von Josef Maria von der Ewigen Weisheit
Ich war vielleicht
vier Jahre, jedenfalls konnte ich schon Fahrrad fahren, mein erstes
kleines Kinderfahrrad. Ich trug eine kurze bayrische Lederhose. Mein
Haar war hellblond und kurz geschnitten. Ich fuhr, so schnell es
ging, vom Blaufärberweg auf die Auto-Auffahrt, den schmalen Weg
zwischen der Garage und Nachbars Bohnenbeeten vorbei, um die Ecke,
über den Rasen und - fuhr direkt in den Graben, der unseren Garten
von Lenz' Park trennte. Das ist eine meiner frühsten Erinnerungen.
*
Stefan war zwei
Jahre älter als ich, aber von Ende August bist Anfang November war
er drei Jahre älter. Kindliche Mathematik. Zwischen unserm Garten
und Lenz' Park, vor Omas Küchenfenster stand ein Haselnussbaum, in
den Stefan kletterte, aber herunterfiel und mit einer
Gehirnerschütterung ins Krankenhaus musste. Ich bin auch einmal in
einen Baum geklettert und auch heruntergefallen und zwar direkt in
die Brennesseln, mit nackten Armen und Beinen. Nur die Nachbarin Frau
Reimer hörte mein Wehgeschrei, kam und verarztete mich in ihrer
Küche mit "Onkel Reimers gutem Schnaps".
*
In Lenz' Park, vor
meinem Zimmerfenster, stand ein schöner alter Kastanienbaum. Stefan
und ich hatten ein blaues Schiffstau hineingehängt, so konnten wir
gut in den Baum klettern. Auf dem Kastanienbaum sammelten sich die
Tauben und gurrten. Hinter Lenz' Park stand die kleine Katholische
Kapelle Sankt Wiho, und man sah den schiefen Kirchturm der
evangelischen Kirche Sankt Ansgari, Stefans und meiner Taufkirche. So
war das das Bild meiner Kindheitsheimat: Kastanienbaum, Taubengegurr
und Glockenläuten. Als Papa und Mama mir später in Oldenburg eine
Wohnung kaufen wollten, sah ich in einer Wohnung vorm Balkon einen
Kastanienbaum, hörte von dort Taubengurren und in der Nähe
Kirchenglocken (der Katholischen Kapelle Sankt Christopherus und der
evangelischen Kirche Martin Luther). Da wusste ich, hier kann ich
Heimat finden.
*
Am Ende unseres
Gartens hatte Papa einen kleinen Obstgarten angelegt, da wuchs
Rhabarber, Stachelbeeren, schwarze und rote Johannesbeeren. Von dem
Rhabarber machte meine Mutter leckeren Pudding, mit warmer
Vanillesauce serviert. Von den Stachelbeeren machte sie einen
leckeren Kuchen, die sauren Stachelbeeren versüßte sie mit Baiser,
weißem Zuckerschaum. Aus den Johannesbeeren machte sie Gelee. Wir
gingen auch mit den Eltern in den Wald und sammelten wilde Brombeeren
und Himbeeren. Mama machte Marmelade darauf. Oder wir gingen auf die
Erdbeerplantagen und sammelten Erbeeren für Marmelade und Torte.
Wenn Mama Erdbeermarmelade machte, freute ich mich immer über den
Erdbeerschaum. Wenn Oma (die nebenan wohnte) Geburtstag hatte, am 2.
Juni, durfte ich mir immer einen Kuchen wünschen, dann wünschte ich
mir selbstgemachte Erdbeertorte mit Schlagsahne.
*
In Lenz' Park, den
wir pflegten und nutzen durften, stand ein alter knorriger Apfelbaum.
Die Apfelsorte hieß Boskop, die waren groß und recht sauer. Aber
ich liebte sie. Als ich das Lesen für mich entdeckt hatte, aß ich
beim Lesen immer Boskop-Äpfel. Aber den "Griepsch", das
Gehäuse, ließ ich im Zimmer liegen, worüber meine Mutter mit mir
schimpfen musste. Neben dem Boskop-Baum standen da auch noch ein
Birnbaum, ein Pflaumenbaum, ein Baum mit süßen Kirschen, da war ein
Brombeerstrauch, weiter stand da eine fast dreihundertjährige
Blutbuche, und zur Osterzeit war der Park bedeckt mit weißen, gelben
und violetten Krokusblumen. Von daher kann ich sagen, dass der Krokus
eigentlich meine Lieblingsblume ist, den ich später in Oldenburg im
Garten meiner Freundin Evi beobachtete, wenn ich unterm Kastanienbaum
auf der Wiese lag, dem Taubengurren lauschte, den Schmetterlingen
zuschaute und den Hummeln, wie sie die Krokusblüten heimsuchten, das
ist die Erotik der Natur.
*
Aber nicht nur süßes
Obst liebte ich, sondern auch das künstliche Brausepulver mit
Waldmeistergeschmack. Ich feuchtete den Zeigefinger mit Speichel an,
steckte ihn in die kleine Papiertüte, das Brausepulber schäumte auf
und blieb am Finger haften, den ich dann ableckte. Dazu las ich einen
epischen Roman von Michael Ende, indem auch chinesische Mandarinen
und die Prinzessin Ping-Pong vorkamen. Auch kaufte ich mir manchmal
eine Tüte mit Weingummi am Kiosk. Besonders liebte ich auch die
Dänischen Lakritze, die Mama und Papa von Butterfahrten mitbrachte.
Mama hatte in der Küche in einem Schrank sehr hoch oben ein großes
Glas mit Bonbons, eigentlich unerreichbar und uns nur spärlich
zugeteilt. Aber manchmal, wenn ich allein war, kletterte ich auf die
Spüle und klaute mir einen Bonbon. Auch hatte Mama in Papas spärlich
frequentierter Bar ein Packung mit Schokolade-Minze-Täfelchen,
daraus ich mir manchmal den Inhalt raubte, die Packung leer
zurückließ, "damit es keiner merkt". Wenn ich mir einmal
Kartoffelchips kaufte, sagte mein Vater: So etwas essen nur primitive
Leute. - Ich wollte zwar nie zu den primitiven Leuten gehören und
war mir auch immer bewusst, nicht einer von denen zu sein, aber
heimlich aß ich doch Kartoffelchips. Oma hatte in ihrem
Wohnzimmerschrank eine Schale mit Bonbons, und wenn ich zu ihr kam,
durfte ich mir öfter einen kleinen Bonbon nehmen.
*
Die hochberühmte
Nachtigall habe ich nie gehört. In unserm Garten waren vor allem die
Amseln unsere täglichen Gäste, das Weibchen in braungrauer
Tarnfarbe zum Schutz der Brut, das Männchen im samtschwarzen Frack
und goldgelbem Schnabel. Die Amseln nahmen Schneckenhäuschen in den
Stabel und zertrümmerte sie auf einem Pflasterstein, um an das
leckere Innere, das weiche Fleisch der Schnecke zu kommen. Auch
Meisen waren in Lenz' Park, ich glaube Blaumeisen, die schön sind
wie schwebende blaue Blumen. Von meinen geliebten Tauben hab ich
schon gesprochen. Ich kannte natürlich das Märchen von Aschenputtel
mit seinem Ruckediguh. Später, wenn ich eine Taube vom Himmel
schweben sah, dachte ich spontan, der Heilige Geist kommt auf mich
herab. Aber auch Schwalben bauten ihr Nest an unserer Garage. Wenn
ich später in einem alten chinesischen Gedicht übersetzte: Und wie
ein Schwalbenpaar bauen wir unser Nest an des Edlen Haus, dann musste
ich an die Schwalben meines Elternhauses denken.
*
Vor Omas Hintertür,
die zur Küche führte, waren unter den Steinplatten immer viele
Ameisen. Da Oma nicht wollte, dass die in ihre Küche kamen, übergoss
sie den ganzen Palast der Königin mit heißem Wasser. Ich
verteidigte das Recht der Ameisen auf Leben. Auch waren in dem
kleinen Beet vor unserer Terrasse immer viele Nacktschnecken, die die
Nutzpflanzen zerfraßen, und gegen sie wurde gekämpft, indem man
Salz auf ihre nacktes Fleisch streute. Ich selbst aber war auch
grausam: Im Winter sperrte ich einen Frosch in einen Topf mit Wasser
ein und ließ ihn im Eis einfrieren. Da waren auf den Steinen unserer
Terrasse kleine winzige Tierchen, wie hellrote Punkte, die, wenn ich
sie mit dem Finger zerdrückte, dennoch weiter leben. Auch staunte
ich sehr über den Regenwurm, der, wenn ich ihn in der Mitte mit dem
Messer durchschnitt, als zwei kleine Regenwürmer weiter lebte.
*
Da wir nah an der
Nordseeküste wohnten, bekamen wir vom Hafen in Norddeich immer guten
Fisch. Mama briet auf der Terrasse den Fisch, damit nicht das ganze
Haus danach roch. Besonders liebte ich die panierten Seezungen, aber
auch die gebratenen Schollen und den Brathering. Aber Kult war es,
wenn Mama einen Beute Krabben mitbrachte. In Ostfriesland gibt es ja
Wettbewerbe, wer am schnellsten Krabben puhlen konnte. Mama und ich
puhlten die Krabben, und es gab diese dann auf einem kräftigen
Schwarzbrot mit Butter, manchmal noch mit einem Spiegelei. Auch kam
immer Freitags der Fischwagen an den Blaufärberweg, wohl noch aus
Erinnerung an alte christliche Zeiten: Freitags ist Fisch-Tag, da
fasten wir und enthalten uns des Fleischgenusses, weil der Herr Jesus
am Freitag für uns gekreuzigt worden ist.
*
In der Adventszeit
backte Mama leckere Kekse, besonders gut waren die Vanillekipferln
und die Haferflockenplätzchen. Mama sagte dann: Abendrot, Abendrot,
die Englein backen Brot. Zum heiligen Nikolaus stellten wir am
Vorabend einen Teller mit Schwarzbrot vor die Haustür, für das
Pferd des heiligen Nikolaus. Der gute Bischof ließ uns dafür ein
Stiefelchen voll Schokolade da. Abend am heiligen Nikolaustag ritt
dann der heilige Bischof auf seinem Pferd durch Hage, warf Bonbons
unter die Kinder. Hinter ihm ritt sein schwarzer Knecht Ruprecht mit
der Rute für ungezogene Kinder. In der Adventszeit sang Mama mit uns
Weihnachtslieder, manchmal spielte ich flöte dazu. Mama konnte sehr
schön singen. Stille Nacht, heilige Nacht, einsam wacht nur das
hochheilige Paar, Knabe im blonden lockigen Haar, Tochter Zion, freue
dich, jauchze laut, Jerusalem, ihr Kinderlein, kommet, o Tannenbaum,
süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit, ich steh
an deiner Krippe hier, Maria und Josef, die lagen im Stroh... Mama
und Papa schlossen das Wohnzimmer ab, drinnen wurden die Geschenke
unter den Weihnachtsbaum gelegt, der war erleuchtet von echten
Kerzen, nicht etwa von elektrischem Licht, es hieß, Kinder, der
Weihnachtsmann ist gerade da. Wir gingen dann erst zu Oma rüber, da
war zuerst Bescherung. Meistens bekam ich von Oma einen Schlafanzug,
einen Taler und Schokolade. Oma hatte Heringssalat gemacht, das war
mit Kartoffeln unser Festessen. Dan gingen wir wieder in unser Haus
zur Bescherung. Das schönste Weihnachtsgeschenk war ein Fort mit
Yankees, Cowboys und Indianern. Einmal bekam ich einen technischen
Baukasten geschenkt, darin war ich aber nicht sehr geschickt.
Mitternachts gingen Oma und Mama mit Stefan und mir in die
Ansgarikirche zum Wehnachtsgottesdienst. Mama sang: Es ist ein Ros
entsprungen, und ich verstand: Es ist ein Ross entsprungen. Da war
die Krippe, der Stall von Bethlehem, die schöne Maria mit ihrem
Josef, die heiligen drei Könige, die Hirten, das Jesusbaby. Oma hat
auch in der Vorweihnachtszeit gebacken, vor allem Christstollen. Wenn
sie dann zu Neujahr Neujahrskekse backte, gab sie mir den gebackenen
Teig und ich rollte sie an einer hölzernen Wäscheklammer zum
Röllchen.
*
Sylvester Abend ging
Papa mit Stefan und mir hinters Haus und entzündete Feuerwerk, aber
keine Raketen, sondern Sonnenräder, die waren wir kreisende,
tanzende, Funken sprühende Sonnen. Dann kamen wir Brüder zu Oma und
schliefen bei Oma. Mama und Papa gingen dann feiern zu Freunden. Vor
Mitternacht weckte uns Oma, wir bekamen Limonade und Salzstangen und
guckten uns Sylvesterfeiern im Fernseher an. Um Mitternacht traten
Oma, Stefan und ich auf dem Blaufärberweg uns das Feuerwerk über
Hage an. In den kommenden Tagen knallte ich noch mit den sogenannten
Laubfröschen, die ich in Spielzeugautos steckte und so die Autos in
die Luft jagte.
*
Sitz nicht so nah
vorm Fernseher, sonst kriegst du viereckige Augen! mahnte Mama. Ich
erinnere mich an die Winnetou-Filme. Old Shatterhand hätte ich gerne
zum Vater gehabt. Mit meinem Freund Andreas Budde spielte ich Cowboy
und Indianer, er war schwarzhaarig, also war er Winnetou, ich war
blond, ich war Old Shatterhand, und Karin Kunze war schwarzhaarig und
war Nscho-Tschi, die Squaw, die ich versuchte zu küssen. Aber ich
erinnere mich auch noch an viele Filme mit Marilyn Monroe, die ich
nicht als ein Lustobjekt betrachtete, ich war ja noch ein Kind, nein,
sie war so etwas wie eine Mutter für mich. Ja, ich war das Kind von
Old Shatterhand und Marilyn Monroe! Auch erinnere ich mich an die
Aufführungen der Augsburger Puppenkiste, eine Art Marionettentheater
für Kinder. Und ich liebte die Sendung mit dem Bücherwurm, das war
ein Wurm, der die besten neuen Kinderbücher vorstellte. Aber vor
allem kam Musik aus dem Fernseher. Mama liebte ja die Musik. Ich bin
mit der Schlagermusik der siebziger Jahre groß geworden. Wir sahen
den europäischen Schlagerwettbewerb, hörten allwöchentlich die
Schlagerhitparade. Vielleicht hab ich so reimen gelernt und nicht
etwa von Rainer Maria Rilke. Aber den stärksten Eindruck hinterließ
die schwedische Disco-Gruppe Abba, deren Musik harmonisch und
fröhlich war, und die junge blonde Sängerin Agneta war keine Frau,
sondern eine schwedische Göttin.
*
Meine Eltern hatten
sich von Freunden ein Lamm geliehen, das weidete von Frühling bis
Herbst in Lenz' Park, bis es zurückgegeben wurde. Es waren mehrer
Lämmer mehrere Jahre bei uns. Über ein Schaf schrieb ich ein
Gedicht: Fressen, Pissen, Schlafen, so geht sein Leben hin. Einmal
hatten wir ein schwarzes Lamm, das nannten wir Petra, das starb aber
an einem Bandwurm. Die Schafe standen angepflockt im hohen Gras des
Parkes und ersparten die Sense, der Pflock wurde immer wieder
versetzt. Aber einmal, als meine Eltern im Urlaub waren und ich bei
Oma wohnte, hatte der Regen den Boden aufgeweicht, das Schaf hatte
den Pflock herausgezogen und war fortgelaufen. Ich eilte hinterher,
es wieder zu bringen. Nachbarn hatten es gefunden und mir wieder
übergeben. Ich kam deswegen zu spät zur Schule und sagte dem Lehrer
entschuldigend: Ich musste erst unser Schaf einfangen. Und die ganze
Klasse lachte.
*
Ostern feierten wir
eigentlich nicht christlich, sondern heidnisch. Mama legte Eier in
Salzwasser ein, die Soleier wurden dann mit Essig, Öl, Salz und
Pfeffer gefüllt gegessen. Mama färbte auch Ostereier, aber nicht
mit künstlicher bunter Farbe, sondern mit Zwiebelschalen, was ein
schönes Braun ergab. Mit Papa gingen Stefan und ich in den Garten
und spielten Boccia mit bunten Ostereiern. Bei Oma gab es bunte Eier,
Schokolade und einen Taler in einem grünen Osterhasennest. Zu Ostern
kamen aber damals noch christliche Spielfilme im Fernsehen. Ich
erinnere mich an einen Jesusfilm, und zwar einzig und allein an die
Szene, da Petrus den Jesus dreimal verleugnet hatte, wie Jesus ihn da
anschaute, und Petrus bitterlich weinte. Diesen Blick Jesu habe ich
tief in der Seele empfunden. Auch sah ich den Film Quo Vadis über
die römische Christenverfolgung unter Kaiser Nero. Daher kommt wohl
meine große Liebe zu Petrus, der mir persönlich der liebste unter
den Aposteln ist. Wenn wir auf einem Spaziergang Angler an einem
Wasser sahen, sagte Mama: Petri Heil!
*
Sonntags gingen wir
zwar nicht in die Kirche, aber es war uns doch ein besonders
feierlicher Tag. Am Sonnabend hörten wir abends im Fernseher die
kurze Predigt, das Wort zum Sonntag. Meine Indianerfreunde im Wald
sagten zu mir: Predige uns nicht schon wieder das Wort zum Sonntag!
Am Sonntagmorgen frühstückten wir nicht wie sonst in der Küche,
sondern im Wohnzimmer. Es gab statt der gewöhnlichen Margarine gute
Butter. Mama machte im Radio klassische Musik an, manchmal gab es im
Radio noch eine Sonntagsandacht. Oma zog am Sonntag immer ein
besonders schönes Kleid an und trank den Tee aus einem besonders
festlichen Geschirr.
*
In der Schule hatten
wir Religionsunterricht, ich bekam dazu eine bebilderte Kinderbibel.
Ich erinnere mich an einen Nachmittag in der blauen Dämmerung, da
las ich allein zuhause in meinem Zimmer ain der Kinderbibel. Ich las
vom Knaben Samuel, der im Tempel Gottes lebte mit dem alten Priester
Eli. Nachts hörte er eine Stimme ihn rufen: Samuel, Samuel! Der
Knabe dachte, der alte Priester habe ihn gerufen und ging zu ihm, der
aber schickte ihn wieder ins Bett. Da hörte er wieder die Stimme
seinen Namen rufen. Er ging wieder zu dem Priester, und der erkannte,
dass Gott den Knaben anruft und sagte: Nächstes Mal, wenn du gerufen
wirst, sage: Rede, Herr, dein Knecht ruft. So tat der Knabe, als er
zum dritten Mal beim Namen gerufen wurde: Rede, Herr, dein Knecht
hört. - Als ich das las, sah ich die Szene lebendig vor mir, wie der
Knabe Samuel von Gott zum Propheten berufen hatte. Meine erste
Berufung war ja meine Taufe am 16. Januar 1966, aber diese Szene war
meine zweite Berufung.
*
Eines Tages hatte
ich ein neues Buch: Germanische Götter und Heldensagen. Da war von
Thor die Rede, dem Donnergott. Ich bin ja nach ihm benannt. Torsten
heißt: der Steinhammer des Donnergottes! Da war ein prosaische
Nacherzählung des Nibelungenliedes. Ich liebte die ersten siebzehn
Abenteuer bis zum Tode Siegfrieds. Kriemhilds Rache und König Etzel,
den Hunnen, das war mir zu grausam. Da gab es aber auch das schöne
Gudrunlied, die christliche Schwester des Nibelungenliedes, das
spielte in Dänemark und Friesland und Sturmland - meiner Heimat. Und
wenn von Kriemhilde oder Gudrun die Rede war: Und das holde Mägdelein
mit seinen langen Zöpfen schaute aus der Kemenate auf den Recken -
dann dachte ich an meine blonde Nachbarin Gudrun. Dazu kamen unsere
häufigen Sommerferien in Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland,
bis zum Nordkap. Und so habe ich in meiner Kindheit die germanische
Seele tief in mich aufgenommen. Ich war nicht ein Ostfriese aus dem
Landkreis Norden, ich war ein Germane, einer vom stolzen alten Volk
der Friesen! Eala freya fresena - es lebe das freie Friesland!
*
Papa hatte mir
verboten, Comics zu lesen. So musste ich mir meine Indianercomics
heimlich kaufen. Ich legte sie in eine Schatzkiste und vergrub sie in
Lenz' Park, wo ich sie heimlich im Baumschatten las. Mein Onkel Arno
las Groschenhefte vom Bahnhof, Cowboygeschichten zweispaltig auf
schlechtem Zeitungspapier. Er schenkte mir einige Hefte. Papa verbot
mir, so etwas zu lesen. Wütend warf ich meine guten Kinderbücher
aus dem Regal und rief: Dann will ich das aber auch nicht mehr lesen.
Nachträglich bin ich Papa dankbar dafür. Er hat zwar selbst keine
Bücher gelesen, nur sozialdemokratische illustrierte Zeitschriften
wie Ster und Spiegel, aber er hatte Acht darauf, dass ich keinen
Schund lese. Oma las auch Groschenhefte, Arztromane. Sie hatte in der
Küche einen Kalender, auf dem jeden Tag ein neuer Weisheitsspruch
stand, den lasen wir immer zusammen. Einmal fragte ich Oma, ob sie in
der Schule auch Goethe gelesen. Da lachte sie und sagte: Goethe? Ach
mein lieber Junge!
*
Mein erstes
Kartenspiel, dass ich öfter mit Stefan und Mama spielte, war das
einfache Mau-Mau. Dann brachten Papa und Mama uns Rommée und Canasta
bei, das spielten wir zu viert. Wenn ich allein war und mir die Zeit
vertreiben wollte, legte ich mit Karten Patiencen. Papa war sehr gut
im Skat. Ich hab es nie begriffen. Papa traf sich regelmäßig mit
Freunden zum Skatspielen, sie saßen dann zu viert im Wohnzimmer, die
Ehefrauen spielten mit Mama in der Küche ein anderes Kartenspiel.
Papa gewann auch oft bei Skatwetbbewerben große Schinken. Auch
spielten Stefan und ich mit Karten, da man Autos oder Schiffe oder
Flugzeuge mit ihren Stärken gegeneinander antreten lässt.
*
Als Stefan noch
klein war, da konnte er das nuckeln nicht lassen. Er nuckelte am
Daumen, er nuckelte am Zipfel der Bettdecke. Mama strich Daumen und
Zipfel mit einer bitteren Flüssigkeit ein, und Stefan verlor die
Lust am Nuckeln.
*
Papa hatte mir in
seinem Werkzeugkeller ein Gewehr aus Holz gebastelt, damit ich mit
meinen Freunden im Wald Indianer spielen konnte. Einmal hat er mir
auch Pfeil und Bogen gemacht, damit ich Robin Hood spielen könne.
Mein Holzgewehr hat mir der Nachbarsjunge Uwe geklaut, er leugnete es
zwar, aber ich sah es bei ihm. Als ich mir aber im Geschäft kleine
Soldatenfiguren und kleine Panzer gekauft hatte, hat Papa mir
verboten, damit zu spielen. Als ich ihm sagte: Ich bin schon seit
drei Tagen im Krieg mit meinen Freunden, da sagte Papa, der zweite
Weltkrieg habe sechs Jahre gedauert, da war ich doch sehr
erschrocken. Später, als ich mit meiner Freundin Karine ihre Kinder
erzog, hatte mein lieber Juri von seinem Zeuger auch Soldaten und
Panzer geschenkt bekommen. Karine und ich sahen uns nur an und warfen
gemeinsam das Kriegsspielzeug in den Mülleimer.
*
Die erste Poesie,
die ich kennen lernte, war die Bibel und die Kirchenlieder. Dann
kamen in kindlicher Form Edda, Nibelungenlied und Gudrunlied. Dann
aber hörte ich in der Vertonung einer deutschen Musikgruppe die
ersten Gedichte meines Lebens, von dem deutschen Romantiker Novalis:
Wenn die so singen oder küssen / mehr als die Tiefgelehrten wissen.
Und: Wer Schmetterlinge lachen hört, / der weiß wie Wolken
schmecken. Und eine andere deutsche Musikgruppe zitierte das Gedicht
an die Göttin der Morgenröte vom französischen Genie Arthur
Rimbaud.
*
Die erste
Geschichte, die ich schrieb, war eine Festsschrift zum Geburtstag
meiner Oma, ein Fest beschreibend, da die Gäste in den Bäumen saßen
und Trompeten bliesen und der Pastor kam mit der Bibel. Mit dreizehn
Jahren saß ich in meinem Zimmer zur Stunde der blauen Abenddämmerung
und schaute auf die Schwarzerle vorm Fenster und auf den Himmel und
schrieb meine ersten Verse in ein Schulheft, zeigte es meinen Eltern,
die aber nichts dazu sagten. Dann schrieb ich für meinen Vater zum
Geburtstag eine Kriminalgeschichte, die von einem kriminalisierenden
Pastor handelte und einer mörderischen Giftspinne. Mit meinem Freund
Christian machte ich eine kleine Zeitung in einer Auflage von sieben
Exemplaren, da ich ein Gedicht veröffentlichte und einen Text über
ägyptische Hieroglyphen. Dann kaufte ich mir ein Blankobuch, auf dem
Umschlag stand: Notizen eines verkannten Genies, und in dieses leere
Buch schrieb ich meine ersten Gedichte, hauptsächlich Liebeslyrik in
freien Versen für meine Pubertäts-Geliebte Hedda.
*
Papas Bruder Onkel
Hartmut hatte vier Töchter, einmal kam meine Cousine Petra zu
Besuch, es war Sommer, wir spielten halbnackt im Garten, und Papa
spritzte uns mit Wasser aus dem Wasserschlauch ab. Dann war ich mit
Petra allein in meinem Zimmer. Wir spielten Wachküssen: Ich legte
mich aufs Bett und tat, als ob ich schliefe, Petra kam und küsste
mich wach. Das wiederholten wir so oft, bis wir uns genug geküsst
hatten. Das war mein erster Kuss.
*
Ich lernte in der
Musikschule zwei Jahre lang Notenlesen und Flötespielen. Mama sang
Weihnachtslieder und ich begleitete sie auf der Flöte. Zu
Weihnachten bekam ich einmal eine chromatische Mundharmonika und ich
übte O Tannebaum darauf. Dann bekam ich das alte Bahnhofsklavier von
Omas Schwester. Ich hatte Herrn Krämer als Musiklehrer, der selbst
Saxophon in einer Jazzband spielte. Erst musste ich Fingerübungen
machen. Aber eines Tages konnte ich aus dem Notenbüchlein für Anna
Magdalena Bach spielen. Herr Krämer kam zu uns nach Hause, und auch
Mama erfüllte sich ihren Kindheitswunsch, Klavier zu spielen. Später
wollte ich dann keine Klassik mehr spielen, ich spielte stattdessen
Blues und Boogie Woogie. Dann aber hörte das auf mit dem
Klavierspiel. Ich bekam von Mama ihre akustische Gitarre geschenkt,
mit der sie früher in der Baltrumer Gitarrengruppe gespielt hatte.
Vorher bastelte Papa mir noch im Werkzeugkeller eine Gitarre ohne
Saiten. Und wenn im Radio Eric Clapton von Layla sang, tat ich so,
als ob ich die Gitarre spielte. Ich lernte die Blues-Tonleiter
spielen. Einmal spielte ich Gitarre, da kam Mama rein und sagte: Na,
lässt du sie wieder weinen? Papa kaufte mir dann eine elektrische
Gitarre. Im Radio gab es eine Sendung, da wurde mit Bass und
Schlagzeug der Blues-Rhythmus gespielt, und ich spielte auf der
E-Gitarre mein Solo dazu. Mit einer Schulfreundin machte ich Musik,
sie spielte Akkordeon und ich die E-Gitarre, wir spielten Lieder von
den Beatles und Bob Dylan. Ich habe auch noch Blues-Mundharmonika
gelernt, und noch lange mit Freunden musiziert. Aber eines Tages
hörte alles Musizieren auf und ich liebte die Musik nur noch als
Zuhörer. Als ich aber einmal meinem Onkel Arno, der in einem
Männerchor sang, ein Lied zu Martini vorsang, sagte er: Du kannst
nicht singen. Und er hat recht, ich bin nicht im geringsten in der
Lage, mit meiner Stimme irgendeinen Ton zu treffen. Doch meine Liebe
zur Musik hab ich wohl von Mama geerbt.
*
Wenn Stefan und ich
im selben Zimmer, ja im selben Bett einschliefen, erzählten wir uns
meist schaurige Märchen vom Wolf im Walde. Natürlich kannte ich
Grimms Märchen. Einmal kam Mamas Jugendfreundin und Cousine Ursel
mit ihrem Mann zu Besuch. Der Mann stand abends im Badezimmer und
rasierte sich nass (Papa benutze einen Rasierapparat und das
Rasierwasser Tabac), der Mann setzte mir etwas Rasierschaum auf meine
neugierige Nase und fragte, ob man mir auch Gutenachtgeschichten
erzähle. Und dann erzählte er mir eine Gutenachtgeschichte.
*
Ich war
evangelisch-lutherisch getauft und konfirmiert. Ich war dreimal mit
den katholischen Pfadfindern im Zeltlager. Und ich war in einer
evangelikalen Freikirche zur Kinderbibelstunde. Das muss wohl die
Vorsehung Gottes so eingerichtet haben, denn auch später im
Erwachsenenleben als entschiedener Jünger Jesu hielt ich mich unter
Katholiken und Lutheranern und Evangelikalen auf. Aber in meiner
Kindheit kannte ich nur ein einziges Gebet, das ich oft wiederholte,
mehr eine Art Stoßseufzer: Herr, wirf Hirn vom Himmel!
*
Zu meiner
Konfirmation kam mein geliebter Vetter Achim und schenkte mir eine
Schallplatte von Eric Clapton. Papa hatte gesagt, ich müsse nicht
wegen der Geschenke zur Konfirmation gehen, ich würde auch ohne
Konfirmation Geschenke bekommen. Ich wollte aber zur Konfirmation.
Oma gab mir ihre Bibel, die sie 1927 auf Baltrum vom Pastor zu ihrer
Hochzeit geschenkt bekommen hatte, eine Lutherbibel in Frakturschrift
(ich habe sie nach Omas Tod von Mama geerbt und hüte sie als
kostbare Reliquie) und ihr Gesangbuch: Ein feste Burg ist unser Gott!
Im Konfirmationsunterricht lernte ich das Vaterunser auswendig, vor
Kerzen dachten wir an die armen Kinder in Afrika, dann sangen wir als
Friesen noch den Shanty what shall we do with a drunken sailor! Dann
war ich im schwarzen Anzug zum ersten evangelischen Abendmahl
eingeladen. Als ich vor dem Kelch kniete bekam ich Nasenbluten. Es
musste wohl so sein, denn ich ward berufen, nicht nur das verblutende
Herz Jesu anzubeten, sondern selbst ein verblutendes Herz zu haben...
Damit beende ich
meine Kindheitserinnerungen.