Nach Nietzsche
von Torsten Schwanke
I
Nur Narr! Nur Dichter!
Im verblassenden Licht der Dämmerung,
wenn der Trost des Taus beginnt,
auf die Erde herabzufließen,
unsichtbar und ungehört –
denn der tröstende Tau rutscht über
zarte Schuhe wie alle sanften Tröster –
dann erinnerst du dich, erinnerst du dich, heißes Herz,
wie einst dürstetest du
nach himmlischen Tränen und Tautropfen,
verbrannt und müde, durstig,
während auf gelben Graspfaden
die boshaften Abendblicke der Sonne
um dich herumliefen durch schwarze Bäume,
glühende Sonnenblicke, blendend vor böser Freude.
Der Verehrer der Wahrheit – du? –
so verspotteten sie mich –
Nein! Nur ein Dichter!
Ein listiges, plünderndes, heimliches Biest,
das lügen muss,
das wissentlich, bereitwillig lügen muss,
auf der Suche nach Beute,
bunt maskiert,
selbst-verhüllt,
Beute für sich selbst.
Dieser – der Verehrer der Wahrheit?...
Nur Narr! Nur Dichter!
Nur bunt redend,
Aus Narrenmasken bunt schreiend,
Auf trügerischen Wortbrücken umher kletternd,
Auf irreführenden Regenbögen,
Zwischen falschen Himmeln
Wandernd, lauernd –
Nur Narr, nur Dichter!
Nicht still, steif, glatt, kalt,
werde ein Bild,
eine Säule Gottes,
nicht vor Tempeln aufgestellt,
ein Torwächter Gottes:
Nein! feindselig gegenüber allen solchen Wahrheitsstatuen,
in jeder Wüste mehr zu Hause als in Tempeln,
voller Katzenunfug,
Springt
schnell durch jedes Fenster! in jede Chance,
nach jedem Dschungel schnüffelnd,
dass du in Dschungeln
inmitten bunt behaarter Raubtiere
sündhaft, gesund und schön und bunt laufen würdest,
mit lüsternen Tierlippen,
selig höhnisch, selig höllisch, selig blutrünstig,
plündernd, umherstreifend, lügend laufen würdest...
Oder dem Adler gleich, der lange,
lange starr in Abgründe blickt,
in seine Abgründe...
— oh wie sie sich hier hinab,
hinunter, hinein,
in immer tiefere Tiefen ringeln! —
Oder wie der Adler, der lange, eine
lange Zeit mit starrem Blick in Abgründe blickt,
in seine Abgründe...
– Oh wie sie sich nach unten winden,
hinab, hinunter,
in immer tiefere Tiefen! –
Dann,
plötzlich, stürzte er
mit ausgestreckten Flügeln gerade nach unten,
um sich auf Lämmer zu stürzen,
ganz nach unten,
heißhungrig, begehrend nach Lämmern,
hassend alle Lamms-Seelen,
grimmig hassend alles, was tugendhaft,
verlegen, mit lockiger Wolle aussieht,
langweilig, mit Lämmern.
Milch-Tugend...
Adlergleich, Panthergleich
Sind des Dichters Sehnsüchte,
Sind deine Sehnsüchte unter tausend Masken,
Du Narr! Du Dichter!...
Du, der du den Menschen als Gott
und als Schaf angesehen hast –
du hast den Gott im Menschen
sowie die Schafe im Menschen
in Stücke gerissen
und beim Zerreißen gelacht –
Das, das ist deine Glückseligkeit,
die Glückseligkeit eines Panthers
und eines Adlers, die
Glückseligkeit eines Dichters und Narren!...
Im verblassenden Licht der Dämmerung,
wenn genau wie die Sichel des Mondes
zwischen Grün und Purpurrot
neidisch schleicht
der Feind des Tages,
mit jedem heimlichen Schritt
in rosafarbenen Hängematten,
bis sie sinken,
sinken sie blass in die Nacht herein:
So bin ich selbst einst gesunken,
Aus meinem Wahrheitswahnsinn,
Aus meinen Tagessehnsüchten,
des Tages müde, krank vom Licht –
Sank hinab, abendwärts, schattenwärts,
Durch eine Wahrheit,
Verbrannt und durstig –
Erinnerst du dich noch, erinnerst du dich,
heißes Herz,
wie hattest du da Durst? –
Dass ich von aller Wahrheit
verbannt werde!
Nur Dummkopf! Nur Dichter! ...
II
Unter Töchtern der Wüste
Geh nicht! sagte der Wanderer, der sich Zarathustras Schatten nannte. Bleib bei uns – sonst könnte uns unser altes, dumpfes Leiden wieder befallen.
Dieser alte Zauberer hat uns bereits sein Schlimmstes zu unserem Wohl gegeben, und siehe da, dieser gute fromme Papst dort hat Tränen in den Augen und ist wieder auf das Meer der Melancholie gegangen.
Diese Könige hier mögen immer noch ein angenehmes Gesicht machen; aber wenn sie keine Zeugen hätten, wette ich, dass auch für sie das böse Spiel von neuem beginnen würde –
Das böse Spiel der ziehenden Wolken, der feuchten Melancholie, der imposanten Himmel, der gestohlenen Sonnen, der heulenden Herbstwinde –
Das böse Spiel unseres eigenen Geheuls und Notschreis: Bleib bei uns, Zarathustra! Hier ist viel verborgenes Elend, das sprechen will, viel Abend, viel Wolke, viel muffige Luft!
Du hast uns mit kräftiger Männer-Speise und stärkenden Maximen genährt: Lass nicht zu, dass die schwachen, verweichlichten Geister uns zum Nachtisch noch einmal ergreifen!
Du allein machst die Luft um dich herum stark und klar! Habe ich jemals so gute Luft auf der Erde gefunden wie bei dir in deiner Höhle?
Ich habe viele Länder gesehen, meine Nase hat gelernt, viele Arten von Luft zu prüfen und zu beurteilen: aber bei dir schmecken meine Nasenlöcher ihr größtes Vergnügen!
Es sei denn, es sei denn – oh, vergib mir eine alte Erinnerung! Verzeih mir ein altes Nachmittagslied, das ich einst unter den Töchtern der Wüste komponierte.
Denn bei ihnen war die Luft ebenso gut, klar und orientalisch; nie war ich weiter weg vom wolkigen, feuchten, melancholischen alten Europa!
Ich liebte damals solche orientalischen Mädchen und andere blaue Himmel, über denen keine Wolken und keine Gedanken hingen.
Du kannst nicht glauben, wie pflichtbewusst sie dort saßen, wenn sie nicht tanzten, tiefgründig, aber gedankenlos, wie kleine Geheimnisse, wie Rätsel mit Bändern, wie Nüsse nach dem Abendessen –
Bunt und seltsam, wahrlich! aber ohne Wolken: Rätsel, die sich erraten lassen: für solche Mädchen habe ich mir dann einen Abendpsalm ausgedacht.
So sprach der Wanderer, der sich Zarathustras Schatten nannte; und bevor ihm jemand antwortete, hatte er bereits die Harfe des alten Zauberers ergriffen, die Beine übereinandergeschlagen und sich gelassen und weise umgesehen; aber mit seinen Nasenlöchern sog er langsam und fragend die Luft ein, wie man die neue Luft in einem fremden Land schmeckt. Schließlich begann er mit einer Art Gebrüll zu singen.
Die Wüste wächst: Wehe dem,
in dem sich Wüsten verbergen...
Ha!
Feierlich!
Ein würdiger Anfang!
Feierlich afrikanisch!
Eines Löwen
oder eines moralisch schreienden Affen würdig...
– Aber nichts für euch,
ihr geliebtesten Jungfrauen,
zu deren Füßen ich,
ein Europäer unter Palmen,
sitzen darf. Sela.
Wirklich wunderbar!
Hier sitze ich jetzt,
in der Nähe der Wüste und doch
so weit von der Wüste entfernt,
und keineswegs trostlos:
Nämlich verschluckt
von dieser kleinsten Oase –
sie öffnete einfach gähnend
ihren lieblichen Mund,
den duftendsten aller kleinen Münder:
Dann fiel ich hinein,
hinab, hindurch – unter euch,
ihr geliebtesten Jungfrauen. Sela.
Sei gegrüßt, gegrüßt seist du diesem Wal,
wenn er es seinem Gast so gut gehen lässt!
– verstehst du
meine gelehrte Anspielung?...
Gegrüßet seist du seinem Bauch,
wenn er ein so schöner Oasen-Bauch wäre
wie dieser: dennoch hege ich Zweifel daran.
Denn ich komme aus Europa,
das zweifelsüchtiger ist als jede nörgelnde alte Frau.
Möge Gott es verbessern!
Amen!
Hier sitze ich nun,
in dieser kleinsten Oase,
wie eine Dattel,
braun, durch und durch süß, Gold-durchströmt,
Lust auf den runden Mund eines Mädchens,
aber noch mehr auf mädchenhafte
eiskalte, schneeweiße, schneidende
Beißzähne: denn danach
begehren die Herzen aller heißen Datteln. Sela.
Ähnlich, allzu ähnlich
der besagten Mittelmeer-Frucht,
liege ich hier, mit kleinen
geflügelten Käfern,
die herumtanzen und herumspielen,
genau wie noch kleinere,
noch dümmere, sündige
Wünsche und Vorstellungen –
umgeben von euch,
ihr Schweigerinnen, Unheilvollen,
Mädchenkätzchen
Dudu und Suleika –
versunken, viele
Gefühle in ein Wort zu packen
(—möge Gott mir
diese Sünde der Sprache verzeihen!...) –
Ich sitze hier und schnuppere die beste Luft,
wahrlich, Luft des Paradieses,
Klare, milde Luft, Gold-gestreift,
so gute Luft wie eh und je.
fiel vom Mond herab,
sei es Zufall
oder geschah es aus Übermut?
Wie die alten Dichter erzählen.
Doch ich, ein Skeptiker, habe meine Zweifel,
denn ich komme
aus Europa,
das zweifelsüchtiger ist als jede nörgelnde alte Frau.
Möge Gott es verbessern!
Amen!
Ich trinke diese schönste Luft,
meine Nasenflügel sind geschwollen wie Kelche,
ohne Zukunft, ohne Erinnerungen,
so sitze ich hier, ihr
geliebtesten Jungfrauen,
und beobachte die Palme,
wie sie sich wie eine Tänzerin
biegt und wölbt und in den Hüften schwankt –
man tut es auch, wenn man lange zusieht...
wie eine Tänzerin, die, wie es mir scheint,
zu lange, bedenklich lange gestanden hat,
immer, immer nur auf einem Beinchen? –
Denn sie hat, wie mir scheint,
das andere Bein vergessen?
Zumindest vergeblich
suchte ich das fehlende
Zwillingsjuwel
– nämlich das andere Bein –
in der heiligen Nähe
ihres geliebtesten, zartesten
fächernden, flatternden
und mit Flitter besetzten Röckchens.
Ja, wenn ihr wolltet, ihr schönen Jungfrauen,
glaubt mir ganz,
sie hat es verloren...
Oh mein! Oh mein! Oh mein!
Es ist weg,
für immer verschwunden,
das andere Bein!
Oh, was für eine Schande um dieses schöne andere Bein!
Wo – warum mag es trauern, verlassen zu sein,
dieses einsame Bein?
Vielleicht aus Angst vor einem
grimmigen, gelben
Löwenmonster mit blonder Mähne?
Oder vielleicht sogar
abgenagt, abgeknabbert –
erbärmlich, leider! Ach! Abgeknabbert! Sela.
Oh weint nicht,
weiche Herzen!
Weint nicht, ihr
Dattel-Herzen! Milchbusen!
Ihr kleinen Süßholz-Herzens-Beutel!
Sei ein Mann, Suleika! Mut! Mut!
Weine nicht mehr,
blasse Dudu! –
Oder sollte hier vielleicht
etwas Stärkendes, Herzstärkendes
erforderlich sein?
Eine gesalbte Maxime?
Eine feierlichere Ermahnung?...
Ha!
Hoch, Würde!
Schlag, blase noch einmal,
Blasebalg der Tugend!
Ha!
Brülle noch einmal,
brülle moralisch,
brülle wie ein moralischer Löwe
vor den Töchtern der Wüste!
– Denn tugendhaftes Heulen,
ihr geliebtesten Jungfrauen,
ist mehr als alles
europäische Inbrunst, europäischer Heißhunger!
Und doch stehe ich hier,
als Europäer
kann ich nicht anders, Gott helfe mir!
Amen!
Die Wüste wächst:
Wehe dem, in dem sich Wüsten verbergen!
Stein mahlt gegen Stein,
die Wüste verschlingt und erwürgt,
glühender brauner, monströser Tod starrt
und kaut; sein Leben besteht darin, zu kauen...
Vergiss nicht, Mensch, von Lust verzehrt:
Du – bist der Stein, die Wüste, bist der Tod...
IV
Ultimativer Wille:
So sterben,
wie ich ihn einst sterben sah –
den Freund, der göttliche Blitze und
Blicke in meine dunkle Jugend warf.
Sportlich und tiefgründig,
ein Tänzer im Kampf –
der fröhlichste unter den Kriegern,
der ernsteste unter den Siegern,
ein Schicksal, das auf seinem Schicksal steht,
hart, nachdenklich, berechnend:
zitternd, weil er triumphierte,
und sich darüber freuend,
dass er im Sterben triumphierte:
Er befahl, während er starb –
und er befahl, diesen Tod zu zerstören...
So sterben,
wie ich ihn einst sterben sah –
besiegend, zerstörend...
V
Vom Sieg
Oh du, mein Wille, mein In-Mir, Über-Mir! Du bist meine Notwendigkeit! Gib, dass auch ich siege – und hebe mich für diesen einen Sieg auf!
Bewahre und rette mich und behüte mich vor allen kleinen Siegen, du Geschenk meiner Seele und Wendepunkt aller Not, du meine Not-Wendigkeit!
VI
Inmitten von Greifvögeln
Wer auch immer dazu neigt, hierher abzusteigen,
wie schnell
verschlingen ihn die Tiefen! –
Du aber, Zarathustra,
liebst noch den Abgrund – –
liebst du, so wie die Fichte?
Ihre Wurzeln schießen hinab, wo
der Fels selbst erzittert.
Sie blickt in die Tiefe –
sie verweilt in Abgründen,
wo alles um sie herum
zum Absturz neigt:
Inmitten der Ungeduld
der rauen Felsbrocken und reißenden Bäche,
geduldig aushaltend, fest, still,
einsam...
Einsam!
Wer würde es überhaupt wagen,
hier Gast zu sein,
ihr Gast zu sein?...
Ein Raubvogel vielleicht:
der wohl hängen könnte,
der standhafte, geduldige Leidende,
der sich herrlich in seinem Mantel freut,
mit wahnsinnigem Gelächter,
dem Gelächter eines Raubvogels…
Warum so standhaft? -
Grausam spottet er:
Man muss Flügel haben, wenn man den Abgrund liebt...
Man darf nicht in der Schwebe bleiben,
Wie du, Gehängter! —
O Zarathustra,
grausamer Nimrod!
Neulich noch ein Jäger Gottes,
die Schlinge aller Tugend,
der Pfeil des Bösen!
Jetzt –
von dir selbst gejagt,
deine eigene Beute,
in dir selbst gelangweilt...
Jetzt –
allein mit dir selbst,
gepaart mit deinem eigenen Wissen,
inmitten von hundert Reflexionen
vor deinem falschen Selbst,
inmitten von hundert zweifelhaften
Erinnerungen,
ermüdet von jedem Schmerz,
gekühlt von jedem Frost,
erwürgt von deinem eigenen Seil,
Selbsterkenner!
Selbsthenker!
Warum hast du dich
mit dem Seil deiner Weisheit gefesselt?
Warum hast du dich
in das Paradies
der alten Schlange verführen lassen?
Warum bist du in dich selbst gekrochen,
in dich – in dich?
Jetzt ein Invalide,
einer, der an Schlangengift erkrankt ist;
jetzt ein Gefangener,
einer, der das härteste Los gezogen hat:
in deinem eigenen Schacht,
gebeugt arbeitend,
dich selbst ausgrabend,
in dich selbst hinein grabend,
ohne Hilfe,
steif,
eine Leiche –
du hast nach der schwersten Bürde gesucht
und dich selbst gefunden –
kannst dich nicht von dir abwenden...
lauernd,
kauernd,
einer, der nicht mehr aufrecht steht!
Du bist tief in deinem Grab verwurzelt,
verwirrter Geist! ...
Und doch neulich so stolz,
auf all deinen gestelzten Stolz!
Kürzlich noch der gottvergessene Einsiedler,
der Mitsiedler des Teufels,
der scharlachrote Fürst aller Hochmute!...
Jetzt –
zwischen zwei Leeren
einer, der verdreht ist,
ein Fragezeichen,
ein müdes Rätsel –
ein Rätsel für Greifvögel...
Du wirst dich sicherlich „auflösen“.
Du sehnst dich zweifellos nach deiner „Auflösung“.
Tatsächlich flattern sie um dich herum, die Rätsel,
um dich herum, Gehängter!...
O Zarathustra!...
Selbsterkenner!...
Selbsthenker!...
VII
Das Leuchtfeuer
Hier, wo eine Insel zwischen den Meeren wuchs,
ein steinerner Altar steil aufgetürmt,
hier unter geschwärztem Himmel
entzündete Zarathustra sein Bergfeuer,
das Leuchtfeuer für vom Kurs abgekommene Seeleute,
das Fragezeichen für diejenigen, die Antworten haben...
diese Flamme mit weißgrauem Bauch –
schimmert mit ihrer gierigen Zunge in die Kälte jenseits,
neigt ihren Hals zu immer reineren Höhen –
eine erhabene Schlange der Ungeduld:
Dieses Signal habe ich vor mich gesetzt.
Meine Seele ist diese Flamme,
unersättlich nach neuen Weiten,
um in stiller Leidenschaft nach oben zu lodern.
Warum floh Zarathustra vor Tieren und Menschen?
Warum floh er plötzlich aus allen besiedelten Ländern?
Sechs Einsamkeiten kannte er bereits –
doch das Meer selbst war ihm nicht einsam genug,
die Insel ließ ihn aufsteigen,
auf dem Berg wurde er zur Flamme,
in einer siebten Einsamkeit.
Jetzt suchend, wirft er einen Haken über seinen Kopf.
Verlorene Seeleute! Trümmer alter Sterne!
Ihr Meere der Zukunft! Unerforschter Himmel!
Jetzt werfe ich meinen Haken auf alle Einsamen:
Gib der Ungeduld der Flamme eine Antwort,
Fang mich, Fischer auf hohen Bergen,
meine siebte ultimative Einsamkeit! — —
VIII
Die Sonne geht unter
Du wirst nicht mehr lange dürsten,
verbranntes Herz!
Ein Versprechen liegt in der Luft, das
aus unbekannten Mündern zu mir weht –
eine große Kühle kommt...
Meine Sonne stand mittags heiß über mir:
Ich begrüße euch, die ihr ankommt
als plötzliche Winde –
ihr kühlen Nachmittagsgeister!
Die Luft strömt seltsam und rein vorbei.
Wirft die Nacht nicht einen verstohlenen,
verführerischen Blick auf mich?...
Bleib stark, mein tapferes Herz!
Frag nicht, warum? —
Tag meines Lebens!
Die Sonne geht unter.
Schon ist die sanft ansteigende Flut
vergoldet.
Der Felsen atmet Wärme:
Schläft das Glück bis zum Mittag
im Mittagsschlaf?
Bei grünem Licht
spielt das Glück immer noch
über dem braunen Abgrund.
Tag meines Lebens!
Gegen Abend vergeht es!
Dein Auge glänzt schon
halb offen,
dein Tau quillt schon in Tränen auf,
fließt schon leise über weiße Meere,
deine purpurne Liebe,
deine letzte allmähliche Glückseligkeit...
Gelassenheit, goldene, komm!
Du hast eine noch geheimere, süßere Vorfreude
auf das Vergnügen zum Scheitern verurteilt! —
Bin ich auf meinem Weg zu schnell gelaufen?
Gerade jetzt, wo mein Fuß müde wird,
holt mich dein Blick ein,
dein Glück holt mich ein.
Um mich herum nichts als Wellen und Spiel.
Was auch immer hart war,
versank in der blauen Vergessenheit,
jetzt liegt mein Boot still.
Stürme und Reisen – wie wurden sie vergessen!
Verlangen und Hoffnung sind ertrunken,
Seele und Meer liegen sanft da.
Siebte Einsamkeit!
Ich habe mich noch nie
näher an süßer Geborgenheit gefühlt,
im wärmsten Blick der Sonne. —
Ist das Eis meines Gipfels
nicht immer noch weißglühend?
Silbrig, leicht, ein Fisch,
meine Barke schwimmt jetzt heraus...
IX
Ariadnes Klage
Wer wird mich wärmen, wer liebt mich noch?
Gib warme Hände!
Schenke die Kohlenpfanne des Herzens!
Liegend, zitternd
wie ein Halbtoter, dessen Füße gewärmt sind;
leider erschüttert, von unbekannten Fiebern,
zitternd vor spitzen Pfeilen aus eisigem Frost,
von dir gejagt, Gedanke!
Namenlos! Verhüllt! Schrecklich!
Du Jäger hinter Wolken!
Von deinem Blitz getroffen,
von deinem verachtenden Auge,
das mich aus der Dunkelheit anstarrt!
So liege ich,
windend, verdreht, gequält
von allen ewigen Leiden,
geschlagen
von dir, grausamster Jäger,
du Unbekannter – Gott!...
Schlag tiefer zu!
Schlag noch einmal zu!
Stich zu, zerbrich dieses Herz!
Warum all dieses Leid
mit stumpfen Pfeilen?
Wie kannst du, unermüdlich,
auf die menschliche Qual, immer wieder,
mit den boshaften, blitzenden
Augen der Götter blicken?
Du willst nicht töten,
sondern nur quälen? quälen?
Warum quälst du mich,
du boshafter unbekannter - Gott?
Ha!
Du schleichst dich näher,
gegen Mitternacht?...
Was willst du?
Sprich!
Du drückst mich, drückst auf mich,
ach, schon viel zu nah!
Du hörst mich atmen,
du belauschst mein Herz,
Eifersüchtiger! —
Worauf bist du überhaupt neidisch?
Weg! Weg!
Wozu dient die Leiter?
Willst du hinein,
möchtest du in mein Herz eindringen,
in meine geheimsten Gedanken eindringen?
Schamloser! Unbekannter! Dieb!
Was möchtest du für dich selbst stehlen?
Was möchtest du selbst hören?
Was willst du durch Folter gewinnen, du Folterer?
Du – Henker-Gott!
Oder soll ich mich wie eine Hündin vor dir suhlen?
Hingebungsvoll, eifrig aufgrund meiner Liebe zu dir –
schmeichelnd um dich herum?
Vergeblich!
Es sticht wieder! Grausamster Stich!
Ich bin nicht deine Hündin,
nur deine Beute, grausamster Jäger!
Deine stolze Gefangene,
du Räuber hinter Wolken...
Sprich endlich! Du, vom Blitz verhüllt!
Unbekannter! Sprich!
Was willst du, Straßenräuber, von mir?
Ein Lösegeld?
Was willst du als Lösegeld?
Fordere viel – das rät mein Stolz!
Und rede wenig – mein Stolz rät es mir auch!
Haha!
Mich willst du? mich?
mich – ganz? ... Ah!
Und wenn du mich quälst, du Narr, der du bist,
zerstörst du meinen Stolz?
Gib mir Liebe – wer wärmt mich noch?
Wer liebt mich noch?
Gib warme Hände,
gib die Kohlenpfanne des Herzens,
gibst mir, der Einsamsten,
leider Eis! Die das siebenfache Eis
gelehrt hat, sich nach Feinden zu sehnen,
sogar nach meinen Feinden.
Gib, ja, ergib dich mir,
grausamster Feind –
du dich mir selbst!...
Gegangen!
Er ist geflohen,
mein einziger Gefährte,
mein herrlicher Feind,
mein Unbekannter,
mein Henker - Gott!...
Nein!
Komm zurück!
Mit all deinen Leiden!
Alle meine Tränen strömen hervor.
Zu dir strömen sie.
Und die letzten Flammen meines Herzens
glühen für dich.
Oh, komm zurück,
mein unbekannter Gott! mein Schmerz!
Mein ultimatives Glück!...
(Ein Blitz. Dionysos wird in smaragdgrüner Schönheit sichtbar.)
Dionysos:
Sei klug, Ariadne!...
Du hast kleine Ohren;
du hast meine Ohren:
Lege ein kluges Wort hinein! –
Muss man sich nicht zuerst selbst hassen,
um sich selbst zu lieben?...
Ich bin dein Labyrinth...
X
Ruhm und Ewigkeit
Wie lange wirst du
auf deinem Unglück sitzen bleiben?
Achtung! Du brütest mir noch
ein weiteres Ei aus,
ein Basilisken-Ei
aus deinem langen Elend.
Warum schlich Zarathustra durch die Berge? —
Misstrauisch, geschwürig, düster,
einer, der lange auf der Lauer liegt –
doch plötzlich, ein Blitz,
hell, schrecklich, ein Windstoß
himmelwärts aus dem Abgrund:
Die Berge selbst beben
aus den Eingeweiden der Erde...
Wo Hass und Blitz
eins werden, ein Fluch –
nun schneidet Zarathustras Zorn über die Berge,
eine Sturmwolke kriecht ihren Weg.
Schleich dich, der noch eine letzte Decke hat!
Mit dir ins Bett, du Schwächling!
Bald grollender Donner über die Gewölbe,
dann zitternd wie Balken und Mauer,
dann zuckende Blitze und schwefelgelbe Wahrheiten –
Zarathustra flucht...
Diese Münze, mit der
die ganze Welt bezahlt,
Ruhm –
ich ergreife diese Münze nur mit Samthandschuhen,
mit Abscheu zertrete ich sie unter mir.
Wer möchte bezahlt werden?
Wer zum Verkauf steht, ergreift
mit klebrigen Händen
den ganzen Münzen-Klingklang-Ruhm der Welt!
Du willst sie kaufen?
Sie stehen alle zum Verkauf.
Aber viel musst du bieten!
Klingklang mit vollem Geldbeutel!
– Sonst stärkst du sie,
du stärkst ihre Tugend...
Sie sind alle tugendhaft.
Ruhm und Heldentum – das reimt sich.
Solange die Welt lebt,
wird sie mit Tugendgeschwätz
und Ruhm-Geschwätz bezahlen –
die Welt lebt von diesem Lärm...
Vor all den Tugendhaften
möchte ich schuldig sein,
jeder großen Sünde schuldig genannt!
Vor allen Trompeten des Ruhms
wird mein Ehrgeiz zum Wurm werden –
unter denen, die ich wünsche,
der Niedrigste zu sein...
Diese Münze, mit der
die ganze Welt bezahlt,
Ruhm –
ich ergreife diese Münze nur mit Samthandschuhen,
mit Abscheu zertrete ich sie unter mir.
XI
Tafel der ewigen Formen
Ich sehe ein Zeichen –
aus der Ferne sinkt langsam
eine glitzernde Konstellation auf mich zu...
Höchster Stern des Seins!
Tafel der ewigen Formen!
Du kommst auf mich zu? –
Warum hat niemand
deine stumme Schönheit gesehen –
warum entgeht sie meinem Blick nicht?
Zeichen der Notwendigkeit!
Tafel der ewigen Formen!
— Aber natürlich weißt du es:
Was alle hassen,
was ich allein liebe,
dass du ewig bist!
Dass du notwendig bist!
Meine Liebe entzündet sich immer
nur durch die Notwendigkeit.
Zeichen der Notwendigkeit!
Höchster Stern des Seins! –
Was kein Wunsch erreicht,
was kein Nein entweiht,
ewiges Ja des Seins,
ewig bin ich dein Ja:
Denn ich liebe dich, o Ewigkeit! — —
XII
Über die Armut der Reichsten
Seit nunmehr zehn Jahren –
kein Tropfen hat mich erreicht,
Kein feuchter Wind, kein Tau der Liebe –
ein regenloses Land –
jetzt flehe ich meine Weisheit an,
in dieser Dürre nicht geizig zu werden:
Gieße aus mir meinen rieselnden Tau,
meinen eigenen Regen für die vergilbte Wüste!
Einmal befahl ich den Wolken,
sich von meinen Bergen zu entfernen –
einmal sprach ich: Mehr Licht
für deine schattigen Plätze!
Heute locke ich sie, damit sie kommen:
Schenkt mir Schatten mit euren Eutern! –
Ich will
eure Kühe in der Höhe melken!
Milchwarme Weisheit, süßer Tau der Liebe,
die ich über das Land gieße.
Verschwindet, verschwindet, Wahrheiten,
die düster über mich wachen!
Ich möchte auf meinen Bergen
keine bitteren, ungeduldigen Wahrheiten sehen.
Heute nähert sich mir die Wahrheit
mit einem goldenen Lächeln,
gesüßt von der Sonne, aus gebräunter Liebe –
ich breche nur eine reife Wahrheit vom Baum ab.
Heute strecke ich meine Hand
nach den Locken des Zufalls,
klug genug,
den Zufall wie ein Kind voranzutreiben,
ihn zu überlisten.
Heute möchte ich dem Unwillkommenen gegenüber
gastfreundlich sein,
ich möchte nicht einmal stechend
gegen das Schicksal sein –
Zarathustra ist kein Igel.
Meine Seele,
unersättlich mit ihrer Zunge,
hat schon alles Gute und Böse geleckt,
sie ist in alle Tiefen abgetaucht,
doch immer wie ein Korken,
sie schwebt immer wieder nach oben,
sie flitzt umher wie Öl über braune Meere:
Danke! Diese Seele nennt mich den Glücklichen.
Wer sind für mich Vater und Mutter?
Ist mein Vater nicht der Prinz des Überflusses
und meine Mutter ein ruhiges Lachen?
Erschufen diese beiden nicht im Bund der Ehe
mich, das Tier der Rätsel,
mich, das unfreundliche Licht,
mich, den Verschwender aller Weisheit, Zarathustra?
Heute leidend unter Zärtlichkeit,
ein tauender Wind,
Zarathustra wartet sitzend, wartet auf seinen Bergen –
in seinem eigenen Saft
süß werdend und gedünstet,
unter seinem Gipfel,
unter seinem Eis,
müde und selig,
ein Schöpfer am siebten Tag.
Still!
Eine Wahrheit gleitet über mich
wie eine Wolke –
sie trifft mich mit unsichtbaren Blitzen.
Ihr Glück steigt langsam
auf breiten Treppen zu mir empor:
komm, komm, geliebte Wahrheit!
Still!
Es ist meine Weisheit!
Aus zögerlichen Augen,
aus samtenem Schaudern
trifft mich ihr Blick,
bezaubernd, böse, der Blick eines Mädchens...
Sie hat die Basis meines Glücks gefunden.
Sie hat mich gefunden – ha!
Wie hat sie es herausgefunden? –
Ein purpurroter Drache lauert
im Abgrund ihres Mädchenblicks.
Stille! Meine Weisheit spricht! —
Liebes Du, Zarathustra!
Du siehst aus wie einer,
der Gold geschluckt hat:
Eines Tages müssen sie dir den Bauch aufschlitzen!...
Du bist zu reich,
du Verderber vieler!
Du machst zu viele neidisch,
du machst zu viele arm...
Dein Licht wirft mich in den Schatten –
ich zittere: Geh weg, du Reicher,
geh, Zarathustra, weg von deiner Sonne!...
Du möchtest deinen Überfluss geben, verschenken,
aber du selbst bist der Überflüssige!
Sei schlau, du Reicher!
Verrate dich erst einmal selbst, o Zarathustra!
Seit nunmehr zehn Jahren –
und kein Tropfen hat dich erreicht?
Kein feuchter Wind? kein Tau der Liebe?
Aber wer sollte dich auch lieben,
du Überreicher?
Dein Glück schafft nichts als Dürre,
macht einen Mangel an Liebe –
ein regenloses Land...
Niemand dankt dir mehr,
aber du dankst allen,
die dir etwas nehmen:
Daher,
Überreicher,
ich sehe dich als den Ärmsten aller Reichen!
Du opferst dich, dein Reichtum quält dich,
du gibst dich selbst hin,
du kümmerst dich nicht um dich selbst,
du liebst dich selbst nicht;
große Qualen zwingen dich immer,
die Qualen einer überfüllten Scheune,
eines überfüllten Herzens;
aber niemand dankt dir mehr...
Du musst ärmer werden,
unkluger Weiser,
wenn du geliebt werden möchtest.
Man liebt nur den leidenden Menschen,
man liebt nur den hungrigen Menschen:
Gib dich zuerst selbst hin, o Zarathustra!
ICH BIN deine Weisheit...