VON TORSTEN SCHWANKE
FRAGMENT
ERSTER
TEIL
Was
ich von der Geschichte des jungen W. sagen konnte, das habe ich hier
nun alles aufgeschrieben, ich lege es dem deutschen Volk vor und
hoffe zu Gott, dass eines Tages das deutsche Volk – wenn es sich
bekehrt hat – mir noch danken werde. Mann kann den Leiden des
jungen W. sein Mitgefühl und Mitleid nicht entziehen, wenn man nicht
gerade ein Herz wie ein Roboter hat. Und du, liebe Seele in kommenden
Zeiten, die du meine Muse liebst und mich gerne zum Freund hättest,
wähle diese kleine Schrift zu deiner Freundin in einsamen
nächtlichen Stunden. Wer sich der Ewigen Weisheit weiht, der
verliert der Reihe nach alle Freunde, und wer verlangt nach der union
mystique à Marie, der muss bereit sein zur totalen
Menscheneinsamkeit. Dem möge meine Muse Freundin, Schwester und
Trösterin sein.
AN
BELLARMIN
5.
Mai 1998
Ich
bin nun endlich weg aus dem saudummen Ostfriesland, lieber Bruder, wo
nicht nur die Zunge, sondern auch der Geist platt ist! Ich bin nun
angekommen im klassischen Oldenburg, dem Athen Norddeutschlands.
Pallas Athene und Amor schauen von allen Giebeln. Lieber, ein wenig
hängt mir noch nach die Geschichte mit der kleinen Marion aus der
Herrlichkeit Dornum, die ich, denn ich bin namensabergläubisch, mit
der Jungfrau Maria verwechselt hatte. O die Ärzte hatten recht, ich
habe zu viel Phantasie! Und die Träume haben mir manchen Streich
gespielt, ich hielt meine Träume für Orakel der Himmlischen, und
während ich die arme Kunigunde im Arm liegen hatte, träumte ich von
Madonna Marion-Maria, und mein Gewissen war gespalten, zwei Seelen
wohnten ach in meiner Brust, die eine wollte die irdischen Liebe mit
Kunigunde genießen und die andere die himmlische Liebe der Madonna
Marion zu Füßen legen. Aber das liegt nun hinter mir, und ich
wünschte, ich könnte das alte platte Leben von mir abstreifen wie
ein altes Kleid und neugeboren ein ein neues, klassisches Kleid
schlüpfen. Ja, mir scheint, ich habe sieben Leben. Ich war nicht nur
chinesischer Dichter in der Tang-Dynastie, ich war auch griechischer
Odendichter auf Lesbos zur Zeit von Sappho und Alkäus. Nun, ich
kanns nicht lassen, zu schwärmen, zu träumen. Freund und
Bruderherz, nur wie von Metempsychose zu Metempsychose der
unsterbliche Gottesfunken in der Seele erhalten bleibt, so nehm ich
deine Freundschaft und herzliche Bruderliebe mit in mein neues Leben.
Ecce homo!
Lieber
Bruder, der du mir näher stehst als ein leiblicher Bruder, sei so
gut, meiner treuen Mutter zu sagen, sie solle sich keine Sorgen um
mein finanzielles Fortkommen machen. Ich vertraue mich der siebenfach
verschleierten Gottheit namens Vorsehung an. Was meine liebe Tante
Petheda betrifft, so sag meiner Mutter, ich fand ihre Schwester nicht
so unlieb, wie sie mir geschildert worden. Sie ist eine Tochter
Hiobs, am ganzen Leibe leidend und die Seele voll von
Witwen-Einsamkeit, dazu hat sich ihr einziger Sohn Joachim, ein
Kommunist, von seiner Mutter losgesagt. Nun sitzt die einsame alte
Witwe in ihrer Gebrechlichkeit und Krankheit, nahezu erblindet, in
ihrer Einsamkeit mit gebrochenem Herzen da und wartet nur noch auf
den Moment, der sie mit ihrem geliebten und vergötterten Ehemann
Arno im Jenseits wieder vereinigt wird. Und sie bat mich, dafür zu
sorgen, dass auf ihrem Grabe stehe der Spruch: Ich hab so wunderliche
Schmerzen in meinem Herzen. Und dass auf ihrer Beerdigung gesungen
werde: Ich bete an die Macht der Liebe!… Gott sei ihrer armen Seele
gnädig! Was aber die Erbschaftsstreitigkeiten unter den Schwestern
über das Erbe meiner vergötterten Großmutter betrifft, so wird
sich meine Großmutter im Grabe umdrehen, wenn sie sieht, dass ihre
Töchter das selige Angedenken ihrer all-liebenden Mutter entweihen
durch den Zungenzank um den schnöden Mammon. Du Narr, sagt der
Menschensohn, wer hat mich unter euch zum Erbschaftsverwalter
eingesetzt? Niemand lebt davon, dass er viel besitzt. Du dachtest:
Ich hab mir mit Fleiß und Sparsamkeit bis zum Geiz und glücklichen
Spekulationen ein kleines Vermögen angehäuft, nun will ich die
Rente genießen und Andalusien und Marokko und Kalifornien und Kuba
und Lesbos besuchen und immer gut und lecker essen, so denkst du,
gottloser Narr, aber heute Nacht wird der HERR deine Seele von dir
fordern, und dann wehe dir, wenn du arm bist vor Gott!
Übrigens
geht es mir gut in Oldenburg. Hier im Schlosspark oder in der
Haaren-Niederung im Schutz der Universität oder im botanischen
Garten spazieren zu gehen, wenn die Sonne einen liebevoll anlacht,
ist ein offener Himmel auf Erden. So viele Gnaden strömen von der
Frau in der Sonne zu mir herab, und jede Gnade ist ein junges
wunderschönes Mädchen! Ob blond, ob schwarz, ob rot, ob braun, ich
liebe alle schönen Fraun! Wenn ich dann sehe die Kohlweißlinge wie
weiße Seidenschmetterlinge um die Krokuskelche gaukeln oder im
lichtblauen Äther (Vater Äther! Heiter!) ihre Hochzeitstänze
tanzen, dann denk ich, das auf griechisch Psyche sowohl Seele als
auch Schmetterling heißt, und dass sterbende Kinder kein Kreuz
malen, sondern Schmetterlinge, und dass wir alle Raupen sind, die
eines Tages zu Schmetterlingen werden, doch ach, die Menschen um mich
sind nur dumme Raupen, die an nichts als ihren Kohl denken und lachen
über den Träumer, der sich für einen tanzenden Schmetterling hält!
Ja, was Schmetterling, meine Seele, das wird nicht gebraucht, das ist
nicht nützlich, und die lieben Weiber wollen lieber, dass du ein
belastbarer Esel bist!
Die
City ist mir unangenehm, zu viel Konsum und Materialismus. Aber die
Natur! Da ist der schöne Schlosspark, den einst Graf Anton Günther,
der Friedefürst von Oldenburg, für seine Braut Sophia angelegt hat.
Hier liege ich unter der Blutbuche und die Venen meines Leibes fühlen
sich blutsverwandt mit den Venen der Blutbuche. Meine Schwester, das
Leben! Und überall in der Natur fühl ich quellen die heilige
Grünkraft, wie sie aus Gott strömt, und in aller Grünkraft der
heiligen Mutter Natur empfinde ich einen immanenten göttlichen Eros,
der mich berauscht und nüchtern trunken macht! Und dann denk ich an
den Friedefürsten, den Grafen von Oldenburg, und seine göttliche
Sophia, und ich besuche ihr Grab in der Lambertikirche und danke dem
Grafen, dass er Oldenburg weise vor dem dreißigjährigen Krieg
bewahrt hat, dieser Erfindung des Teufels, um die Christenheit in
Deutschland zu spalten und zu schwächen, und ich verfluche jeden
Krieg, und gelobe der göttlichen Sophia meine treue Verehrung.
AN
BELLARMIN
10
Mai 1998
Mein
Freund, ich bin so ganz selig in diesem Wonnemond, dem Minnemond, dem
Marienmond! Die Sonne scheint, die Sonne heilt, die Sonne ist der
einzige gute Engel der Erde. Der Frühling ist Gottes Melodie, den
Zebaoth auf seiner Harfe spielt, der Frühling ist der Glaube Gottes,
der jedes Jahr wieder zur Welt kommt, die heiligen Juden sagen, Gott
hat die Welt im Frühling geschaffen, im Frühling, da die Mutter
Natur in ihrer heiligen Liturgie das Hohelied Salomos singt! Wenn ich
so die goldene Sonne sehe schimmern durch das transparente grüne
Chlorophyll der Blätter der Bäume, dann scheint mir die Luft eine
geistige Person zu sein, dann scheint mir in den Blüten der Bäume
die Königin der Feen zu leben, dann sehe, dann schaue ich die
weibliche Weltseele! Ich liege dann auf der Wiese und beobachte die
Hirschhornkäfer, die Maikäfer, die kleinen Marienkäfer. Weißt du,
warum die Marienkäfer nach Unserer Lieben Frau benannt sind? Sie
vertilgen die schädlichen Blattläuse wie die Madonna die Dämonen
vertilgt. Und sie krabbeln über die Grashalme, ich reiche ihnen
meinen Finger, sie spazieren über meine Hand, als ob ich ein
Grashalm wäre. Leaves of grass! Gräslein, in Gottes Namen! Eine
Novizin fragte mich, welche Blume ich gerne wäre, und sie sagte, sie
wäre am liebsten ein demütiger Grashalm. Und wenn dann die Mücken
im Sonnenuntergang tanzen, so tanzen sterbende Völker auf ihrem
Vulkan – ach, vielleicht ist das deutsche Volk auch schon ein
sterbendes Volk! Und wenn ich durch mein Wäldchen spaziere, und der
goldene Strahl der Herrlichkeit der Sonne fällt durch das blaue
Fenster des Himmels in diesen grünen Dom der Natur, da hör ich alle
vegetativen und animalischen Seelen in ihrer göttlichen Liturgie
anbeten den Schöpfer, und die Amseln und Tauben singen in ihren
Chören die himmlischen Hymnen zum Lobe des Schöpfers, und der
Mensch neigt demütig und barhäuptig sein Haupt vor der Herrlichkeit
des Herrn! Da ist mein Herz so voll, so voll, so übervoll von
himmlischer Glückseligkeit und göttlicher Liebe, dass meine Kunst
versagt, die wahren Wonnen des Paradieses lassen sich doch in
irdischen Worten nicht sagen, da verschwebt meine Seele im
schweigender Anbetung! O das ist fast zu groß für unsere
unsterbliche Seele im sterblichen Körper, und nur zu Zeiten erträgt
der sterbliche Mensch die Fülle der himmlischen Wonnen!
Und
dann weiß ich auch die Innenstadt zu schätzen. Nichts mehr sehe ich
von Konsumtempeln, nein, plötzlich spaziere ich durchs himmlische
Jerusalem! Die Straßen sind aus goldenem Glas, die Tore der Stadt
aus Perlen, die Mauern aus weißem Jaspis! Und über die goldenen
Gassen der himmlischen Stadt spazieren lauter Gnaden – oder soll
ich Grazien sagen – nicht Thalia und Aglaja und Euphrosyne, wie die
Mythendichter erfanden, sondern die heilige Ursula und ihre
elftausend Jungfrauen! Plötzlich duftet auch Arabien auf vom Kiosk,
und die Huris und Peris umschweben mich und laden mich ein zum Glase
Wein, der keinen Kopfschmerz bereitet, und zum Hähnchenbraten. Das
ist die von der göttlichen Architektin Sophia erfundene Gartenstadt!
Und nicht Sonne und Mond erleuchten sie, sondern die weibliche
Herrlichkeit des Herrn, die in der goldenen Wolke vor mir
einherzieht! Da fühl ich mich wie Moses, der die Feuersäule und die
Wolkensäule der Herrlichkeit sah. Da fühl ich mich wie Jakob, der
die Himmelstreppe schaute und schöne Engel hinauf und hinab in
langen weißen Seidenkleidern wallen, da werde ich zum alten
Patriarchen der Genesis, um mich wimmeln Kinder und Kindeskinder, und
Gott gibt seinen Segen!
AN
BELLARMIN
13.
Mai 1998
Mein
Lieber, du fragst, ob du mir Bücher schicken sollst? Ich bitte dich,
lass das sein! Ich habe tausende Bücher gelesen, um am Ende alle zu
vergessen und nur eine kleine Handvoll bei mir aufzubewahren,
Propheten der Muse. Und wenn du mich fragst, es sind die Griechen! So
bin ich ganz in den wandernden Odysseus versunken. Ich habe mich aus
den Armen der sinnlichen Kalypso losgerissen, bin vom Meer
verschlagen an eine der Inseln der Seligen und warte, ob mir Pallas
Athene ein göttliches Mädchen sendet. Überhaupt brauch ich keine
Poeten, um mein Herz zur Poesie zu treiben. Mein eigenes Herz ist
beredsam geworden durch all die göttliche Liebe, die mich
inspiriert! Du weißt, mein Geist ist himmelhoch jauchzend, zu Tode
betrübt! Wie oft hast du mich ertragen müssen, wenn der dämonische
Geist der Schwere mich niedergedrückt! Und der wahre Gram geht nicht
über in ein Lied. Und manchen Gesang, den ich dem Ewigen zu singen
gesonnen war, den hat mir die Schwermut weggezehrt. Krankhafte
Melancholie ist der Fluch, der mich durchs Leben treibt, und die ich
wie eine geliebte Feindin zu lieben beginne. Aber dann kommt nach der
Niederfahrt zur Hölle auch die Himmelfahrt! Und wer dies nicht hat,
dies stirb und werde, ist nur ein armer Gast auf der trüben Erde.
Ja, wem Gott die höchsten Wonnen der Glückseligkeit schenken will,
dass er tanzt mit dem Heiligen Geist, den muss er immer wieder führen
durch die dunkle Nacht der Seele. Aber heute bin ich wie ein kleiner
kranker Knabe, und die allerzärtlichste Mutter gewährt mir alle
Wünsche. Sag das nicht den Christen, sie möchten es mir übel
nehmen und mich zu Askese und Demut ermahnen.
AN
BELLARMIN
15.
Mai 1998
Das
Volk von Oldenburg schließt mir sein Herz auf. Wenn ich in der
Innenstadt einen Bettler sehe, gehe ich zu ihm, gebe ihm die Hand,
gebe ihm eine Mark, schaue ihm in die Augen und sage ein freundliches
Wort zu ihm. Und der Bettler gibt mir seinen Segen. So mancher
Bettler ist wohl die heimliche Inkarnation Jesu, der mir seinen Segen
gibt. Und wie bin ich verliebt in all die jungen blonden
Verkäuferinnen in den Supermärkten, ich schaue ihnen in die Augen,
lobe ihre schön geflochtenen Zöpfe oder ihr Perlenarmband und bin
ihr heimlicher Minnesänger, Hofpoet und Ritter, und sie schenken mir
dafür ihr huldvollstes Lächeln. Und wenn ich die Arbeiter sehe in
ihrem blauen Kittel, ergreift mich eine fast kommunistische Ehrfurcht
vor diesen Helden des Alltags, und ich komme mir recht demütig als
ein Taugenichts und Grillenfänger vor. Aber vor allem die Kinder der
Armen sehen in mir ich weiß nicht was, den Rattenfänger von Hameln
oder Don Quichote auf der Wallfahrt ins Morgenland, sie jubeln über
mich, und besonders die Knaben, die leiden unter einem Tunichtgut von
Erzeuger, wählen mich zum Vater, und so trag ich, wie eine Große
Mutter ihre neunzehn Brüste, eine Schar von jauchzenden Knaben vor
mich her. Wie ist mir dann zuwider der Intellektuellenhochmut, der
die Armen verachtet, und selbst wenn er als Marxist die Proletarier
beschwört, so bleibt er doch in seinem Kastenstolz, der Lehrer, der
Advokat, diese Leute wollen den Arbeitern den Klassenhass beibringen,
von oben herab, als Avantgarde, aber der Arbeiter will gar nichts
wissen vom Klassenhass.
Neulich
fand ich einen Knaben am Wegrand, der vom Fahrrad gefallen war, die
Kette vom Rad war ab, der Knabe hatte sich am Bordstein das Knie
wundgescheuert, er saß am Straßenrand und weinte. Ich beugte mich
zu ihm und tröstete ihn, als wenn ich seine Großmutter wäre,
reparierte sein Fahrrad, als wenn ich sein Vater wäre, gab ihm einen
Segen, als wenn ich sein Pate wäre, und schickte ihn heim zu seiner
Mutter, als wenn ich Jesus wäre, der den Knaben von Nain vom Tode
auferweckte und ihn seiner Mutter wiedergab. Und all diese Kinder
sind meine Kinder, und ich habe mehr Söhne und Töchter als die
Eheleute, die in ihrem Egoismus-zu-zweit sich nur um die Früchte
ihrer Lenden sorgen und um sonst niemand.
AN
BELLARMIN
Den
17. Mai
Ich
habe Bekannte gefunden. Keine Freunde, nein! Nur so Leute, die einem
durch Zufall über den Weg laufen, und denen man sich aus Einsamkeit
und Langeweile eine Zeit anschließt. Die Menschen kommen und gehen,
das Leben bleibt bestehen. Wie finden mich doch die Menschen so
sonderbar, so merkwürdig, halb scheine ich ihnen ein Weiser, und
halb ein unbegreiflicher Narr! Ich weiß nicht, warum die Menschen
mich so meiden? Besonders die Frauen scheinen hellsichtig zu sein und
an meiner Stirn ein Zeichen zu lesen, dass ich nicht einer Frau
allein je gehören darf, weil ich verliebt bin – ich weiß nicht in
wen! Ich liebe wohl die Weltseele oder die göttliche Liebe selbst!
Was sich aber so Mensch nennt, mit dem stolzen Namen homo sapiens,
der wissende Mensch, ist doch nur der homo faber, der arbeitende
Mensch. Sie rennen jeden Tag auf ihre Arbeitsstelle, um ja nicht zur
Besinnung zu kommen und halten im übrigen die Arbeitssucht für die
beste Medizin gegen den Kummer der unerwiderten Liebe. Und wenn sie
dann den Mammon erworben haben, tun sie alles, um die freie Zeit
totzuschlagen, mit Kartenspiel oder dem Götzenbild des Antichristen
auf dem Hausaltar, ich meine die Television, das Propagandainstrument
des Atheismus und der Kulturbarbarei. Und wenn einer einmal ein
sinnvolles Gespräch beginnen will über Philosophie oder Kunst, dann
gähnen sie und holen das Kartenspiel hervor.
Aber
manchmal findet man bei diesen kindischen Menschen doch noch eine
gütige Hausfrau. Und dann mag ich mich ab und an an ihren Tisch
setzen und die Künste der kochenden Hausfrau bewundern, wohl eine
Seezunge mit Spargel und Kartoffeln essen, auch einen Spaziergang
machen mit Mann und Frau und mit der Frau über die Zukunft der
Töchter reden. Nur darf ich dann nicht daran denken, dass viele
Geheimnisse der Nacht auf mich warten und viele Visionen und
Offenbarungen, für die den Weltkindern der sechste Sinn mangelt,
denn dann sehne ich mich zurück in meine innere Einsiedlerzelle, um
zu reden mit Heiligen und Engeln und Toten. Ich hatte in meiner
Jugend einmal ein leeres Buch, in das ich meine ersten Liebesgedichte
schrieb, das trug den Titel: Notizen eines verkannten Genies. Ja, nun
denn, das ist wohl mein Schicksal zu Lebzeiten, das war
providentiell.
Ach
dass ich die erste Liebe meiner Jugend verloren habe! Ach, dass ich
sie nie kennen gelernt hätte! Sie schien mir der Sinn meines Lebens,
und als sie mich verlassen, hatte mein Leben seinen Sinn verloren!…
Andere kennen die Madonna nur den Texten und Bildern nach, aber ich
hab sie gesehen, sie stand leibhaftig vor mir auf >Erden und legte
ihre Hände segnend auf mein Haupt und erzählte mir von ihren
Visionen! Wie waren wir weise, wenn wir die Dummheit von Karl Marx
auslachten! Wie waren wir eins, wenn wir Lao Tse verstanden! Wie
vertraut war mir mit ihr der Sternenhimmel, wie verstand ich die
Sprache der Pferde, konnte ich deuten den Flug der Schwalben und die
Schrift der Wolken! Sie war wohl die inkarnierte Weltseele? Aber als
sie mich verließ, begann in meiner Jugend schon der Winter meines
Lebens, der klang wie ein Klagelied von Franz Schubert! Sie aber ging
nach Italien, nein, wie sie bezeugte, nicht nach Italien, sondern –
ins Paradies!
Ich
lernte eine Studentin namens Regina kenen, sie studierte
Altphilologie, las Homer und Platon im Original, las Vergil und
Augustinus auf Latein, bezeugte aber von sich selbst, dass sie
verblendet sei von Ate… Dazu war sie hässlich wie eine
thessalische Hexe. Aber sie erzählte mir von Phidias und Praxiteles,
von der Venus von Milo und der knidischen Aphrodite, von Tizians
Venus von Urbino, von Botticellis Geburt der Venus, von Raffaels
Galathea und den drei Grazien Aglaja, Euphrosyne und Thalia. Das
bildete mein Schönheitsideal. Die Närrin ließ ich aber gehen in
ihre Veganer-Religion.
Noch
einen Gentleman lernte ich kennen, einen Computer-Fachmann, a very
sophisticated gentleman. Man muss ihn sehen, wenn er mit seiner Frau
und seinen Töchtern spielt. Besonders von seiner jüngsten Tochter
ward viel gerühmt, sie habe ein Antlitz von makelloser Schönheit
und erinnere an Jeanne d‘Arc und die sechzehnjährige
Amazonenkönigin Penthesilea! Er wohnte im Herzogtum Rastede nahe am
Schloss, wo ich ihn manchmal besuchte und für seine schöne
dreizehnjährige Tochter schwärmte.
Sonst
sind mir nur noch unerträgliche Fratzen der Torheit begegnet, fromme
Narren, die ein unglaubliches Geschrei von der Torheit ihrer Sekten
machten. Unerträgliche Fanatiker und Barbaren, an denen alles
unausstehlich war, besonders ihre Freundschaftsbezeigungen. Solche
Narren, die den Weisen für einen Narren halten, sind widerliche
Feinde im Schafspelz eines Freundes und Bruders.
Adieu,
mein Bellarmin! Mein Brief wird dir lieb sein, er ist ganz
historische Wahrheit.
AN
BELLARMIN
Am
22. Mai
Die
Welt ein Traum! Das sagten schon Calderon und Schopenhauer. Wenn
Tschuang Tse träumt, er sei ein Schmetterling, ist er dann Tschuang
Tse, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder ist er ein
Schmetterling, der träumt, er sei Tschuang Tse? Frag das einmal
Knaben, mit denen lässt sich noch herrlich philosophieren! Aber was
sagen die praktischen, nützlichen Weltmenschen? Seht, da kommt der
Träumer! Das sind so rechte Brüder Josefs und Freunde Hiobs! Sie
jagen den ganzen Tag den Geschäften nach und machen sich viel Sorgen
um ein gutes Essen, ihr Sonntagsgottesdienst ist das Tortenessen, sie
verwöhnen ihren lüsternen Leib und halten die Gesundheit für das
Höchste Gut. Sie sparen und geizen, um in der Rente das Leben in
vollen Zügen genießen zu können und ahnen nicht, dass Gott zu
ihnen sagt: Du Narr! Heute Nacht wird dein Leben von dir gefordert!
Und dann siehst du, reicher Mann, wenn du im Feuer brennst, den armen
Lazarus schweben in Mariens Schoß, und das brennt dich, das
vergeblich zu betrachten! Wie scheint mir das Welttreiben so sinnlos!
Da möchte man am liebsten schweigen und sich in eine Waldeinsiedelei
zurückziehen, um Psalmen zu singen und Rosenkränze zu meditieren,
wo einem Raben des morgens und abends Fleisch bringen und die Engel
gebackenes Brot und kalte Milch! Da lebe ich dann in meinen Träumen,
und meine Träume scheinen mir mehr Substanz zu haben als das
Irrenhaus des Welttheaters! Da scheinen mir die sogenannten Lebenden
wie Zombies oder programmierte Roboter, aber die sogenannten Toten
wahrhaft lebendig, ganz Herz und Seele und Liebe und Geist!
Die
Erwachsenen meinen, die Kinder seien dumm. O glaube ihnen nicht. Was
haben denn die Erwachsenen den Kindern voraus als eine lange
Anhäufung von Schuld? Schau in eines kleinen Kindes Augen, und du
siehst den Himmel! Schau in eines erwachsenen Mannes Augen, und du
siehst Neid und Eifersucht und Groll und Bitterkeit und Feindschaft
und Hass und Begierde, die Früchte des Teufels! Und sind die
Erwachsenen denn vernünftiger? Sie wissen nicht, woher sie kommen
und wohin sie gehen und scheren sich einen Dreck um den Sinn des
Lebens, sondern wie die Knaben lassen sie sich regieren von
Süßigkeiten und Näschereien, die Frauen von Schokolade und die
Männer von Frauenleibern. Den lieben Gott lassen sie alle einen
guten Mann sein. Dagegen lobe ich mir die große Gottesliebe der
Kinder! Nein, die Kinder sind weiser als die großen Narren!