DIE NEUEN LEIDEN DES JUNGEN W.


VON TORSTEN SCHWANKE


FRAGMENT


ERSTER TEIL

Was ich von der Geschichte des jungen W. sagen konnte, das habe ich hier nun alles aufgeschrieben, ich lege es dem deutschen Volk vor und hoffe zu Gott, dass eines Tages das deutsche Volk – wenn es sich bekehrt hat – mir noch danken werde. Mann kann den Leiden des jungen W. sein Mitgefühl und Mitleid nicht entziehen, wenn man nicht gerade ein Herz wie ein Roboter hat. Und du, liebe Seele in kommenden Zeiten, die du meine Muse liebst und mich gerne zum Freund hättest, wähle diese kleine Schrift zu deiner Freundin in einsamen nächtlichen Stunden. Wer sich der Ewigen Weisheit weiht, der verliert der Reihe nach alle Freunde, und wer verlangt nach der union mystique à Marie, der muss bereit sein zur totalen Menscheneinsamkeit. Dem möge meine Muse Freundin, Schwester und Trösterin sein.

AN BELLARMIN

5. Mai 1998

Ich bin nun endlich weg aus dem saudummen Ostfriesland, lieber Bruder, wo nicht nur die Zunge, sondern auch der Geist platt ist! Ich bin nun angekommen im klassischen Oldenburg, dem Athen Norddeutschlands. Pallas Athene und Amor schauen von allen Giebeln. Lieber, ein wenig hängt mir noch nach die Geschichte mit der kleinen Marion aus der Herrlichkeit Dornum, die ich, denn ich bin namensabergläubisch, mit der Jungfrau Maria verwechselt hatte. O die Ärzte hatten recht, ich habe zu viel Phantasie! Und die Träume haben mir manchen Streich gespielt, ich hielt meine Träume für Orakel der Himmlischen, und während ich die arme Kunigunde im Arm liegen hatte, träumte ich von Madonna Marion-Maria, und mein Gewissen war gespalten, zwei Seelen wohnten ach in meiner Brust, die eine wollte die irdischen Liebe mit Kunigunde genießen und die andere die himmlische Liebe der Madonna Marion zu Füßen legen. Aber das liegt nun hinter mir, und ich wünschte, ich könnte das alte platte Leben von mir abstreifen wie ein altes Kleid und neugeboren ein ein neues, klassisches Kleid schlüpfen. Ja, mir scheint, ich habe sieben Leben. Ich war nicht nur chinesischer Dichter in der Tang-Dynastie, ich war auch griechischer Odendichter auf Lesbos zur Zeit von Sappho und Alkäus. Nun, ich kanns nicht lassen, zu schwärmen, zu träumen. Freund und Bruderherz, nur wie von Metempsychose zu Metempsychose der unsterbliche Gottesfunken in der Seele erhalten bleibt, so nehm ich deine Freundschaft und herzliche Bruderliebe mit in mein neues Leben. Ecce homo!

Lieber Bruder, der du mir näher stehst als ein leiblicher Bruder, sei so gut, meiner treuen Mutter zu sagen, sie solle sich keine Sorgen um mein finanzielles Fortkommen machen. Ich vertraue mich der siebenfach verschleierten Gottheit namens Vorsehung an. Was meine liebe Tante Petheda betrifft, so sag meiner Mutter, ich fand ihre Schwester nicht so unlieb, wie sie mir geschildert worden. Sie ist eine Tochter Hiobs, am ganzen Leibe leidend und die Seele voll von Witwen-Einsamkeit, dazu hat sich ihr einziger Sohn Joachim, ein Kommunist, von seiner Mutter losgesagt. Nun sitzt die einsame alte Witwe in ihrer Gebrechlichkeit und Krankheit, nahezu erblindet, in ihrer Einsamkeit mit gebrochenem Herzen da und wartet nur noch auf den Moment, der sie mit ihrem geliebten und vergötterten Ehemann Arno im Jenseits wieder vereinigt wird. Und sie bat mich, dafür zu sorgen, dass auf ihrem Grabe stehe der Spruch: Ich hab so wunderliche Schmerzen in meinem Herzen. Und dass auf ihrer Beerdigung gesungen werde: Ich bete an die Macht der Liebe!… Gott sei ihrer armen Seele gnädig! Was aber die Erbschaftsstreitigkeiten unter den Schwestern über das Erbe meiner vergötterten Großmutter betrifft, so wird sich meine Großmutter im Grabe umdrehen, wenn sie sieht, dass ihre Töchter das selige Angedenken ihrer all-liebenden Mutter entweihen durch den Zungenzank um den schnöden Mammon. Du Narr, sagt der Menschensohn, wer hat mich unter euch zum Erbschaftsverwalter eingesetzt? Niemand lebt davon, dass er viel besitzt. Du dachtest: Ich hab mir mit Fleiß und Sparsamkeit bis zum Geiz und glücklichen Spekulationen ein kleines Vermögen angehäuft, nun will ich die Rente genießen und Andalusien und Marokko und Kalifornien und Kuba und Lesbos besuchen und immer gut und lecker essen, so denkst du, gottloser Narr, aber heute Nacht wird der HERR deine Seele von dir fordern, und dann wehe dir, wenn du arm bist vor Gott!

Übrigens geht es mir gut in Oldenburg. Hier im Schlosspark oder in der Haaren-Niederung im Schutz der Universität oder im botanischen Garten spazieren zu gehen, wenn die Sonne einen liebevoll anlacht, ist ein offener Himmel auf Erden. So viele Gnaden strömen von der Frau in der Sonne zu mir herab, und jede Gnade ist ein junges wunderschönes Mädchen! Ob blond, ob schwarz, ob rot, ob braun, ich liebe alle schönen Fraun! Wenn ich dann sehe die Kohlweißlinge wie weiße Seidenschmetterlinge um die Krokuskelche gaukeln oder im lichtblauen Äther (Vater Äther! Heiter!) ihre Hochzeitstänze tanzen, dann denk ich, das auf griechisch Psyche sowohl Seele als auch Schmetterling heißt, und dass sterbende Kinder kein Kreuz malen, sondern Schmetterlinge, und dass wir alle Raupen sind, die eines Tages zu Schmetterlingen werden, doch ach, die Menschen um mich sind nur dumme Raupen, die an nichts als ihren Kohl denken und lachen über den Träumer, der sich für einen tanzenden Schmetterling hält! Ja, was Schmetterling, meine Seele, das wird nicht gebraucht, das ist nicht nützlich, und die lieben Weiber wollen lieber, dass du ein belastbarer Esel bist!

Die City ist mir unangenehm, zu viel Konsum und Materialismus. Aber die Natur! Da ist der schöne Schlosspark, den einst Graf Anton Günther, der Friedefürst von Oldenburg, für seine Braut Sophia angelegt hat. Hier liege ich unter der Blutbuche und die Venen meines Leibes fühlen sich blutsverwandt mit den Venen der Blutbuche. Meine Schwester, das Leben! Und überall in der Natur fühl ich quellen die heilige Grünkraft, wie sie aus Gott strömt, und in aller Grünkraft der heiligen Mutter Natur empfinde ich einen immanenten göttlichen Eros, der mich berauscht und nüchtern trunken macht! Und dann denk ich an den Friedefürsten, den Grafen von Oldenburg, und seine göttliche Sophia, und ich besuche ihr Grab in der Lambertikirche und danke dem Grafen, dass er Oldenburg weise vor dem dreißigjährigen Krieg bewahrt hat, dieser Erfindung des Teufels, um die Christenheit in Deutschland zu spalten und zu schwächen, und ich verfluche jeden Krieg, und gelobe der göttlichen Sophia meine treue Verehrung.


AN BELLARMIN

10 Mai 1998

Mein Freund, ich bin so ganz selig in diesem Wonnemond, dem Minnemond, dem Marienmond! Die Sonne scheint, die Sonne heilt, die Sonne ist der einzige gute Engel der Erde. Der Frühling ist Gottes Melodie, den Zebaoth auf seiner Harfe spielt, der Frühling ist der Glaube Gottes, der jedes Jahr wieder zur Welt kommt, die heiligen Juden sagen, Gott hat die Welt im Frühling geschaffen, im Frühling, da die Mutter Natur in ihrer heiligen Liturgie das Hohelied Salomos singt! Wenn ich so die goldene Sonne sehe schimmern durch das transparente grüne Chlorophyll der Blätter der Bäume, dann scheint mir die Luft eine geistige Person zu sein, dann scheint mir in den Blüten der Bäume die Königin der Feen zu leben, dann sehe, dann schaue ich die weibliche Weltseele! Ich liege dann auf der Wiese und beobachte die Hirschhornkäfer, die Maikäfer, die kleinen Marienkäfer. Weißt du, warum die Marienkäfer nach Unserer Lieben Frau benannt sind? Sie vertilgen die schädlichen Blattläuse wie die Madonna die Dämonen vertilgt. Und sie krabbeln über die Grashalme, ich reiche ihnen meinen Finger, sie spazieren über meine Hand, als ob ich ein Grashalm wäre. Leaves of grass! Gräslein, in Gottes Namen! Eine Novizin fragte mich, welche Blume ich gerne wäre, und sie sagte, sie wäre am liebsten ein demütiger Grashalm. Und wenn dann die Mücken im Sonnenuntergang tanzen, so tanzen sterbende Völker auf ihrem Vulkan – ach, vielleicht ist das deutsche Volk auch schon ein sterbendes Volk! Und wenn ich durch mein Wäldchen spaziere, und der goldene Strahl der Herrlichkeit der Sonne fällt durch das blaue Fenster des Himmels in diesen grünen Dom der Natur, da hör ich alle vegetativen und animalischen Seelen in ihrer göttlichen Liturgie anbeten den Schöpfer, und die Amseln und Tauben singen in ihren Chören die himmlischen Hymnen zum Lobe des Schöpfers, und der Mensch neigt demütig und barhäuptig sein Haupt vor der Herrlichkeit des Herrn! Da ist mein Herz so voll, so voll, so übervoll von himmlischer Glückseligkeit und göttlicher Liebe, dass meine Kunst versagt, die wahren Wonnen des Paradieses lassen sich doch in irdischen Worten nicht sagen, da verschwebt meine Seele im schweigender Anbetung! O das ist fast zu groß für unsere unsterbliche Seele im sterblichen Körper, und nur zu Zeiten erträgt der sterbliche Mensch die Fülle der himmlischen Wonnen!

Und dann weiß ich auch die Innenstadt zu schätzen. Nichts mehr sehe ich von Konsumtempeln, nein, plötzlich spaziere ich durchs himmlische Jerusalem! Die Straßen sind aus goldenem Glas, die Tore der Stadt aus Perlen, die Mauern aus weißem Jaspis! Und über die goldenen Gassen der himmlischen Stadt spazieren lauter Gnaden – oder soll ich Grazien sagen – nicht Thalia und Aglaja und Euphrosyne, wie die Mythendichter erfanden, sondern die heilige Ursula und ihre elftausend Jungfrauen! Plötzlich duftet auch Arabien auf vom Kiosk, und die Huris und Peris umschweben mich und laden mich ein zum Glase Wein, der keinen Kopfschmerz bereitet, und zum Hähnchenbraten. Das ist die von der göttlichen Architektin Sophia erfundene Gartenstadt! Und nicht Sonne und Mond erleuchten sie, sondern die weibliche Herrlichkeit des Herrn, die in der goldenen Wolke vor mir einherzieht! Da fühl ich mich wie Moses, der die Feuersäule und die Wolkensäule der Herrlichkeit sah. Da fühl ich mich wie Jakob, der die Himmelstreppe schaute und schöne Engel hinauf und hinab in langen weißen Seidenkleidern wallen, da werde ich zum alten Patriarchen der Genesis, um mich wimmeln Kinder und Kindeskinder, und Gott gibt seinen Segen!


AN BELLARMIN

13. Mai 1998

Mein Lieber, du fragst, ob du mir Bücher schicken sollst? Ich bitte dich, lass das sein! Ich habe tausende Bücher gelesen, um am Ende alle zu vergessen und nur eine kleine Handvoll bei mir aufzubewahren, Propheten der Muse. Und wenn du mich fragst, es sind die Griechen! So bin ich ganz in den wandernden Odysseus versunken. Ich habe mich aus den Armen der sinnlichen Kalypso losgerissen, bin vom Meer verschlagen an eine der Inseln der Seligen und warte, ob mir Pallas Athene ein göttliches Mädchen sendet. Überhaupt brauch ich keine Poeten, um mein Herz zur Poesie zu treiben. Mein eigenes Herz ist beredsam geworden durch all die göttliche Liebe, die mich inspiriert! Du weißt, mein Geist ist himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt! Wie oft hast du mich ertragen müssen, wenn der dämonische Geist der Schwere mich niedergedrückt! Und der wahre Gram geht nicht über in ein Lied. Und manchen Gesang, den ich dem Ewigen zu singen gesonnen war, den hat mir die Schwermut weggezehrt. Krankhafte Melancholie ist der Fluch, der mich durchs Leben treibt, und die ich wie eine geliebte Feindin zu lieben beginne. Aber dann kommt nach der Niederfahrt zur Hölle auch die Himmelfahrt! Und wer dies nicht hat, dies stirb und werde, ist nur ein armer Gast auf der trüben Erde. Ja, wem Gott die höchsten Wonnen der Glückseligkeit schenken will, dass er tanzt mit dem Heiligen Geist, den muss er immer wieder führen durch die dunkle Nacht der Seele. Aber heute bin ich wie ein kleiner kranker Knabe, und die allerzärtlichste Mutter gewährt mir alle Wünsche. Sag das nicht den Christen, sie möchten es mir übel nehmen und mich zu Askese und Demut ermahnen.


AN BELLARMIN

15. Mai 1998

Das Volk von Oldenburg schließt mir sein Herz auf. Wenn ich in der Innenstadt einen Bettler sehe, gehe ich zu ihm, gebe ihm die Hand, gebe ihm eine Mark, schaue ihm in die Augen und sage ein freundliches Wort zu ihm. Und der Bettler gibt mir seinen Segen. So mancher Bettler ist wohl die heimliche Inkarnation Jesu, der mir seinen Segen gibt. Und wie bin ich verliebt in all die jungen blonden Verkäuferinnen in den Supermärkten, ich schaue ihnen in die Augen, lobe ihre schön geflochtenen Zöpfe oder ihr Perlenarmband und bin ihr heimlicher Minnesänger, Hofpoet und Ritter, und sie schenken mir dafür ihr huldvollstes Lächeln. Und wenn ich die Arbeiter sehe in ihrem blauen Kittel, ergreift mich eine fast kommunistische Ehrfurcht vor diesen Helden des Alltags, und ich komme mir recht demütig als ein Taugenichts und Grillenfänger vor. Aber vor allem die Kinder der Armen sehen in mir ich weiß nicht was, den Rattenfänger von Hameln oder Don Quichote auf der Wallfahrt ins Morgenland, sie jubeln über mich, und besonders die Knaben, die leiden unter einem Tunichtgut von Erzeuger, wählen mich zum Vater, und so trag ich, wie eine Große Mutter ihre neunzehn Brüste, eine Schar von jauchzenden Knaben vor mich her. Wie ist mir dann zuwider der Intellektuellenhochmut, der die Armen verachtet, und selbst wenn er als Marxist die Proletarier beschwört, so bleibt er doch in seinem Kastenstolz, der Lehrer, der Advokat, diese Leute wollen den Arbeitern den Klassenhass beibringen, von oben herab, als Avantgarde, aber der Arbeiter will gar nichts wissen vom Klassenhass.

Neulich fand ich einen Knaben am Wegrand, der vom Fahrrad gefallen war, die Kette vom Rad war ab, der Knabe hatte sich am Bordstein das Knie wundgescheuert, er saß am Straßenrand und weinte. Ich beugte mich zu ihm und tröstete ihn, als wenn ich seine Großmutter wäre, reparierte sein Fahrrad, als wenn ich sein Vater wäre, gab ihm einen Segen, als wenn ich sein Pate wäre, und schickte ihn heim zu seiner Mutter, als wenn ich Jesus wäre, der den Knaben von Nain vom Tode auferweckte und ihn seiner Mutter wiedergab. Und all diese Kinder sind meine Kinder, und ich habe mehr Söhne und Töchter als die Eheleute, die in ihrem Egoismus-zu-zweit sich nur um die Früchte ihrer Lenden sorgen und um sonst niemand.


AN BELLARMIN

Den 17. Mai

Ich habe Bekannte gefunden. Keine Freunde, nein! Nur so Leute, die einem durch Zufall über den Weg laufen, und denen man sich aus Einsamkeit und Langeweile eine Zeit anschließt. Die Menschen kommen und gehen, das Leben bleibt bestehen. Wie finden mich doch die Menschen so sonderbar, so merkwürdig, halb scheine ich ihnen ein Weiser, und halb ein unbegreiflicher Narr! Ich weiß nicht, warum die Menschen mich so meiden? Besonders die Frauen scheinen hellsichtig zu sein und an meiner Stirn ein Zeichen zu lesen, dass ich nicht einer Frau allein je gehören darf, weil ich verliebt bin – ich weiß nicht in wen! Ich liebe wohl die Weltseele oder die göttliche Liebe selbst! Was sich aber so Mensch nennt, mit dem stolzen Namen homo sapiens, der wissende Mensch, ist doch nur der homo faber, der arbeitende Mensch. Sie rennen jeden Tag auf ihre Arbeitsstelle, um ja nicht zur Besinnung zu kommen und halten im übrigen die Arbeitssucht für die beste Medizin gegen den Kummer der unerwiderten Liebe. Und wenn sie dann den Mammon erworben haben, tun sie alles, um die freie Zeit totzuschlagen, mit Kartenspiel oder dem Götzenbild des Antichristen auf dem Hausaltar, ich meine die Television, das Propagandainstrument des Atheismus und der Kulturbarbarei. Und wenn einer einmal ein sinnvolles Gespräch beginnen will über Philosophie oder Kunst, dann gähnen sie und holen das Kartenspiel hervor.

Aber manchmal findet man bei diesen kindischen Menschen doch noch eine gütige Hausfrau. Und dann mag ich mich ab und an an ihren Tisch setzen und die Künste der kochenden Hausfrau bewundern, wohl eine Seezunge mit Spargel und Kartoffeln essen, auch einen Spaziergang machen mit Mann und Frau und mit der Frau über die Zukunft der Töchter reden. Nur darf ich dann nicht daran denken, dass viele Geheimnisse der Nacht auf mich warten und viele Visionen und Offenbarungen, für die den Weltkindern der sechste Sinn mangelt, denn dann sehne ich mich zurück in meine innere Einsiedlerzelle, um zu reden mit Heiligen und Engeln und Toten. Ich hatte in meiner Jugend einmal ein leeres Buch, in das ich meine ersten Liebesgedichte schrieb, das trug den Titel: Notizen eines verkannten Genies. Ja, nun denn, das ist wohl mein Schicksal zu Lebzeiten, das war providentiell.

Ach dass ich die erste Liebe meiner Jugend verloren habe! Ach, dass ich sie nie kennen gelernt hätte! Sie schien mir der Sinn meines Lebens, und als sie mich verlassen, hatte mein Leben seinen Sinn verloren!… Andere kennen die Madonna nur den Texten und Bildern nach, aber ich hab sie gesehen, sie stand leibhaftig vor mir auf >Erden und legte ihre Hände segnend auf mein Haupt und erzählte mir von ihren Visionen! Wie waren wir weise, wenn wir die Dummheit von Karl Marx auslachten! Wie waren wir eins, wenn wir Lao Tse verstanden! Wie vertraut war mir mit ihr der Sternenhimmel, wie verstand ich die Sprache der Pferde, konnte ich deuten den Flug der Schwalben und die Schrift der Wolken! Sie war wohl die inkarnierte Weltseele? Aber als sie mich verließ, begann in meiner Jugend schon der Winter meines Lebens, der klang wie ein Klagelied von Franz Schubert! Sie aber ging nach Italien, nein, wie sie bezeugte, nicht nach Italien, sondern – ins Paradies!

Ich lernte eine Studentin namens Regina kenen, sie studierte Altphilologie, las Homer und Platon im Original, las Vergil und Augustinus auf Latein, bezeugte aber von sich selbst, dass sie verblendet sei von Ate… Dazu war sie hässlich wie eine thessalische Hexe. Aber sie erzählte mir von Phidias und Praxiteles, von der Venus von Milo und der knidischen Aphrodite, von Tizians Venus von Urbino, von Botticellis Geburt der Venus, von Raffaels Galathea und den drei Grazien Aglaja, Euphrosyne und Thalia. Das bildete mein Schönheitsideal. Die Närrin ließ ich aber gehen in ihre Veganer-Religion.

Noch einen Gentleman lernte ich kennen, einen Computer-Fachmann, a very sophisticated gentleman. Man muss ihn sehen, wenn er mit seiner Frau und seinen Töchtern spielt. Besonders von seiner jüngsten Tochter ward viel gerühmt, sie habe ein Antlitz von makelloser Schönheit und erinnere an Jeanne d‘Arc und die sechzehnjährige Amazonenkönigin Penthesilea! Er wohnte im Herzogtum Rastede nahe am Schloss, wo ich ihn manchmal besuchte und für seine schöne dreizehnjährige Tochter schwärmte.

Sonst sind mir nur noch unerträgliche Fratzen der Torheit begegnet, fromme Narren, die ein unglaubliches Geschrei von der Torheit ihrer Sekten machten. Unerträgliche Fanatiker und Barbaren, an denen alles unausstehlich war, besonders ihre Freundschaftsbezeigungen. Solche Narren, die den Weisen für einen Narren halten, sind widerliche Feinde im Schafspelz eines Freundes und Bruders.

Adieu, mein Bellarmin! Mein Brief wird dir lieb sein, er ist ganz historische Wahrheit.


AN BELLARMIN

Am 22. Mai

Die Welt ein Traum! Das sagten schon Calderon und Schopenhauer. Wenn Tschuang Tse träumt, er sei ein Schmetterling, ist er dann Tschuang Tse, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder ist er ein Schmetterling, der träumt, er sei Tschuang Tse? Frag das einmal Knaben, mit denen lässt sich noch herrlich philosophieren! Aber was sagen die praktischen, nützlichen Weltmenschen? Seht, da kommt der Träumer! Das sind so rechte Brüder Josefs und Freunde Hiobs! Sie jagen den ganzen Tag den Geschäften nach und machen sich viel Sorgen um ein gutes Essen, ihr Sonntagsgottesdienst ist das Tortenessen, sie verwöhnen ihren lüsternen Leib und halten die Gesundheit für das Höchste Gut. Sie sparen und geizen, um in der Rente das Leben in vollen Zügen genießen zu können und ahnen nicht, dass Gott zu ihnen sagt: Du Narr! Heute Nacht wird dein Leben von dir gefordert! Und dann siehst du, reicher Mann, wenn du im Feuer brennst, den armen Lazarus schweben in Mariens Schoß, und das brennt dich, das vergeblich zu betrachten! Wie scheint mir das Welttreiben so sinnlos! Da möchte man am liebsten schweigen und sich in eine Waldeinsiedelei zurückziehen, um Psalmen zu singen und Rosenkränze zu meditieren, wo einem Raben des morgens und abends Fleisch bringen und die Engel gebackenes Brot und kalte Milch! Da lebe ich dann in meinen Träumen, und meine Träume scheinen mir mehr Substanz zu haben als das Irrenhaus des Welttheaters! Da scheinen mir die sogenannten Lebenden wie Zombies oder programmierte Roboter, aber die sogenannten Toten wahrhaft lebendig, ganz Herz und Seele und Liebe und Geist!

Die Erwachsenen meinen, die Kinder seien dumm. O glaube ihnen nicht. Was haben denn die Erwachsenen den Kindern voraus als eine lange Anhäufung von Schuld? Schau in eines kleinen Kindes Augen, und du siehst den Himmel! Schau in eines erwachsenen Mannes Augen, und du siehst Neid und Eifersucht und Groll und Bitterkeit und Feindschaft und Hass und Begierde, die Früchte des Teufels! Und sind die Erwachsenen denn vernünftiger? Sie wissen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen und scheren sich einen Dreck um den Sinn des Lebens, sondern wie die Knaben lassen sie sich regieren von Süßigkeiten und Näschereien, die Frauen von Schokolade und die Männer von Frauenleibern. Den lieben Gott lassen sie alle einen guten Mann sein. Dagegen lobe ich mir die große Gottesliebe der Kinder! Nein, die Kinder sind weiser als die großen Narren!