen kleinen Brocken
Hasch. Ich wusste nicht, wie damit umgehen. Ich legte es auf einen
Teelöffel und erwärmte den Teelöffel mit einem Feuerzeug, dann tat
ich das Haschisch in eine Tasse Tee. Ich stellte aber keine Wirkung
fest. Aber das war der Anfang.
*
Mein
Freund Christian hatte zuhause eine kleine selbstgebastelte
Wasserpfeife, ein kleiner Pfeifenkopf von der Größe einer
Zigarettenspitze, auf einem ordinären Wasserglas. Ich fragte, was
das sei. Er log, das sei, um Zigarettenrauch zu kühlen. Dann aber
gestand er, es sei, um Haschisch zu rauchen. Nun erlebte ich meinen
ersten Rausch. Wir hörten Genesis, the Lamb lies down on Broadway.
Ich saß im Sessel, er stand über mir, ließ eine Schere über
meinem Oberkörper fallen, fing sie wieder auf, das wiederholte er
mehrmals, ich war gequält und geängstigt, aber ich war vom
Haschisch so gelähmt, dass ich micht nicht im geringsten bewegen
oder wehren konnte. Dennoch hat mich das nicht abgeschreckt, sondern
ich war nun süchtig geworden, vielleicht wegen dem intensiven Genuss
der psychedelischen Musik.
*
Ich
hatte mit Christian Haschisch geraucht. Er hatte aus dem Physiklabor
der Gymnasiums einen Liebigkühler geklaut und daraus eine
Wasserpfeife gemacht. Da rief mich meine Geliebte Hedda bei Christian
an, ihr Fahrrad sei kaputt, ob ich kommen könne, es zu reparieren.
Ich dachte: Was für ein profanes Alltagsthema! Ich schwebe gerade in
goldenen Wolken, auf den Flügeln der Musik, und sie will, dass ich
irdische Praxis übe. Ich ging dennoch hin, benahm mich aber beim
Versuch, das Fahrrad zu reparieren, dermaßen ungeschickt und
weltfremd und psychisch-merkwürdig, dass Hedda fragte: Was hast du,
was ist mit dir? Ich sagte ihr nichts von meinem Rausch. Dabei hatte
ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihr etwas Wesentliches
vorenthielt und Geheimnisse mit ihr hatte.
*
Bei
meinem Freund Christian drehte sich im Leben alles nur noch ums
Haschisch. Er züchtete selber Hanfpflanzen in seinem Zimmer. Er las
Carlos Castaneda, was mir nie gefallen hat. Er saß mit drei andren
Freaks auf dem Sofa, sie rauchten ein gewaltiges Kawumm-Pfeifenrohr,
und saßen dann schweigend und apathisch zusammen. Er las Bücher
über Drogen wie Tollkirsche, Stechapfel und Kokain. Ich aber hatte
Gorkis Mutter gelesen und über die Friedensbewegung Kontakte zum
Marxismus und Leninismus bekommen. Weder der Drogenrausch mit
Christian noch die sexuellen Räusche mit Hedda befriedigten meine
Seele, ich suchte mehr, die Befreiung der Menschheit, den
Weltfrieden, und meinte das im Kommunismus zu finden. Auf meine Reise
in den Kommunismus nahm ich aber das Haschisch mit.
*
Ich
hatte einen Freund kennengelernt, Michael, ein Arbeitersohn, ohne
Interesse an der Ideologie, mit ihm rauchte ich Haschisch, wir hörten
dann Pink Floyd, die psychedelische Musik und das Haschisch erzeugten
Visionen oder Halluzinationen. Eines Abends ging ich berauscht mit
Michael zu Christian. Wir kamen an einem Wald vorbei. In meiner
Tasche hatte ich meine Blockflöte. Ich nahm den Flötenkopf ab,
blies hinein und fächelte mit der Hand vor der Öffnung, so
erzeugten Atem und Holz sehr hohe, singende Töne. Da kam aus dem
Wald eine Fledermaus und umkreiste mich. Ich hörte auf zu flöten,
sie verschwand. Ich flötete wieder, sie kam zurück zu mir. Das muss
wohl Orpheus so gegangen sein, als er seine Klagelieder für seine
tote Eurydice spielte und die ganze Natur ihm folgte.
*
Mit
Christian trampte ich durch Deutschland. Und in der Nähe von
Frankfurt nahm uns ein Wagen voll junger Leute, Männer und Frauen,
mit, die in Partylaune waren und lachten. Eine junge Frau stand
aufrecht im Cabriolet. Wir hörten Genesis, lilywhithe Lilith. Der
Wagenlenker war der Sohn des berühmten deutschen Schriftstellers
Peter Härtling, der einen Roman über Hölderlin geschrieben hat
(den ich nie gelesen habe). So kam ich in das Haus von Peter
Härtling. Dort habe ich mit seinem Sohn im Wohnzimmer Haschisch
geraucht. Die Wände waren voller Bücher, ich erinnere mich an die
Gesamtausgabe von Marx und Engels
*
Christian
hatte Stechapfel gesammelt. Wir hatten uns in meinem Zimmer im
elterlichen Haus verabredet, und wollten zusammen Stechapfeltee
trinken. In einem Buch stand, dass ein so Berauschter über eine
Straße ging, weil keine Autos dort fuhren, dachte er, es fuhren aber
sehr viele Autos dort, die er nicht sah und hörte. Christian und ich
bekamen plötzlich - Gott sei Dank - Angst und tranken den
Stechapfeltee nicht.
*
Ich
hatte im Umfeld der kommunistischen und Friedens-Bewegung Friedrich
und Theda kennen gelernt, die ein Paar waren. Thedas Mutter war eine
stadtbekannte Feministin, die Bücher über die Große Göttin
schrieb. Friedrich hatte mich zu sich aufs Land eingeladen zum
Haschischrauchen. Er hatte extra für mich Brausepulver gekauft,
puren Zucker mit künstlichem Fruchtgeschmack, der schäumte im Mund,
wenn er sich mit dem Speichel vermischte. Auch Schokolade schmeckte
im Haschischrausch süßer. Theda aber bat mich, als sie in
Sommerurlaub fahren wollte, solange ihre Marihuana-Pflanzen bei mir
zuhause zu pflegen. Wir hatten hinterm eigenen Garten einen
verwilderten Park. Da war eine Wiese voll von Brenn-Nesseln. Mitten
unter diese stellte ich die Töpfe mit Thedas Marihuana-Pflanzen.
Aber wir hatten in dem Park auch ein angepflocktes Schaf, das sich
eines Tages losgerissen hatte und Thedas Pflanzen alle aufgefressen.
Wie nun Marihuana auf Schafe wirkt, konnte ich nicht beobachten.
Theda glaubte mir die Geschichte nicht, sie dachte, ich hätte alles
selbst geraucht. Denn es gab unter den Haschischsüchtigen viel
Egoismus und Diebstahl und Betrug, wie ich oft erfahren.
*
In
der Discothek "Meta" an der Nordsee hinterm Deich tanzte
ich im Vollrausch von Bier, Wodka und Haschisch auf der highway to
hell, unter dem Dröhnen von hell's bells. Ich sagte: ich tanzte,
aber es war nur ein ekstatisches Zucken und berauschtes Taumeln. Da
sprach mich Sonja an. Wir gingen über den Deich an die Nordsee und
küssten uns. Ich verbrachte drei Monate, einen ganzen Winter in
ihrem Bett, im Rausch von Alkohol und Rauschgift und im sexuellen
Rausch. Aber innerlich fühlte ich mich wie ein einsamer Steppenwolf
in der verschneiten russischen Taiga, den kalten Mond um Erbarmen
anheulend. Ich hatte die Vision, dass ich in einem Moor immer tiefer
versinke, dass meine Freunde am Rande stehen wie Baumstümpfe, mir
aber keiner eine helfende Hand reicht. Sonja traf ich dann eines
Tages nackt auf dem Schoß meines "besten Freundes" Volker.
Das waren die berühmten Orgien des Dionysos.
*
In
meiner ersten eigenen Wohnung, einem Zimmer im Haus einer Witwe, habe
ich den Rausch mit einer Frau erlebt. Ich las Berthold Brecht: Mags,
wenn Tugend einen Hintern und ein Hintern Tugend hat. Und in dieser
Vereinigung in einer Nacht, berauscht von Alkohol und Hasch, hatte
ich in der sexuellen Ekstase Schauungen von himmlischen
Erdbeerfeldern. Eines Tages hatte ich ein kleines Stück Haschisch
gekauft, und als ich es aus der Aluminiumfolie auswickelte, sah ich,
dass es schimmlig geworden war. In großer Angst mich zu vergiften
warf ich das Haschisch weg. Später sagte mir ein Kiffer, der
Schimmel sei das Beste am Haschisch.
*
Ich
traf mich mit Friedrich und Theda. Friedrich hatte eine originale
orientalische Wasserpfeife. Er legte schweres schwarzes Afghanisches
Haschisch auf. Ich wurde davon so schwer und bleiern, ich konnte mich
nicht bewegen, nicht erheben. Ich war ganz der Musik und den
akustischen und optischen Halluzinationen ausgeliefert. Schließlich
schaffte ich es nachts aufs Fahrrad. Mein Weg nach Hause war eine
lange einsame Landstraße. Ich fuhr, schien mir, durch einen Tunnel
aus Stacheldraht, der sich immer enger zusammenzog. Ich hatte große
Angst. Erst als ich vor einem Haus anhielt und von einem Baum einen
Apfel pflückte, erlosch der Alptraum. Das habe ich ungefähr drei
Nächte nacheinander erlebt. Immer erlöste mich der Apfelbaum.
*
Eines
Tages stand ich in meines Vaters Werkzeugkeller. Ich war berauscht
und hatte vom Haschisch rote Augen. Mein Vater packte mich mit Gewalt
und schrie: Sieh mir in die Augen! Nimmst du Drogen? Ich beschimpfte
ihn wütend und schlug um mich. Meine Mutter kam dazu und rief
verzweifelt: Dass ist nicht mehr mein Sohn! Ich erkenne meinen Sohn
nicht wieder!
*
Meine
schulischen Leistungen hatten natürlich stark nachgelassen aufgrund
des Dauerrausches von Wodka, Bier und Haschisch. In der
naturwissenschaftlichen Fächern hate ich die schlechtmöglichste
Zensur. Es ging noch etwas in Englisch, da wir Shakespeares Macbeth
lasen. Ich liebte den Auftritt der Hexen. Aber ich fehlte auch oft im
Englischunterricht. Freude machte mir nur der Deutschunterricht. Ich
war verliebt in die junge Deutschlehrerin. Wir lasen Schillers
Räuber, Thomas Manns Tod in Venedig und Nietzsches Geburt der
Tragödie. Da ich in einem schweren Abgrund einer psychischen Krise
versunken war, traf sich meine Deutschlehrerin mit mir zu einem
seelsorgerlichen Gespräch. Sie riet mir, alles aufzuschreiben. Das
tat ich auch. Ich führte meine ganze Jugend über ausführliche
Tagebücher, die ich nach meiner Bekehrung zu Christus in der
ausbrechenden Psychose alle im heimatlichen Wald verbrannte.
*
Ich
musste die elfte Klasse des Gymnasiums wiederholen. So lernte ich
Erich kennen. Mit ihm zusammen schwänzte ich die Schule. Er hatte
eine grüne Ente, mit der fuhren wir durch Ostfriesland und saßen in
irgendwelchen Cafés. Ich las Lenin, völlig berauscht las ich seinen
Kommentar zu Hegels Dialektik. Erich war Anarchist, er liebte Erich
Mühsam, den anarchistischen Dichter. Mein Idol war Lenin, Erichs
Idol war Ché Guevarra. Wir rauchten viel zusammen und hörten dann
Bob Dylan. Wir machten auch Blues-Musik zusammen mit Gitarre,
Blues-Mundharmonika und Gesang. Öfter übernachtete ich auch bei
ihm. Eines Nachts fuhren wir in der Ente durch den ostfriesischen
Nebel und kamen an eine Pferdeweide. Ich wollte die Pferde füttern
und pflückte große Pflanzen und sie aßen sie gerne. Erst am
nächsten Morgen merkte ich, dass es Brenn-Nesseln gewesen waren, die
mich nun nüchtern brannten, berauscht hatte ich nichts gemerkt.
*
Erich
und ich waren beide in Maike verliebt. Wir waren zwanzig, sie
dreizehn. Sie lebte allein, ihre Mutter war tot und ihr Vater in
Brasilien. Wir rauchten zu dritt Haschisch. Erich war mit ihr
zusammen. Ich sagte: Immer wenn ich komme, hat ein anderer das Rätsel
vor mir schon gelöst. - Sie sagte: Ich bin kein Rätsel, ich bin ein
Geheimnis... Jahre später traf ich Maike noch einmal in der
Discothek Meta. Ich war akut psychotisch und berauscht von Haschisch
und Bier und trug in mir den festen Entschluss, mich umzubringen.
Maike und ich nahmen uns in die Arme: Schön, dass du noch lebst,
sagte ich. Es war wie die Umarmung von zwei Todgeweihten.
*
Erich
war auch gut befreundet mit Hedda, meiner ersten Geliebten. Hedda hat
ein eigenes Zimmer. Erich und Hedda qualmten mit der Haschischpfeife
und hörten the Dark Side of the Moon von Pink Floyd, und ich lag
draußen berauscht vor dem Fenster und sehnte mich gequält nach
Heddas Leib, ihren Brüsten, ihrem Schoß. Sie ist später in die
Szene der Heroin-Süchtigen geraten, hat aber wohl den Absprung
geschafft. Nun ist sie Rechtsanwältin mit Ehemann und Kindern.
*
Erich
war auch mit Matthias befreundet. Der war fünfzehn und hatte lange
blonde Haare, war schlank und schön wie ein Mädchen. Wir trafen uns
zu dritt in meiner Wohnung. Matthias brachte seine zahme Ratte
Mathilde mit. Ich hatte große Angst. Später in der Psychose hatte
ich paranoide Wahnvorstellungen von Raten der Hölle. Ich schwärmte
für Matthias. Später, in meiner Psychose, sah ich ihn noch einmal
wieder. Ich dachte in meinem Wahn, in meinem früheren Leben sei ich
ein chinesischer Poet zur Zeit der Tang-Dynastie gewesen. Als Chinese
müsste ich natürlich einmal Opium rauchen. Ich traf Matthias
wieder, der inzwischen Heroin-süchtig geworden war. Wieder ein
Liebesgruß zweier Todgeweihten. Wir wollten Mohnsamen sammeln und
selber Opium bereiten. Es kam aber nicht dazu. Gott sei Dank.
*
Muse,
schweige von Marion! Die russische Weisheit hat ihr Urteil über
dieses Phänomen gesprochen. Dostojewski sagte: Und er dichtete so
lange an diesem armen blassen Mädchen herum, bis sie zur Jungfrau
Maria wurde.... Und Anna Achmatowa schrieb:
Du
hast mich ausgedacht. So etwas gibt es nicht,
So
etwas kann es auf der ganzen Welt nicht geben.
Das
heilt kein Arzt, das lindert kein Gedicht,
Der
Schatten dieses Spuks quält dich dein ganzes Leben.
*
Ich
war verliebt in ein Paar Augen. Die ganze Nacht verbrachte ich im
Haschischrausch. Morgens, übernächtigt, überwach, hypersensibel
durch Schlafentzug und Haschisch, ging ich zum Haus der Geliebten.
Ich kam an einer Wiese vorbei, die in Stille und Morgenröte lag, da
weideten Pferde. Da sah ich das Reich des Friedens, das Himmelreich,
das Reich der himmlischen Pferde…
*
Erich
war in ein sehr hübsches Mädchen namens Sonja verliebt. Erich sagte
immer, er sei Er und Ich. Offensichtlich war ich in jedes Mädchen
verliebt, in das Erich sich verliebt hatte. Erich, Sonja, Marion und
ich fuhren zu einem Fest neuheidnischer Naturverehrer. Wir saßen in
der Nacht am Lagerfeuer vor einem Bauernhof auf Strohhalmen und
trommelten wie die Indianer und zupften die Gedärme der Gitarren wie
Baal. Ich schmiegte mich an Sonja. Erich und ich besuchten Sonja
einmal zuhause, wir gingen dann aus dem Haus, da man bei ihr nicht
rauchen durfte, und rauchten eine Haschischpfeife auf dem
Abeneuerspielplatz meiner Kindheit, wo ich als Knabe mich in
Nscho-Tschi verliebt hatte, Winnetous Schwester.
*
Erich
und ich wollten mit seiner Ente durch Europa fahren und uns den
Lebensunterhalt mit Straßenmusik verdienen. Matthias wollte
vielleicht mitkommen, ich sagte aber zu Erich: Nur ohne die Ratte.
Matthias sagte ab. Marion wollte erst mitkommen, sagte dann aber auch
ab, lieh mir aber ihr Akkordeon. Erich und ich fuhren - natürlich -
zuerst nach Holland, parkten irgendwo in der Natur, rauchten
Haschisch, musizierten etwas, stritten uns und fuhren heim.
*
Ich
arbeitete in einer Gruppe gegen die Arpartheit in Südafrika, wir
probten ein Theaterstück, dass ich geschrieben hatte, wir probten im
Gemeindehaus der evangelischen Kirche. Da hatte ich mir eine Bibel
geklaut. Erich war bei mir, wir rauchten Haschisch, dann nahm er die
Bibel in die Hand und las mir theatralisch das Buch der Apokalypse
vor. Davon ward ich so wütend, dass ich ihm an den Hals sprang und
ihn würgte, bis er aufhörte.
*
Nach
dem Gymnasium ward ich Schriftsetzer bei einem Zeitungsverlag. Die
Ausbildung dauerte drei Jahre. Oft wachte ich morgens auf, zündete
eine Kerze an, trank einen Tee, rauchte Haschisch, hörte Beethoven
oder Hans Eisler, blieb im Bett liegen, träumte vor mich hin, bis
mich die solidarischen Kollegen anriefen, ich sei schon wieder viel
zu spät, ich müsse kommen, oder sie könnten es nicht länger
geheimhalten. Auch im Betrieb rauchte ich Haschisch auf der Wiese
draußen oder in der Dunkelkammer. Ich war ein faulen, schlechter
Arbeiter. Die Arbeiter sagten, ich müsse bald studieren, sie hörten
schon, wie die Studenten mir zujubelten.
*
Nach
meiner Lehre und vor dem Beginn des Studiums wohnte ich bei einem
jungen Pärchen, die im Sommer 1989 über Prag aus der DDR geflohen
waren und nun in Ostfriesland lebten. Er trank jeden Abend eine
Flasche Rotwein und sprach von Nietzsche, sie, Birgit, war anmutig
wie eine expressionistische Muse, ich wollte sie küssen. Nach dem
Fall der Berliner Mauer bekamen sie Besuch von drei Freundinnen aus
dem Osten. Deren erster Wunsch in der neugewonnenen Freiheit war es,
Haschisch zu probieren. Der Mann bat mich, ihnen etwas zu besorgen.
Das tat ich auch, gab es ihnen, sie freuten sich wie Kinder über
Schokolade.
*
Ich
war nach Oldenburg zum Studium der Germanistik und Geschichte
gezogen. Mein Bruder lebte noch alleine und gab mir ein Zimmer ab.
Eines Abends war ich in der Oldenburger Innenstadt in einer
Discothek. Vor der Tür sprach mich ein Freak an. Ich nahm ihn mit in
mein Zimmer, wir rauchten Haschisch zusammen. Mein Bruder war nicht
da. Am nächsten Tag war ich in der Universität. Ich las gerade
Wielands Agathon und sah in den tausenden jungen schönen
Studentinnen lauter griechische Nymphen. Berauscht vom Haschisch und
von der Frauenschönheit kam ich nach Hause. Der Freak hatte einen
angebrannten Löffel und ein Band zum Abbinden da gelassen. Mein
Bruder dachte, ich sei heroinsüchtig geworden und hatte meine Eltern
alarmiert, die waren sofort gekommen. Mein Vater, meine Mutter und
mein Bruder saßen über mich zu Gericht, ich stand da als
Angeklagter. Mein Vater schrie mich an: Zeig uns deine Arme! - ob ich
Einstiche hätte. Ich zeigte ihm wütend meine Arme. Er sagte: Wir
geben dir Geld, dass du studieren kannst, und nicht, dass du Drogen
nimmst! Ich schrie ihn an: Leck mich doch am Arsch mit deinem Geld!
*
Ein
Bekannter hatte mir ein kleines Stück Papier, getränkt mit LSD
geschenkt. Ich legte es auf die Zunge und sah sofort eine Nebelwelt
mit giftgelben Spinnen. Sofort spuckte ich das LSD wieder aus. Ich
wusste, hinter dieser Tür wartet ein gigantischer Alptraum auf mich.
Bei allem Haschisch- und Alkohol-Konsum bin ich Gott doch dankbar,
dass er mich vor LSD und Heroin, Stechapfel und Opium bewahrt hat.
*
Ich
hatte mich auf den ersten Blick in Karine verliebt. Sie hatte einen
göttlichen Glanz um sich, den Glanz der Aphrodite. Aber ich trug
auch noch Marion im Herzen, von der ich oft träumte. Karine hatte
Eine Seele in ihren zwei Brüsten, aber ich hatte zwei Seelen in
meiner Mannesbrust: die eine Seele, die Karine-Seele, wollte alle
irdische Lust, die andere Seele, die Marion-Seele, wollte hinauf ins
Reich der Götter und Geister. So war ich di-psychos, wie die Bibel
es nennt. Ich las Anna Achamatowas Poem ohne Held. Angetan von diesem
Geisterspuk, gequält von meiner inneren Zerrissenheit und berauscht
vom Haschisch stieg ich in der Sylvesternacht 1991 in Osternburg in
Oldenburg über die Mauer auf den jüdischen Friedhof, setzte mich
vor die Kapelle und sah zu den Sternen. Da erschien mir eine
geheimnisvolle Frau. Sie hatte keinen irdischen Leib, sondern war nur
Astralleib oder Aura oder reiner Äther. Dennoch war sie eine Frau,
in ein rotes Kleid gekleidet und einen blauen Mantel, mit
kastanienbraunen Haaren. Sie sah mich freundlich ernst an aus Augen,
die wie Sterne waren, sagte aber nichts.
*
Ich
war mit Karine in ein kleines Zimmer gezogen. In der Nähe war ein
Wäldchen und ein verschwiegener Teich, menschenleer. Ich las viel
Marina Zwetajewa. Sie hatte Anfang des 20. Jahrhunderts ein
Liebesgedicht geschrieben an den, der sie in hundert Jahren lieben
wird. Das war ich. Sie hatte mir ein Liebesgedicht geschrieben. Ich
ahnte, Marina im Jenseits, sie liebt mich. Mit dieser heimlichen
Liebe im Herzen und berauscht vom Haschisch ging ich an den stillen
See. Da setzte ich mich nieder. Beten konnte ich noch nicht, aber
Gedanken ins Jenseits senden. Da sah ich auf der anderen Seite des
Sees wieder diese geheimnisvolle Frau. Sie trug ein langes violettes
Kleid. Sie und ihr Kleid waren nur aus Licht. Sie schwebte über dem
Gras. Sie sah zu mir herüber wie eine Freundin oder Schwester. Aber
wieder schwieg die geheimnisvolle Frau. Ihr Gesichtsausdruck war
wieder freundlich-ernst, aber auch gewissermaßen liebevoll-mahnend,
mein Leben in Ordnung zu bringen.
*
Das
THC hatte sich an meinen Synapsen festgesetzt, so hatte ich auch
Halluzinationen, Visionen, ohne unmittelbar vorher Haschisch geraucht
zu haben. Es war die langsam heranschleichende Psychose. Mit Karine
fuhr ich nach Darmstadt zu unsrer Freundin Evi (Kleopatra-Isis). Ich
fuhr eigentlich in den Odenwald an die Quelle, da Siegfried
hinterrücks ermordet wurde. Unterwegs hatte ich ein Gesicht: Ich sah
am Himmel eine Frau in einem langen goldenen Mantel, auf dem Haupt
eine goldene Krone. Ihre Gestalt war umgeben von einer hellroten,
mandelförmigen Mandorla als ihrem Heiligenschein (heilig nicht nur
um das Haupt, sondern um die ganze Gestalt). Ich sah ihr Herz, es war
aus loderndem Feuer. Ich wusste, es war das Feuer der göttlichen
Liebe. Zu ihrer rechten Seite sah ich einen Engel ohne Flügel,
kleiner als sie, ein Jüngling, der hielt eine goldene Harfe in dem
Arm. Da hatte ich den Gedanken: Das bin ja ich!
*
Mit
Karine war ich in Südfrankreich, in der Provence, an einem Seitenarm
der Rhone, der Ardeche, in einem Weinbergtal. Ich hatte Tagträume
von Karine als sumerischer Muttergöttin und von antiken
Dionysosprozessionen. Ich suchte die mythologischen Götter. Ich
hatte einen Kanister voll Rotwein und trank. Eines Abends gingen
Karine und ich schweigend an die Ardeche. Am anderen Ufer stieg eine
Felsenwand auf. Da hatte ich wieder eine Halluzination. Ich sah auf
den Felsen fließendes grün-weißes Licht. Dann sah ich eine Hütte,
die war aus geistigem Licht. Und in der Hütte stand eine Frau (ganz
Geist, ganz Licht). Sie war schlank und groß, gekleidet in ein
langes weißes Kleid. Um die Stirn trug sie ein weißes Stirnband.
Sie erschien mir wie eine heilige antike Hohepriesterin. Ohne laut zu
sprechen, sprach ich sie in meinem Inneren an: Gibt es die Götter?
Und im Inneren meiner Seele hörte ich eine zärtlich-sanfte
Frauenstimme: Das Göttliche ist in dir!
*
Mit
Karine fuhr ich ins französische Baskenland. In den Pyrenäen lebten
wir auf dem Pic du Midi in einer einsamen Hirtenhütte. Nur ein alter
baskischer Hirte war noch da, der nur baskisch sprach, der hütete
seine Schafherde mit einem dreibeinigen Hund. Karine und ich
ernährten uns nur von Reis mit Salz und Butter und klarem Wasser aus
der Quelle. Aber auch hier hatte ich wieder eine Halluzination. Ich
stand im Wohnraum der Hirtenhütte. Auf dem Kaminsims stand eine
Kerze in der Form einer Madonna. Eine Holztreppe führte in das obere
Stockwerk, wo Karines und mein Schlafzimmer war. Am oberen Ende der
Treppe erschien mir wieder die Königin meiner Halluzinationen. Sie
trug ein ganz reines weißes Kleid, das reichte bis zu den Füßen.
Um die Brust trug sie einen goldenen Gürtel. Ihr Haupt war von Licht
umgeben. In den Armen hielt sie eine goldene antike Lyra.
*
Karine
bekam Besuch von Babette aus Berlin. Babette las in meinem Buch mit
Gedichten von Karoline von Günderode und vertonte ein Lied von ihr
und sang es. Babette wohnte in einer kleinen verfallenen Hütte vor
Emden, wo ich sie besuchte. Wir rauchten Haschisch zusammen. Sie las
im Alten Testament. Ich ging in der Abenddämmerung vor der Hütte
spazieren. Die Luft war dunkel, grauschwarz, die Natur war schattig,
vor mir floss ein kleiner Graben, das war wohl der Fluss Lethe aus
dem Jenseits, der Fluss des Vergessens. Auf der anderen Seite kam ein
Schatten auf mich zu, ein Mann im schwarzen Anzug, einen schwarzen
dreieckigen Hut auf dem Kopf, den er vor mir zog und mich schweigend
grüßte. Ich dachte: Das ist Hölderlins Geist, ein Schatte aus den
elysischen Feldern. (Ich studierte nämlich in der wissenschaftlichen
Gesamtausgabe Hölderlins jedes Detail seiner Poesie.)
*
Karine
besuchte einen jungen Mann in Berlin. Ich war rasend eifersüchtig,
dachte, sie werde mit untreu und mit dem Typen intim. Ich las eine
Ode von Horaz an Lydia, da er seine verzehrende Eifersucht zum
Ausdruck bringt. In der Abenddämmerung ging ich berauscht durch
Osternburg und sah am Himmel den Abendstern, das ist der Planet Venus
oder die Göttin Venus. Und ich betete zur Göttin Venus, sie möge
Karine zu mir zurückbringen. Der Abendstern funkelte grünweiß auf,
als sei mein Gebet erhört. Karine kam zurück und bekannte, sie habe
an jenem Abend schon im Bett des Typen gelegen, habe plötzlich aber
Gewissensbisse bekommen, sei aufgestanden und zu mir zurück
gekommen.
*
Ich
mag von der zweijährigen akuten Psychose nicht schreiben. Ich hatte
eine blühende Phantasie eines Wahnsinnigen. Ich war im Himmel und
sah Christi Angesicht, ich sah und hörte meinen Schutzengel
Mahanajim, ich sah Sankt Michael mit seinem Schwert, aber ich sah
auch mein voriges Leben und meine Geburt in China im achten
Jahrhundert, ich sah die Immaculata Maria als chinesische Göttin der
Barmherzigkeit Guan Yin, ich sah die Ratten der Hölle, ich roch den
Schwefelgestank der Hölle, ich ward versucht vom Satan mit einem
Bibelwort, mir selbst das Leben zu nehmen, ich sah im Augenblick des
Verblutens Christi Auferstehung, Christus am Abendmahlstisch, Maria
Magdalena gehüllt in lange goldene Haare und die Madonna mit dem
Jesuskind auf dem Arm. Meine Mutter fand mich halb tot und
blutüberströmt vor ihrem Haus und rief: Mein Sohn, ach mein Sohn!
Anschließend kam ich in die Psychiatrie, wo ich ein Jahr blieb und
keine Halluzinationen mehr hatte und kein Haschisch mehr rauchte.
DRITTES
KAPITEL
DIE
DÄMONEN
Mein
erster Protest richtete sich gegen meine Großmutter, die eigentliche
elterliche Autorität in meiner Kindheit. Ich sollte mit dem
Rasenmäher ihren Rasen mähen und auch die Gänseblümchen mit
abmähen. Da protestierte ich im Namen der Lebensrechte der
Gänseblümchen. Dann plagten die Nacktschnecken meine Oma, weil sie
ihre Erdbeerpflanzen ruinierten, und meine Oma streute den
Nacktschnecken Salz auf die nackte Haut. Und vor der Tür zu ihrer
Küche plagte sie das fleißige Volk der Ameisen, die ins Haus kamen.
Da übergoss sie den Staat der Königin der Ameisen mit kochendem
Wasser. Ich rebellierte, ich protestierte im Namen der fleißigen
Ameisen-Arbeiter und der Nacktschnecken der freien Liebe gegen die
göttliche Autorität meiner Großmutter. So wurde ich zum Rebellen.
*
Bevor
ich meine ersten Liebesgedichte schrieb, schrieb ich "philosophische
Meditationen", ich erinnere mich an einen Dialog zwischen mir
und "Herrn Mark Engel". Dieser Herr Mark Engel verkündete
die Anarchie. Ich kannte nicht die Theoretiker weder der Anarchie
noch des Marxismus, ich dachte nur, Marxismus und Anarchismus sind
die Lehren der Herrschaftslosigkeit, einer Gesellschaft ohne
Unterdrückung, einer Welt der Freiheit. Und Freiheit wollte ich, vor
allem erst einmal Freiheit von Vater und Mutter und Freiheit von den
Lehrern der Schule. Jugend begeistert sich immer für Freiheit! Die
Frage ist nur, welche Lehre bringt Freiheit? Und zwar, wie Nietzsche
sagt, nicht nur Freiheit VON etwas, sondern Freiheit FÜR etwas. Aber
ich wollte nur heraus aus dem Elternhaus und frei sein wie die Vögel.
Aber das war meine erste "Begegnung" mit Marx und Engels.
*
Ich
saß im Elternhaus und hörte Radio, da kam die Nachricht, dass zur
Unterdrückung der freien Arbeitergewerkschaft Solidarnosc in Polen
das Militär die Macht übernommen, der General Jaruselski das
Kriegsrecht über Polen verhängt hatte. Im Polen ward in Gdansk
(Danzig) die erste freie Gewerkschaft unter Führung von Lech Walesa
gegründet worden. Nach dem Besuch des polnischen Papstes Johannes
Paul II in seiner Heimat, da er auf einer Massenkundgebung von
Solidarität (Solidarosc) und von der Herabkunft des Heiligen Geistes
auf Polen gesprochen, hatte sich Solidarnosch massiv ausgebreitet in
Polen. Das alles hörte ich nicht im Radio, das wusste ich auch
nicht. Ich sah sozusagen nur ein weltgeschichtliches Drama von Gut
und Böse. Die Guten, das waren die freiheitsdurstigen Arbeiter der
Untergrundgewerkschaft, die Bösen, das war der General, das Militär
mit dem Kriegsrecht. Das allein lernte ich. Das das Militär
Kommunistisch war und die Arbeiter katholisch, das war mir nicht im
geringsten bewusst. Ich solidarisierte mich im Herzen mit dem Kampf
der Arbeiter gegen das Militär.
*
In
der Schule hatte ich einen neuen Gemeinschaftskunde-Lehrer bekommen,
frisch von der Universität, mit Vollbart und langen Haaren. Ich
schrieb einen Schulaufsatz und malte unter den Aufsatz das A im
Kreis, das Zeichen der Anarchie. Der Lehrer beurteilte die Arbeit und
schrieb zum Anarchie-Zeichen: Wenn Sie wissen wollen, was Anarchie
ist, lesen Sie das Buch "der kurze Sommer der Anarchie" von
Hans-Magnus Enzenberger. - Ich las das Buch, eines berühmten
zeitgenössischen Schriftstellers Lobpreis der Anarchisten im
Spanischen Bürgerkrieg. - Im Spanischen Bürgerkrieg hatten sich die
Kommunisten in Stalinisten und Trotzkisten gespalten. Stalin
unterstützte die stalinistische Kommunistische Partei mit
Mitarbeitern des sowjetischen Geheimdienstes, die die Gegner der
Kommunisten folterten. Die Kommunisten und die Anarchisten stritten
miteinander. Einig war sich die Front der Linken nur darin, ob
Stalinisten, Trotzkisten oder Anarchisten, dass die Christen in
Spanien blutig zu verfolgen seien. Die Spanische Kirche hat im
Spanischen Bürgerkrieg 40 000 Märtyrer hervorgebracht. Manche
sagen, der Spanische Bürgerkrieg war der eigentliche Anfang des
Zweiten Weltkrieges. Die Internationalen Brigaden aus militanten
Kommunisten aller europäischen Länder kämpfte unter Stalins
Einfluss gegen den Diktator Franco, der von Hitler und Mussolini
unterstützt wurde. Mit diesem Buch über die Anarchie endete aber
auch meine "anarchistische Phase", und wie ich zum Anhänger
des Sowjetkommunismus wurde, erzähle ich das nächste Mal.
*
Im
Haus meiner Jugendgeliebten im Kult der Freien Liebe fand ich unter
den Büchern ihrer Mutter ein Buch: Die Mutter, von dem russischen
Schriftsteller Maxim Gorki. Mich interessierte der Titel. Es war ein
Roman über die Kommunistische Partei in Russland. Hier war meine
Erste Liebe zum Mysterium Russland. Die Jugend liebt Verwegenheit,
Rebellen, Störtebecker, Robin Hood, Lenin, Ché Guevara, Kämpfer
für die Rechte der Armen, Kämpfer für die Gerechtigkeit, Helden.
Es war eine romantische Verklärung der russischen kommunistischen
Bewegung. Berthold Brecht hat aus dem Roman ein Theaterstück
gemacht, das von Hanns Eisler vertont wurde. Maxim Gorki war der
Begründer des "sozialistischen Realismus", einer ganz und
gar unpoetischen Literatur-Schule. Sie war eigentlich die Erfindung
von Stalin. Stalin nannte den Schriftsteller "Ingenieur der
Seele". Übrigens stellte meine Freundin mich ihrer Mutter vor
und sagte: Er schwärmt für Lenin! - Warum? fragte mich die Mutter.
Ich sagte: Weil er den Zaren gestürzt hat. - Sie fragte: Was war
denn so schlecht am Zaren? - Da war ich perplex und stumm. Das hatte
ich noch nie gehört, dass irgendein vernünftiger Mensch auch nur
Ein gutes Haar an einem Zaren oder Kaiser finden könne. Inzwischen
hat die russisch-orthodoxe Kirche den von den Bolschewiki ermordeten
Zaren Nikolaus II als Märtyrer für den christlichen Glauben mit
vielen tausenden anderen Märtyrern heilig gesprochen. Aber so kam
ich über die Dichtkunst zum russischen Kommunismus.
*
Vor
mir stand die Frage, ob ich in einigen Jahren zur Bundeswehr gehe
oder den Wehrdienst verweigere, mich der Gewissensprüfung vorm Staat
unterziehe und Zivildienst leiste. Ich schrieb einen satirischen
Dialog: Gewissensprüfung eines Kriegsdienstanwärters. Dort musste
einer peinlich genau beweisen, wie er es mit seinem Gewissen
vereinbaren könne, im Militär zu dienen. Mit diesem Text ging ich
privat zu meinem Politiklehrer, der mir das Buch über die spanischen
Anarchisten empfohlen hatte. Er las meine satire, fand sie gut und
verwies mich an eine Monatszeitung, die von einem
sozialdemokratischen Gymnasiallehrer herausgegeben wurde. Dort wurde
meine Satire veröffentlicht. Nach einer kurzen Phase, da ich ein
Buch mit Liebesgedichten (in freien Versen) vollgeschrieben hatte und
zwanzig Seiten lange Liebesbriefe, wandte ich mein Schreibertalent
nun ganz allein dem politischen Journalismus zu. Ich schrieb
Flugblätter, Pamphlete, politische Aufsätze. Meine Beredsamkeit
(die meine Kindheitsfreunde die Beredsamkeit eines Predigers nannten)
strömte sich aus in den Reden eines Agitatoren, eines
Propagandisten.
*
Ich
kam, ich weiß nicht mehr wie, in ein Haus eines Arztes. Seine Frau
war Christin. In ihre Tochter Ursula verliebte ich mich, sie war
wunderschön, ihre Schwester Anne war wohl in mich verliebt. Aber ihr
Bruder war Marxist und gab mir zwei Bücher: Das Kommunistische
Manifest von Marx und Engels und ein Buch von Lenin: Der
Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Das Manifest
verstand ich recht gut, es war einfach geschrieben, aber doch von
sprachlicher Schönheit: Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst
des Kommunismus. Nur die Beurteilung des vormarxistischen,
französischen, utopischen Sozialismus konnte ich nicht verstehen,
dazu fehlte mir das Wissen. Lenin dagegen, nun, ich verstand kein
Wort, es war ein Tanz von Zahlen und ökonomischen Fachbegriffen,
trocken und unpoetisch. Aber es machte den Eindruck einer tief
sachlichen Wissenschaftlichkeit, was immer leicht den Eindruck von
objektiver Wahrheit macht. Der junge Marxist erklärte mir, im
atomaren Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion sei Amerika
der Agressor und die Sowjetmacht nur defensiv, sei eigentlich die
größte Friedensbewegung der Welt. Wir lebten alle in großer Angst
vor einem dritten atomaren Weltkrieg. Der junge Marxist wies mich
daraufhin, dass eine Gruppe eines sozialistischen Jugendverbandes
gegründet werden solle und lud mich dazu ein. Ich ging auch
tatsächlich hin.
*
Ich
nahm teil an der Gründung der Ortsgruppe Norden der Sozialistischen
Deutschen Arbeiter-Jugend (SDAJ), der Jugendorganisation der
Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Anwesend waren ein Funktionär
der SDAJ aus Bremen, die Parteivorsitzende der DKP Norderney (ein
alte schreckliche Hexe), und einige Gymnasiasten, keineswegs
Arbeiter, nämlich neben mir Volker, Folkert, Thomas, Werner, später
kamen Sonja und Karin hinzu. Nur Werner war der Sohn eines Arbeiters.
Die Monatszeitschrift der SDAJ war das Magazin "elan", das
wir auf der Straße verkaufen sollten. Wir bekamen ein Parteibuch, in
das wir monatliche Marken zu kleben hatten, die unsere
Mitgliedsbeiträge waren. Ein Schein, denn DKP und SDAJ wurden mit
Millionenbeiträgen aus der DDR finanziert. Wir wurden alle gleich zu
Funktionären: Volker wurde Gruppenvorsitzender, ich schrieb die
Sitzungsprotokolle, Werner war Kassierer. Unser Hauptaugenmerk wurde
auf die Mitarbeit an der Friedensbewegung der BRD gerichtet, die
protestierte gegen die Aufstellung US-amerikanischer Atomraketen auf
dem Boden der BRD, allerdings kaum oder gar nicht gegen die
Stationierung sowjetischer Atomraketen auf dem Boden der DDR (die
zuerst erfolgt war).
(Fragment)
VIERTES
KAPITEL
DON
JUAN
Als
der Gott der Schönen Liebe mich in den Schoß meiner Mutter gelegt
hatte, machte ich meine erste Erfahrung mit der Frauenliebe. Meine
Tante Petheda erzählte mir: Ich wollte deine Mutter besuchen, da
traf ich deinen Vater, der besorgt aussah und sagte: Doris ist krank.
Ich ging zu deiner Mutter, sie lag im Bett und sagte unglücklich:
Ach, ich bin wieder schwanger. - Dieses Unglück meiner Mutter legte
sich auf meine Seele als ein schwarzer Schleier der Traurigkeit, des
Gefühls, nicht gewollt und nicht geliebt zu sein auf Erden. Dieser
Fluch wird mich bis an mein Lebensende plagen. Als ich geboren wurde,
öffnete meine Großmutter ihr Herz für mich und nahm mich als ihren
Liebling an. In meiner Kindheit war meine Großmutter, eine Witwe,
also eine Jungfrau, die Stellvertretung der Gottesliebe an, davon ich
mir das Gottesbild angeeignet habe, dass Gott eine Große Mutter ist.
Darum ward ich auch psychotisch, als meine Großmutter starb, darum
in der Stunde des Todes meiner Großmutter begann ich, GOTT
anzubeten.
*
Meine
Eltern hatten gebaut ein Haus für sich und ihre zwei Söhne und
gleich daneben ein Haus für die Großmutter. Auch der kleine
Blaufärberweg in Hage bestand erst aus Sand. Gegenüber war das Haus
von Familie Athen, die auch neugebaut hatten. Meine Mutter und Frau
Athen feierten das Richtfest des Athener Hauses mit einem kleinen
Umtrunk geistiger klarer Getränke. Ich lag im Kinderwagen, war ein
kleines hilfloses Baby. Die Tochter Athen war zwei oder drei Jahre
alt. Die Tochter Athen neigte sich mit ihrem blonden Kopf über mich
im Kinderwagen und schaute mich mit großen neugierigen Augen an.
Vielleicht kommt daher meine heidnische Verehrung der blauäugigen
Jungfrau Athene, der Tochter Zeus, die ich immer lese als eine
heidnische Prophezeiung auf die göttliche Frau Weisheit.
*
Die
Nachbarstadt meines Geburtsortes Hage (Garten) hieß Norden, benannt
nach Njörd, dem germanischen Meeresgott. In Norden dienten die
friesischen Priester dem Gott der Friesen, Forsete, auf einem
heiligen Hügel. Dort baute der heilige Ludger eine Kirche. Der
heilige Ludger wurde immer begleitet von einem weißen Schwan. In
Norden heißt die lutherische Kirche Ludgeri-Kirche und die
katholische Kirche Sankt Ludger. Ludger segelte nach Helgoland, der
Insel, wo sich das Hauptheiligtum der Friesen befand, damals hieß
die Insel Forsete-Land. Da gab es einen heiligen Hain mit heiligen
Pferden, aus deren Bewegung die friesischen Priester weissagten.
Ludger begegnete dem Barden Bernlef, der blind war. Auf die Fürbitte
Ludgers hin gab Jesus dem Bernlef das Augenlicht wieder. Bernlef ward
Christ und dichtete die Psalmen Davids als Barde in friesischer
Sprache nach. In Norden weissagten die Priester nicht aus Pferden,
sondern aus weißen Schwänen, die im heiligen Schwanenteich lebten.
Und dort stand ich vierjähriger Knabe mit der vierjährigen Marita
M. von Hannover, der Tochter von Freunden meiner Eltern. Marita hatte
ein weißes Hemd an und einen schwarz-rot-karierten Rock. Zusammen
fütterten wir die Enten, Gänse und Schwäne des heiligen
Schwanenteiches. Auch waren dort Taubenhäuser, Käfige mit Fasanen
und Pfauen, Gehege mit Wellensittichen und Nymphensittichen und ein
Gehege mit Ziegen und Zicklein. Ich war wahrlich das hässliche
Entlein des Märchens, ich lebte unter Entenküken, von einer
Entenmutter und einem Erpelvater erzogen, und bin doch in Wahrheit
ein wunderschöner Singschwan, der singt voll Jubel, wenn er den
Heiland Tod nahen kommen weiß. Ich bin der Singschwan des
friesischen Heiligtums, und Marita meine erste Muse.
*
Meine
Eltern gingen mit ihren Freunden aus Hannover im Lütetsburger Park
spazieren. Marita und ich spazierten mit. Da lag eine ostfriesische
Häuptlingsburg, ein Wasserschloss, in einem großen
englisch-chinesischen Park mit vielen Kanälen und weißen Brücken.
Da gab es den goldenen Pavillon der Freundschaft und da gab es die
Insel der Seligen. Auf der Insel der Seligen gab es eine Ruhebank mit
der Inschrift: Hier ruhe dich aus, du vielgeprüfter Pilgrim nach der
Insel der Seligen. Und dort saßen Marita und ich Seite an Seite,
Hand in Hand.
*
Meine
Mutter war immer noch befreundet mit ihrer Jugendfreundin. Deren
Ehemann gab meinem Vater immer Stern und Spiegel, was andres las mein
Vater nicht. Die beiden hatten zwei Töchter: Bärbel war so alt wie
mein Bruder, Doris, die jüngere, war so alt wie ich. Mein Bruder
Stefan konnte die Bärbel haben, die war größer und dicker und
hatte dunklere Haare. Mein Schatz war Doris, die war schlank und
hatte lange helle Locken. Wir spielten Ping-Pong. Ich als
wiedergeborener Chinese war in keiner Sportart gut als im Ping-Pong.
Unsre beiden Familien machten auch zusammen Urlaub auf der Insel
Langeland in der Ostsee. Da wuchs viel Mohn (Poppie). Ich badete mit
Doris in der Ostsee. In der griechischen Mythologie ist Doris eine
Nymphe, eine Tochter des Meeresgottes. Meine Mutter fragte mich: Ob
ich lieber kleine oder große Brüste möge? Denn ihre Freundin
Wilhelmine hatte große Brüste. Peinlich, Mama, du bist peinlich! An
eine Antwort kann ich mich nicht erinnern. Später, ich war etwa
vierzig Jahre alt, besuchte ich aus Oldenburg meine Eltern in Hage.
Um nicht den Abend mit ihnen verbringen zu müssen, fuhr ich mit dem
Rad von Hage nach Norden, ging ins Hotel zur Post, der ostfriesischen
Intellektuellen-Kneipe. Da saß Doris am Nachbartisch. Sie war
Meisterin des Ping Pong. Sie war sportlich-dynamisch-schlank, aber
kein muskulöses Mannsweib, hatte lange braune Locken und ein
wunderschönes Gedicht. Ich lieh mir von der Wirtin einen
Schreibblock und einen Kugelschreiber, schrieb ein Liebesgedicht für
Doris, gab es ihr, sie lächelte mich an und bedankte sich
freundlich.
*
Mein
Vater arbeitete in der Sparkasse und meine Mutter vormittags als
Sekretärin im Büro eines Bauunternehmers. Manchmal nahm sie mich
mit ins Büro, dann zeichnete ich auf der großen Zeichenplatte. Der
Bauunternehmer hatte zwei Töchter, der Name der Älteren war, meine
ich, Elke, und die jüngere, etwas jünger als ich, hieß Dörte.
Dörte wurde meine Spielfreundin. Wir spielten, was ihr gefiel, mit
ihren Püppchen und ihrem Miniatur-Kaufmannsladen. Zuhause versuchte
ich im Sandkasten, mit Steinen und Schlamm statt Zement Mauern zu
bauen. Mit Dörte spielte ich auch Ping Pong im Garten. Sie hatte
kurze blonde Locken, hellblaue Augen wie Sommerhimmel und
Sommersprossen auf der süßen Nase. Einmal war ich mit Dörte und
ihrem Vater mit dessen Segelboot auf dem Ewigen Meer in Ostfriesland
segeln, das Segelboot lag schief im Wind und das vom Wind
aufgepeitschte Wasser spritzte ins Boot. Später, als ich etwa
zwanzig war, hörte ich, dass eine junge Frau, in die ich gerade
verliebt war, bei Dörte auf deren Geburtstagsfeier war. Dörte
wohnte nahe an meinem Elternhaus. Ich nahm mir eine Kasperle-Puppe,
verfasste ein Gedicht, mit dem ich um Einlass zur Geburtstagsfeier
bat, ließ den Kasper das Gedicht vortragen, Dörte lächelte und
ließ mich ein in das Haus der Liebe.
*
Mein
Freund Andreas war Katholik, ich war Lutheraner, aber das kümmerte
uns nicht, wir spielten Zusammen Indianer im Wald und auf dem
Abenteuerschauplatz. Ich hatte die gesammelten Werke von Karl May
gelesen und die Winnetou-Filme im Fernsehen gesehen. Old Shatterhand
hätte ich gerne zum Vater gehabt. Da ich blond und nordisch war,
spielte ich den Old Shatterhand, Andreas, da er schwarzhaarig war,
spielte Winnetou. Die Dritte im Bunde war Karin, sie hatte kurze
schwarze Locken und ein hübsches Gesicht. Sie spielte Winnetous
Schwester, die Tochter Inntschutschunas, die Squaw Nscho-Tschi
(Schöner Tag). Und wie allgemein bekannt, liebten sich Old
Shatterhand und Nscho Tschi. Die Häuptlingstochter war ja auch die
Fürsprecherin für den Deutschen beim Apachen-Häuptling. Und da
Karin einen so süßen Mund ("sweet lips! sweet upper lip",
sagt Byron), darum begehrte ich Nscho Tschi zu küssen, und
tatsächlich, sie küsste mich. Das war das Erste Mal! Die Erste, die
ich geküsst, war eine Indianerin. (Sie tat mir auch etwas leid, denn
ihr Vater war trockener Alkoholiker und durfte nicht einmal eine
Likör-Praline essen.)
*
In
naher Nachbarschaft wohnte Sonja. An ihre Eltern kann ich mich gar
nicht erinnern. Meine geliebte Oma hatte in ihrem Garten einen
Schmetterlingsflieder, der lila blühte, auf den Blütendolden saßen
immer viele bunte Schmetterlinge, vor allem der Monarch! Dann der
Admiral! Aber auch in Massen der gemeine Kohlweißling! Ich wollte
sie fangen und sammeln. Meine weise Großmutter sagte: Die schönen
farbigen Schmetterlinge darfst du nicht berühren, denn dann
verlieren sie ihr Puder, ihre Schminke, dann sehen sie aus wie graue
Motten und sterben. - So, dachte ich, ist es mit den Mädchen: Wenn
man sie nur anschaut, sind sie wie Monarchinnen schön, wenn man sie
aber berührt, werden sie zu gemeinen Motten und sterben. - Sonja
teilte meine Leidenschaft für die Schmetterlinge. Das griechische
Wort für Schmetterlinge und für Seele ist das selbe: Psyche. Und wo
Psyche ist, da ist nach den Neuplatonikern der Eros nicht fern...
Sonja hatte auch einen Schmetterlingsflieder im Garten, und wir
sammelten Schmetterlinge zusammen. Einmal durfte ich auch in ihr
Mädchenzimmer. Wir saßen auf dem Bett nebeneinander und sprachen.
Da ward mir so anders zumute, es war so schwül, irgendwie halb
magnetisch und halb elektrisch, und Sonja hatte so ein schönes
weißes lachendes Vollmondgesicht und kurze schwarze Locken. Das war
wohl das Frühlingserwachen des vorpubertären Eros. Der Gott kam
zärtlich wie ein Schmetterling zu mir…
*
So
ist das mit der menschlichen Liebe, der irdischen Liebe, die die
Griechen in Aphrodite vergöttert haben, sie ist eine Mischung aus
Hass und Liebe. Der vorpubertäre Eros machte mit dem Hormonstoß von
Testesteron meine Seele unruhig und orientierungslos. Ich beschimpfte
meine Mutter als Hure. Mein Vater sagte, ob ich überhaupt wisse, was
eine Hure sei? Nein, sagte ich. Das, erklärte er mir, sind Mädchen,
die in den Häfen auf die Seemänner warten. Eigentlich liebte ich
Karin, nicht die Indianerin, sondern Karin die Zweite, Karin die
Große. Aber weil ich sie liebte, hasste ich sie auch. In der Schule
plagte ich sie so sehr ich konnte, um nur ihre Aufmerksamkeit auf
mich zu lenken. Öfters nahm ich ihr den Mantel weg und warf ihn in
den Abfalleimer. Eines Tages kam ihr Vater zu uns und beschwerte sich
bei meiner Mutter über mich. Meine Mutter fragte mich, ob ich Karin
in der Schule quäle. Nein, log ich. Da sagte meine Mutter (ich habe
das Sprichwort nie vergessen können): „Wer einmal lügt, dem
glaubt man nicht, und wenn er doch die Wahrheit spricht.“
*
Ich
war mit der sechsten Klasse aufs Gymnasium gekommen. Unsere Schule
war das Ulrichs-Gymnasium in Norden, das war im Mittelalter ein
Kloster Unserer Lieben Frau Maria gewesen. In meiner Klasse ware
viele Schüler aus Norderney. Norderney wurde von Heinrich Heine
besungen und von Wladimir Majakowski besucht. Eine Mitschülerin aus
Norderney hieß Kerstin. Sie wurde von allen Kissi genant, ein
passender Name. O what a bliss / to die from a kiss, sagt der
englische Dichter. Kissi hatte kurze Haare, lockig und wirklich
strahlend goldenblond. Sie war schlank, durch ihre leichte weiße
Sommerbluse schimmerten ihre Brüste. Sie war die Schönste der
Klasse und ich schwärmte für sie. Aber "sie sah mich einfach
nicht", wie es in einem Pop-song heißt. Sie hatte einen
Liebhaber, älter als sie, gut aussehend, männlich, Motorradfahrer
mit Lederjacke. Mit dem stand sie auf dem Flur vor dem Klassenzimmer,
und sie küssten sich. Das sah unser Lateinlehrer, ich sah es auch,
und ich hörte den alten Lateinlehrer sagen: "Küssen in der
Öffentlichkeit ist unsittlich." Kissi lachte und zeigte dabei
ihre schönen Grübchen. 'Ihre beste Freundin war Helga, nicht so
strahlend schön wie Kissi, aber mit einem schwesterlich-freundlichen
Herzen, mehr von innere schönheit der Seele. Eines Tages, es war
gerade die erste Schallplatte von Dire Straits erschienen, ich hörte
das Lied "waters of love", da rief ich mit dem Telefon
Helga auf Norderney an, ob sie mit mir gehen wolle. Sie sagte
freundlich Nein, und damit war die Sache für mich erledigt.
*
Ich
war in die Pubertät gekommen mit einem Hormonstoß von Testosteron.
Im Schulbus fiel mir morgens meine Mitschülerin Hedda auf, sie war
groß, hatte lange blonde Haare und "eine interessante Figur"
(wie Hölderlin sagt). Ich durfte sie besuchen. Ich verliebte mich in
sie und warb um sie mit Gedichten und endlos langen Liebesbriefen.
Sie war aber etwas größer als ich und wollte einen Freund, der
größer war als sie. Ich schrieb: Ihr Frauen wollt einen Mann, der
größer ist als ihr; ihr wollt also einen Mann, der auf euch
herabschaut? - Ich habe immer zu den Frauen aufgeschaut. Es gelang
mir aber, Heddas Herz zu erobern. Ich erinnere mich an den ersten
Kuss, es war von ihr aus ein Zungenkuss, was ich nicht kannte. Die
feierliche Entjungferung zelebrierten wir in Greetsiel im
leerstehenden Haus einer Tasse nach einer Flasche Wein. In der Schule
schickten wir uns durch die Bänke kleine Zettelchen mit
Liebesbotschaften zu. "Ich liebe dich immer sehr" kürzten
wir ab zu ILTIS. Da wir intim waren und Freude am Beischlaf hatten,
schrieb ich ihr, sie sei eine Hure. Immer habe ich Frauen, die sich
mir körperlich hingaben, für Huren gehalten. Als Kind hatte ich
schon meine Mutter eine Hure genannt. Nach dem Motto: Wer sich mir
hingibt, ist meiner nicht wert... Wir hatten ein gemeinsames
Liebesnest in ihrem Haus auf dem Dachboden. Wir verbrachten die
meiste Zeit mit Schmusen und Beischlaf. Bald reichte mir das nicht,
diese "Lampe des Privaten" (wie Marx den Epikuräismus
nannte). Ich ward politisiert durch die Friedensbewegung, die
politisch kämpfte gegen das atomare Wettrüsten. Hedda blieb
unpolitisch. So löste ich mich von ihr. Das war aber schmerzlich für
beide. Wir waren ein halbes Jahr zusammen "selig im Himmelsbett"
und ein halbes Jahr quälten wir uns gegenseitig mit einem
"Scheidungsprozess".
*
Ich
war zu einem Treffen der Friedensbewegung gegangen, die demonstrierte
gegen einen atomaren dritten Weltkrieg. Da ward ich eingeladen in das
Haus eines Arztes, seine Frau war eine Christin und wollte eine
internationale Politik nach dem Gesetz der Bergpredigt. Der Sohn war
Marxist und schenkte mir das Kommunistische Manifest. Dann waren da
noch zwei Töchter, Ursula und Anne. Ursula war makellos schön, ein
rundliches Gesicht, sehr weiß, mit großen braunen Augen, besonders
schöne lange schwarze Haare, glatt und in der Mitte gescheitelt, und
hatte schöne ebenmäßige weiße Zähne. Ich verliebte mich in ihre
makellose Schönheit. Für sie legte ich die Halskette mit dem
Medaillon ab, auf dem Heddas Name stand. Ursels Mutter merkte das.
Ursels Schwester Anne, die jüngere, war nicht sehr schön, aber auch
nicht hässlich, nur irgendwie gewöhnlich. Ich glaube, sie hatte
mich sehr gern. Ursel dagegen blieb irgendwie unnahbar, ohne mich
aktiv zurückzuweisen, wandte sie mir doch nicht ihr Herz zu. Es war,
als säße ich vor einem Bild der makellosen Schönheit, das man nur
mit interesseloser, begierdeloser Bewunderung anbeten kann, das einem
aber keine Liebe zuwendet, ein wenig wie der Gott des Aristoteles,
den man wohl lieben kann, der aber selbst nicht liebt. Ursels Familie
hatte ein Herz für Flüchtlinge aus dem kommunistischen Vietnam,
später hat Ursula einen Vietnamesen geheiratet.
*
In
Norddeich am Meer, gleich hinter dem Deich, gab es eine Diskothek
namens Meta. Später, wenn ich von Klopstock und seiner Meta las oder
von Aristoteles und seiner Meta-Physik, musste ich an diesen
Tanzschuppen an der Nordsee denken. Da sah ich ein junges Mädchen
sehr anständig und ruhig tanzen zu zärtlicher Musik (nicht wie ich
bacchantisch taumelnd) und ich verliebte mich in ihre Anmut. Sie war
klein und von knabenhafter Figur, hatte schöne schlanke Beine, kurze
schwarze Haare, jungenmäßig geschnitten, und ein sehr feines
Gesicht. Ich sah sie auch im Gymnasium und mit ihrer Freundesclique
in der Schülerkneipe Borke. Tatsächlich gelang es mir, sie
anzusprechen, und, o Wunder, ich durfte sie besuchen. Sie wohnte in
Norddeich bei ihren Eltern, ich etwa zehn Kilometer entfernt in Hage
bei meinen Eltern. Wir saßen in ihrem Zimmer und erzählten aus
unserem Leben. Sie hieß eigentlich Annabella - Anna nach ihrer
Großmutter - aber sie wollte nur Bella (die Schöne) genannt werden.
Ich erzählte von der kommunistischen Ideologie und sie von ihrem
Christentum - so kamen wir nicht zusammen. Dennoch lud ich sie auf
meinen 17. Geburtstag ein. Ich feierte mit meinen kommunistischen
Freunden und Freundinnen im Party-Keller meines Elternhauses. Ich
hörte das Lied: Love is a burning ring of fire - und hatte nur Bella
im Sinn. Tatsächlich klingelte es und Bella stand vor der Tür. Ich
war sehr aufgewühlt. In der kommenden Zeit, einige Monate lang,
sprach ich sie öfter im Gymnasium an, um mich wieder mit ihr zu
verabreden, aber sie fand immer neue Ausreden, bis ich - mich in
jemand anderes verliebte.
*
Ich
hatte einen Freund, der war in ein dreizehnjähriges Mädchen
verliebt. Und ich verliebte mich auch immer in die Mädchen, die er
liebte. Maike war also 13, ich 18. Sie hatte ihre Mutter verloren und
ihr Vater lebte in Brasilien. Sie wohnte in der Rosenallee bei einem
älteren Ehepaar, der Mann war Kunstmaler. Als ich Maike mit meinem
Freund besuchte, trank der Künstler gerade warmes Bier mit
Kandiszucker. Wir waren zu dritt in Maikes Zimmer, auf dem Tisch lag
ein Kreuzworträtsel. Ich sagte: Immer, wenn ich komme, hat schon
jemand anderes das Rätsel gelöst. Maike verstand und sagte: Ich bin
kein Rätsel, ich bin ein Geheimnis... Sie war klein und hatte lange
rote Haare. Sie war sehr reif und selbständig für ihr Alter. So wie
ich und mein Freund Erich (Er und Ich) war sie Haschischraucherin.
Sie wurde davon aber nicht lethargisch wie ich, sondern quicklebendig
und agil. Ich verlor sie aus den Augen, aber sie blieb verborgen in
meinem Herzen. Fünfzehn Jahre später war ich wieder nach Norden
gezogen, in den Schwanenpfad am Schwanenteich. Da war ich akut
psychotisch und plante meinen Selbstmord. So ging ich in die
Diskothek Meta und da traf ich Maike wieder. Sie schien mir immer
noch 13 zu sein. Irgendwie umgab sie eine Aura von Lebensgefahr,
vielleicht hatte sie eine Heroin-Sucht. Jedenfalls strahlten wir uns
an und nahmen uns in die Arme (ich hatte fast väterliche Gefühle
für sie) - Ave Cäsar, die Todgeweihten grüßen dich!
(Fragment)
FÜNFTES
KAPITEL
DIE
KINDHEIT DER ZWILLINGE
Am
12. 11. 2000 feierte ich meinen 35. Geburtstag nach. Karine war
hochschwanger bei mir, und am nächsten Tag hat sie Juri geboren. Sie
musste im Krankenhaus bleiben. Ich schenkte ihr ein Ikone der
Gottesmutter.
*
Als
Juri klein war und sich Nuni nannte, sagte Karine zu mir: „Wenn du
kommst, schaut Juri uns nicht mehr mit dem Arsch an.“
*
Im
Frühling 2003 sagte Karine mir am Telefon: „Toto, ich bin
schwanger! Hilfst du mir?“
*
In
der Schwangerschaft lag Milan nah am Fruchtkuchen und aß sich satt.
Simon war etwas im Hintergrund und unterernährt. Ich legte meine
Hände auf Karines Bauch und segnete die Kinder in ihrem Bauch und
sagte: Herzlich willkommen auf Erden, Zwillinge!
*
Karine
musste dann mit einem Kaiserschnitt geöffnet werden, so wurden die
Zwillinge geholt. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, wurde Simon
zuerst ans Tageslicht gehoben. Ich besuchte Karine im Krankenhaus.
Die Zwillinge lagen als Frühgeburten in einem Brutkasten. Karine
legte mir Simon in die Arme, er sah mich aus großen Augen an, er war
sehr klein und dünn. Dann legte Karine mir Milan in die Arme, er war
recht gut ausgebildet und lag mit geschlossenen Augen entspannt in
meinen Armen, an meinem Herzen. Ihr Geburtstag war der 20. Oktober
2003.
*
Einen
Monat und einen Tag früher hatte Karines beste Freundin Evi ihren
zweiten Sohn Tom geboren, am 19. 9. 2003. Die Zwillinge und Tom
wurden später die besten Freunde.
*
Ich
hatte für Karine ein Bild auf eine Holzplatte gemalt: Karine mit
Juri im Arm, und unten am Bildrand die Seelen der Zwillinge wie
kleine Engel. Karine sagte: „Das bin ja nicht ich, sondern das ist
Maria.“ Ich sagte: „Aber ich habe es nach einem Foto von dir mit
Juri gemalt.“ Karine verehrte ich von nun an als meine kleine
Gottesmutter auf Erden.
*
Karine
lebte nun mit ihrem Freund Detlef und Juri und Milan und Simon und
der weißen Katze im Hasenweg in Oldenburg-Osternburg, am Ende der
Stadt, schön in der Natur, in einem bäuerlichen Haus mit sehr
großem Garten, ringsumher Weiden mit vielen Tieren und einem
Spazierweg zum Kanal mit dem Deich voller Schafe und einem kleinen
Wäldchen.
*
Im
Winter hatte mich Karine zum Kinderhüten eingestellt. Da sie ja oft
nachts wach sein musste, brauchte sie ihren Mittagsschlaf. Der Weg zu
Karine von mir dauerte mit dem Fahrrad etwa 40 Minuten, ich betete
auf dem Weg immer das Rosenkranz-Gebet. Mittags teilte ich mir dann
mit Detlef die Betreuung der Zwillinge. Detlef hielt meistens Simon
in den Armen und ich Milan. Ich wiegte ihn hin und her in meinen
Armen, murmelte immer „Ave Maria“ und gab ihm sein Fläschchen
mit Milch, wenn er Hunger und Durst hatte. Da hätte ich so gerne
eine Mutterbrust wie eine Frau gehabt, da hätte ich ihn so gerne
gestillt. Aber Gott hat nur Karine als Frau und Mutter geschaffen und
mich als Mann.
*
Nachdem
ich das so drei Monate gemacht, sagte ich zu Karine: Ich helfe dir
weiter, aber ich nehme kein Geld mehr dafür. Ich will nicht dein
Angestellter, sondern dein Freund sein. Ich tue es nicht um Geld,
sondern aus Liebe.
*
Milan
war kräftig, er konnte an Karines Mutterbrust die Muttermilch
saugen, die er brauchte. Aber Simon war schwach, er konnte nicht
stark genug saugen. Karine wollte ihm aber keine künstliche Milch
geben. So besorgte sie sich ein Gerät, eine Art Pumpe, mit der
pumpte sie Muttermilch für Simon in ein kleines Fläschchen und gab
ihm so die Milch. Da lag sie in ihrem Schlafzimmer mit der Pumpe an
ihrer nackten Brust, und Karine und ich unterhielten uns dabei ganz
entspannt, als es mich plötzlich überkam und ich sagte: „Karine,
ich möchte auch von dir gestillt werden!“
*
Im
Winter waren Karine und ich im Wohnzimmer. Da war ein Sofa, das man
ausziehen konnte und es so in ein Bett verwandeln. Da war ein
Bücherregal, ein Fernseher, eine Musikanlage. An der Wand hing das
Bild eines antiken Frauenkopfes aus Marmor, von Efeu überwuchert,
vom Friedhof aus Paris. Dies Bild hatte ich Karine in unserer
gemeinsamen Jugend geschenkt. Die Zwillinge standen auf der
Fensterbank,ich hielt sie fest, wir schauten aus dem Fenster auf eine
große Weide. Vom Himmel fiel Schnee. Die ganze Natur war weiß. Und
da sang ich:
Schneeflöckchen,
Weißröckchen,
Wann
kommst du geschneit?
Du
kommst aus den Wolken,
Dein
Weg ist so weit.
*
Wenn
Detlef Milan wickelte, sah er ihn an und sagte: „Du bist Dumpfi.“
Ich war empört. Nein, Milan ist nicht dumpf! Er sieht aus wie ein
Pfirsich, und seine Lippen sind wie Karines Lippen so schön, dass
ich sie immer küssen möchte: „Du sollst Knutschi heißen!“
(„Knutschen“ nannte Karine das Küssen.)
*
Waren
an Milan die Lippen so appetitlich für einen Menschenfresser wie
mich, so waren an Simon besonders seine Ohrläppchen appetitlich: „Du
sollst Öhrchen heißen!“ Und ich versuchte immer, in Simons
Ohrläppchen zu beißen. Aber er hörte sich gar nicht so gerne
Öhrchen genannt. „So sollst du Püppchen heißen!“ Aber nein,
Püppchen hörte er auch nicht gerne.
*
Karine
lernte das afrikanische Trommeln auf ihrer Djembe-Trommel in einer
Trommelgruppe im Jugendzentrum Alhambra von einem Afrikaner. Während
sie trommelte, schob ich die Zwillinge im Doppel-Kinderwagen durch
die Gegend, und während sie schliefen, betete ich den Rosenkranz und
sang Marienlieder. Manchmal kam ich eher zurück ins Jugendzentrum,
und Milan und Simon hörten Karine beim Trommeln zu.
*
Wenn
Karine mal abends feiern gehen wollte mit ihren Freundinnen, nahm
Karines Mutter Maite die Zwillinge, Juri schlief dann bei mir
zuhause, das war immer ungeheuer schön für mich. Ich las Juri vor,
wir sahen Zeichentrickfilme von Bibel-Helden und malten Bilder, Juri
malte am liebsten riesige Drachen mit sehr kleinem Drachentöter,
wobei immer Blut floss. Auch malte ich für Juri Labyrinthe, er
musste dann den Weg finden. Morgens gingen wir mit Apfelsaft und
Brötchen auf den Spielplatz, mittags aß Juri mit mir im Imbiss, er
Milchreis mit Zimt und Zucker, ich ein halbes Hähnchen mit Pommes
frites.
*
Maite
wollte nicht Oma genannt werden, sondern Amani. Sie war vom stolzen
Volk der Basken, und in der baskischen Sprache heißt Großmutter:
Amani. Amani las den Zwillingen vor, fütterte sie, ließ sie mit
Spielzeug spielen, sie schliefen dann bei ihr im Bett.
*
Amani
nannte Simon immer in ihrem gebrochenen Deutsch mit starkem
französischen Akzent „Schimòn,“ mit Betonung auf der zweiten
Silbe und das -on französisch durch die Nase gesprochen. Ich nannte
die Zwillinge inzwischen auch „Schimi und Mimi“.
*
Karine
benutzte immer noch die Milchpumpe an ihrem Busen. Aber die war zu
kräftig, so dass sich mit der Muttermilch Blut mischte. Karine war
wie eine Pelikan-Mutter, von der man erzählt, dass sie mit ihrem
Schnabel ihren Busen aufreißt, um ihre Küken mit ihrem eigenen Blut
zu ernähren. Und so ist ja auch Jesus diese Pelikan-Mutter, der sein
Herz aufreißt, um uns mit seinem Blut vom Tod zu erlösen.
*
Wir
fuhren alle in den Urlaub auf die ostfriesische Insel Baltrum. Am
Bahnhof in Norden begrüßten uns meine Eltern. Karine schlief mit
den Zwillingen in einem Bett, Evi schlief mit Tom und Quentin in
einem Zimmer, und ich schlief mit Juri und Detlef in einem
Doppelbett. Frühmorgens lagen dann da drei Säuglinge, Milan und
Simon und Tom, und wurden von Karine und Evi gewickelt. Mittags
machten alle Mittagsschlaf, ich führte dann den dreijährigen Juri
im Bollerwagen durch das Naturschutzgebiet spazieren, er schlief dann
im Frieden der Natur ein. Juri mochte gerne die frischen
Fischbrötchen, aber Quentin war Vegetarier und stritt sich mit uns,
es sei böse, Tiere zu essen. Ich sagte: „Tiere essen auch Tiere.“
Da sagte Quentin: „Dann ist die Natur auch böse.“ Ich ließ die
streitende Gruppe allein und ging spazieren, da kam ich zur
katholischen Kirche von Baltrum, der Altar hatte die Form einer
riesigen Muschel, es begann gerade der Gottesdienst, der Priester bat
mich, aus der Bibel vorzulesen. Nach dem Gottesdienst ging ich mit
himmlischem Frieden im Herzen zu den Meinen zurück. Abends sprach
ich mit Evi und Karine. Ich hatte ein Buch über die Jungfrau der
göttlichen Weisheit gelesen. Die kann nur von Ehelosen gefunden
werden, Mönchen oder Nonnen, nicht aber von Müttern, die nur an
ihre Kinderstube denken. „Oh, dann können Evi und ich sie ja nicht
finden“, sagte Karine.
*
Karine
wollte ihr Studium der Slawistik und Politik beenden und brachte
darum vormittags Milan und Simon in eine Kinderkrippe. Dort lernten
„die Kleinen“ (wie wir sie immer nannten) Mozarts Zauberflöte
kennen. Milan war begeistert von Papageno, dem lustigen Vogelfänger.
Ich schenkte den Kindern einen Film, eine Aufzeichnung der
Zauberflöte für Kinder, von Marionetten gespielt. Auch machte ich
selbst ein kleines buntes Kinderbuch über Papageno. Da malte ich die
Königin der Nacht wie die Himmelskönigin Maria, auf einer
Mondsichel stehend. Die Zwillinge wunderten sich und waren irritiert,
denn die Königin der Nacht in der Zauberflöte ist eine böse Hexe,
aber die Himmelskönigin Maria ist die gütige Mutter aller Kinder.
Weil Milan von dem Vogelfänger so begeistert war, wollte ich ihm
einen Singvogel im Käfig schenken, aber Karine sagte: „Tiere im
Käfig, das gibt es bei mir nicht.“
*
Einmal
holten Karine und ich die Kleinen mit dem Auto von der Kinderkrippe
ab. Da zitierte ich Karine einen Weisheitsspruch aus der Bibel: „Eine
ständig redende Frau ist für einen stillen Weisen wie für einen
alten gebrechlichen Mann ein Sandhügel, den er hinaufsteigen muss.“
Da sagte Karine: „Oh Toto, das ist frech!“
*
Eines
Abends rief mich Karine mit dem Telefon an: Milan hatte Fieber, ich
solle kommen. Ich fuhr mit dem Bus zu ihnen. Im Wohnzimmer hatte
Karine das Sofa in ein Bett verwandelt. Ich nahm Milan in die Arme
und sprach beruhigend auf ihn ein, während ihm Karine ein
Fieberzäpfchen in den Popo schob. Milans Augen waren vom Fieber ganz
groß geworden, glänzend, fast glühend. Ich sah in seine Augen und
sah in seinen Augen den leidenden Jesus. Ich blieb dann über Nacht
und schlief mit Milan auf dem Schlafsofa. Ich trank noch eine Flasche
Wein, sah in die Nacht hinaus in den Sternenhimmel und bat Maria,
mich und Milan mit ihrem Sternenmantel zuzudecken. Es war
Adventszeit, und als ich mich neben Milan legte und sein Händchen
hielt, kam es mir vor, als sei Weihnachten und ich sei in Bethlehem
im Stall und schlief mit dem göttlichen Jesuskind in einer Krippe.
*
Einmal
erklärte mir Karine, wie man Kinder in Windeln wickelt. Im
Kinderzmmer neben den beiden Gitterbettchen stand eine Wickelkommode.
Nun wickelte ich das erste Mal im Leben ein Kind. Ich sah eine
Vision: Die Mutter Maria wickelte das Jesuskind, dann bat sie den
heiligen Josef, das Jesuskind zu wickeln. Maria wusch die
Leinenwindeln selbst. Und als die Heiligen Drei Könige kamen, das
Kind anzubeten, gab Maria ihnen einee saubere Windel mit als
Reliquie.
*
In
der Vorweihnachtszeit saßen Karine und ich mit den drei Kindern im
Wohnzimmer. Karine hatte ein Buch mit Weihnachtsliedern, die sie uns
vorsang. Sie konnte wirklich sehr schön singen.
*
An
eine Weihnachtsfeier bei mir zuhause kann ich mich noch erinnern. Ich
hatte Kerzen anzeündet und das Weihnachtsoratorium von Johann
Sebastian Bach angemacht. Karine wartete mit den Kindern im
Schlafzimmer. Da klingelte es an der Tür, das Christkind brachte die
Bescherung. Die Kinder kamen ins Wohnzimmer und packten die Geschenke
aus. Der Tisch war voll Süßigkeiten und Nüssen und Kuchen. Juri
bekam eine Musikanlage und eine Geschichte von Narnia als Hörbuch.
Simon sagte: „Oh, Juri hat viel zu viel bekommen.“ Und dann
machten wir es uns auf den Sofas gemütlich und hörten das
Narnia-Buch. Und auch die Kleinen waren fasziniert. In der Folge
bekamen sie alle drei alle Narnia-Bücher als Hörbücher. Drei
Narnia-Bücher waren auch verfilmt, die sahen wir uns an. Die Kinder
waren wirklich begeistert von Narnia. C.S. Lewis, das hast du gut
gemacht.
*
Pünktlich
zum Heiligen Abend fuhr Karine mit allen Kindern und mit Amani nach
Hamburg zu Opa Konrad und seiner Frau Christel.
*
Karine
hatte eine junge Frau, eine Studentin angestellt, die die Wohnung
saubermachte. Sie hieß Kathrin und war wirklich wunderschön. Ich
sagte zu ihr: „Wenn ich Maler wäre, würde ich dich malen.“ Sie
war auch sehr lieb zu den Kindern. Ich übernachtete öfters im
Wohnzimmer und betreute dann morgens alle drei Kinder, wenn Karine
noch schlief. Manchmal kam auch Detlef vorbei und war bei den
Kindern. Einmal sagte Kathrin zu mir: „Wenn ich morgens komme, weiß
ich immer, wer da ist, du oder Detlef. Wenn Detlef da ist, schweigen
alle oder sitzen vor dem Fernseher, wenn du da bist, hört man
fröhliche Kinderstimmen mit dir scherzen.“
*
Wenn
ich die Kleinen abends ins Bett brachte, jeden in sein
Gitterbettchen, las ich ihnen vor. Ich musste immer ganz gleichmäßig
vorlesen, nicht pathetisch wie im Theater, auch durfte ich den Text
nicht vorsingen wie in der Kirche. Dann machte ich ein Kreuz an die
Bettchen. Ich hatte immer ein kleines Fläschchen Weihwasser bei mir,
damit segnete ich die Kinder. Ich hielt dann ihre Händchen, bis sie
eingeschlafen waren. Ich betete noch mit ihnen:
Maria,
breit den Mantel aus,
Mach
Schirm und Schild für uns daraus,
Lass
uns darunter sicher stehn,
Bis
alle Stürm‘ vorüber gehen.
O
Mutter voller Güte,
Uns
allezeit behüte!
Oder:
Schlaf
selig und süß,
Schau
im Traum‘s Paradies!
Oder:
Zwei
Engel stehen zu deiner Rechten,
Zwei
Engel stehen zu deiner Linken,
Zwei
Engel stehen an deinem Kopf,
Zwei
Engel stehen an deinen Füßen,
Zwei
Engel schweben über dir
Und
zeigen dir den Weg ins Paradies.
*
Im
Winter gingen Karine und ich mit den Kindern in die verschneite
Natur. Das war vielleicht eine Aufregung, bis alle winterfest
angezogen waren. Karine und ich zogen die Kinder mit dem Schlitten
über die verschneiten Wege. Natürlich machten wir auch eine
Schneeballschlacht und bauten einen Schneemann. Ein Weg auf unserm
Spaziergang hieß „zu den sieben Bösen“, das war ordentlich
schaurig! Wer waren wohl diese sieben Bösen? Aber wenn man den Weg
ging, kam man zu gar nichts Bösem, sondern zu einem Pferd. Und
Karine hatte immer einen Apfel dabei, dass die Kinder das Pferd
füttern konnten.
*
In
der Natur umher waren viele Tiere zu sehen. Auf den Wiesen war
manchmal ein scheuer Hase zu sehen oder ein scheues Reh, auf den
Weiden standen Pferde, einmal sah ich ein Rebhuhn, auf den Weiden
standen Kühe und auf dem Deich am Kanal weideten Schafe. Einmal ging
ich mit den Kindern spazieren, da stellte sich uns ein Ziegenbock in
den Weg.
*
Über
die Vorfahren: Karine ist in Paris geboren, also eigentlich eine
Französin, sie lebte aber vom vierten Lebensjahr in Deutschland,
studierte später in Berlin und Paris. Karines Mutter Maite
(eigentlich Marie-Therese) ist baskischer Abstammung (aus dem
französischen Baskenland). Karines Vater Konrad stammte aus
Ostpreußen, Königsberg, heute Russland, war aber Weltbürger, lebte
in Paris und Brüssel und Amerika, zuletzt in Hamburg.
*
Im
Garten hielt Karines Nachbarin Steffi einen Han und eine Schar
Hennen. Das war sehr interessant zu beobachten. Der Hahn hieß Manni
und war nicht gerade zärtlich, wenn er eine seiner Hennen bestieg.
Die Hennen mit ihren Küken waren ausgebrochen liebevoll. Ich sagte
einmal zu Karine: „Ich habe nicht das Herz eines Vaters, sondern
das Herz einer Großmutter.“ Da lächelte Karine und sagte: „Du
bist keine Großmutter, sondern eine Glucke.“
*
Einmal
kam auch Luise, die Großmutter väterlicherseits. Sie gab uns allen
Brathähnchen aus. Sie sagte zu Karine: „Da Detlef sich so wenig um
die Kinder kümmert, aber Toto so viel, scheint mir, dass Toto der
Vater ist und du, Karine, hast die Kinder nur Detlef untergeschoben.“
Das erzählte mir Karine amüsiert. Karine und ich wussten ganz
genau, dass ich nicht der leibliche Vater war, da wir nicht
miteinander geschlafen hatten.
*
Öfter,
wenn ich bei Karine im Wohnzimmer geschlafen, mussten wir nachts mit
den Kleinen ins Kinderkrankenhaus, denn sie hatten öfter
Bronchialkatarrh oder Fieber. Das war anstrengend, schweißte uns
aber noch mehr zusammen. Ich ging auch mit Karine und allen drei
Kindern zur Kinderärztin. Karine sagte: „Das ist unser
Hausfreund.“ Milan hatte ein kleines Loch im Herzen. Die Ärztin
untersuchte das Herz mit einem Ultraschallgerät, und auf dem
Computerbildschirm konnte ich wie in einem Film das Innere des
Herzens Milans sehen. Was für eine wunderbare Schöpfung Gottes!
*
Im
Sommer fuhren wir alle in die Ferien nach Rügen: Konrad, Maite,
Karine, Detlef, Juri, Milan und Simon und ich. Alle hatten ihre
Zimmer in der Ferienwohnung, ich aber schlief allein im Wohnwagen.
Einmal schlief Juri bei mir im Wohnwagen, da war nachts ein Sturm und
Regen und Donner und Blitz, das war sehr majestätisch. Ich las in
einem alten philosophischen Epos aus Indien: Dem Weisen ist Gold
nicht mehr wert als ein Kieselstein. Das stimmt, denn auch Karines
Kinder waren an Kieselsteinen mehr interessiert als an Geldmünzen.
Die Vermieter der Ferienwohnung hatten einen Hund, einen Rottweiler.
Aber Opa Konrad ging mit Milan und Simon zu dem Rottweiler. Das fand
ich sehr gefährlich. Einmal erzählte mir Konrad: „Die Zwillinge
spielten vorm Haus Ball, der Ball rollte auf die Straße, die Kinder
hinterher, Detlef sah zu und rührte sich nicht. Da war der Typ für
mich gestorben.“ Ich hatte neue Kosenamen: Simon nannte ich
Chou-Chou (schlaf schön) und Milan nannte ich Mignon (niedlich).
Aber Maite fand das gar nicht lustig. Wir sind jeden Tag an den
Strand gegangen. Abends hab ich immer meinen Rotwein getrunken und in
meinem philosophischen Buch aus Indien gelesen. Eines Tages machten
wir einen Ausflug zum Kap Arkona. Da war ein Leuchtturm und ein Saal,
wo traditionell Hochzeit gefeiert wurde. Karine sagte zu mir: „Toto,
sollen wir hier heiraten?“ Ich: „Aber Karine, ich bin doch ein
eheloser Mönch.“ Abends sagte ich zu Karine: „Oder wollen wir
doch heiraten?“ Ich wollte nämlich gerne Papa für die Kinder
sein. Karine: „Ach, wir sollten das doch lassen. Ich liebe dich wie
einen Bruder und noch mehr.“ Und so blieb ich Mönch. Ich ging zum
Strand und sah den Sonnenuntergang, der Horizont und das Meer war
ganz golden, da verlobte ich mich mit der Weisheit Gottes.
*
Was
ich fast vergessen hätte: Karine war im Meer baden, ich war mit
Konrad und den Kindern in einem Strandcafé, Konrad und ich tranken
Bier. Konrad ließ Milan und Simon den Schaum auf dem Bier probieren,
aber es schmeckte ihnen nicht. Mit zwei Jahren das erste Bier!
*
Karine
begann, chinesische Atem-Meditationen zu machen. Um das zu lernen,
fuhr sie Nach Berlin zu einer Verwandten, die in einer chinesischen
Meditationsgruppe war. Karine nahm Milan und mich mit. Milan war zwei
Jahre alt. Juri blieb bei Detlef, Simon bei Amani. Vormittags war
Karine dann in Berlin im Tiergarten meditieren, ich ging mit Milan im
Kinderwagen spazieren. Wir waren an einem Ententeich, da sang ich ihm
Alle meine Entchen vor. Dann waren wir in einer katholischen Kirche,
ich zeigte ihm die Statue der Mutter Gottes. Über dem Taufbecken war
eine steinerne Taube. Milan sagte: „Piep“. Dann waren wir bei
einem Bauernhof und sahen uns die Pferde und die Schweine an. Auf
einer Wiese ließen Leute Drachen steigen. Da war eine Frau mit einem
kleinen Schoßhund. Milan hatte eigentlich Angst vor Hunden, aber
diesen Schoßhund hat er gestreichelt. Nachmittags spielten wir, er
spielte gerne mit Bauklötzen, da baute er einen Turm und setzte den
letzten Stein drauf und zeigte mir sein Kunstwerk. Er sagte „Mama“
zu mir. Ich dachte: Die Weisheit Gottes ist ein göttliches Kind und
es spielt vor Gott Vaer. Am Anfang der Welt hat das göttliche Kind
mit den Bausteinen von Elementen und Atomen den Kosmos gebaut, und
als es fertig war, hat es den Kosmos dem Vater im Himmel gezeigt, und
der hat den Sohn Gottes für seine Arbeit gelobt. Mit Karine waren
wir auch im Zoo. Da sahen wir Affenmütter mit Kinderaffen auf dem
Rücken, gefährlich aussehende Gorilla-Männchen, ein Elefantenbaby,
einen Tiger, Kamele und Dromedare und Lamas, und im Streichelzoo
streichelte Milan kleinen Ziegen. Das war mein Berlin, die Hauptstadt
Deutschlands.
*
Als
Tom drei Jahre alt war, bat Evi mich, dass ich mich auch um Tom
kümmere. So hab ich noch einen Pflegesohn bekommen. Wenn Evi und ich
mit Tom und Quentin zu Karine und ihren Kindern fuhren, dann
schwatzten Karine und Evi miteinander, Juri spielte mit Quentin, Tom
spielte mit Milan und Simon, und ich saß im Garten und rauchte und
langweilte mich. Wenn Karine mit ihren Kindern zu Evi kam, dann saßen
wir in Evis schönem Garten, die Kleinen spielten im Garten,
schaukelten, kletterten in die Bäume, Juri verschwand in Quentins
Zimmer, Karine sprach mit Evi, ich saß auf der Gartenbank und fühlte
mich wie ein alter Patriarch aus dem Alten Testament, der sah auf
seine Frauen und vielen Kinder, die alle fröhlich waren, und dankte
seinem Gott.
*
Nach
den Hörbüchern mit den Narnia-Romanen schleppte ich weitere
Hörbücher an: Die Märchen der Gebrüder Grimm, Die Märchen aus
Tausend und Einer Nacht, Griechische Heldensagen. Die Kinder hörten
sehr gerne Hörbücher.
*
Auch
alle meine Asterix-Comics hatte ich Karines Kindern geschenkt. Sie
liebten Asterix und Obelix. Und Karine las sie auch sehr gerne vor
und amüsierte sich immer sehr über Obelix, das gab dann viel
Gelächter beim Lesen. Es gab auch Zeichentrickfilme über Asterix,
die sahen wir uns auch an.
*
Ich
liebte das Versepos Reinecke Fuchs von Goethe. Und ich schrieb auch
ein mittelalterliches Gedicht Reinecke Fuchs in ein hochdeutsches
Gedicht um, das las ich Juri vor und er sagte: „Dafür, dass das
von Toto ist, ist es nicht schlecht.“ Ich musste Simon und Milan
immer Geschichten von Reinecke Fuchs erzählen. Nur Tom mochte
Reinecke Fuchs nicht, weil er Tiere tot biss, und Tom liebte kleine
Tiere.
*
Wenn
ich vor Karines Haus saß und rauchte, dann kamen Milan und Simon und
standen um mich. Milan sagte: „Hör auf zu rauchen!“ Und Simon
sagte: „Erzähl uns eine Geschichte!“ Simon hatte auch sehr viel
Phantasie und erfand lange Geschichten.
*
Ich
erzählte Simon und Milan von Odysseus und Salomo. Odysseus hatte ein
großes Holzpferd gebaut und im Bauch des Pferdes griechische Krieger
versteckt und sann das Pferd den Feinden geschenkt, die es in ihre
Burg Troja holten, da kamen nachts die Krieger aus dem Pferd und
besiegten die Feinde. Das hatte Athene, die Göttin der Weisheit, dem
schlauen Odysseus eingegeben. Und Salomo, der weise König von
Israel, hatte die Königin von Saba aus dem Süden eingeladen. Da
wollte er wissen, ob sie schöne oder behaarte Beine habe. Also
bedeckte er den Boden seines Saales mit blauen Edelsteinen. Die
Königin von Saba hielt es für Wasser und hob ihren Rock, dass er
nicht nass wird. So konnte der weise Salomo ihre Beine sehen. Da
fragte mich Simon: Wer ist klüger, Odysseus oder Salomo? Diese Frage
erzählte ich meinem Prieester, und er war schwer beeindruckt von
dieser intelligenten Frage.
*
Ich
hatte auch zuhause ein Hörbuch mit Gedichten für Kinder. Da hörten
Milan und Simon den „Knaben im Moor“ von Anette von
Droste-Hülshoff besonders gerne, das war so unheimlich schaurig.
Aber auch wenn Goethes „Rattenfänger von Hameln“ vorgesungen
wurde, freuten sich die beiden Knaben.
*
Einmal
saßen Karine und ich mit den Kindern beim Mittagessen. Ich betete:
„Komm Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns gegeben
hast.“ Karine sagte: „Ja, wenn Toto da ist, wird bei uns gebetet.
Aber das Gebet heißt: Komm Herr Jesus, sei unser Gast, und segne,
was du uns bescheret hast.“ Karine hatte ein Ritual, das ihr soviel
wie ein Segnen der Mahlzeit war. Beim Kochen verwendete sie wenig
Salz, und wenn dann der Teller mit Essen vor jedem stand, dann
streute sie mit der rechten Hand jedem eine gute Prise Salz auf die
Mahlzeit. Das war ihre Segensgebärde.
*
Die
Kinder mochten gerne Spinat mit Spiegelei und Kartoffelpüree,
Spinatpizzaa, Milchreis mit Zimt und Zucker, Crepes mit Marmelade,
Reibekuchen oder Kartoffelpuffer, Kräuterbutter-Baguette und
Salatgurken mit Kräutersalz, selbstgemachte Gemüsepizza und
Spaghetti mit Tomattensauce und Zwiebeln und Schafskäse.
*
Es
gab natürlich auch fröhliche Kindergeburtstage. Da war das Haus
dann voll Kinderfreunden aus dem Kindergarten. Es gab eine
Schatzsuche, da Karine eine Kiste mit Süßigkeiten und Spielzeug
irgendwo in der freien Natur versteckt hatte und rote Bänder in die
Bäume gehängt, so mussten die Kinder die Schatzkiste suchen. Es gab
genügend Kuchen. Juri liebte vor allem den Bienenstichkuchen. Abends
bereitete ich für alle Kinder einen Backofen voll Pommes frites und
Pfannen voll Bratwürstchen.
*
Einmal
machten wir in meinem Geburtsort Hage Urlaub. Meine Eltern hatten uns
eine Ferienwohnung in Berumbur gemietet, wir waren jeden Tag am See
baden. Morgens schlief Karine länger, dann ging ich mit den Kindern
zum Spielplatz, wo wir frische Croissants und Apfelschorle
frühstückten. Mittags machten alle Mittagsschlaf, ich ruhte mich im
Gebet aus. Einmal war ich mit Milan allein im See, da dachte ich: Ich
will Milan heimlich taufen. Ich goss ihm also dreimal mit der hohlen
Hand etwas Wasser über sein blondes Köpfchen und sagte: Hiermit
taufe ich dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des
Heiligen Geistes. Und in deinem Namen widersage ich dem Bösen und
folge Jesus nach. Das erzählte ich später meinem Beichtvater, er
sagte, das sei keine gültige Taufe. Wir waren auch einen Nachmittag
bei meinen Eltern. Meine Mutter machte Reibekuchen für alle. Sie
stellte dazu den Zuckertopf auf den Tisch. Karine gab mir einen Wink
mit den Augen, ich solle heimlich den Zuckertopf wegstellen. Ich
spielte dann mit den Kindern Fußball im Garten meiner Eltern. Mein
Vater sagte zu den Kindern: „Toto ist eine Flasche, was den Fußball
betrifft.“ Das fand ich sehr verletzend. Zum Abschieed schenkten
meine Eltern jedem Kind eine Stoffpuppe von den Figuren der
japanischen Karten, die sie sammelten.
*
Wir
spielten auch in Karines Garten Fußball. Da gab es sogar ein
richtiges Fußballtor. Nur wenn ich den Ball trat, flog er
irgendwohin, ich konnte wirklich nicht zielen. Aber wir hatten Spaß.
Wir spielten auch Verstecken im Haus und im Freien. Besonders im
großen Garten gab es gute Verstecke. Sonst tobten wir gerne im
Wohnzimmer auf dem Schlafsofa, dann griffen mich alle drei Knaben an
und wir rangen und kämpften unter viel Gelächter. Im Garten gab es
auch eine Rutsche, und im Sommer ein Planschbecken. Besonders gerne
rutschten die Kinder die Rutsche hinunter direkt in das
Planschbecken.
*
Ich
kaufte allen drei Kindern Ritterschwerter aus Holz. Es gab Frauen,
die meinten, ich solle doch kein Kriegsspielzeug verschenken. Aber
die Knaben spieltern gerne Ritter. Sie kämpften besonders gerne
gegen die Brennesseln im Garten und hieben den Feinden die Köpfe ab.
Juri hatte von Detlef allerdings kleine Soldaten und Panzer geschenkt
bekommen, und Karine und ich waren uns einig und warfen die Panzer
weg.
*
Ostern
kam ich am Sonntagvormittag. Karine hatte Schokoladenostereier und
andere Süßigkeiten (Juri mochte keine Schokolade) im Garten
versteckt. Da suchten die Kinder, und wer suchet, der findet, wir
saßen dann im Ostergarten, Karine und ich tranken Kaffee, und die
Kinder vernaschten ihre Süßigkeiten.
*
Einmal
waren wir spazieren, wir drangen durch ein Dickicht von Gestrüpp, da
fragten die Kinder nach der Bedeutungen ihrer Namen. „Milan heißt:
der Liebe. Simon heißt: der von Gott Erbetene. Juri heißt: der
Landmann.“ Juri war enttäuscht. Aber Juris Namensheiliger war
Sankt Juri (Sankt Georg), der Schutzpatron der Ritter und
Drachentöter. Simons Namensheiliger war der heilige Simon Stock, dem
die Mutter Gottes Maria erschienen und ihm ein Stück ihres
Schutzmantels geschenkt. Milans Namensheiliger war der heilige
Maximilian Kolbe, der im KZ Auschwitz sich den Nazis angeboten, sie
sollten doch ihn töten anstelle des jüdischen Familienvaters.
„Karine heißt: die Geliebte. Torsten heißt: der Donnerhammer
Gottes.“
*
Zu
einem Kindergeburtstag machte ich eine Einladungskarte mit dem Bild
von Botticelli, Athene, die Göttin der Weisheit, mit einem Zentauren
darstellend, eine Ikone des florentinischen Neuplatonismus. Simon sah
sich Athene an und urteilte mit Kennerblick: „Das muss wohl eine
Hamadryade sein.“ Apropos Botticelli. Sein Gemälde Primavera oder
der Frühling war Juris Lieblingsbild, die Göttin des Frühlings war
sein Schönheits-Ideal.
*
‚Karine
machte eine Kur auf der nordfriesischen Insel Sylt. Für drei Tage
besuchte ich sie mit Juri. Juri und ich schliefen in der
Jugendherberge. Wir lasen Prinz Eisenherz zusammen. Tags waren wir
mit Karine am Strand. Mittags schlief Karine mit Juri in der
Jugendherberge, ich saß draußen und betete: Die Toten sind in Gott,
und Gott ist allgegenwärtig, also sind die Toten auch
allgegenwärtig, sie sind mitten unter uns, nur unsichtbar. - Die
Zwillinge waren in der Zeit bei ihrer Großmutter. Anschließend
reiste ich mit Milan und Simon nach Sylt, Juri blieb bei der
Großmutter (sie fand ihn anbetungswürdig). Ich reiste mit den
Zwillingen zuerst zu Konrad, ihrem Opa, nach Hamburg. Dort ging ich
mit Milan und Simon in die Kirche des heiligen Josef mit dem
Pflegekind Jesus und empfahl ihm unsere Reise. Mit Konrad fuhren wir
zu Karine nach Sylt, die Kinder schliefen bei Karine im Kurheim, ich
und Konrad in einer Ferienwohnung, er erzählte mir abends beim Wein
aus seinem Leben. Eines Mittags saß ich allein am Strand und sah auf
das Meer, da schwebte die Jungfrau Maria über dem Meer, es war ein
Meer der Liebe, ich dachte an die Weisheit Gottes, das Hätschelkind
von Gottvater, die Weisheit Gottes war mir wie ein kleiner blonder
vierjähriger Knabe. Ich sprach zu Karine von der „platonischen
Knabenliebe“. Eines Mittags kam ich vom Meer, ging zu Karine und
den Zwillingen ins Kurheim und machte Karine kniend und mit einem
Blume in der Hand einen Heiratsantrag – den dritten in meinem
Leben, keiner anderen Frau hab ich je einen Heiratsantrag gemacht,
aber Karine sagte: „Aber du liebst doch Evi!“ Es war Ostern,
Karine hatte Schokoladeneier versteckt, mitten im
Brombeerendorngestrüpp, Konrad humpelte hinter uns her, die Kinder
freuten sich. Wir waren auch im Schwimmbad, Die Kinder konnten noch
nicht schwimmen, ich hielt sie, dass sie auf meinen Armen im Wasser
sich bewegen konnten. Konrad sagte: „Bei mir haben sie Angst, aber
bei dir sind sie ganz ruhig.“ Karine war wunder-wunderschön im
Bikini.
*
In
Oldenburg waren wir auch öfters schwimmen, zum einen im Schwimmbad,
da machte Juri seinen Schwimmkurs, Karine schwamm ihre Bahnen, ich
spielte mit den Kleinen im Kleinkinderplanschbecken. Das Wasser war
lauwarm. Juri sagte: „Das Wasser ist so warm, weil die kleinen
Kinder immer ins Wasser pinkeln.“ Wir waren auch am Oldenburger
Tilly-See baden, Karine schwamm, ich spielte mit den drei Kindern
halb am Strand, halb im Wasser. Karine war so schön, wie eine
Najade.
*
Milan
und Simon übernachteten oft bei mir. Sie schliefen in meinem
Schlafzimmer, ich schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa. Morgens
schauten die Kinder biblische Zeichentrickfilme, ich betete in der
Zeit mein Morgengebet auf dem Balkon. Dann gingen wir zum Bäcker,
kauften Croissants und Apfelsaft und gingen zum Spielplatz,
frühstückten dort, die Kinder spielten, ich sah ihnen zu. Mittags
gingen wir in den Imbiss und aßen Pommes frites. Dann holte Karine
sie wieder ab.
*
Einmal
übernachteten Milan und Simon und ihr bester Freund Tom bei mir. Der
Bibelfilm morgens zeigte, wie Abraham dachte, er müsse seinen Sohn
opfern. Milan und Simon hatten etwas Angst, aber Tom sagte: „Das
geht aber gut aus!“ Tatsächlich sagte Gott zu Abraham: Opfere
deinen Sohn nicht. Ich saß auf dem Balkon, die drei Knaben
drängelten sich um meine Knie, ich spielte Menschenfresser und
wollte Simon in sein appetitliches Öhrchen beißen. Tom verstand den
Spaß nicht, wollte seinen Freund Simon verteidigen und biss mir ins
Ohr, er biss mein Ohr blutig. Nachdem wir im Wäldchen auf dem
Spielplatz gewesen, spielten die drei Knaben friedlich in meiner
Wohnung mit dem Spielzeug. Dann kamen Evi und Karine, ihre Söhne
abzuholen. Karine sah den Frieden unter den Kindern und sagte zu Evi:
„Toto hats drauf mit der Kindererziehung.“
*
Ich
hatte noch von meiner Wallfahrt ins Marien-Heiligtum Lourdes in
Südfrankreich ein kleines Fläschchen in Form der Jungfrau Maria,
gefüllt mit Lourdes-Wasser. Ich gab den Kindern immer einen kleinen
Schluck, bis einer der Zwillinge sie eines Tages ganz leer trank.
Karine sagte: „Was ist denn da drin?“ Ich sagte: „Das ist
allerreinstes Quellwasser.“
*
Milan
schenkte ich einen Trinkbecher mit den beiden Engelskindern zu Füßen
der Sixtinischen Madonna. Aus Gerechtigkeit kaufte Karine noch zwei
solcher Trinkbecher für Juri und Simon.
*
Einmal
gab es Streit zuhause, Karine schimpfte mit den Kindern und verteilte
Ohrfeigen. Da rief Milan: „Ich zieh hier aus! Ich zieh zu Toto!“
Einmal sagte Milan: „Die Welt sollte nur aus Torstens bestehen.“
*
Karine
wollte, dass die Kinder Musikunterricht bekommen. Wir brachten Juri
zur musikalischen Früherziehung. Im Auto fiel mir plötzlich ein
Lied ein von Charlie Chaplin aus dem Film „der große Diktator“,
und ich sang: „Wir Arier, wir Arier, wir kämpfen gegen Volk und
Vegetarier.“ Die Kinder sangen alle drei kräftig mit. Karine
lachte, hoffte aber, dass die Kinder das nicht in der Öffentlichkeit
singen. Als Milan und Simon zur musikalischen Früherziehung kamen,
saß ich mit den Zwillingen vor dem Unterrichtsraum und wartete auf
den Unterrichtsbeginn, und erzählte den Kindern von Frau Weisheit.
Da sagte Milan strahlend: „Ich weiß, wer Frau Weisheit ist –
Maria!“ Da kam eine Musiklehrerin aus einem Raum und sagte zu mir:
„Sie haben ja eine sehr schöne Bass-Stimme, aber bitte reden Sie
etwas leiser, sonst kann meine Schülerin nicht Geige lernen.“
*
Bei
mir zuhause sagte Milan einmal: „Du sollst mal Gott malen! Gott und
Jesus und die Taube und Maria!“ Ich zeichnete also Gottvater mit
langem Bart auf seinem Thron, rechts von ihm Jesus stehen und ein
Kreuz in den Armen, zwischen ihnen die Taube und unter der Taube
Maria auf einer Mondsichel, alles nur in Umrissen mit einem schwarzen
Stift. Milan malte das Bild dann in den lustigsten Farben aus, ich
glaube, Gottes Gesicht sah aus wie ein Regenbogen.
*
Ich
hatte zuhause auch ein kleines Bild von Amor, dem kleinen Liebesgott
der alten Römer. Amor war ein sechsjähriger nackter Knabe mit
Flügeln an den Schultern und Pfeil und Bogen in den Händen. Ich
sagte: „Wen Amors Pfeil trifft, der beginnt zu lieben.“ Da
spielte Milan Amor, schoss mir einen Pfeil ins Herz, ich stöhnte auf
und sagte: „Oh ich liebe dich!“ Da lachte der kleine Amor vor
Freude und wiederholte das Spiel noch mehrmals.
*
Milan
und Simon und vorher Juri auch waren im Naturkindergarten. Eine ihrer
Kindergärtnerinnen war die blonde Bärbel, die mit mir in
Ostfriesland aufs Gymnasium gegangen war und in die ich als Lehrling
einmal etwas verliebt war. Einmal brachte ich mit Karine die
Zwillinge in den Kindergarten, auf dem Rückweg gab ich Karine einen
Kuss auf ihren schönen Mund. „Oh, nun gibst du mir auch noch einen
Kuss auf den Mund“, sagte sie lächelnd. Besonders schön fand ich
immer im November das Laufen mit den Laternen, wenn der ganze
Kindergarten und alle Eltern durch die Natur zogen und die Kinder
sangen: „Dort oben leuchten die Sterne, hier unten leuchten wir“
Da ging ich sehr gerne mit.
*
Karine
machte eine Kur in einem anthroposophischen Kurhaus, Maite und ich
blieben bei den Kindern. Juri ging schon zur Schule. Ich brachte die
Zwillinge mit dem Fahrradanhänger zum Kindergarten und holte sie
mittags ab. Ich kaufte ein, Maite kochte, sie als Französin konnte
lecker kochen. Nachmittags spielten wir. Abends brachte ich Juri in
Karines Schlafzimmer ins Bett, ich las ihm Erich Kästner vor, wir
plauderten noch etwas, bis er einschlief. Maite brachte die Zwillinge
ins Bett, aber die standen wieder auf und kamen zu Juri und mir, und
warteten, bis ich sie auch ins Bett gebracht hatte: „Schlafe selig
und süß, schau im Traum das Paradies“… Dann setzte ich mich in
den Garten, trank eine Flasche Rotwein, las in der Bibel, betete und
schrieb Gedichte. Karine rief dann an und sprach mit Maite, wie es
den Kindern gehe. Am Ende der zwei Wochen fragte ich Milan: “Wie
hat es dir gefallen mit Amani und Toto?“ Und Milan sagte: „Nicht
gut, wir mussten jeden Tag Zähne putzen...“
*
Als
ich mit Maite die Kinder hütete, ging ich eines Vormittags auf dem
Hasenweg zum Deich und zu den Schafen spazieren, da war heiterer klar
blauer Oktoberhimmel, die „liebe Sonne“ (wie Juri sie immer
nannte) schien mild, aber kräftig, da sah ich die Sonnenstrahlen wie
eine goldene Straße des Lichts, die von der Erde zum Himmel führte,
und am Ende der goldenen Straße des Lichts war der Himmel offen, da
saß auf dem weißen Thron Gottes die Schöne Liebe!
*
Karine
wollte, dass Milan und Simon getauft werden und dass ich ihr Pate
werde. Ich sprach auch schon mit einer evangelischen Pastorin
darüber. Leider kam es nicht mehr dazu.
*
Ich
nahm Juri einmal an einem Sonntag morgen mit in die Heilige Messe.
Juri fragte mich: „Glaubst du an Gott?“ Ich sagte: „Ja.“ Er
sagte: „Und ich glaube noch viel mehr an Gott als du!“ In der
Heiligen Messe rief der Priester alle Kinder an den Altar, Juri stand
da mit einem Haufen Kinder, sie beteten: „Vater unser, der du bist
im Himmel!“ An einem Dienstag Nachmittag nahm ich einmal Milan und
Simon ins Gemeindehaus mit, wo Heilige Messe gefeiert wurde. Der
Priester gab den Kindern Kinderbilderbücher, in denen sie während
der Messe blätterten. Als der Priester mir den Leib Christi reichte,
machte er ein Kreuzzeichen auf die Stirn bei Milan und Simon und
sagte: „Jesus ist euer bester Freund!“ Dann sah Simon das kleine
Stück Brot, das der Priester in Jesus verwandelte hatte, und sagte:
„Aha, das ist also Jesus?“ Ich sagte: „Ja.“
*
Es
war im Advent des Jahres 2009. Wir machten am Nachmittag einen
Spaziergang. Alle drei Kinder rannten voraus, wir verloren sie aus
dem Blick. Karine humpelte. Der Hasenweg war gefroren und
spiegelglatt. Karine hakte sich bei mir ein und so gingen wir langsam
und vorsichtig Arm in Arm weiter. Da sagte Karine: „Wir sind wie
ein altes Ehepaar, Totolino. Wenn du bei mir bist, hab ich keine
Angst vorm Tod.“ Überall lag Schnee, auf dem Weg, auf den Wiesen
zu beiden Seiten, auf den kahlen Bäumen, die silberweißen Birken
waren noch weißer geworden vom Schnee, es war ein weißer Nebel in
der Luft. So war wirklich alles um uns ein mildes weißes Licht. Ich
sagte: „Mir ist, als ob wir gerade in den Himmel spazieren.“ Und
so war es auch, eine weiße Wolke nahm uns auf.
*
Dieses
schrieb der arme Torsten Schwanke. Gott verzeih ihm seine Sünden
alle.