MEIN ELTERNHAUS


von Josef Maria von der Ewigen Weisheit



Ich war vielleicht vier Jahre, jedenfalls konnte ich schon Fahrrad fahren, mein erstes kleines Kinderfahrrad. Ich trug eine kurze bayrische Lederhose. Mein Haar war hellblond und kurz geschnitten. Ich fuhr, so schnell es ging, vom Blaufärberweg auf die Auto-Auffahrt, den schmalen Weg zwischen der Garage und Nachbars Bohnenbeeten vorbei, um die Ecke, über den Rasen und - fuhr direkt in den Graben, der unseren Garten von Lenz' Park trennte. Das ist eine meiner frühsten Erinnerungen.

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Stefan war zwei Jahre älter als ich, aber von Ende August bist Anfang November war er drei Jahre älter. Kindliche Mathematik. Zwischen unserm Garten und Lenz' Park, vor Omas Küchenfenster stand ein Haselnussbaum, in den Stefan kletterte, aber herunterfiel und mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus musste. Ich bin auch einmal in einen Baum geklettert und auch heruntergefallen und zwar direkt in die Brennesseln, mit nackten Armen und Beinen. Nur die Nachbarin Frau Reimer hörte mein Wehgeschrei, kam und verarztete mich in ihrer Küche mit "Onkel Reimers gutem Schnaps".

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In Lenz' Park, vor meinem Zimmerfenster, stand ein schöner alter Kastanienbaum. Stefan und ich hatten ein blaues Schiffstau hineingehängt, so konnten wir gut in den Baum klettern. Auf dem Kastanienbaum sammelten sich die Tauben und gurrten. Hinter Lenz' Park stand die kleine Katholische Kapelle Sankt Wiho, und man sah den schiefen Kirchturm der evangelischen Kirche Sankt Ansgari, Stefans und meiner Taufkirche. So war das das Bild meiner Kindheitsheimat: Kastanienbaum, Taubengegurr und Glockenläuten. Als Papa und Mama mir später in Oldenburg eine Wohnung kaufen wollten, sah ich in einer Wohnung vorm Balkon einen Kastanienbaum, hörte von dort Taubengurren und in der Nähe Kirchenglocken (der Katholischen Kapelle Sankt Christopherus und der evangelischen Kirche Martin Luther). Da wusste ich, hier kann ich Heimat finden.

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Am Ende unseres Gartens hatte Papa einen kleinen Obstgarten angelegt, da wuchs Rhabarber, Stachelbeeren, schwarze und rote Johannesbeeren. Von dem Rhabarber machte meine Mutter leckeren Pudding, mit warmer Vanillesauce serviert. Von den Stachelbeeren machte sie einen leckeren Kuchen, die sauren Stachelbeeren versüßte sie mit Baiser, weißem Zuckerschaum. Aus den Johannesbeeren machte sie Gelee. Wir gingen auch mit den Eltern in den Wald und sammelten wilde Brombeeren und Himbeeren. Mama machte Marmelade darauf. Oder wir gingen auf die Erdbeerplantagen und sammelten Erbeeren für Marmelade und Torte. Wenn Mama Erdbeermarmelade machte, freute ich mich immer über den Erdbeerschaum. Wenn Oma (die nebenan wohnte) Geburtstag hatte, am 2. Juni, durfte ich mir immer einen Kuchen wünschen, dann wünschte ich mir selbstgemachte Erdbeertorte mit Schlagsahne.

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In Lenz' Park, den wir pflegten und nutzen durften, stand ein alter knorriger Apfelbaum. Die Apfelsorte hieß Boskop, die waren groß und recht sauer. Aber ich liebte sie. Als ich das Lesen für mich entdeckt hatte, aß ich beim Lesen immer Boskop-Äpfel. Aber den "Griepsch", das Gehäuse, ließ ich im Zimmer liegen, worüber meine Mutter mit mir schimpfen musste. Neben dem Boskop-Baum standen da auch noch ein Birnbaum, ein Pflaumenbaum, ein Baum mit süßen Kirschen, da war ein Brombeerstrauch, weiter stand da eine fast dreihundertjährige Blutbuche, und zur Osterzeit war der Park bedeckt mit weißen, gelben und violetten Krokusblumen. Von daher kann ich sagen, dass der Krokus eigentlich meine Lieblingsblume ist, den ich später in Oldenburg im Garten meiner Freundin Evi beobachtete, wenn ich unterm Kastanienbaum auf der Wiese lag, dem Taubengurren lauschte, den Schmetterlingen zuschaute und den Hummeln, wie sie die Krokusblüten heimsuchten, das ist die Erotik der Natur.

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Aber nicht nur süßes Obst liebte ich, sondern auch das künstliche Brausepulver mit Waldmeistergeschmack. Ich feuchtete den Zeigefinger mit Speichel an, steckte ihn in die kleine Papiertüte, das Brausepulber schäumte auf und blieb am Finger haften, den ich dann ableckte. Dazu las ich einen epischen Roman von Michael Ende, indem auch chinesische Mandarinen und die Prinzessin Ping-Pong vorkamen. Auch kaufte ich mir manchmal eine Tüte mit Weingummi am Kiosk. Besonders liebte ich auch die Dänischen Lakritze, die Mama und Papa von Butterfahrten mitbrachte. Mama hatte in der Küche in einem Schrank sehr hoch oben ein großes Glas mit Bonbons, eigentlich unerreichbar und uns nur spärlich zugeteilt. Aber manchmal, wenn ich allein war, kletterte ich auf die Spüle und klaute mir einen Bonbon. Auch hatte Mama in Papas spärlich frequentierter Bar ein Packung mit Schokolade-Minze-Täfelchen, daraus ich mir manchmal den Inhalt raubte, die Packung leer zurückließ, "damit es keiner merkt". Wenn ich mir einmal Kartoffelchips kaufte, sagte mein Vater: So etwas essen nur primitive Leute. - Ich wollte zwar nie zu den primitiven Leuten gehören und war mir auch immer bewusst, nicht einer von denen zu sein, aber heimlich aß ich doch Kartoffelchips. Oma hatte in ihrem Wohnzimmerschrank eine Schale mit Bonbons, und wenn ich zu ihr kam, durfte ich mir öfter einen kleinen Bonbon nehmen.

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Die hochberühmte Nachtigall habe ich nie gehört. In unserm Garten waren vor allem die Amseln unsere täglichen Gäste, das Weibchen in braungrauer Tarnfarbe zum Schutz der Brut, das Männchen im samtschwarzen Frack und goldgelbem Schnabel. Die Amseln nahmen Schneckenhäuschen in den Stabel und zertrümmerte sie auf einem Pflasterstein, um an das leckere Innere, das weiche Fleisch der Schnecke zu kommen. Auch Meisen waren in Lenz' Park, ich glaube Blaumeisen, die schön sind wie schwebende blaue Blumen. Von meinen geliebten Tauben hab ich schon gesprochen. Ich kannte natürlich das Märchen von Aschenputtel mit seinem Ruckediguh. Später, wenn ich eine Taube vom Himmel schweben sah, dachte ich spontan, der Heilige Geist kommt auf mich herab. Aber auch Schwalben bauten ihr Nest an unserer Garage. Wenn ich später in einem alten chinesischen Gedicht übersetzte: Und wie ein Schwalbenpaar bauen wir unser Nest an des Edlen Haus, dann musste ich an die Schwalben meines Elternhauses denken.

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Vor Omas Hintertür, die zur Küche führte, waren unter den Steinplatten immer viele Ameisen. Da Oma nicht wollte, dass die in ihre Küche kamen, übergoss sie den ganzen Palast der Königin mit heißem Wasser. Ich verteidigte das Recht der Ameisen auf Leben. Auch waren in dem kleinen Beet vor unserer Terrasse immer viele Nacktschnecken, die die Nutzpflanzen zerfraßen, und gegen sie wurde gekämpft, indem man Salz auf ihre nacktes Fleisch streute. Ich selbst aber war auch grausam: Im Winter sperrte ich einen Frosch in einen Topf mit Wasser ein und ließ ihn im Eis einfrieren. Da waren auf den Steinen unserer Terrasse kleine winzige Tierchen, wie hellrote Punkte, die, wenn ich sie mit dem Finger zerdrückte, dennoch weiter leben. Auch staunte ich sehr über den Regenwurm, der, wenn ich ihn in der Mitte mit dem Messer durchschnitt, als zwei kleine Regenwürmer weiter lebte.

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Da wir nah an der Nordseeküste wohnten, bekamen wir vom Hafen in Norddeich immer guten Fisch. Mama briet auf der Terrasse den Fisch, damit nicht das ganze Haus danach roch. Besonders liebte ich die panierten Seezungen, aber auch die gebratenen Schollen und den Brathering. Aber Kult war es, wenn Mama einen Beute Krabben mitbrachte. In Ostfriesland gibt es ja Wettbewerbe, wer am schnellsten Krabben puhlen konnte. Mama und ich puhlten die Krabben, und es gab diese dann auf einem kräftigen Schwarzbrot mit Butter, manchmal noch mit einem Spiegelei. Auch kam immer Freitags der Fischwagen an den Blaufärberweg, wohl noch aus Erinnerung an alte christliche Zeiten: Freitags ist Fisch-Tag, da fasten wir und enthalten uns des Fleischgenusses, weil der Herr Jesus am Freitag für uns gekreuzigt worden ist.

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In der Adventszeit backte Mama leckere Kekse, besonders gut waren die Vanillekipferln und die Haferflockenplätzchen. Mama sagte dann: Abendrot, Abendrot, die Englein backen Brot. Zum heiligen Nikolaus stellten wir am Vorabend einen Teller mit Schwarzbrot vor die Haustür, für das Pferd des heiligen Nikolaus. Der gute Bischof ließ uns dafür ein Stiefelchen voll Schokolade da. Abend am heiligen Nikolaustag ritt dann der heilige Bischof auf seinem Pferd durch Hage, warf Bonbons unter die Kinder. Hinter ihm ritt sein schwarzer Knecht Ruprecht mit der Rute für ungezogene Kinder. In der Adventszeit sang Mama mit uns Weihnachtslieder, manchmal spielte ich flöte dazu. Mama konnte sehr schön singen. Stille Nacht, heilige Nacht, einsam wacht nur das hochheilige Paar, Knabe im blonden lockigen Haar, Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem, ihr Kinderlein, kommet, o Tannenbaum, süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit, ich steh an deiner Krippe hier, Maria und Josef, die lagen im Stroh... Mama und Papa schlossen das Wohnzimmer ab, drinnen wurden die Geschenke unter den Weihnachtsbaum gelegt, der war erleuchtet von echten Kerzen, nicht etwa von elektrischem Licht, es hieß, Kinder, der Weihnachtsmann ist gerade da. Wir gingen dann erst zu Oma rüber, da war zuerst Bescherung. Meistens bekam ich von Oma einen Schlafanzug, einen Taler und Schokolade. Oma hatte Heringssalat gemacht, das war mit Kartoffeln unser Festessen. Dan gingen wir wieder in unser Haus zur Bescherung. Das schönste Weihnachtsgeschenk war ein Fort mit Yankees, Cowboys und Indianern. Einmal bekam ich einen technischen Baukasten geschenkt, darin war ich aber nicht sehr geschickt. Mitternachts gingen Oma und Mama mit Stefan und mir in die Ansgarikirche zum Wehnachtsgottesdienst. Mama sang: Es ist ein Ros entsprungen, und ich verstand: Es ist ein Ross entsprungen. Da war die Krippe, der Stall von Bethlehem, die schöne Maria mit ihrem Josef, die heiligen drei Könige, die Hirten, das Jesusbaby. Oma hat auch in der Vorweihnachtszeit gebacken, vor allem Christstollen. Wenn sie dann zu Neujahr Neujahrskekse backte, gab sie mir den gebackenen Teig und ich rollte sie an einer hölzernen Wäscheklammer zum Röllchen.

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Sylvester Abend ging Papa mit Stefan und mir hinters Haus und entzündete Feuerwerk, aber keine Raketen, sondern Sonnenräder, die waren wir kreisende, tanzende, Funken sprühende Sonnen. Dann kamen wir Brüder zu Oma und schliefen bei Oma. Mama und Papa gingen dann feiern zu Freunden. Vor Mitternacht weckte uns Oma, wir bekamen Limonade und Salzstangen und guckten uns Sylvesterfeiern im Fernseher an. Um Mitternacht traten Oma, Stefan und ich auf dem Blaufärberweg uns das Feuerwerk über Hage an. In den kommenden Tagen knallte ich noch mit den sogenannten Laubfröschen, die ich in Spielzeugautos steckte und so die Autos in die Luft jagte.

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Sitz nicht so nah vorm Fernseher, sonst kriegst du viereckige Augen! mahnte Mama. Ich erinnere mich an die Winnetou-Filme. Old Shatterhand hätte ich gerne zum Vater gehabt. Mit meinem Freund Andreas Budde spielte ich Cowboy und Indianer, er war schwarzhaarig, also war er Winnetou, ich war blond, ich war Old Shatterhand, und Karin Kunze war schwarzhaarig und war Nscho-Tschi, die Squaw, die ich versuchte zu küssen. Aber ich erinnere mich auch noch an viele Filme mit Marilyn Monroe, die ich nicht als ein Lustobjekt betrachtete, ich war ja noch ein Kind, nein, sie war so etwas wie eine Mutter für mich. Ja, ich war das Kind von Old Shatterhand und Marilyn Monroe! Auch erinnere ich mich an die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste, eine Art Marionettentheater für Kinder. Und ich liebte die Sendung mit dem Bücherwurm, das war ein Wurm, der die besten neuen Kinderbücher vorstellte. Aber vor allem kam Musik aus dem Fernseher. Mama liebte ja die Musik. Ich bin mit der Schlagermusik der siebziger Jahre groß geworden. Wir sahen den europäischen Schlagerwettbewerb, hörten allwöchentlich die Schlagerhitparade. Vielleicht hab ich so reimen gelernt und nicht etwa von Rainer Maria Rilke. Aber den stärksten Eindruck hinterließ die schwedische Disco-Gruppe Abba, deren Musik harmonisch und fröhlich war, und die junge blonde Sängerin Agneta war keine Frau, sondern eine schwedische Göttin.

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Meine Eltern hatten sich von Freunden ein Lamm geliehen, das weidete von Frühling bis Herbst in Lenz' Park, bis es zurückgegeben wurde. Es waren mehrer Lämmer mehrere Jahre bei uns. Über ein Schaf schrieb ich ein Gedicht: Fressen, Pissen, Schlafen, so geht sein Leben hin. Einmal hatten wir ein schwarzes Lamm, das nannten wir Petra, das starb aber an einem Bandwurm. Die Schafe standen angepflockt im hohen Gras des Parkes und ersparten die Sense, der Pflock wurde immer wieder versetzt. Aber einmal, als meine Eltern im Urlaub waren und ich bei Oma wohnte, hatte der Regen den Boden aufgeweicht, das Schaf hatte den Pflock herausgezogen und war fortgelaufen. Ich eilte hinterher, es wieder zu bringen. Nachbarn hatten es gefunden und mir wieder übergeben. Ich kam deswegen zu spät zur Schule und sagte dem Lehrer entschuldigend: Ich musste erst unser Schaf einfangen. Und die ganze Klasse lachte.

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Ostern feierten wir eigentlich nicht christlich, sondern heidnisch. Mama legte Eier in Salzwasser ein, die Soleier wurden dann mit Essig, Öl, Salz und Pfeffer gefüllt gegessen. Mama färbte auch Ostereier, aber nicht mit künstlicher bunter Farbe, sondern mit Zwiebelschalen, was ein schönes Braun ergab. Mit Papa gingen Stefan und ich in den Garten und spielten Boccia mit bunten Ostereiern. Bei Oma gab es bunte Eier, Schokolade und einen Taler in einem grünen Osterhasennest. Zu Ostern kamen aber damals noch christliche Spielfilme im Fernsehen. Ich erinnere mich an einen Jesusfilm, und zwar einzig und allein an die Szene, da Petrus den Jesus dreimal verleugnet hatte, wie Jesus ihn da anschaute, und Petrus bitterlich weinte. Diesen Blick Jesu habe ich tief in der Seele empfunden. Auch sah ich den Film Quo Vadis über die römische Christenverfolgung unter Kaiser Nero. Daher kommt wohl meine große Liebe zu Petrus, der mir persönlich der liebste unter den Aposteln ist. Wenn wir auf einem Spaziergang Angler an einem Wasser sahen, sagte Mama: Petri Heil!

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Sonntags gingen wir zwar nicht in die Kirche, aber es war uns doch ein besonders feierlicher Tag. Am Sonnabend hörten wir abends im Fernseher die kurze Predigt, das Wort zum Sonntag. Meine Indianerfreunde im Wald sagten zu mir: Predige uns nicht schon wieder das Wort zum Sonntag! Am Sonntagmorgen frühstückten wir nicht wie sonst in der Küche, sondern im Wohnzimmer. Es gab statt der gewöhnlichen Margarine gute Butter. Mama machte im Radio klassische Musik an, manchmal gab es im Radio noch eine Sonntagsandacht. Oma zog am Sonntag immer ein besonders schönes Kleid an und trank den Tee aus einem besonders festlichen Geschirr.

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In der Schule hatten wir Religionsunterricht, ich bekam dazu eine bebilderte Kinderbibel. Ich erinnere mich an einen Nachmittag in der blauen Dämmerung, da las ich allein zuhause in meinem Zimmer ain der Kinderbibel. Ich las vom Knaben Samuel, der im Tempel Gottes lebte mit dem alten Priester Eli. Nachts hörte er eine Stimme ihn rufen: Samuel, Samuel! Der Knabe dachte, der alte Priester habe ihn gerufen und ging zu ihm, der aber schickte ihn wieder ins Bett. Da hörte er wieder die Stimme seinen Namen rufen. Er ging wieder zu dem Priester, und der erkannte, dass Gott den Knaben anruft und sagte: Nächstes Mal, wenn du gerufen wirst, sage: Rede, Herr, dein Knecht ruft. So tat der Knabe, als er zum dritten Mal beim Namen gerufen wurde: Rede, Herr, dein Knecht hört. - Als ich das las, sah ich die Szene lebendig vor mir, wie der Knabe Samuel von Gott zum Propheten berufen hatte. Meine erste Berufung war ja meine Taufe am 16. Januar 1966, aber diese Szene war meine zweite Berufung.

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Eines Tages hatte ich ein neues Buch: Germanische Götter und Heldensagen. Da war von Thor die Rede, dem Donnergott. Ich bin ja nach ihm benannt. Torsten heißt: der Steinhammer des Donnergottes! Da war ein prosaische Nacherzählung des Nibelungenliedes. Ich liebte die ersten siebzehn Abenteuer bis zum Tode Siegfrieds. Kriemhilds Rache und König Etzel, den Hunnen, das war mir zu grausam. Da gab es aber auch das schöne Gudrunlied, die christliche Schwester des Nibelungenliedes, das spielte in Dänemark und Friesland und Sturmland - meiner Heimat. Und wenn von Kriemhilde oder Gudrun die Rede war: Und das holde Mägdelein mit seinen langen Zöpfen schaute aus der Kemenate auf den Recken - dann dachte ich an meine blonde Nachbarin Gudrun. Dazu kamen unsere häufigen Sommerferien in Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland, bis zum Nordkap. Und so habe ich in meiner Kindheit die germanische Seele tief in mich aufgenommen. Ich war nicht ein Ostfriese aus dem Landkreis Norden, ich war ein Germane, einer vom stolzen alten Volk der Friesen! Eala freya fresena - es lebe das freie Friesland!

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Papa hatte mir verboten, Comics zu lesen. So musste ich mir meine Indianercomics heimlich kaufen. Ich legte sie in eine Schatzkiste und vergrub sie in Lenz' Park, wo ich sie heimlich im Baumschatten las. Mein Onkel Arno las Groschenhefte vom Bahnhof, Cowboygeschichten zweispaltig auf schlechtem Zeitungspapier. Er schenkte mir einige Hefte. Papa verbot mir, so etwas zu lesen. Wütend warf ich meine guten Kinderbücher aus dem Regal und rief: Dann will ich das aber auch nicht mehr lesen. Nachträglich bin ich Papa dankbar dafür. Er hat zwar selbst keine Bücher gelesen, nur sozialdemokratische illustrierte Zeitschriften wie Ster und Spiegel, aber er hatte Acht darauf, dass ich keinen Schund lese. Oma las auch Groschenhefte, Arztromane. Sie hatte in der Küche einen Kalender, auf dem jeden Tag ein neuer Weisheitsspruch stand, den lasen wir immer zusammen. Einmal fragte ich Oma, ob sie in der Schule auch Goethe gelesen. Da lachte sie und sagte: Goethe? Ach mein lieber Junge!

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Mein erstes Kartenspiel, dass ich öfter mit Stefan und Mama spielte, war das einfache Mau-Mau. Dann brachten Papa und Mama uns Rommée und Canasta bei, das spielten wir zu viert. Wenn ich allein war und mir die Zeit vertreiben wollte, legte ich mit Karten Patiencen. Papa war sehr gut im Skat. Ich hab es nie begriffen. Papa traf sich regelmäßig mit Freunden zum Skatspielen, sie saßen dann zu viert im Wohnzimmer, die Ehefrauen spielten mit Mama in der Küche ein anderes Kartenspiel. Papa gewann auch oft bei Skatwetbbewerben große Schinken. Auch spielten Stefan und ich mit Karten, da man Autos oder Schiffe oder Flugzeuge mit ihren Stärken gegeneinander antreten lässt.

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Als Stefan noch klein war, da konnte er das nuckeln nicht lassen. Er nuckelte am Daumen, er nuckelte am Zipfel der Bettdecke. Mama strich Daumen und Zipfel mit einer bitteren Flüssigkeit ein, und Stefan verlor die Lust am Nuckeln.

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Papa hatte mir in seinem Werkzeugkeller ein Gewehr aus Holz gebastelt, damit ich mit meinen Freunden im Wald Indianer spielen konnte. Einmal hat er mir auch Pfeil und Bogen gemacht, damit ich Robin Hood spielen könne. Mein Holzgewehr hat mir der Nachbarsjunge Uwe geklaut, er leugnete es zwar, aber ich sah es bei ihm. Als ich mir aber im Geschäft kleine Soldatenfiguren und kleine Panzer gekauft hatte, hat Papa mir verboten, damit zu spielen. Als ich ihm sagte: Ich bin schon seit drei Tagen im Krieg mit meinen Freunden, da sagte Papa, der zweite Weltkrieg habe sechs Jahre gedauert, da war ich doch sehr erschrocken. Später, als ich mit meiner Freundin Karine ihre Kinder erzog, hatte mein lieber Juri von seinem Zeuger auch Soldaten und Panzer geschenkt bekommen. Karine und ich sahen uns nur an und warfen gemeinsam das Kriegsspielzeug in den Mülleimer.

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Die erste Poesie, die ich kennen lernte, war die Bibel und die Kirchenlieder. Dann kamen in kindlicher Form Edda, Nibelungenlied und Gudrunlied. Dann aber hörte ich in der Vertonung einer deutschen Musikgruppe die ersten Gedichte meines Lebens, von dem deutschen Romantiker Novalis: Wenn die so singen oder küssen / mehr als die Tiefgelehrten wissen. Und: Wer Schmetterlinge lachen hört, / der weiß wie Wolken schmecken. Und eine andere deutsche Musikgruppe zitierte das Gedicht an die Göttin der Morgenröte vom französischen Genie Arthur Rimbaud.

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Die erste Geschichte, die ich schrieb, war eine Festsschrift zum Geburtstag meiner Oma, ein Fest beschreibend, da die Gäste in den Bäumen saßen und Trompeten bliesen und der Pastor kam mit der Bibel. Mit dreizehn Jahren saß ich in meinem Zimmer zur Stunde der blauen Abenddämmerung und schaute auf die Schwarzerle vorm Fenster und auf den Himmel und schrieb meine ersten Verse in ein Schulheft, zeigte es meinen Eltern, die aber nichts dazu sagten. Dann schrieb ich für meinen Vater zum Geburtstag eine Kriminalgeschichte, die von einem kriminalisierenden Pastor handelte und einer mörderischen Giftspinne. Mit meinem Freund Christian machte ich eine kleine Zeitung in einer Auflage von sieben Exemplaren, da ich ein Gedicht veröffentlichte und einen Text über ägyptische Hieroglyphen. Dann kaufte ich mir ein Blankobuch, auf dem Umschlag stand: Notizen eines verkannten Genies, und in dieses leere Buch schrieb ich meine ersten Gedichte, hauptsächlich Liebeslyrik in freien Versen für meine Pubertäts-Geliebte Hedda.

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Papas Bruder Onkel Hartmut hatte vier Töchter, einmal kam meine Cousine Petra zu Besuch, es war Sommer, wir spielten halbnackt im Garten, und Papa spritzte uns mit Wasser aus dem Wasserschlauch ab. Dann war ich mit Petra allein in meinem Zimmer. Wir spielten Wachküssen: Ich legte mich aufs Bett und tat, als ob ich schliefe, Petra kam und küsste mich wach. Das wiederholten wir so oft, bis wir uns genug geküsst hatten. Das war mein erster Kuss.

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Ich lernte in der Musikschule zwei Jahre lang Notenlesen und Flötespielen. Mama sang Weihnachtslieder und ich begleitete sie auf der Flöte. Zu Weihnachten bekam ich einmal eine chromatische Mundharmonika und ich übte O Tannebaum darauf. Dann bekam ich das alte Bahnhofsklavier von Omas Schwester. Ich hatte Herrn Krämer als Musiklehrer, der selbst Saxophon in einer Jazzband spielte. Erst musste ich Fingerübungen machen. Aber eines Tages konnte ich aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach spielen. Herr Krämer kam zu uns nach Hause, und auch Mama erfüllte sich ihren Kindheitswunsch, Klavier zu spielen. Später wollte ich dann keine Klassik mehr spielen, ich spielte stattdessen Blues und Boogie Woogie. Dann aber hörte das auf mit dem Klavierspiel. Ich bekam von Mama ihre akustische Gitarre geschenkt, mit der sie früher in der Baltrumer Gitarrengruppe gespielt hatte. Vorher bastelte Papa mir noch im Werkzeugkeller eine Gitarre ohne Saiten. Und wenn im Radio Eric Clapton von Layla sang, tat ich so, als ob ich die Gitarre spielte. Ich lernte die Blues-Tonleiter spielen. Einmal spielte ich Gitarre, da kam Mama rein und sagte: Na, lässt du sie wieder weinen? Papa kaufte mir dann eine elektrische Gitarre. Im Radio gab es eine Sendung, da wurde mit Bass und Schlagzeug der Blues-Rhythmus gespielt, und ich spielte auf der E-Gitarre mein Solo dazu. Mit einer Schulfreundin machte ich Musik, sie spielte Akkordeon und ich die E-Gitarre, wir spielten Lieder von den Beatles und Bob Dylan. Ich habe auch noch Blues-Mundharmonika gelernt, und noch lange mit Freunden musiziert. Aber eines Tages hörte alles Musizieren auf und ich liebte die Musik nur noch als Zuhörer. Als ich aber einmal meinem Onkel Arno, der in einem Männerchor sang, ein Lied zu Martini vorsang, sagte er: Du kannst nicht singen. Und er hat recht, ich bin nicht im geringsten in der Lage, mit meiner Stimme irgendeinen Ton zu treffen. Doch meine Liebe zur Musik hab ich wohl von Mama geerbt.

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Wenn Stefan und ich im selben Zimmer, ja im selben Bett einschliefen, erzählten wir uns meist schaurige Märchen vom Wolf im Walde. Natürlich kannte ich Grimms Märchen. Einmal kam Mamas Jugendfreundin und Cousine Ursel mit ihrem Mann zu Besuch. Der Mann stand abends im Badezimmer und rasierte sich nass (Papa benutze einen Rasierapparat und das Rasierwasser Tabac), der Mann setzte mir etwas Rasierschaum auf meine neugierige Nase und fragte, ob man mir auch Gutenachtgeschichten erzähle. Und dann erzählte er mir eine Gutenachtgeschichte.

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Ich war evangelisch-lutherisch getauft und konfirmiert. Ich war dreimal mit den katholischen Pfadfindern im Zeltlager. Und ich war in einer evangelikalen Freikirche zur Kinderbibelstunde. Das muss wohl die Vorsehung Gottes so eingerichtet haben, denn auch später im Erwachsenenleben als entschiedener Jünger Jesu hielt ich mich unter Katholiken und Lutheranern und Evangelikalen auf. Aber in meiner Kindheit kannte ich nur ein einziges Gebet, das ich oft wiederholte, mehr eine Art Stoßseufzer: Herr, wirf Hirn vom Himmel!

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Zu meiner Konfirmation kam mein geliebter Vetter Achim und schenkte mir eine Schallplatte von Eric Clapton. Papa hatte gesagt, ich müsse nicht wegen der Geschenke zur Konfirmation gehen, ich würde auch ohne Konfirmation Geschenke bekommen. Ich wollte aber zur Konfirmation. Oma gab mir ihre Bibel, die sie 1927 auf Baltrum vom Pastor zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatte, eine Lutherbibel in Frakturschrift (ich habe sie nach Omas Tod von Mama geerbt und hüte sie als kostbare Reliquie) und ihr Gesangbuch: Ein feste Burg ist unser Gott! Im Konfirmationsunterricht lernte ich das Vaterunser auswendig, vor Kerzen dachten wir an die armen Kinder in Afrika, dann sangen wir als Friesen noch den Shanty what shall we do with a drunken sailor! Dann war ich im schwarzen Anzug zum ersten evangelischen Abendmahl eingeladen. Als ich vor dem Kelch kniete bekam ich Nasenbluten. Es musste wohl so sein, denn ich ward berufen, nicht nur das verblutende Herz Jesu anzubeten, sondern selbst ein verblutendes Herz zu haben...

Damit beende ich meine Kindheitserinnerungen.