VON TORSTEN SCHWANKE
ERSTER GESANG
Karl Marx wurde 1818
als drittes Kind des Anwaltes Heinrich Marx
und von Henriette Marx in Trier geboren.
Karl Marx war mütterlicherseits
Cousin dritten Grades von Heinrich Heine,
der auch aus einer jüdischen Familie stammte
und mit dem Marx während seiner Pariser Zeit
in engem Kontakt stand.
Heinrich Marx stammte mütterlicherseits
aus einer bedeutenden Rabbinerfamilie.
1812 schloss er sich dort
der französischen Freimaurerloge
„L’Etoile Hanséatique“
(Der Hanseatische Stern) an.
Zwischen 1816 und 1822 konvertierte der Vater
zum Protestantismus, da er als Jude
unter der preußischen Obrigkeit
sein unter napoleonischer Regierung angetretenes Amt
als Advokat nicht hätte weiterführen dürfen.
Die Mutter von Karl
ließ sich erst am 20. November 1825 taufen,
da sie fürchtete, ihre Familie,
allen voran ihr Vater, würde dies missbilligen.
Von 1830 bis 1835 besuchte Karl Marx
das Gymnasium zu Trier,
wo er mit 17 Jahren das Abitur
mit einem Durchschnitt von 2,4 ablegte.
1836 verlobte sich Marx in Trier
mit Jenny von Westphalen.
1835 ging er zum Studium der Rechtswissenschaften
und der Kameralistik nach Bonn.
Dort trat er der „Landsmannschaft der Treveraner“ bei.
Bekannt ist, dass er wegen „nächtlichen Lärmens
und Trunkenheit“ verurteilt wurde
und gegen ihn wegen „Tragens eines Säbels“
ermittelt wurde. In Bonn besuchte er
unter andrem Vorlesungen August Wilhelm Schlegels.
Marx schloss sich einem poetischen Kränzchen an,
dem unter andren Emanuel Geibel angehörte.
Ein Jahr später wechselte er
an die Friedrich-Wilhelms-Universität nach Berlin
und besuchte juristische Vorlesungen.
Er ließ aber das Jura-Studium
gegenüber Philosophie und Geschichte
in den Hintergrund treten.
Hier stieß Marx zum Kreis der Jung-
oder Linkshegelianer („Doctorclub“).
Hegel, der 1831 starb, hatte zu seiner Zeit
einen starken Einfluss auf das geistige Leben
in Deutschland. Das hegelianische Establishment
(„Alt- oder Rechtshegelianer“)
sah den preußischen Staat als Abschluss
einer Serie von dialektischen Entwicklungen:
eine effiziente Bürokratie, gute Universitäten,
Industrialisierung und ein hoher Beschäftigungsgrad.
Die Linkshegelianer, zu denen Marx gehörte,
erwarteten weitere dialektische Änderungen,
eine Weiterentwicklung der preußischen Gesellschaft,
die sich mit Problemen wie Armut,
staatlicher Zensur und der Diskriminierung
der Menschen, die sich nicht
zum lutherischen Glauben bekannten,
zu befassen hatte.
Nach dem Tod seines Vaters Heinrich Marx
am 10. Mai 1838 bekam Marx,
weil er erst mit 25 Jahren volljährig wurde,
einen gesetzlichen Vormund.
Am 15. April 1841 wurde Marx in absentia
an der Universität Jena mit einer Arbeit
zur Differenz der demokritischen
und epikureischen Naturphilosophie
zum Doktor der Philosophie promoviert.
Auf eine Professur rechnend,
zog Marx hierauf nach Bonn;
doch verwehrte die Politik
der preußischen Regierung ihm –
wie Ludwig Feuerbach und anderen –
die akademische Laufbahn,
galt Marx doch als ein führender Kopf
der oppositionellen Linkshegelianer.
Unter seinem Namen veröffentlichte er
im Januar 1841 in der junghegelianischen Zeitschrift
Athenäum zwei Gedichte
unter dem Titel Wilde Lieder.
Um diese Zeit gründeten liberale Bürger in Köln
die Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe
als gemeinsames Organ der verschiedenen
oppositionellen Strömungen
von monarchistischen Liberalen
bis zu radikalen Demokraten.
Marx wurde ein Hauptmitarbeiter des Blattes,
das 1842 erstmals erschien.
Marx übernahm die Redaktion der Zeitung,
welche von da an einen noch radikaleren
oppositionellen Standpunkt vertrat.
Marx, Arnold Ruge und Georg Herwegh
gerieten zu dieser Zeit
in einen politischen Dissens
zu dem Kreis um ihren Berliner Korrespondenten
Bruno Bauer, dem Marx vorwarf,
das Blatt „vorwiegend als ein Vehikel
für theologische Propaganda
und Atheismus, statt für politische
Diskussion und Aktion“ zu benutzen.
Als Friedrich Engels, der als ein Freund
und Parteigänger der Berliner Linkshegelianer galt,
am 16. November 1842 die Kölner Redaktion besuchte
und erstmals mit Marx zusammentraf,
verlief die Begegnung daher relativ kühl.
Aufgrund der Karlsbader Beschlüsse
unterlag das gesamte Pressewesen der Zensur,
die hinsichtlich der Rheinischen Zeitung
besonders streng war.
Die preußische Obrigkeit schickte zunächst
einen Spezialzensor aus Berlin.
Als dies nicht half, musste jede Ausgabe
in zweiter Instanz dem Kölner
Regierungspräsidenten vorgelegt werden.
Weil Marx’ Redaktion auch diese doppelte Zensur
regelmäßig unterlief, wurde schließlich
das Erscheinen der Zeitung 1843 untersagt.
Marx trat als Mitarbeiter und Redakteur zurück,
weil die Eigentümer hofften,
durch Änderung der Linie des Blattes
bei der Zensurbehörde eine Aufhebung
des Verbotes erreichen zu können.
1843 heiratete Marx seine vier Jahre ältere
Verlobte Jenny von Westphalen in Kreuznach.
Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor,
von denen nur die drei Töchter Jenny, Laura
und Eleanor das Kindesalter überlebten.
Im Oktober 1843 trafen Marx und seine Frau
in Paris ein. Marx begann dort,
zusammen mit Arnold Ruge,
die Zeitschrift Deutsch-Französische Jahrbücher
herauszugeben. Aufgrund seiner Tätigkeit
begann auch der briefliche Kontakt
mit Friedrich Engels, der zwei Artikel
beigetragen hatte. Von der Zeitschrift erschien
allerdings nur ein Doppelheft
und dies auch nur in deutscher Sprache,
weil Louis Blanc und Proudhon
keine Artikel lieferten.
Die Fortsetzung scheiterte aus verschiedenen Gründen.
Marx begann, sich mit politischer Ökonomie
zu beschäftigen und durch Kritik
an den französischen Sozialisten
einen eigenständigen Standpunkt zu entwickeln.
Ende 1843 lernte Marx in Paris
Heinrich Heine kennen.
Zeitlebens blieben sie freundschaftlich verbunden.
Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte
aus dem Jahre 1844
sind Marx’ erster Entwurf
eines ökonomischen Systems, der zugleich
die philosophische Richtung deutlich macht.
Marx entwickelt dort erstmals ausführlich
seine an Hegel angelehnte Theorie
der „entfremdeten Arbeit“.
Allerdings beendete Marx
diese sogenannten „Pariser Manuskripte“ nicht,
sondern verfasste kurz darauf zusammen
mit Friedrich Engels das Werk
Die heilige Familie.
Über die gemeinsame Arbeit
an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern
hatte sich mit Engels
ein reger Briefwechsel entwickelt,
der schließlich zu einer lebenslangen Freundschaft
sowie einer engen politischen
und publizistischen Zusammenarbeit führte.
Deren erstes Ergebnis war die im März 1845
veröffentlichte Schrift
Die heilige Familie,
die sich als Streitschrift verstand,
zu der Engels allerdings nur zehn Seiten
beigetragen hat. Marx polemisiert hier
gegen die Berliner Junghegelianer;
einen wichtigen Angehörigen dieser Gruppe
erwähnt er zunächst aber nicht: Max Stirner,
dessen Buch Der Einzige und sein Eigentum
im Oktober 1844 erschienen war
und von Engels in einem Brief an Marx
zunächst vorwiegend positiv eingeschätzt wurde.
Marx sah Stirners Buch kritischer als Engels
und überzeugte diesen in einer Antwort
auf den genannten Brief von seiner Auffassung.
Gleichwohl schien er sich Stirners Kritik
an Feuerbach partiell zu eigen zu machen
und verfasste im Frühjahr 1845
seine berühmten, aber erst postum veröffentlichten
Thesen über Feuerbach.
Erst im Herbst 1845, nachdem Marx
die Verteidigung Feuerbachs
gegen die Kritik Stirners an ihm
sowie Stirners Replik darauf gesehen hatte,
entschloss er sich, selbst eine Kritik Stirners zu verfassen:
das Kapitel „Sankt Max“ in der gemeinsam
verfassten Streitschrift
Die deutsche Ideologie,
das aber erst nach Marx’ Tod veröffentlicht wurde.
Im ersten, der Kritik des junghegelianischen
Religionskritikers Ludwig Feuerbach
gewidmeten Kapitel der Deutschen Ideologie
entwickeln Marx und Engels
ein Modell des „praktischen Entwicklungsprozesses“
der menschlichen Geschichte,
die sie im Gegensatz zu den Hegelianern
nicht als Entwicklungsgang des Geistes,
sondern als Geschichte menschlicher Praxis
und der sozialen Beziehungen verstehen:
„Es wird von den wirklich tätigen Menschen
ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess
auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe
und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt“.
Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei
der Moment der Teilung der Arbeit
als des bestimmenden Faktors
der geschichtlichen Entwicklung.
Dem ebenfalls materialistisch
argumentierenden Feuerbach werfen sie dabei vor,
den Menschen als etwas Wesenhaftes,
nicht aber als Subjekt sinnlich-praktischer Tätigkeit
verstanden zu haben.
Die weiteren Kapitel der Deutschen Ideologie
beinhalten eine scharfe Kritik
der übrigen Junghegelianer als Vertreter einer –
so Marx und Engels – wesentlich
idealistischen Gesellschaftskritik.
Auch den Vertretern des sogenannten
„wahren Sozialismus“ ist ein Kapitel gewidmet.
Zu Lebzeiten Marx’ wurde allerdings
nur dieses Kapitel abgedruckt..
Marx’ und Engels’ in Abgrenzung
gegen die zeitgenössischen
sozialistischen und junghegelianischen
Strömungen entworfene Grundlegung
eines „historischen Materialismus“
stellt durch die Betonung der sozialen
und materiellen Triebkräfte der Geschichte
einen unmittelbaren Vorläufer der Soziologie dar.
Marx hatte sich außerdem an der Redaktion
des in Paris erscheinenden deutschen Wochenblattes
Vorwärts! beteiligt, das den Absolutismus
der deutschen Länder – besonders Preußens – angriff,
unter Marx’ Einfluss bald mit deutlich
sozialistischer Ausrichtung.
Die preußische Regierung setzte deswegen
seine Ausweisung aus Frankreich durch,
so dass Marx 1845 nach Brüssel übersiedeln musste,
wohin Engels ihm folgte.
Bei einer gemeinsamen Studienreise nach England
1845 knüpften sie Verbindungen
zum revolutionären Flügel der Chartisten.
Marx gab Anfang Dezember 1845
die preußische Staatsbürgerschaft auf
und wurde staatenlos, nachdem er erfahren hatte,
dass die preußische Regierung
vom belgischen Staat
seine Ausweisung erwirken wolle.
Spätere Gesuche, seine Staatsbürgerschaft
wiederherzustellen, blieben erfolglos.
In Brüssel veröffentlichte Marx 1847 die Schrift
Misère de la philosophie.
Réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon,
eine Kritik der ökonomischen Theorie
Pierre-Joseph Proudhons und darüber hinausgehend
der kapitalistischen Gesellschaft selbst.
Außerdem schrieb er gelegentlich Artikel
für die Deutsche-Brüsseler-Zeitung.
Anfang 1846 gründeten Marx und Engels
in Brüssel das Kommunistische Korrespondenz-Komitee,
dessen Ziel die inhaltliche Einigung
und der organisatorische Zusammenschluss
der revolutionären Kommunisten
und Arbeiter Deutschlands und anderer Länder war;
so wollten sie den Boden für die Bildung
einer proletarischen Partei bereiten.
Schließlich traten Marx und Engels in Verbindung
mit Wilhelm Weitlings sozialistischem Bund
der Gerechten, in dem sie 1847 Mitglieder wurden.
Noch im selben Jahr setzte Marx
die Umgründung zum Bund der Kommunisten durch
und erhielt den Auftrag, dessen Manifest zu verfassen.
Es wurde im Revolutionsjahr 1848 veröffentlicht
und ging als Kommunistisches Manifest
(Manifest der Kommunistischen Partei)
in die Geschichte ein.
Am 15. September 1850 stellte Marx den Antrag,
die Zentralbehörde nach Köln zu verlegen
und in London zwei Kreise des Bundes zu bilden.
Der Beschluss wurde gegen eine einzige Gegenstimme
angenommen. Am 17. September 1850
traten Marx, Engels, Liebknecht und andere
aus dem Londoner Arbeiterbildungsverein aus.
Kurz darauf löste die französische Februarrevolution 1848
in ganz Europa politische Erschütterungen aus;
als diese Brüssel erreichten, wurde Marx verhaftet
und aus Belgien ausgewiesen.
Da ihn inzwischen die neu eingesetzte
provisorische Regierung der Französischen Republik
wieder nach Paris eingeladen hatte,
kehrte er dorthin zurück;
nach Ausbruch der deutschen Märzrevolution
ging Marx nach Köln.
Dort war er einer der Führer
der revolutionären Bewegung
in der preußischen Rheinprovinz
und gab die Neue Rheinische Zeitung,
Organ der Demokratie, heraus,
in der unter anderen erstmals
die unvollendet gebliebene Schrift
Lohnarbeit und Kapital abgedruckt wurde.
Die Zeitung konnte am 19. Mai 1849
zum letzten Mal erscheinen, bevor
die preußische Reaktion ihr Erscheinen unterband.
Marx kehrte zunächst nach Paris zurück,
wurde aber schon einen Monat später
vor die Wahl gestellt, sich entweder
in der Bretagne internieren zu lassen
oder Frankreich zu verlassen.
Marx ging daraufhin mit seiner Familie
ins Exil nach London,
wo er vor allem anfangs in dürftigen Verhältnissen
von journalistischer Tätigkeit
sowie finanzieller Unterstützung
vor allem von Engels überlebte,
der Marx nach England folgte.
Politisch widmete er sich
der internationalen Agitation für den Kommunismus,
theoretisch entwickelte er wesentliche Elemente
seiner Analyse und Kritik des Kapitalismus.
In London erschien zunächst Marx’ Werk
„Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“;
daran anknüpfend „Der achtzehnte Brumaire
des Louis Bonaparte“
zur Machtergreifung Napoleons III.
Von 1852 an war Marx Londoner Korrespondent
der New York Daily Tribune
und jahrelang deren Korrespondent für Europa.
Die Artikel sind keine gewöhnlichen Berichte,
sondern umfassende Analysen
der politischen und ökonomischen Lage
einzelner europäischer Länder,
oft als ganze Artikelreihe.
Die Mitarbeit an der Tribune endete,
als Charles Anderson Dana die Mitarbeit
von Marx wegen inneramerikanischer Angelegenheiten
am 28. März 1862 kündigte.
1859 schrieb Marx zahlreiche Artikel
für die Arbeiterzeitung „Das Volk“.
Marx wurde Korrespondent der Wiener Presse
und stürzte sich in das Studium
der politischen Ökonomie.
1861 versuchte er, auch mit gerichtlichen Mitteln
und unterstützt von Ferdinand Lassalle,
seine preußische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen,
doch die preußische Regierung verweigerte dies.
Während des Januaraufstands 1863
nahm Marx Kontakt zu polnischen Aufständischen auf
und veranlasste den Deutschen Arbeiterbildungsverein
in London, sich an der Unterstützung
der Polen zu beteiligen.
In der Folge entstanden Marx’
ökonomische Hauptwerke.
Als erste systematische Darstellung
der marxschen ökonomischen Grundgedanken
erschien 1859 Zur Kritik der politischen Ökonomie,
das ursprünglich als erstes Heft
zur Fortsetzung bestimmt war.
Doch Marx war mit der Detailausführung
des Gesamtplans noch nicht zufrieden,
und so begann er seine Arbeit von neuem.
Erst 1867 erschien der erste der drei Bände
seines Hauptwerks Das Kapital.
Während er das Kapital ausarbeitete,
bot sich Marx auch wieder Gelegenheit
zu praktischer Tätigkeit in der Arbeiterbewegung:
1864 beteiligte er sich federführend
an der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation
(„Erste Internationale“)
und leitete sie bis zur faktischen Auflösung 1872.
Marx entwarf die Statuten
und das grundlegende Programm,
die „Inauguraladresse
der Internationalen Arbeiter-Assoziation“,
das so disparate Sektionen wie deutsche Kommunisten,
englische Gewerkschafter, Schweizer Anarchisten
und französische Proudhonisten zusammenführte.
In den deutschen Staaten trieb Marx zunächst
die Schaffung einer revolutionären
sozialistischen Partei voran;
dies geschah in Abgrenzung
zum sozialreformerisch ausgerichteten
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein
des früheren Marx-Schülers Ferdinand Lassalle,
mit dem er sich in den politischen Zielen entzweit hatte.
Wilhelm Liebknecht stand
seit seiner Übersiedlung nach Berlin 1862
in Kontakt mit Marx und Engels.
Beide unterstützten ihn durch Beiträge
in den Zeitungen Demokratisches Wochenblatt
und Der Volksstaat. Wilhelm Liebknecht
war 1869 Mitbegründer der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei, die sich 1875 mit den Lassalleanern
zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands vereinigte,
der späteren Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).
Auch nach der Auflösung der Ersten Internationale
blieb Marx in ständiger Verbindung
mit fast allen wichtigen Personen
der europäischen und amerikanischen Arbeiterbewegung,
die sich oft mit ihm persönlich berieten.
An der Vollendung seiner stetig vorangetriebenen
ökonomischen Arbeiten hinderte Marx
seine zunehmende Kränklichkeit.
In den Jahren von 1862 bis 1874
litt er an einer Hautkrankheit, die ihn stark behinderte.
Um sicher nach dem Kontinent zu reisen,
stellte Marx am 1. August 1874 einen Antrag
auf die britische Staatsbürgerschaft,
der aber am 17. August abgelehnt wurde
mit der Begründung, er sei ein “notorius agitator,
the head of the International Society,
and an advocate of Communistic principles.
This man has not been loyal
to his own King and Country”.
Am 2. Dezember 1881 starb seine Frau Jenny Marx,
am 11. Januar 1883 „die vom Mohr
am meisten geliebte Tochter“ Jenny.
Marx verstarb am 14. März 1883
im Alter von 64 Jahren in London
und wurde am 17. März 1883
auf dem Highgate Cemetery beigesetzt.
Friedrich Engels hielt eine Trauerrede.
Die wissenschaftlichen Leistungen von Karl Marx
hat Engels in seiner Grabrede
in zwei wesentliche Entdeckungen zusammengefasst:
„Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung
der organischen Natur, so entdeckte Marx
das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte:
dass also die Produktion der unmittelbaren
materiellen Lebensmittel
und damit die jedesmalige ökonomische
Entwicklungsstufe eines Volkes
oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet,
aus der sich die Staatseinrichtungen,
die Rechtsanschauungen, die Kunst
und selbst die religiösen Vorstellungen
der betreffenden Menschen entwickelt haben,
und aus der sie daher auch erklärt werden müssen –
nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.
Damit nicht genug.
Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz
der heutigen kapitalistischen Produktionsweise
und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft.
Mit der Entdeckung des Mehrwerts
war hier plötzlich Licht geschaffen.“
ZWEITER GESANG
Engels war das erste von neun Kindern
des erfolgreichen Baumwollfabrikanten
Friedrich Engels und dessen Frau
Elisabeth Franziska Mauritia Engels.
Engels’ Vater entstammte einer angesehenen,
seit dem 16. Jahrhundert im Bergischen Land
ansässigen Familie
und stand dem Pietismus nahe.
Seine Mutter stammte aus einer Philologenfamilie.
In seiner Geburtsstadt Barmen
besuchte er die Städtische Schule.
Im Herbst 1834 schickte ihn sein Vater
auf das liberale Gymnasium zu Elberfeld.
Der äußerst sprachbegabte Schüler
begeisterte sich für humanistische Ideen
und geriet in zunehmende Opposition
zu seinem Vater.
Auf dessen Drängen musste Engels
zum 25. September 1837 das Gymnasium,
ein Jahr vor dem Abitur, verlassen,
um als Handlungsgehilfe im Handelsgeschäft
seines Vaters in Barmen zu arbeiten.
Im Juli 1838 reiste er nach Bremen,
um dort im Hause des Großhandelskaufmanns
und sächsischen Konsuls Heinrich Leupold
seine Ausbildung bis April 1841 fortzusetzen.
Er wohnte im Haushalt von Georg Gottfried Treviranus,
Pastor an der Martini-Kirche.
Im weltoffenen Bremen hatte Engels Gelegenheit,
neben seiner kaufmännischen Ausbildung
die durch Presse und Buchhandel
verbreiteten liberalen Ideen zu verfolgen.
Er fühlte sich vor allem von den liberalen Dichtern
und Publizisten des „Jungen Deutschland“
angesprochen und unternahm selbst
literarische Versuche.
Noch im Frühjahr 1839 begann Engels,
mit dem radikalen Pietismus
seiner Geburtsstadt abzurechnen.
In seinem Artikel Briefe aus dem Wuppertal,
der 1839 im Telegraph für Deutschland erschien,
schilderte er, wie der religiöse Mystizismus
im Wuppertal alle Bereiche des Lebens durchdrang,
und machte auf den Zusammenhang
zwischen der pietistischen Lebenseinstellung
und dem sozialen Elend aufmerksam.
Engels betätigte sich als Bremer Korrespondent
des Stuttgarter Morgenblatts für gebildete Leser,
ab 1840 bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung.
Er schrieb zahlreiche Literaturkritiken,
Gedichte, Dramen und verschiedene Prosaarbeiten.
Darüber hinaus verfasste er Berichte
zur Auswanderungsfrage
und über die Schraubendampfschifffahrt.
Wichtige Förderer seiner literarisch-politischen
Interessen waren zu dieser Zeit Ludwig Börne,
Ferdinand Freiligrath und insbesondere Karl Gutzkow.
In dessen Telegraph für Deutschland
erschienen von 1839 bis 1841
unter dem Pseudonym „Friedrich Oswald“
zahlreiche Beiträge von Engels.
Ab September 1841 leistete Engels
seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger
bei der Garde-Artillerie-Brigade in Berlin ab
und besuchte dort Vorlesungen zur Philosophie
an der Universität. Er näherte sich
dem Kreis der Junghegelianer
und schloss sich der Gruppe um Bruno und Edgar Bauer,
den sogenannten „Freien“, an.
Zur Jahreswende 1841/42 veröffentlichte Engels –
unter dem Eindruck von Schellings
Berliner Hegel-Vorlesungen –
einen Artikel und zwei Broschüren,
die sich gegen die Philosophie Schellings richteten.
Seit seinen Streitschriften gegen Schelling
widmete Engels der Philosophie
immer größere Aufmerksamkeit.
Er studierte die Werke Hegels,
beschäftigte sich ausführlich mit dem Stand
der religionskritischen Forschungen
und wandte sich zum ersten Mal
der Philosophie der französischen Materialisten zu.
Ab Mitte 1842 begann er,
sich mit Ludwig Feuerbach
(Das Wesen des Christentums)
auseinanderzusetzen, der in seinen Werken
die Religion sowie den Hegelschen Idealismus verwarf.
Unter dem Eindruck dieser Studien
entfernte sich Engels zunehmend
vom Junghegelianismus und fing an,
Positionen des Materialismus einzunehmen.
Damit bekamen für ihn politische Tagesfragen
ein immer stärkeres Gewicht.
Seit April 1842 veröffentlichte er
gegen den reaktionären Kurs
des preußischen Staates gerichtete Artikel
in der Rheinischen Zeitung,
dem damals führenden Organ der oppositionellen
bürgerlichen Bewegung in Deutschland.
Engels interessierte sich schon sehr früh
für die prekäre Lage der Arbeiterschaft.
Im bereits 1839 im Telegraph für Deutschland
veröffentlichten Aufsatz
Briefe aus dem Wuppertal
beschreibt er unter anderem
die Degenerationserscheinungen
deutscher Industriearbeiter –
wie die Verbreitung des Mystizismus
und der Trunkenheit –
und die Kinderarbeit in den Fabriken.
Daneben beschäftigte sich Engels
in der Folgezeit stark mit den Junghegelianern,
insbesondere mit David Friedrich Strauß.
In den Jahren 1842/43 erschienen –
unter dem Eindruck von Schellings
Hegel-Vorlesungen in Berlin –
Artikel und Broschüren zu Schelling
und dessen Hegel-Kritik.
Engels kritisiert darin den Versuch Schellings,
die christliche Religion zu rechtfertigen,
und verteidigt die Hegelsche Dialektik.
Schellings Philosophie stelle einen Rückfall
in die Scholastik und Mystik dar
und sei der Versuch, die Philosophie wieder
zur „Magd der Theologie“ zu erniedrigen.
Im November 1842 reiste Engels über Köln –
wo er bei einem Redaktionsbesuch
der Rheinischen Zeitung erstmals
Karl Marx persönlich begegnete –
nach Manchester, wo er im Stadtteil
Chorlton-on-Medlock wohnte,
um seine kaufmännische Ausbildung
in der seinem Vater und dessen Partner Ermen
gehörenden Baumwollspinnerei
Ermen & Engels zu vollenden.
Im industriell viel weiter entwickelten England
lernte Engels die Realität der dortigen
Arbeiterklasse kennen,
was seine politische Haltung veränderte
und auf Lebenszeit prägte.
Der Feudalismus war dort bereits überwunden,
und die Widersprüche zwischen Bourgeoisie
und Arbeiterklasse traten für Engels offen zutage.
Er suchte den Kontakt mit der sich formierenden
englischen Arbeiterbewegung
und lernte deren Kampfformen
wie Streiks, Meetings und Gesetzesinitiativen kennen.
Die irische Arbeiterin Mary Burns,
Engels’ Lebensgefährtin,
spielte dabei eine wichtige Rolle.
1843 nahm Engels in London
Kontakt mit der ersten revolutionären
deutschen Arbeiterorganisation,
dem „Bund der Gerechten“, auf
und begegnete dort führenden Mitgliedern.
Gleichzeitig trat er mit den englischen
Chartisten in Leeds in Verbindung
und schrieb erste Artikel, die in den Zeitungen
der Owenisten (The New Moral World)
und Chartisten (The Northern Star) erschienen.
In den Herbst 1843 geht seine Freundschaft
mit dem Chartistenführer Julian Harney
und dem Handelsgehilfen
und Dichter Georg Weerth zurück,
der später das Feuilleton
der Neuen Rheinischen Zeitung
in den Revolutionsjahren 1848/49 leiten sollte.
Bewegt von den zähen Kämpfen
des englischen Proletariats,
vertiefte sich Engels in das Studium
der bestehenden Theorien
der kapitalistischen Gesellschaft.
Er griff zu den Werken der englischen
und französischen Utopisten
(Robert Owen, Charles Fourier,
Claude-Henri de Saint-Simon)
und der klassischen bürgerlichen
politischen Ökonomie (Adam Smith,
David Ricardo). Die Resultate seiner Studien
veröffentlichte er in der Rheinischen Zeitung,
in englischen Arbeitsblättern
und in einer Schweizer Zeitschrift.
Im Februar 1844 entstanden dann die Schriften
Die Lage Englands und Umrisse
zu einer Kritik der Nationalökonomie
in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern,
die von Karl Marx und Arnold Ruge
in Paris herausgegeben wurden.
Er versuchte darin eine erste Antwort
auf die Frage zu geben, welche Rolle
die ökonomischen Bedingungen und Interessen
für die Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft spielen.
Kurz nach seiner Ankunft in Manchester
hatte Engels die irischen Arbeiterinnen
Mary und Lizzie Burns kennengelernt,
mit denen er zeitlebens in Liebe verbunden war;
einen Tag vor Lizzies Tod ging er
noch offiziell die Ehe mit ihr ein.
Mit Marx stand Engels seit seiner Mitarbeit
an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern
im regelmäßigen Briefwechsel.
Bei seiner Rückreise nach Deutschland,
Ende August 1844, besuchte er ihn
in Paris für zehn Tage.
Die beiden stellten fest,
dass ihre Ansichten übereinstimmten,
und beschlossen, weiterhin eng zusammenzuarbeiten.
Mit seiner Ankunft in England 1842,
der Konfrontation mit dem Chartismus
und den ersten historischen Auseinandersetzungen
der Arbeiterbewegung verlagerte sich
Engels’ Interesse auf die Analyse
der sozialen und politischen Situation
der Arbeiterschaft. Er kam zu der Überzeugung,
dass der Kampf der materiellen Interessen
der Hauptantrieb der gesellschaftlichen Entwicklung ist,
welcher seinen politischen Ausdruck
im Klassenkampf findet.
Seine theoretischen Ansichten zu dieser Zeit
kommen am besten in der Schrift
Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie
zum Ausdruck. Engels formuliert darin
seine Kritik an der idealistischen
und materialistischen Philosophie.
Als zentrale Kategorie des Kapitalismus
stellt er das Privateigentum heraus,
das den Grund für die Entfremdung der Arbeit,
für die Bildung von Monopolen
und für die wiederkehrenden Krisen darstelle.
Die Lösung der Probleme des Kapitalismus
sieht Engels in einer rationellen
Organisation der Produktion.
Nach seiner Rückkehr nach Barmen
fand Engels veränderte Verhältnisse vor.
Der Aufstand der schlesischen Weber im Juni 1844
hatte auch in anderen Teilen Deutschlands
Arbeiterstreiks ausgelöst.
Diese beeinflussten auch die bürgerlichen Kräfte
in Rheinpreußen zur Opposition
gegen die preußische Regierung.
Um die oppositionellen Kräfte zu unterstützen,
bemühte sich Engels, Verbindung
zu den im Rheinland wirkenden
Sozialisten aufzunehmen, deren führender
Theoretiker Moses Hess war.
Mit ihm und dem Maler und Dichter
Gustav Adolf Koettgen entfaltete er
ab dem Herbst 1844 in Elberfeld
eine rege agitatorische Tätigkeit.
In den Elberfelder Reden vom Februar 1845
propagierte Engels eine kommunistische Gesellschaft,
worauf ihm von der Provinzialregierung
alle öffentlichen Versammlungen
verboten wurden. Er konzentrierte sich
nun darauf, die Verbindungen
zwischen den illegal arbeitenden
sozialistischen Gruppen zu festigen,
und pflegte seine internationalen Beziehungen,
vor allem zu den englischen Sozialisten
und Chartisten. Für die sozialistische
Zeitschrift The New Moral World,
an der er bereits in England mitgearbeitet hatte,
schrieb er mehrere Artikel, in denen er
über die Entwicklung sozialistischer
Strömungen in Deutschland berichtete.
Darüber hinaus bemühte er sich,
die verschiedenen Gruppen für die von Marx
und ihm vertretenen Ideen zu gewinnen
und die vorherrschenden idealistischen
und utopisch-sozialistischen
Vorstellungen zu überwinden.
Ein wichtiges Ereignis war dabei
das Erscheinen der Heiligen Familie,
ein Gemeinschaftswerk mit Marx, im Februar 1845.
Die wissenschaftliche Öffentlichkeit in Deutschland
reagierte darauf mit zumeist heftigen Angriffen
auf das darin enthaltene
materialistisch-sozialistische Ideengut.
Um die Theorie vom Klassenkampf
weiter voranzutreiben, arbeitete Engels
seit seiner Ankunft in Barmen
intensiv an seinem Werk
Die Lage der arbeitenden Klasse in England,
das im März 1845 erschien.
Es wurde von den wichtigsten deutschen
Zeitungen und Zeitschriften besprochen
und fand bei den demokratischen Kräften
des Bürgertums großes Interesse.
Im April 1845 übersiedelte Engels nach Brüssel,
um Marx zu unterstützen,
der unter dem Druck der preußischen Reaktion
von der französischen Regierung
aus Frankreich ausgewiesen worden
und in das junge Königreich Belgien gezogen war.
Noch im gleichen Jahr folgte ihm Mary Burns
aus England. Marx und Engels bauten in Brüssel
einen gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreis auf.
Marx und Engels stellten fest,
dass sich in der kommunistischen Bewegung
Ideen ausbreiteten, die die Aufnahme
ihrer neuen Erkenntnisse hemmten.
Sie begannen daher mit der Arbeit an der Schrift
Die deutsche Ideologie,
die eine Kritik an Feuerbach und dem
„seitherigen deutschen Sozialismus“ umfasste.
Nach sechs Monaten beendeten sie
im Mai 1846 ihr Werk. Engels bemühte sich
bis 1847 vergeblich um einen Verleger
und verfasste als Ergänzung Anfang 1847
noch die Arbeit Die wahren Sozialisten.
Nachdem sie aus ihrer Sicht
die theoretischen Grundlagen
für die künftige Umgestaltung der Gesellschaft
gelegt hatten, sahen Marx und Engels
ihre wichtigste Aufgabe darin, das europäische
und zunächst das deutsche Proletariat
für ihre Überzeugungen zu gewinnen.
Sie widmeten sich nach 1846 immer stärker
der praktischen Tätigkeit für die Bildung
einer proletarischen Partei.
Im Februar 1846 gründeten sie in Brüssel
das Kommunistische Korrespondenz-Komitee,
das die Verbindung zwischen den Kommunisten
in den verschiedenen Ländern herstellen sollte.
Im Laufe des Jahres 1846 kam es
zur Gründung weiterer Komitees
in zahlreichen europäischen Städten.
Marx und Engels hielten diese zumeist kleinen Gruppen
für die Basis, um ihre Ideen
in die Arbeiterbewegung hineinzutragen
und sich mit jenen weltanschaulichen Konzepten
auseinanderzusetzen, die bis dahin
die Vorstellungswelt der Arbeiter bestimmten.
Dazu gehörten vor allem der utopische Kommunismus,
die Lehren des französischen Sozialisten Proudhon
und die Auffassungen des wahren Sozialismus.
Ende Januar 1847 traten Marx und Engels
dem „Bund der Gerechten“ bei,
der sich ihren Ideen inzwischen angenähert hatte.
Sie arbeiteten nun energisch darauf hin,
den „Bund“ in eine Partei
der Arbeiterklasse umzuwandeln.
Währenddessen schrieb Marx in Brüssel
an seiner theoretischen Streitschrift
Misère de la philosophie (Das Elend der Philosophie),
die im Juli 1847 in Frankreich herauskam
und eine Kritik an den Reformplänen
Proudhons enthielt. Engels propagierte in Paris
die in dem Buch behandelten theoretischen Fragen
unter den deutschen Kommunisten
und den Führern der französischen Sozialisten.
Im Juni 1847 fand der erste der beiden Bundeskongresse
des „Bundes der Gerechten“ statt,
der sich nun in den „Bund der Kommunisten“
umbenannte, da für deren Mitglieder
nicht mehr die „Gerechtigkeit“,
sondern der Angriff auf „die bestehende
Gesellschaftsordnung und das Privateigentum“
im Vordergrund stand. An die Stelle
der alten Bundesdevise „Alle Menschen sind Brüder“
trat nun die revolutionäre Klassenlosung
„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
In Form von 22 Fragen und Antworten
beschloss der Kongress
den „Entwurf eines Kommunistischen
Glaubensbekenntnisses“.
Im August 1847 gründete Engels
gemeinsam mit Marx
den Brüsseler Deutschen Arbeiterverein.
Anfang November 1847 verfasste Engels,
beauftragt von den Pariser Mitgliedern
des „Bundes der Kommunisten“,
die Grundsätze des Kommunismus.
Noch im selben Monat nahmen Marx und Engels
am zweiten Kongress des „Bundes
der Kommunisten“ in London teil,
wo sie beauftragt wurden, das Programm
des Bundes weiter auszuarbeiten, woraus
Das Kommunistische Manifest entstand,
das im Februar 1848 in London erschien.
Im Hintergrund ihrer Arbeit stand die Erwartung,
dass die bürgerliche Revolution von 1848
den proletarischen Umsturz der bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland
nach sich ziehen werde. Aktiv wurde Engels
auch in der Auseinandersetzung
mit dem wahren Sozialismus.
Nach seiner Rückkehr von England
nach Deutschland verfasste Engels
Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
Das 1845 erschienene Werk stellt Engels’
erste größere eigenständige Veröffentlichung dar.
Es fiel in eine Zeit besonderer sozialer Spannungen
in Deutschland (Weberaufstand).
Engels wendet sich hier der sozialen Frage zu,
ausgehend von den Verhältnissen in England,
die er aus eigener Anschauung kannte.
Er beschreibt die elenden Wohnquartiere der Arbeiter
in den englischen Industriestädten
und schildert die Arbeitssituation des Proletariats,
weist auf Kinderarbeit, Berufskrankheiten
und Sterblichkeitsraten hin.
Schließlich informiert er über die zusätzliche
Knebelung der Arbeiterfamilien
durch den Zwang, bei den Unternehmern
Lebensmittel einzukaufen
und in den von ihnen bereitgestellten
Wohnungen zu wohnen.
Die im September 1844 geschlossene Freundschaft
mit Marx führte zunächst
zu einer gemeinsamen Aufarbeitung
ihrer philosophischen Vergangenheit.
Ihre erste gemeinsame Schrift
Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik
markiert ihren Übergang vom Idealismus
zum Materialismus. Marx und Engels
rechnen darin mit ihren früheren
junghegelianischen Gesinnungsgenossen ab.
Bauers „kritischer Kritik“ werfen sie vor,
dass in ihrem Zentrum nicht Menschen,
sondern „Kategorien“ – Geist und Selbstbewusstsein –
stehen und sie hinter das von Feuerbach
erreichte Niveau zurückfalle,
die den spekulativen Idealismus der Hegelschen
Philosophie längst überwunden habe.
Als Antwort auf polemische Beiträge
Bruno Bauers und Max Stirners
in Wiegands Vierteljahresschrift entstand
bis Mai 1846 die wohl wichtigste Schrift
dieser Periode, Die deutsche Ideologie.
Kritik der neuesten deutschen Philosophie
in ihren Repräsentanten, Feuerbach,
Bruno Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus
in seinen verschiedenen Propheten.
In der Schrift fassen Marx und Engels
ihre Kritik an der junghegelianischen
Philosophie zusammen, deren Forderung
nach Bewusstseinsveränderung darauf hinauslaufe,
das Bestehende nur anders zu interpretieren,
es aber ansonsten anzuerkennen.
Feuerbachs Materialismus,
Bauers Philosophie des Selbstbewusstseins
und Stirners individualistischer Anarchismus
ließen trotz aller theoretischen Radikalität
die praktischen Verhältnisse unangetastet bestehen.
Daneben kritisieren sie den deutschen Sozialismus,
der sich zwar kosmopolitisch gebe,
aber „nationale Borniertheit“ zeige.
Er sei von einer sozialen zu einer
nur noch literarischen Bewegung verkommen
und befriedige so einzig die Bedürfnisse
des deutschen Kleinbürgertums.
Mit der Trennung von den Junghegelianern
und Sozialisten radikalisierten sich
die Positionen von Marx und Engels.
1847 wurden sie vom zweiten Kongress
des Bundes der Kommunisten mit der Ausarbeitung
des Manifests der Kommunistischen Partei beauftragt.
Das Werk formuliert den Klassenkampf als Prinzip
der bisherigen Geschichte
und begreift den Aufstieg der modernen Bourgeoisie
als Sieg einer revolutionären Klasse.
Mit ihrem Sieg verliere aber die Bourgeoisie
ihre revolutionäre Rolle und hemme
die weitere Entwicklung der Produktivkräfte.
Die Bourgeoisie habe in ihrem Kampf
gegen den Feudalismus sämtliche
überkommenden Verhältnisse der Menschen
untereinander zerstört und an deren Stelle
das reine Geldverhältnis gesetzt.
Bedingung der von ihr geschaffenen
kapitalistischen Gesellschaft sei die Lohnarbeit,
ihre Konsequenz das Proletariat,
das durch seine Arbeit das Kapital vermehre,
ohne sich selbst Eigentum beschaffen zu können.
Die Bourgeoisie produziere so „vor allem
ihre eignen Totengräber“.
Das Manifest schließt mit dem Kampfaufruf
„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Es erlangte zwar keine unmittelbare
politische Wirksamkeit, wurde jedoch später
zur Grundlage sozialistischer
und kommunistischer Parteiprogramme.
Nach dem Ausbruch der Märzrevolution in Wien
und Barrikadenkämpfen in Berlin (März 1848)
trafen sich Marx und Engels in Paris
und arbeiteten dort die Forderungen
der Kommunistischen Partei in Deutschland aus,
die als Flugblatt gedruckt wurden.
Danach verließen beide Paris
und trafen im April in Köln ein,
um mit den Vorbereitungen zur Gründung
der Neuen Rheinischen Zeitung zu beginnen;
unter den Bedingungen der eben erkämpften
Pressefreiheit erschien eine große Tageszeitung
als das wirksamste Mittel, die politischen Ziele
in aller Öffentlichkeit zu vertreten.
Marx wurde Chefredakteur der neuen Zeitung,
Engels sein Stellvertreter.
Wegen drohender Verhaftung musste Engels
im September 1848 Köln verlassen
und fuhr in die Schweiz, um dort
an der Organisation der Arbeitervereine mitzuwirken.
Im Januar 1849 kehrte er nach Köln zurück,
wo er in dem Presseprozess
gegen die Neue Rheinische Zeitung
vom Kölner Geschworenengericht
freigesprochen wurde.
Im Mai 1849 unterstützte Engels zeitweise
aktiv den Elberfelder Aufstand.
Einen Monat später trat er
in die badisch-pfälzische Armee ein
und nahm als Adjutant Willichs
an den revolutionären Kämpfen
gegen Preußen in Baden im Gefecht in Gernsbach
und der Pfalz teil. Hier begegnete er
erstmals Johann Philipp Becker,
dem Kommandeur der badischen Volkswehr,
mit dem ihn später eine enge Freundschaft verband.
Seine Kritik an der halbherzigen Politik
der badischen Revolutionsregierung
und dem letztlich unglücklichen Feldzug
legte er später in seinem Werk
Die deutsche Reichsverfassungskampagne nieder.
Nach der Niederlage der Märzrevolution
flüchtete Engels wie viele revolutionäre Emigranten
über die Schweiz nach England.
Im September 1850 spaltete sich
der Bund der Kommunisten.
Zwei Monate später arbeitete Engels wieder
bei Ermen & Engels in Manchester
und übernahm später den Anteil seines Vaters,
den er schließlich 1870 an Ermen verkaufte.
Engels begann, Militärwesen zu studieren;
aufgrund seiner praktischen militärischen Erfahrungen
im Wehrdienst sowie den Kämpfen in Baden
entwickelte er sich zum Militärexperten,
was ihm den Spitznamen „General“ einbrachte.
Ende 1850 begann er zudem, die russische
und andere slawische Sprachen zu erlernen,
und beschäftigte sich mit der Geschichte und Literatur
der slawischen Völker.
Seine Sprachstudien setzte er im Jahre 1853
mit dem Erlernen des Persischen fort.
Engels beherrschte zwölf Sprachen aktiv
und zwanzig passiv, darunter Altgriechisch,
Altnordisch, Arabisch, Bulgarisch, Dänisch,
Englisch, Französisch, Friesisch, Gotisch, Irisch,
Italienisch, Latein, Niederländisch, Norwegisch,
Persisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch,
Schottisch, Schwedisch, Serbokroatisch,
Spanisch, Tschechisch.
Auf das Jahr 1850 geht auch der Beginn
des ständigen brieflichen Gedankenaustauschs
mit Marx zurück. Unter dem Namen
seines Freundes schrieb er ab 1851 bis 1862
regelmäßig für die Zeitschrift New York Daily Tribune.
Von 1853 bis 1856 veröffentlichte er diverse Artikel
über den Krimkrieg und andere
internationale Ereignisse
in der New York Daily Tribune
und in der Neuen Oder-Zeitung.
Von 1857 bis 1860 arbeitete Engels
an der von Charles Anderson Dana in New York
herausgegebenen New American Cyclopaedia mit
und erstellte eine Reihe von Militärartikeln
sowie biographische und geographische Artikel.
Zudem verfasste er zahlreiche Zeitungsartikel,
unter anderem zu dem Krieg in Italien von 1859
auch für die Arbeiterzeitung Das Volk.
Ende der 1850er und Anfang der 1860er Jahre
befasste sich Engels in zwei Schriften
mit dem aufkommenden europäischen Nationalismus.
Im April 1859 erschien in Berlin
als anonyme Broschüre die Arbeit Po und Rhein,
in der er sich gegen die österreichische
Vorherrschaft in Italien wandte
und die Überzeugung vertrat, dass nur
ein unabhängiges Italien
im Interesse Deutschlands liege.
Für die Deutschen forderte er die „Einheit,
die allein uns nach innen und außen
stark machen kann“. Anfang 1860
veröffentlichte er ebenfalls anonym die Schrift
Savoyen, Nizza und der Rhein,
in der er sich gegen die Annexion Savoyens und Nizzas
durch Napoleon III. aussprach
und vor einer russisch-französischen Allianz warnte.
Während Engels zu Beginn der 1860er Jahre
von einer Reihe von privaten Vorkommnissen
erschüttert wurde – dem Tod seines Vaters,
dem seiner Ehefrau Mary Burns
und seines langjährigen Kampfgenossen Wilhelm Wolff,
zogen zwei politische Ereignisse die Aufmerksamkeit
von Engels und Marx auf sich.
Den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865)
betrachteten beide als ein „Schauspiel
ohne Parallele in den Annalen der Kriegsgeschichte“.
Engels forderte von den Nordstaaten,
den Krieg auf revolutionäre Weise zu führen
und die Volksmassen stärker einzubeziehen.
Er betonte, dass der Kampf für die Befreiung
der Schwarzen die ureigenste Sache
der Arbeiterklasse sei und auch die weißen Arbeiter
so lange nicht frei sein könnten,
wie die Sklaverei existiere.
Im polnischen Aufstand gegen das zaristische Russland
(1863) sah Engels eine wichtige Voraussetzung,
den reaktionären Einfluss des Zarismus
in Europa zu schwächen
und die demokratische Bewegung in Preußen,
Österreich und Russland selbst zu entfalten.
Nach dem Tod Ferdinand Lassalles 1864
arbeitete Engels nach Vorschlag Marx’
an der Zeitung des Social-Demokrat mit,
um deren Mitglieder für eine revolutionäre
Politik zu gewinnen. Im Februar 1865
stellten beide ihre Mitarbeit ein,
da das Blatt immer deutlicher Bismarcks Nähe suchte.
1865 erschien in Hamburg die Broschüre
Die preußische Militärfrage
und die deutsche Arbeiterpartei,
in der es Engels primär darum ging,
gegen die Lassalleaner und den Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein
eine revolutionäre Position in Erinnerung zu rufen.
Nachdem Marx seit den 1850er Jahren
an der Erstellung des Kapitals gearbeitet hatte,
erschien der erste Band im September 1867.
Engels hatte die langjährigen ökonomischen Studien
von Marx überhaupt erst ermöglicht,
indem er den „hündischen Commerce“
auf sich nahm und den Lebensunterhalt
der Familie Marx zu einem großen Teil bestritt.
Engels vermochte Marx auf allen Gebieten
der ökonomischen Theorie zu beraten.
Von größtem Wert war auch sein Rat
in praktischen Fragen.
Da für die Verbreitung der im Kapital
enthaltenen Ideen zunächst
noch keine Arbeiter-Zeitungen zur Verfügung standen,
veröffentlichte Engels unter dem Deckmantel
der Kritik in der bürgerlichen Presse
mehrere Rezensionen zu Marx’ Werk.
Im Jahr 1868 konnte er dann im von Wilhelm Liebknecht
neu herausgegebenen Demokratischen Wochenblatt
ohne die vorherigen Beschränkungen
das Werk als das wichtigste Buch
für die Arbeiterschaft würdigen.
Im Oktober 1870 zog Engels mit Lizzie Burns
nach London in die Nähe der Marxschen Wohnung.
Unterdessen war in Mitteleuropa
der Deutsch-Französische Krieg ausgebrochen.
Marx und Engels fiel es schwer,
„sich mit dem Gedanken zu versöhnen,
dass, anstatt für die Zerstörung des Kaiserreichs zu kämpfen,
das französische Volk sich für seine Vergrößerung opfert“.
Sie vertraten die Ansicht, dass der Krieg
von Seiten Frankreichs ein dynastischer Krieg war,
der die persönliche Macht Bonapartes sichern sollte.
Die deutschen Arbeiter müssten daher
den Krieg unterstützen, solange er
ein Verteidigungskrieg gegen Napoleon III.,
den Hauptfeind der nationalstaatlichen
Einigung Deutschlands, bliebe.
Von Ende Juli 1870 bis Februar 1871
verfasste Engels über den Verlauf des Krieges
anonym 59 Artikel für die Londoner Tageszeitung
Pall Mall Gazette, die aufgrund
ihres militärischen Sachverstands in London
großes Aufsehen erregten.
Hatte Engels bis zur Niederlage Napoleons III.
in seinen Artikeln noch die Ansicht vertreten,
dass Deutschland sich gegen den französischen
Chauvinismus verteidigte, so verwandelte sich
danach der Krieg für ihn „langsam aber sicher
in einen Krieg für die Interessen
eines neuen deutschen Chauvinismus“.
Im Oktober 1870 wurde Engels
auf Vorschlag von Marx zum Mitglied
des Generalrats der Internationalen
Arbeiterassoziation gewählt.
In der Folgezeit war er als korrespondierender
Sekretär für Belgien, Spanien, Portugal,
Italien und Dänemark tätig.
Nach der Niederlage der Kommunarden
der Pariser Kommune bildete
der Generalrat ein Flüchtlingskomitee
für die Pariser Flüchtlinge,
die meist nach London strömten.
Auf Engels’ Anstoß verfasste Marx die Schrift
Der Bürgerkrieg in Frankreich,
die für alle Mitglieder der „Internationale“
die Bedeutung des Pariser Kampfes herausstellen sollte;
Engels übersetzte diese Schrift Mitte 1871
aus dem Englischen ins Deutsche.
Seit 1873 beschäftigte sich Engels intensiv
mit philosophischen Problemen
der Naturwissenschaften.
Seine Absicht war, nach gründlichen Vorarbeiten
ein Buch zu schreiben, in dem er eine
dialektisch-materialistische Verallgemeinerung
der theoretischen Erkenntnisse
der Naturwissenschaften geben wollte.
Inmitten dieser Studien erging von Liebknecht
und Marx an ihn die Bitte,
der „Dühringsseuche“ in Deutschland
entgegenzuwirken. Dieser Aufgabe
kam er 1876 bis 1878 mit der Schrift
Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft
(Anti-Dühring) nach.
Sie erschien zuerst im Vorwärts,
dem Zentralorgan der Sozialistischen
Arbeiterpartei Deutschlands,
1878 in Buchform.
1878 verstarb seine Ehefrau Lydia Burns.
Nach dem Rückzug aus der Firma 1869
zielten Engels’ Veröffentlichungen
auf die „begriffliche Präzisierung,
historische Vertiefung und methodische
Abgrenzung des wissenschaftlichen Sozialismus“.
Von 1873 bis 1882 entstand das Fragment
Dialektik der Natur.
Engels wurde zu dem Werk motiviert
durch die Kritik der aufkommenden
Naturwissenschaften an der Philosophie Hegels
und die Übertragung naturwissenschaftlicher Theorien
auf die Gesellschaft. Engels will nachweisen,
dass sich in der Natur dieselben Bewegungsgesetze
entdecken lassen, die auch in der Geschichte gelten.
Neben den Thesen von der Ewigkeit der Materie
und der Bewegung formuliert er
die drei Grundgesetze der Dialektik.
Der Dialektik stellt Engels
das „metaphysische“ Denken gegenüber,
das sich an starren Kategorien
statt an widersprüchlichen Prozessen orientiere.
Anhand vieler Beispiele will Engels zeigen,
dass die Natur nicht „metaphysisch“,
sondern dialektisch strukturiert ist.
In großer Detailtreue verarbeitet er dabei
fast alle naturwissenschaftlichen Einsichten
und Entdeckungen seiner Zeit.
In dem 1877/78 als Artikelserie im Vorwärts
unter Mitarbeit von Karl Marx erschienenen Werk
Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft
(„Anti-Dühring“) setzt sich Engels kritisch
mit einigen Werken von Eugen Dühring auseinander.
Seine Kritik richtet sich dabei
gegen den dogmatisch-metaphysischen Charakter
von Dührings Wirklichkeitsphilosophie
und dessen Unfähigkeit, den „dialektischen“
Entwicklungsprozess der Welt zu verstehen.
Gleichzeitig ist das Werk ein erster Versuch
einer enzyklopädischen Zusammenfassung
sowohl der Geschichte des Sozialismus
als auch der Lehrmeinungen
des Marxschen Kommunismus.
Der auf den Anti-Dühring aufbauende
und 1880 zuerst erschienene Aufsatz
Die Entwicklung des Sozialismus
von der Utopie zur Wissenschaft
entwickelt die Grundsätze
des Historischen Materialismus.
Für Engels war der Frühsozialismus
(Saint-Simon, Fourier, Owen) „utopisch“,
weil er undialektisch
an zeitlose Vernunftwahrheiten appellierte.
Diesen Mangel habe Hegel behoben,
indem er die gesamte Wirklichkeit
als einen dialektischen Entwicklungsprozess ansah –
allerdings in verkehrter Weise
als die Entfaltung der „Idee“.
Erst Marx machte durch seine Auffassung der Geschichte
als Geschichte von Klassenkämpfen
und der Entdeckung des „Mehrwerts“
als des „Geheimnisses der kapitalistischen Produktion“
den Sozialismus zur Wissenschaft.
Er wies nach, dass die bürgerliche Gesellschaft
an der Logik ihres Grundwiderspruchs
von gesellschaftlicher Produktion
und privater Aneignung notwendig scheitern müsse.
Während es die historische Aufgabe der Bourgeoisie war,
die Produktivkräfte zu entwickeln,
sei es jetzt die Aufgabe des Proletariats,
deren gesellschaftliche Aneignung durchzusetzen.
Nach dem Tode von Marx 1883
wurde Engels zum Hauptberater
des marxistisch beeinflussten Teils
der internationalen, besonders
der deutschen Arbeiterbewegung.
Er nahm Einfluss auf die Entwicklung
der deutschen Sozialdemokratie
und deren Erfurter Programm 1891.
Außerdem übernahm er die Bearbeitung
und Herausgabe von Marx’ Werken
sowie die Aufsicht neuer Übersetzungen.
Unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes
in Deutschland (1878–1890)
brachte Engels noch im Jahre 1883
eine neue Auflage des ersten Bandes des Kapitals heraus.
1884 veröffentlichte er die unter anderem
auf Marxschen Manuskripten basierende Schrift
Der Ursprung der Familie,
des Privateigentums und des Staats,
in der er die Gesellschaftsformation der Urgesellschaft
und den Übergang zur Klassengesellschaft analysierte.
Dann begann Engels, die Marxschen Manuskripte
zu ordnen und zu entziffern.
1885 veröffentlichte er Marx’
Das Elend der Philosophie
und den zweiten Band des Kapitals.
Es folgte die englische Übersetzung
des ersten Bandes, die er gemeinsam
mit seinem Freund Samuel Moore
und Marx’ Schwiegersohn Edward Aveling vorbereitete.
1890 erschien die vierte, von Engels
nochmals redigierte Fassung des ersten Bandes
des Kapitals, worin er einige Fußnoten ergänzte,
die den veränderten geschichtlichen
Umständen Rechnung tragen sollten.
Sehr schwierig gestaltete sich die Edition
des dritten Bandes, für die Engels
neun Jahre benötigte. Er nahm
das Marxsche Manuskript von 1865 zur Grundlage,
das er stark redigierte.
Neben der Edition des Kapitals
publizierte Engels 1886 die Schrift
Ludwig Feuerbach und der Ausgang
der klassischen deutschen Philosophie,
1891 die 1875 von Marx verfasste Kritik
des Gothaer Programms. Daneben führte er
regen Schriftverkehr mit Sozialisten
und Kommunisten in ganz Europa.
Engels starb am 5. August 1895 in London
im Alter von 74 Jahren an Kehlkopfkrebs.
Da seine Vorliebe für das Seebad Eastbourne
bekannt war, wurde die Urne mit seiner Asche
am 27. September 1895 fünf Seemeilen
vor der dortigen Küste bei Beachy Head
ins Meer versenkt.
DRITTER GESANG
Karl Liebknecht wurde 1871 in Leipzig geboren.
Er war der zweite von fünf Söhnen
Wilhelm Liebknechts
und dessen zweiter Ehefrau Natalie.
Sein älterer Bruder war Theodor Liebknecht,
sein jüngerer Otto Liebknecht.
Der Vater gehörte ab den 1860er Jahren
mit August Bebel zu den Gründern
und bedeutendsten Anführern der SPD
und ihrer Vorläuferparteien.
Karl wurde in der Thomaskirche
evangelisch getauft. Seine Taufpaten
waren Karl Marx und Friedrich Engels.
In den 1880er Jahren verbrachte Karl Liebknecht
einen Teil seiner Kindheit in Borsdorf,
am östlichen Stadtrand von Leipzig.
Dort hatte sein Vater mit August Bebel
eine Vorstadt-Villa bezogen,
nachdem sie aufgrund des kleinen Belagerungszustandes,
einer Bestimmung des zwischen 1878 und 1890
gegen die Sozialdemokratie gerichteten
Sozialistengesetzes, aus Leipzig
ausgewiesen worden waren.
1890 machte er an der Alten Nikolaischule
in Leipzig sein Abitur
und begann am 16. August 1890
an der Universität Leipzig Rechtswissenschaften
und Kameralwissenschaften zu studieren.
Als die Familie nach Berlin zog,
setzte er dort am 17. Oktober 1890
an der Friedrich-Wilhelms-Universität
sein Studium fort. Aus dieser Zeit
stammt das sozialkritische Gedicht
Hüte dich! Sein Abgangszeugnis
datiert vom 7. März 1893.
Am 29. Mai 1893 bestand er sein Referendarexamen.
Von 1893 bis 1894 leistete Liebknecht
seinen Wehrdienst bei den Gardepionieren
in Berlin ab. Er verkürzte die Zeit
durch die Meldung als Einjährig-Freiwilliger.
Nach langer Suche nach einer Referendarstelle
schrieb er seine Doktorarbeit
„Compensationsvorbringen nach gemeinem Rechte“,
die von der Juristischen
und Staatswissenschaftlichen Fakultät
der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
1897 mit dem Prädikat magna cum laude
ausgezeichnet wurde. Am 5. April 1899
bestand er seine Assessorprüfung mit „gut“.
Zusammen mit seinem Bruder Theodor
und Oskar Cohn eröffnete er 1899
in der Berliner Chausseestraße 121
eine Rechtsanwaltskanzlei.
Im Mai 1900 heiratete er Julia Paradies,
mit der er zwei Söhne (Wilhelm und Robert)
und eine Tochter (Vera) hatte.
1904 wurde er gemeinsam mit seinem Kollegen
Hugo Haase als politischer Anwalt
auch im Ausland bekannt,
als er neun Sozialdemokraten
im „Königsberger Geheimbundprozess“ verteidigte.
In anderen aufsehenerregenden Strafprozessen
prangerte er die Klassenjustiz des Kaiserreichs
und die brutale Behandlung
von Rekruten beim Militär an.
1900 wurde Karl Liebknecht Mitglied
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
1902 sozialdemokratischer Stadtverordneter
in Berlin. Dieses Mandat behielt er bis 1913.
Er war aktives Mitglied der Zweiten Internationale
und zudem einer der Gründer
der Sozialistischen Jugendinternationale.
Er wurde 1907 im Rahmen der ersten
Internationalen Konferenz der sozialistischen
Jugendorganisationen zum Vorsitzenden
des Verbindungsbüros gewählt.
Für die Jugendarbeit der SPD
veröffentlichte er 1907 die Schrift
Militarismus und Antimilitarismus,
für die er noch im selben Jahr
wegen Hochverrats verurteilt wurde.
In dieser Schrift führte er aus,
der äußere Militarismus brauche
gegenüber dem äußeren Feind
chauvinistische Verbohrtheit
und der innere Militarismus benötige
gegen den inneren Feind
Unverständnis und Hass
gegenüber jeder fortschrittlichen Bewegung.
Der Militarismus brauche außerdem
den Stumpfsinn der Menschen,
damit er die Masse
wie eine Herde Vieh treiben könne.
Die antimilitaristische Agitation
müsse über die Gefahren des Militarismus aufklären,
jedoch müsse sie dies im Rahmen der Gesetze tun.
Letzteren Hinweis nahm ihm später
das Reichsgericht im Hochverratsprozess nicht ab.
Den Geist des Militarismus charakterisierte Liebknecht
in dieser Schrift mit einem Hinweis
auf eine Bemerkung des damaligen preußischen
Kriegsministers General Karl von Einem,
wonach diesem ein königstreuer
und schlecht schießender Soldat lieber sei
als ein treffsicherer Soldat,
dessen politische Gesinnung fraglich
und bedenklich sei. Am 17. April 1907
beantragte Karl von Einem
bei der Reichsanwaltschaft,
wegen der Schrift Militarismus und Antimilitarismus
gegen Karl Liebknecht ein Strafverfahren einzuleiten.
Im Oktober 1907 fand bei großem Publikumsandrang
der Hochverratsprozess gegen Liebknecht
vor dem Reichsgericht unter dem Vorsitz
des Richters Ludwig Treplin statt.
Am ersten Verhandlungstag sagte Liebknecht,
dass kaiserliche Befehle null und nichtig seien,
wenn sie einen Bruch der Verfassung bezweckten.
Dagegen betonte das Reichsgericht später
in seinem Urteil, die unbedingte Gehorsamspflicht
der Soldaten gegenüber dem Kaiser
sei eine zentrale Bestimmung
der Verfassung des Kaiserreichs.
Als Liebknecht auf eine entsprechende Frage
des Vorsitzenden antwortete,
dass diverse Zeitungen sowie
der ultrakonservative Politiker
Elard von Oldenburg-Januschau
den gewaltsamen Bruch der Verfassung
fordern würden, schnitt dieser ihm
das Wort mit der Bemerkung ab,
das Reichsgericht könne unterstellen,
dass Äußerungen gefallen seien,
die er als Aufforderung
zum Verfassungsbruch verstanden habe.
Am dritten Verhandlungstag wurde er
wegen Vorbereitung zum Hochverrat
zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt.
Kaiser Wilhelm II., der ein Exemplar der Schrift
Militarismus und Antimilitarismus besaß,
wurde über diesen Prozess mehrfach
telegrafisch informiert. Dem Kaiser
wurde nach der Urteilsverkündung
ein ausführlicher Prozessbericht übersandt,
dagegen wurde Liebknecht das schriftliche Urteil
erst am 7. November 1907 zugestellt.
Seine Selbstverteidigung im Prozess
brachte ihm große Popularität
bei den Berliner Arbeitern ein,
so dass er in einem Pulk
zum Haftantritt geleitet wurde.
Um Karl Liebknecht in seiner wirtschaftlichen
Existenz zu treffen, wurde
beim Anwaltsgerichtshof der Provinz Brandenburg
in Berlin beantragt, ihn aufgrund seiner Verurteilung
wegen Vorbereitung zum Hochverrat
durch das Reichsgericht
aus der Anwaltschaft auszuschließen.
Am 29. April 1908 lehnte der Anwaltsgerichtshof
unter seinem Vorsitzenden Dr. Krause
diesen Antrag ab. Zur Begründung
führte er unter anderem aus,
dass zwar die tatsächlichen Feststellungen
des Reichsgerichts im Hochverratsprozess
bindend seien, jedoch dies nicht zwingend
eine ehrengerichtliche Bestrafung nach sich ziehe.
Gegen dieses Urteil legte der Oberreichsanwalt
am 7. Mai 1908 Einspruch ein.
Am 10. Oktober 1908 lehnte daraufhin
der Ehrengerichtshof in Anwaltssachen
unter dem Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten
Rudolf von Seckendorff es ab,
Liebknecht aus der Rechtsanwaltschaft
auszuschließen. Zur Begründung hieß es,
dass schon das Reichsgericht
in diesem Strafurteil eine ehrlose Gesinnung
des Angeklagten verneint habe.
Im Jahr 1908 wurde er Mitglied
des Preußischen Abgeordnetenhauses,
obwohl er noch nicht aus der Festung
Glatz in Schlesien entlassen worden war.
Er gehörte zu den ersten acht
Sozialdemokraten überhaupt,
die trotz des Dreiklassenwahlrechts
Mitglied im Preußischen Landtag wurden.
Dem Landesparlament
gehörte Liebknecht bis 1916 an.
Seine erste Frau Julia starb am 22. August 1911
nach einer Gallenoperation. Liebknecht heiratete
im Oktober 1912 Sophie.
Im Januar 1912 zog er als einer der jüngsten
SPD-Abgeordneten in den Reichstag ein.
Liebknecht gewann – nach zwei vergeblichen
Anläufen 1903 und 1907 –
den „Kaiserwahlkreis“ Potsdam-Spandau-Osthavelland,
der bis dahin eine sichere Domäne
der Deutschkonservativen Partei gewesen war.
Im Reichstag trat er sofort
als entschiedener Gegner einer Heeresvorlage auf,
die dem Kaiser Steuermittel
für die Heeres- und Flottenrüstung bewilligen sollte.
Er konnte außerdem nachweisen,
dass die Firma Krupp durch die Bestechung
von Mitarbeitern des Kriegsministeriums
unerlaubterweise an wirtschaftlich
relevante Informationen gekommen war.
In der ersten Julihälfte 1914 war Liebknecht
nach Belgien und Frankreich gereist,
mit Jean Longuet und Jean Jaurès zusammengetroffen
und hatte auf mehreren Veranstaltungen gesprochen.
Den französischen Nationalfeiertag
verbrachte er in Paris.
Über die unmittelbare Gefahr
eines großen europäischen Krieges
wurde er sich erst am 23. Juli –
nach Bekanntwerden des österreichisch-ungarischen
Ultimatums an Serbien – völlig klar.
Ende Juli kehrte er über die Schweiz
nach Deutschland zurück.
Als der Reichstag am 1. August,
dem Tag der Verkündung der Mobilmachung
und der Kriegserklärung an Russland,
zum 4. August zusammengerufen wurde,
stand für Liebknecht noch außer Frage,
dass „die Ablehnung der Kriegskredite
für die Mehrheit der Reichstagsfraktion
selbstverständlich und zweifellos sei.“
Am Nachmittag des 4. August stimmte jedoch
die sozialdemokratische Fraktion –
nachdem es am Vortag
in der vorbereitenden Fraktionssitzung
zu „ekelhaften Lärmszenen“ gekommen war,
weil sich Liebknecht und 13 weitere Abgeordnete
entschieden gegen diesen Schritt aussprachen –
geschlossen für die Bewilligung der Kriegskredite,
die der Regierung die vorläufige Finanzierung
der Kriegführung ermöglichten.
Vor der Fraktionssitzung am 3. August
hatten die Befürworter der Bewilligung
nicht mit einem solchen Erfolg gerechnet
und waren sich keineswegs sicher,
überhaupt eine Mehrheit in der Fraktion zu erhalten;
noch in der Sitzungspause nach der Rede
des Reichskanzlers – unmittelbar
vor der Abstimmung am 4. August –
kam es in der Fraktion zu Tumulten,
weil einige Bethmann Hollwegs Ausführungen
demonstrativ beklatscht hatten.
Liebknecht, der die ungeschriebenen Regeln
der Partei- und Fraktionsdisziplin
in den Jahren zuvor immer wieder
gegen Vertreter des rechten Parteiflügels
verteidigt hatte, beugte sich dem Beschluss
der Mehrheit und stimmte
der Regierungsvorlage im Plenum
des Reichstags ebenfalls zu.
Hugo Haase, der in der Fraktion wie Liebknecht
gegen die Bewilligung aufgetreten war,
erklärte sich aus ähnlichen Gründen
sogar zur Verlesung der
von den bürgerlichen Parteien
mit Jubel aufgenommenen Erklärung
der Fraktionsmehrheit bereit.
Liebknecht hat den 4. August,
den er als katastrophalen politischen
und persönlichen Einschnitt empfand,
privat und öffentlich immer wieder thematisiert
und durchdacht. 1916 notierte er dazu:
„Der Abfall der Fraktionsmehrheit
kam selbst für den Pessimisten überraschend;
die Atomisierung des bisher überwiegenden
radikalen Flügels nicht minder.
Die Tragweite der Kreditbewilligung
für die Umschwenkung der gesamten Fraktionspolitik
ins Regierungslager lag nicht auf der Hand:
Noch bestand die Hoffnung, der Beschluss
vom 3. August sei das Ergebnis
einer vorübergehenden Panik
und werde alsbald korrigiert,
jedenfalls nicht wiederholt
und gar übertrumpft werden.
Aus diesen und ähnlichen Erwägungen,
allerdings auch aus Unsicherheit und Schwäche
erklärte sich das Misslingen des Versuchs,
die Minderheit für ein öffentliches Separatvotum
zu gewinnen. Nicht übersehen werden darf dabei
aber auch, welche heilige Verehrung damals
noch der Fraktionsdisziplin entgegengebracht wurde,
und zwar am meisten vom radikalen Flügel,
der sich bis dahin in immer zugespitzterer Form
gegen Disziplinbrüche oder Disziplinbruchsneigungen
revisionistischer Fraktionsmitglieder
hatte wehren müssen.“
Einer Erklärung Rosa Luxemburgs
und Franz Mehrings, in der diese
wegen des Verhaltens der Fraktion
ihren Parteiaustritt androhten,
schloss sich Liebknecht ausdrücklich nicht an,
weil er sie „als Halbheit empfand:
Dann hätte man schon austreten müssen.“
Rosa Luxemburg bildete am 5. August 1914
die Gruppe Internationale,
in der Liebknecht mit zehn weiteren
SPD-Linken Mitglied war
und die eine innerparteiliche Opposition
gegen die SPD-Politik des Burgfriedens
zu bilden versuchte. Im Sommer und Herbst 1914
reiste Liebknecht mit Rosa Luxemburg
durch ganz Deutschland, um –
weitgehend erfolglos – Kriegsgegner
zur Ablehnung der Finanzbewilligung
für den Krieg zu bewegen.
Er nahm auch Verbindung
zu anderen europäischen Arbeiterparteien auf,
um diesen zu signalisieren, dass nicht alle
deutschen Sozialdemokraten für den Krieg seien.
In den ersten großen, von einer breiteren Öffentlichkeit
beachteten Konflikt mit der neuen Parteilinie
geriet Liebknecht, als er zwischen dem 4.
und 12. September Belgien bereiste,
dort mit einheimischen Sozialisten zusammentraf
und sich über die von deutschen Militärs
angeordneten Massenrepressalien informieren ließ.
Liebknecht wurde daraufhin in der Presse –
auch der sozialdemokratischen –
des „Vaterlandsverrats“ und „Parteiverrats“ bezichtigt
und musste sich am 2. Oktober
vor dem Parteivorstand rechtfertigen.
Er war danach umso mehr entschlossen,
bei der nächsten einschlägigen Abstimmung
gegen die neue Kreditvorlage zu votieren
und diese demonstrative Stellungnahme
gegen die „Einigkeitsphrasen-Hochflut“
zur Grundlage einer Sammlung
der Kriegsgegner zu machen.
Im Vorfeld dieser Sitzung,
zu der der Reichstag am 2. Dezember 1914
zusammentrat, versuchte er
in stundenlangen Gesprächen
auch andere oppositionelle Abgeordnete
für diese Haltung zu gewinnen,
scheiterte aber. Otto Rühle,
der Liebknecht zuvor zugesichert hatte,
ebenfalls offen mit Nein zu stimmen,
hielt dem Druck nicht stand
und blieb dem Plenum fern,
Fritz Kunert, der auch schon am 4. August
so gehandelt hatte, verließ kurz
vor der Abstimmung den Saal.
Liebknecht stand schließlich als einziger
Abgeordneter nicht auf,
als Reichstagspräsident Kaempf
das Haus aufforderte, dem Ergänzungshaushalt
durch Erheben von den Sitzen zuzustimmen.
Bei der nächsten Abstimmung
am 20. März 1915 votierte Rühle
gemeinsam mit Liebknecht.
Eine Bitte von etwa 30 anderen Fraktionsmitgliedern,
während der Abstimmung mit ihnen gemeinsam
den Saal zu verlassen,
hatten beide zuvor abgelehnt.
Im April 1915 gaben Franz Mehring
und Rosa Luxemburg die Zeitschrift
Die Internationale heraus,
die nur einmal erschien und sofort
von den Behörden beschlagnahmt wurde.
Liebknecht konnte sich an diesem Vorstoß
nicht mehr beteiligen.
Nach dem 2. Dezember 1914
hatten Polizei- und Militärbehörden
darüber nachgedacht, wie Liebknecht
„das Handwerk gelegt“ werden könne.
Das Oberkommando in den Marken
berief ihn Anfang Februar 1915
zum Dienst in ein Armierungs-Bataillon ein.
Damit unterstand Liebknecht den Militärgesetzen,
die ihm jegliche politische Betätigung
außerhalb des Reichstages
und des preußischen Landtages verboten.
Er erlebte, jeweils beurlaubt zu Sitzungen
des Reichstages und des Landtages,
als Armierungssoldat den Krieg
an der West- und Ostfront.
Es gelang ihm dennoch, die Gruppe Internationale
zu vergrößern und die entschiedenen Kriegsgegner
in der SPD reichsweit zu organisieren.
Daraus ging am 1. Januar 1916
die Spartakusgruppe hervor
(nach der endgültigen Loslösung
von der Sozialdemokratie
im November 1918 umbenannt in Spartakusbund).
Am 12. Januar 1916 schloss
die SPD-Reichstagsfraktion
mit 60 gegen 25 Stimmen
Liebknecht aus ihren Reihen aus.
Aus Solidarität mit ihm trat Otto Rühle
zwei Tage später ebenfalls aus der Fraktion aus.
Im März 1916 wurden weitere 18
oppositionelle Abgeordnete ausgeschlossen
und bildeten daraufhin
die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft,
der sich Liebknecht und Rühle
allerdings nicht anschlossen.
Liebknecht hatte während des Krieges
kaum eine Möglichkeit, sich im Plenum
des Reichstages Gehör zu verschaffen.
Die von ihm schriftlich eingereichte Begründung
seiner Stimmabgabe am 2. Dezember 1914
nahm der Reichstagspräsident entgegen
der üblichen Gepflogenheiten nicht
in das amtliche Protokoll auf
und lehnte es in der Folge
unter verschiedenen Vorwänden ab,
Liebknecht das Wort zu erteilen.
Erst am 8. April 1916 konnte Liebknecht
zu einer untergeordneten Etatfrage
von der Rednertribüne aus sprechen.
Dabei kam es zu einer im Reichstag
bis dahin nicht gesehenen „wüsten Skandalszene“:
Liebknecht wurde von „wie besessen“
tobenden liberalen und konservativen
Abgeordneten niedergeschrien,
als „Lump“ und „englischer Agent“ beschimpft
und aufgefordert, das „Maul zu halten“;
der Abgeordnete Hubrich entriss ihm
die schriftlichen Notizen
und warf die Blätter in den Saal,
der Abgeordnete Ernst Müller-Meiningen
musste von Mitgliedern der Sozialisten-Fraktion
daran gehindert werden, Liebknecht
körperlich zu attackieren.
Zur „Osterkonferenz der Jugend“
sprach Liebknecht in Jena vor 60 Jugendlichen
zum Antimilitarismus und zur Änderung
der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland.
Am 1. Mai 1916 trat er als Führer
einer Antikriegsdemonstration,
die von Polizei umzingelt war,
auf dem Potsdamer Platz in Berlin auf.
Er ergriff das Wort mit den Worten
„Nieder mit dem Krieg!
Nieder mit der Regierung!“
Danach wurde er verhaftet
und wegen Hochverrats angeklagt.
Der erste Prozesstag, eigentlich gedacht
als Exempel gegen die sozialistische Linke,
geriet zum Fiasko für die kaiserliche Justiz:
Organisiert von den Revolutionären Obleuten
fand in Berlin ein spontaner Solidaritätsstreik
mit über 50.000 Beteiligten statt.
Statt die Opposition zu schwächen,
gab Liebknechts Verhaftung
dem Widerstand gegen den Krieg neuen Auftrieb.
Am 23. August 1916 wurde Liebknecht
zu vier Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt,
die er von Mitte November 1916
bis zu seiner Amnestierung und Freilassung
am 23. Oktober 1918
im brandenburgischen Luckau ableistete.
Hugo Haase, bis März 1916 SPD-Vorsitzender,
setzte sich vergeblich für seine Freilassung ein.
In Liebknechts Haftzeit fiel die Spaltung
der SPD und die Gründung der USPD
im April 1917. Die Spartakusgruppe
trat nun in diese ein, um auch dort
auf revolutionäre Ziele hinzuwirken.
Neben dem katholischen Reichstagsabgeordneten
Matthias Erzberger vom Zentrum,
der wie Liebknecht später
von Rechtsextremisten ermordet wurde,
war Liebknecht der einzige deutsche Parlamentarier,
der öffentlich die massiven Menschenrechtsverletzungen
der türkisch-osmanischen Verbündeten
im Nahen Osten anprangerte, insbesondere
den Völkermord an den Armeniern
und das brutale Vorgehen gegen weitere
nicht-türkische Minderheiten,
insbesondere in Syrien und dem Libanon.
Von der SPD und den liberalen Parteien
wurde diese Praxis stillschweigend gebilligt
und zum Teil sogar öffentlich
mit strategischen Interessen Deutschlands
und der angeblichen existenziellen Bedrohung
der Türkei durch armenischen
und arabischen Terrorismus gerechtfertigt.
Im Zuge einer allgemeinen Amnestie
wurde Liebknecht begnadigt
und am 23. Oktober 1918 vorzeitig
aus der Haft entlassen.
Er reiste sofort nach Berlin,
um dort den Spartakusbund zu reorganisieren,
der nun als eigene politische Organisation hervortrat.
Bei seinem Eintreffen gab die Gesandtschaft
des seit Ende 1917 nach der Oktoberrevolution
unter kommunistischer Führung stehenden Russlands
ihm zu Ehren einen Empfang.
Liebknecht drängte nun auf eine
von den Revolutionären Obleuten,
die den Januarstreik organisiert hatten,
der USPD und dem Spartakusbund
gemeinsam koordinierte Vorbereitung
einer reichsweiten Revolution.
Man plante einen gleichzeitigen Generalstreik
in allen Großstädten und Aufmarsch
von bewaffneten Streikenden
vor den Kasernen von Heeresregimentern,
um diese zum Mitmachen
oder Niederlegen ihrer Waffen zu bewegen.
Die Obleute, die sich an der Arbeiterstimmung
in den Fabriken orientierten
und eine bewaffnete Konfrontation
mit Heerestruppen fürchteten,
verschoben mehrfach den festgelegten Termin dafür,
zuletzt auf den 11. November 1918.
Am 8. November griff die unabhängig
von diesen Plänen vom Kieler Matrosenaufstand
ausgelöste Revolution auf das Reich über.
Daraufhin riefen die Berliner Obleute
und die USPD ihre Anhänger für den Folgetag
zu den geplanten Umzügen auf.
Am 9. November 1918 strömten Bevölkerungsmassen
von allen Seiten ins Zentrum Berlins.
Dort rief Liebknecht mittags im Berliner Tiergarten
und nachmittags nochmals
vor dem Berliner Stadtschloss
eine „Freie Sozialistische Republik Deutschland“ aus
und schwor die Kundgebungsteilnehmer
auf die internationale Revolution ein.
Kurz zuvor hatte der SPD-Politiker
Philipp Scheidemann
die Abdankung des Kaisers verkündet
und eine „deutsche Republik“ ausgerufen,
um Liebknecht zuvorzukommen.
Liebknecht wurde nun zum Sprecher
der revolutionären Linken.
Um die Novemberrevolution
in Richtung einer sozialistischen
Räterepublik voranzutreiben,
gab er mit Rosa Luxemburg täglich die Zeitung
Die Rote Fahne heraus.
Bei den folgenden Auseinandersetzungen
stellte sich jedoch bald heraus,
dass die meisten Arbeitervertreter in Deutschland
eher sozialdemokratische
als sozialistische Ziele verfolgten.
Eine Mehrheit trat auf dem Reichsrätekongress
vom 16. bis 20. Dezember 1918
für baldige Parlamentswahlen
und damit Selbstauflösung ein.
Liebknecht und Luxemburg wurden
von der Teilnahme am Kongress ausgeschlossen.
Seit Dezember 1918 versuchte Ebert,
die Rätebewegung gemäß seinem Geheimabkommen
mit dem General Wilhelm Groener
mit Hilfe von kaiserlichem Militär zu entmachten,
und ließ dazu immer mehr Militär
in und um Berlin zusammenziehen.
Am 6. Dezember 1918 versuchte er,
den Reichsrätekongress militärisch zu verhindern,
und, nachdem dies missglückte,
Resolutionen zur Entmachtung des Militärs
beim Kongress zu entschärfen.
Am 24. Dezember 1918 setzte er
kaiserliches Militär
gegen die den revolutionären Kieler Matrosen
nahestehende Volksmarinedivision ein,
die eigentlich die Reichskanzlei schützen sollte
und nicht ohne Sold zum Abrücken bereit war.
Daraufhin traten die drei USPD-Vertreter
am 29. Dezember aus dem Rat
der Volksbeauftragten aus,
so dass dieser gemäß der Vereinbarung
bei seiner Gründung keine Legitimation mehr besaß.
Er wurde dennoch von den drei SPD-Vertretern
allein weitergeführt.
Daraufhin planten die reichsweit Zulauf
erhaltenden Spartakisten
die Gründung einer neuen,
linksrevolutionären Partei
und luden ihre Anhänger
zu deren Gründungskongress
Ende Dezember 1918 nach Berlin ein.
Am 1. Januar 1919 stellte sich
die Kommunistische Partei Deutschlands
der Öffentlichkeit vor.
Ab dem 8. Januar nahm Liebknecht
zusammen mit anderen KPD-Vertretern
am Spartakusaufstand teil,
mit dem die Revolutionären Obleute
auf die Absetzung des zuvor rechtmäßig
eingesetzten Berliner Polizeipräsidenten
Emil Eichhorn (USPD) reagierten.
Sie versuchten, die Übergangsregierung
Friedrich Eberts mit einem Generalstreik zu stürzen,
und besetzten dazu mehrere Berliner Zeitungsgebäude.
Liebknecht trat in die Streikleitung ein
und rief gegen den Rat von Rosa Luxemburg
zusammen mit der USPD zur Volksbewaffnung auf.
KPD-Abgesandte versuchten erfolglos,
einige in Berlin stationierte Regimenter
zum Überlaufen zu bewegen.
Nach zweitägigen ergebnislosen Beratungen
trat die KPD aus dem Führungsgremium aus,
dann brachen die USPD-Vertreter
parallele Verhandlungen mit Ebert ab.
Daraufhin setzte dieser das Militär
gegen die Streikenden ein.
Es kam zu blutigen Straßenkämpfen
und Massenexekutionen hunderter Personen.
Nach den führenden Köpfen der jungen KPD
wurde durch „zahlreiche Spitzeldienste
diverser staatstragender Verbände“
intensiv gefahndet. Schon im Dezember
waren in Berlin zahlreiche großformatige
rote, gegen den Spartakusbund gerichtete
Plakate angeschlagen worden,
die in der Aufforderung
„Schlagt ihre Führer tot!
Tötet Liebknecht!“ gipfelten.
Handzettel gleichen Inhalts
wurden hunderttausendfach verbreitet.
Verantwortlich dafür war unter anderem
die Antibolschewistische Liga Eduard Stadtlers.
Im Vorwärts wurde Liebknecht wiederholt
als „geisteskrank“ dargestellt.
Der gesamte Rat der Volksbeauftragten
unterzeichnete am 8. Januar ein Flugblatt,
in dem angekündigt wurde,
dass „die Stunde der Abrechnung naht“.
Am 13. Januar druckte der Vorwärts ein Gedicht
Artur Zicklers ab, das die Verszeilen enthielt:
„Vielhundert Tote in einer Reih –
Proletarier!
Karl, Rosa, Radek und Kumpanei –
Es ist keiner dabei, es ist keiner dabei!“
Unter Zivilisten und Militärangehörigen
kursierten Gerüchte, die besagten,
dass auf die „Spartakistenführer“
regelrechte Kopfgelder ausgesetzt worden seien.
Am 14. Januar erschien in einem Mitteilungsblatt
für die sozialdemokratischen Regimenter
Reichstag und Liebe ein Artikel,
in dem es hieß, dass „schon die nächsten Tage“
zeigen würden, dass nunmehr auch
mit den „Häuptern der Bewegung
Ernst gemacht wird.“
Liebknecht und Luxemburg hatten sich –
da ihr Leben nun offenkundig in Gefahr war –
nach dem Einmarsch der Noske-Truppen
zunächst in Neukölln verborgen,
waren nach zwei Tagen aber
in ein neues Quartier
in der Mannheimer Straße in Wilmersdorf
ausgewichen. Der Wohnungsinhaber
war Mitglied der USPD
und gehörte dem Arbeiter- und Soldatenrat
Wilmersdorf an, seine Frau
war mit Rosa Luxemburg befreundet.
In dieser Wohnung schrieb Liebknecht
am 14. Januar seinen Artikel Trotz alledem!,
der tags darauf in der Roten Fahne erschien.
Am frühen Abend des 15. Januar
drangen fünf Angehörige der Wilmersdorfer Bürgerwehr –
einer von Zivilisten gebildeten bürgerlichen Miliz –
in die Wohnung ein
und nahmen Liebknecht und Luxemburg fest.
Sicher ist, dass es sich nicht um eine mehr
oder weniger zufällige Durchsuchung,
sondern um einen gezielten Zugriff handelte.
Gegen 21 Uhr wurde auch Wilhelm Pieck verhaftet,
der die Wohnung nichtsahnend betreten hatte.
Liebknecht wurde zunächst
zur Wilmersdorfer Cäcilienschule transportiert.
Von dort aus rief ein Angehöriger der Bürgerwehr
direkt in der Reichskanzlei an
und informierte deren stellvertretenden
Pressechef Robert Breuer
(Mitglied der Wilmersdorfer SPD)
über die Ergreifung Liebknechts.
Breuer kündigte einen Rückruf an,
der aber nicht erfolgte.
Angehörige der Bürgerwehr lieferten Liebknecht
gegen 21.30 Uhr per Automobil
bei ihrer vorgesetzten Dienststelle ab –
dem Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division
im Eden-Hotel an der Ecke Budapester Straße/Kurfürstenstraße,
worauf unter anwesenden Hotelgästen
und Militärs ein „kollektiver Erregungszustand“
ausbrach. Liebknecht,
der bis zu diesem Zeitpunkt seine Identität
geleugnet hatte, wurde in Anwesenheit
des faktischen Kommandeurs der Division
anhand der Initialen auf seiner Kleidung identifiziert.
Der Kommandeur entschied
nach wenigen Minuten des Nachdenkens,
Liebknecht und die gegen 22 Uhr
eintreffende Rosa Luxemburg „erledigen“ zu lassen.
Er rief in der Reichskanzlei an,
um mit Noske das weitere Vorgehen zu besprechen.
Noske forderte ihn auf, noch mit General von Lüttwitz
Rücksprache zu halten und von diesem
nach Möglichkeit eine formelle Anordnung zu erwirken.
Der Kommandeur hielt das für ausgeschlossen.
Daraufhin erwiderte Noske:
„Dann müssen Sie selbst wissen, was zu tun ist.“
Mit der Ermordung Liebknechts
beauftragte der Kommandeur
eine Gruppe ausgewählter Marineoffiziere.
Diese verließen gegen 22.45 Uhr
mit Liebknecht das Hotel.
Beim Verlassen des Gebäudes
wurde Liebknecht von Hotelgästen bespuckt,
beschimpft und geschlagen.
Das Automobil fuhr in den nahegelegenen Tiergarten.
Hier täuschte der Fahrer an einer Stelle,
„wo ein völlig unbeleuchteter Fußweg abging“
eine Panne vor. Liebknecht wurde
aus dem Auto geführt und nach wenigen Metern
am Ufer des Neuen Sees
„aus nächster Nähe“ von hinten erschossen.
Die Täter lieferten den Toten um 23.15 Uhr
als „unbekannte Leiche“
in der dem Eden-Hotel gegenüberliegenden
Rettungswache ein
und erstatteten anschließend Meldung.
Eine halbe Stunde später wurde die
in einem offenen Wagen abtransportierte
Rosa Luxemburg etwa 40 Meter
vom Eingang des Eden-Hotels entfernt erschossen.
Ihren Leichnam warf man zwischen
Lichtenstein- und Corneliusbrücke
in den Landwehrkanal.
Ein Presseoffizier verbreitete anschließend
ein Kommuniqué, in dem behauptet wurde,
dass Liebknecht „auf der Flucht erschossen“
und Luxemburg „von der Menge getötet“ worden sei.
Liebknecht wurde am 25. Januar
zusammen mit 31 weiteren Toten
der Januartage beigesetzt.
Die von der KPD zunächst geplante Bestattung
auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain
wurde sowohl von der Regierung
als auch dem Berliner Magistrat untersagt.
Stattdessen verwies man die Beisetzungskommission
an den an der städtischen Peripherie gelegenen
Armenfriedhof in Friedrichsfelde.
Der Trauerzug entwickelte sich
zu einer Massendemonstration,
an der trotz massiver Militärpräsenz
mehrere zehntausend Menschen teilnahmen.
VIERTER GESANG
Rosa Luxemburgs Geburtsdatum ist unsicher.
Ihren Vornamen Rosalia verkürzte sie
umgangssprachlich zu Rosa.
Sie war das fünfte und letzte Kind
des Holzhändlers Eliasz Luxenburg
und seiner Frau Line.
Die Eltern waren Juden
in der ländlichen Mittelstadt Zamość
im von Russland kontrollierten Teil Polens.
Die väterlichen Vorfahren waren
als Landschaftsarchitekten,
die mütterlichen Vorfahren
als Rabbiner und Hebraisten
nach Zamość gekommen.
Über ein Drittel der Einwohner
waren polnische Juden,
meist Haskala-Vertreter
mit hohem Bildungsstand.
Die Eltern gehörten zu keiner Religionsgemeinschaft
und politischen Partei, sympathisierten aber
mit der polnischen Nationalbewegung
und förderten die lokale Kultur.
Sie besaßen ein Haus am Rathausplatz
und bescheidenen Wohlstand,
den sie vor allem für die Bildung
ihrer Kinder einsetzten.
Die Söhne besuchten wie der Vater
höhere Schulen in Deutschland.
Die Familie sprach und las zu Hause
Polnisch und Deutsch, nicht Jiddisch.
Besonders die Mutter vermittelte den Kindern
die klassische und romantische
deutsche und polnische Dichtung.
Rosa erhielt eine umfassende humanistische Bildung
und lernte neben Polnisch, Deutsch und Russisch
auch Latein und Altgriechisch.
Sie beherrschte Französisch, konnte Englisch lesen
und Italienisch verstehen.
Sie kannte die bedeutenden Literaturwerke Europas,
rezitierte Gedichte, war eine gute Zeichnerin,
interessierte sich für Botanik und Geologie,
sammelte Pflanzen und Steine und liebte Musik,
besonders die Oper und die Lieder von Hugo Wolf.
Zu ihren zeitlebens geachteten Autoren
gehörte Adam Mickiewicz.
1873 zog die Familie nach Warschau.
1874 wurde ein Hüftleiden der Tochter
irrtümlich als Tuberkulose diagnostiziert
und falsch behandelt.
Dadurch blieb ihre Hüfte deformiert,
sodass sie fortan leicht hinkte.
Mit fünf Jahren, während der vom Arzt verordneten
fast einjährigen Bettruhe,
lernte sie autodidaktisch Lesen und Schreiben.
Mit neun Jahren übersetzte sie deutsche Geschichten
ins Polnische, schrieb Gedichte und Novellen.
Mit 13 Jahren schrieb sie in polnischer Sprache
ein sarkastisches Gedicht über Kaiser Wilhelm I.,
der damals Warschau besuchte.
Darin duzte sie ihn und forderte:
„Sage deinem listigen Lumpen Bismarck,
Tue es für Europa, Kaiser des Westens,
Befiehl ihm, dass er die Friedenshose
Nicht zuschanden macht“.
Ab 1884 besuchte Rosa
das Zweite Frauengymnasium in Warschau,
das nur in Ausnahmefällen polnische,
noch seltener jüdische Mädchen aufnahm
und in dem nur Russisch gesprochen werden durfte.
Auch deshalb engagierte sie sich ab 1886
in einem geheimen Fortbildungskreis.
Dort lernte sie die 1882 gegründete
marxistische Gruppe „Proletariat“ kennen,
die sich vom antizaristischen Terror
der russischen Narodnaja Wolja abgrenzte,
aber wie diese staatlich verfolgt
und aufgelöst wurde. Nur im Untergrund
arbeiteten einige Teilgruppen weiter,
darunter die 1887 von Martin Kasprzak
gegründete Warschauer Gruppe „Zweites Proletariat“.
Dieser trat Rosa Luxemburg bei,
ohne dies zu Hause und in der Schule zu verbergen.
Dort las sie erstmals Schriften von Karl Marx,
die damals illegal nach Polen gebracht
und ins Polnische übersetzt wurden.
1888 bestand sie das Abitur als Klassenbeste
und mit der höchsten Note „ausgezeichnet“.
Die ihr zustehende Goldmedaille
verweigerte die Schulleitung
„wegen oppositioneller Haltung
gegenüber den Behörden“.
Im Dezember 1888 floh sie vor der Zarenpolizei,
die ihre Mitgliedschaft im verbotenen „Proletariat“
entdeckt hatte, aus Warschau
und schließlich mit Hilfe Kasprzaks
aus Polen in die Schweiz.
Im Februar 1889 zog Rosa Luxemburg
nach Oberstrass bei Zürich,
weil im deutschsprachigen Raum
nur an der Universität Zürich
Frauen und Männer gleichberechtigt studieren durften.
Ab Oktober 1889 belegte sie Philosophie,
Mathematik, Botanik und Zoologie.
1892 wechselte sie in die Rechtswissenschaft,
wo sie Völkerrecht, allgemeines Staatsrecht
und Versicherungsrecht belegte.
1893 schrieb sie sich zudem
in Staatswissenschaften ein.
Dort belegte sie Volkswirtschaftslehre
mit den Schwerpunkten Finanzwissenschaft,
Wirtschafts- und Börsenkrisen.
Ferner studierte sie allgemeine Verwaltungslehre
und Geschichtswissenschaft,
hier vor allem Mittelalter
und Diplomatie-Geschichte seit 1815.
Sie studierte vor allem Adam Smith, David Ricardo
und Das Kapital von Karl Marx.
Sie war schon vor Studienbeginn
überzeugte Marxistin.
Zürich war attraktiv
für viele politisch verfolgte
ausländische Sozialisten.
Rosa Luxemburg fand rasch Kontakt
zu deutschen, polnischen und russischen
Emigrantenvereinen, die vom Schweizer Exil aus
den revolutionären Sturz
ihrer Regierungen vorzubereiten versuchten.
Sie wohnte im Haus der Familie Carl Lübecks (SPD),
der nach seiner Verurteilung
im Leipziger Hochverratsprozess 1872 emigriert war.
Durch ihn gewann sie Einblick
in die Entwicklung der SPD.
Sie lernte unter anderen die russischen Marxisten
Pawel Axelrod und Georgi Plechanow kennen
und bildete einen Freundes- und Gesprächskreis,
der regelmäßige Kontakte zwischen emigrierten
Studenten und Arbeitern pflegte.
Ab 1891 hatte sie eine Liebesbeziehung
zu dem polnischen Marxisten Leo Jogiches.
Er war bis 1906 ihr Partner
und blieb ihr zeitlebens politisch eng verbunden.
Er brachte ihr seine konspirativen Methoden bei
und finanzierte ihr Studium mit.
Sie half ihm beim Übersetzen marxistischer Texte
ins Russische, die er in Konkurrenz
zu Plechanow nach Polen
und Russland schmuggelte.
Plechanow isolierte Jogiches daraufhin
in der russischen Emigrantenszene.
Rosa Luxemburgs anfängliche Vermittlungsversuche
schlugen fehl.
1892 gründeten mehrere illegale
polnische Splitterparteien,
darunter auch ehemalige „Proletariat“-Angehörige,
die Polnische Sozialistische Partei (PPS),
die Polens nationale Unabhängigkeit
und Umwandlung in eine bürgerliche Demokratie anstrebte.
Das Programm war ein Kompromiss
aus verschiedenen Interessen,
die aufgrund der Verfolgungssituation
nicht ausdiskutiert worden waren.
Im Juli 1893 gründeten Rosa Luxemburg,
Leo Jogiches, Julian Balthasar Marchlewski
und Adolf Warski die Pariser Exilzeitung
„Arbeitersache“. Darin vertraten sie
gegen das PPS-Programm
einen streng internationalistischen Kurs:
Die polnische Arbeiterklasse könne sich nur
gemeinsam mit der russischen, deutschen
und österreichischen emanzipieren.
Nicht das Abschütteln der russischen Vorherrschaft
in Polen, sondern die solidarische Zusammenarbeit
zum Sturz des Zarismus, sodann des Kapitalismus
und der Monarchie in ganz Europa
müssten Vorrang erhalten.
Rosa Luxemburg war federführend für diese Linie.
Als Zeitungsredakteurin durfte sie
als polnische Delegierte am Kongress
der 2. Internationale (1893)
in der Tonhalle Zürich teilnehmen.
In ihrem Bericht über die Entwicklung
der Sozialdemokratie in Russisch-Polen
seit 1889 betonte sie, Polens drei Teile
seien ökonomisch mittlerweile so stark
in die Märkte der Besatzerstaaten integriert,
dass eine Wiederherstellung
eines unabhängigen polnischen Nationalstaats
ein anachronistischer Rückschritt wäre.
Daraufhin focht der PPS-Delegierte Ignacy Daszyński
ihren Delegiertenstatus an.
Ihre Verteidigungsrede machte sie international bekannt:
Sie erklärte, hinter dem innerpolnischen Streit
stehe eine prinzipielle, alle Sozialisten
betreffende Richtungsentscheidung.
Ihre Gruppe vertrete den genuin marxistischen Standpunkt
und somit das polnische Proletariat.
Doch eine Kongressmehrheit erkannte die PPS
als einzige legitime polnische Delegation an
und schloss Rosa Luxemburg aus.
Daraufhin gründete sie mit ihren Freunden
im August 1893 die Partei Sozialdemokratie
des Königreiches Polen (SDKP).
Der illegale Gründungsparteitag in Warschau
vom März 1894 nahm ihren Leitartikel
vom Juli 1893 als Parteiprogramm
und die Arbeitersache als Presseorgan an.
Die SDKP sah sich als direkte Nachfolgerin
des „Proletariats“ und strebte
in striktem Gegensatz zur PPS als Nahziel
eine liberaldemokratische Verfassung
für das ganze Russische Kaiserreich
mit einer Gebietsautonomie für Polen an,
um so eine gemeinsame polnisch-russische
sozialistische Partei aufbauen zu können.
Dazu sei eine enge, gleichberechtigte Zusammenarbeit
mit den russischen Sozialdemokraten,
deren Einigung und die Einbindung
in die Zweite Internationale unerlässlich.
Ein unabhängiges Polen
sei eine illusorische Fata Morgana,
die das polnische Proletariat
vom internationalen Klassenkampf ablenken solle.
Die polnischen Sozialisten sollten
den sozialdemokratischen Parteien
der drei Teilungsmächte beitreten
oder sich eng an sie anschließen.
Es gelang ihr, die SDKP in Polen zu etablieren
und später viele PPS-Anhänger
zu ihr hinüberzuziehen.
Rosa Luxemburg leitete die „Arbeitersache“
bis zu deren Einstellung im Juli 1896
und verteidigte das SDKP-Programm im Ausland
auch mit besonderen Aufsätzen.
In Das unabhängige Polen und die Sache der Arbeiter
schrieb sie: Sozialismus und Nationalismus
seien nicht nur in Polen, sondern überhaupt
miteinander unvereinbar.
Nationalismus sei eine Ausflucht des Bürgertums:
Bänden sich die Arbeiter daran,
würden sie ihre eigene Befreiung gefährden,
da das Bürgertum sich bei einer drohenden
Sozialrevolution eher mit den jeweiligen Herrschern
gegen die eigenen Arbeiter verbünden werde.
Dabei verknüpfte sie polnische Erfahrungen
stets mit denen anderer Länder,
berichtete häufig über ausländische Streiks
und Demonstrationen und versuchte so,
ein internationales Klassenbewusstsein zu fördern.
Seitdem war sie bei politischen Gegnern
inner- und außerhalb der Sozialdemokratie
verhasst und oft antisemitischen Angriffen ausgesetzt.
So schrieben Angehörige der Gruppe
Schwarze Hundert, ihr Gift rede
den polnischen Arbeitern Hass
auf das eigene Vaterland ein;
dieser „jüdische Auswurf“ leiste
ein „teuflisches Zerstörungswerk“
mit dem Ziel der „Ermordung Polens“.
Für den Kongress der Zweiten Internationale
1896 in London verteidigte Rosa Luxemburg
ihre Linie in sozialdemokratischen Zeitungen
wie dem Vorwärts und der Neuen Zeit.
Sie erreichte eine Debatte darüber
und fand unter anderen Robert Seidel,
Jean Jaurès und Alexander Parvus als Unterstützer.
Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht
und Victor Adler dagegen lehnten ihre Position ab.
Adler, Vertreter des Austromarxismus,
beschimpfte sie als „doktrinäre Gans“
und versuchte, eine Gegendarstellung
in der SPD zu verbreiten.
Beim Kongress wollte die PPS Polens Unabhängigkeit
als notwendiges Ziel der Internationale festlegen lassen
und verdächtigte mehrere SDKP-Vertreter
als zaristische Geheimagenten.
Rosa Luxemburg und die SDKP wurden diesmal jedoch
als eigenständige Vertreter der polnischen Sozialdemokratie
zugelassen. Sie überraschte den Kongress
mit einer Gegenresolution, wonach
nationale Unabhängigkeit kein möglicher Programmpunkt
einer sozialistischen Partei sein könne.
Die Mehrheit stimmte einer Kompromissfassung zu,
die das Selbstbestimmungsrecht der Völker
allgemein bejahte,
ohne Polen zu erwähnen.
Nach dem Kongress schrieb Rosa Luxemburg
Artikel für die Sächsische Arbeiterzeitung
über Organisationsprobleme der deutschen
und österreichischen Sozialdemokratie
und die Chancen der Sozialdemokratie
im Osmanischen Reich.
Sie plädierte für die Auflösung dieses Reichs,
um so den Türken und weiteren Nationen
zunächst eine kapitalistische Entwicklung zu gestatten.
Marx und Engels hätten zwar zu ihrer Zeit recht gehabt,
dass das zaristische Russland
der Hort der Reaktion
und mit allen Mitteln zu schwächen sei,
doch die Bedingungen hätten sich geändert.
Erneut widersprachen ihr führende Sozialdemokraten
wie Kautsky, Plechanow und Adler öffentlich.
So wurde sie weit über Polen hinaus
als sozialistische Denkerin bekannt,
mit deren Ansichten man sich auseinandersetzte.
Im Mai 1897 wurde Rosa Luxemburg
in Zürich mit dem Prädikat magna cum laude
zum Thema Polens industrielle Entwicklung promoviert.
Mit empirischem Material aus Bibliotheken
und Archiven von Berlin, Paris, Genf und Zürich
suchte sie nachzuweisen, dass Russisch-Polen
seit 1846 in den russischen Kapitalmarkt eingebunden
und sein Wirtschaftswachstum vollständig
von diesem abhängig sei.
Damit wollte sie die Ansicht, die Wiederherstellung
der nationalen Unabhängigkeit Polens sei illusorisch,
mit ökonomischen Fakten untermauern,
ohne explizit marxistisch zu argumentieren.
Nach der Veröffentlichung wollte Rosa Luxemburg
darauf aufbauend eine Wirtschaftsgeschichte
Polens verfassen; das von ihr öfter erwähnte Manuskript
dazu ging verloren, wurde aber nach ihrer Aussage
in Erläuterungen von Franz Mehring
zu von ihm herausgegebenen Marx-Texten
teilweise verarbeitet. Sie setzte ihren
kompromisslosen Kampf gegen den Nationalismus
in der Arbeiterbewegung zeitlebens fort.
Diese Haltung isolierte sie anfangs fast völlig
und brachte ihr viele erbitterte Konflikte ein,
unter anderem seit 1898 in der SPD
und seit 1903 mit Lenin.
Um die SPD und die Arbeiter
im deutsch besetzten Teil Polens
wirksamer für die SDKP zu gewinnen,
beschloss Rosa Luxemburg 1897
gegen den Willen von Leo Jogiches,
nach Deutschland zu ziehen.
Um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten,
heiratete sie am 19. April 1898
den 24-jährigen Schlosser Gustav Lübeck,
den einzigen Sohn ihrer Züricher Gastfamilie.
Ab 12. Mai 1898 wohnte sie in der Cuxhavener Straße 2
und trat sofort in die SPD ein,
die in der Arbeiterbewegung
als fortschrittlichste sozialistische Partei Europas galt.
Sie bot dem SPD-Bezirksvorsteher Ignaz Auer an,
Wahlkampf für die SPD bei polnischen
und deutschen Arbeitern in Schlesien zu machen.
Durch ihre Sprachgewandtheit
und erfolgreiche Wahlkampfreden
erwarb sie rasch Ansehen in der SPD
als gefragte Spezialistin
für polnische Angelegenheiten.
Bei den folgenden Reichstagswahlen
errang die SPD in Schlesien erstmals Mandate
und brach so die bisherige Alleinherrschaft
der katholischen Zentrumspartei.
1890 waren im Kaiserreich
nach zwölf Jahren die Sozialistengesetze
aufgehoben worden. Dadurch gewann die SPD
bei Wahlen weitere Reichstagssitze.
Die meisten SPD-Abgeordneten
wollten die neue Legalität der SPD bewahren
und setzten sich immer weniger
für einen revolutionären Umsturz,
immer mehr für die allmähliche Erweiterung
parlamentarischer Rechte und Sozialreformen
im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung ein.
Das Erfurter Programm von 1891
hielt die Sozialrevolution nur noch
als theoretisches Fernziel fest
und trennte den Alltagskampf für Reformen davon.
Eduard Bernstein, Autor des praktischen Programmteils,
rückte ab 1896 mit einer Artikelserie
über „Probleme des Sozialismus“ in der Neuen Zeit
vom Marxismus ab und begründete
die später Reformismus genannte Theorie:
Interessenausgleich und Reformen
würden die Auswüchse des Kapitalismus mildern
und den Sozialismus evolutionär herbeiführen,
so dass die SPD sich auf parlamentarische Mittel
beschränken könne. Kautsky,
enger Freund Bernsteins und Redakteur der Neuen Zeit,
ließ keine Kritiken an dessen Thesen abdrucken.
Alexander Parvus, inzwischen Chefredakteur
der Sächsischen Arbeiterzeitung,
eröffnete daraufhin im Januar 1898
den Revisionismusstreit mit einer polemischen
Artikelserie gegen Bernstein.
Am 25. September 1898 wurde Parvus
des Landes verwiesen.
Auf seinen dringenden Wunsch zog Rosa Luxemburg
nach Dresden und übernahm die Chefredaktion
der Sächsischen Arbeiterzeitung.
Daher durfte sie beim folgenden SPD-Parteitag
in Stuttgart (1898) zu allen Tagesthemen,
nicht nur zum Thema Polen reden.
Erstmals griff sie dort in die Bernsteindebatte ein,
positionierte sich auf dem marxistischen Parteiflügel,
betonte dessen Übereinstimmung
mit dem Parteiprogramm
und wies den Debattenstil zurück:
Persönliche Polemik zeige nur
das Fehlen von Sachargumenten.
Der Parteivorstand um August Bebel
vermied eine programmatische Entscheidung.
In den Folgewochen veröffentlichte sie
eine eigene Artikelserie gegen Bernsteins Theorie,
die später in ihr Buch Sozialreform
oder Revolution? einging.
Darin vertrat sie eine konsequent
klassenkämpferische Haltung:
Echte Sozialreformen müssten das Ziel
der sozialen Revolution stets
im Auge behalten und ihm dienen.
Sozialismus sei nur durch die Machtübernahme
des Proletariats und Umwälzung
der Produktionsverhältnisse zu erreichen.
Sie zog wieder nach Berlin
und schrieb von dort aus regelmäßig gegen Entgelt
anonyme Artikel für verschiedene SPD-Zeitungen
über wichtige wirtschaftliche
und technische Entwicklungen in aller Welt.
Dafür recherchierte sie täglich in Bibliotheken,
worauf sie ab Dezember 1898 zeitweise
polizeilich überwacht wurde.
Zu ihren engen Freunden gehörten Clara Zetkin,
die inner- und außerhalb der SPD
für eine selbstbestimmte
internationale Frauenbewegung eintrat,
und Bruno Schönlank, Chefredakteur
der Leipziger Volkszeitung.
Dort wies sie mit der Artikelserie Miliz und Militarismus
im Februar 1899 die Thesen von Max Schippel zurück:
Dieser wollte das SPD-Ziel einer Volksmiliz
als Alternative zum kaiserlichen Militär aufgeben
und sah die vorhandenen stehenden Heere
als unentbehrliche ökonomische Entlastung
und Übergang zu einem künftigen „Volksheer“ an.
Sie kritisierte Schippels Annäherung
an den kaiserlichen Militarismus
als logische Folge des Bernstein’schen Revisionismus
und dessen mangelnder Bekämpfung in der SPD.
Sie schlug vor, die internen Protokolle
der SPD-Reichstagsfraktion zu veröffentlichen
und beim nächsten Parteitag
über Schippels Thesen zu diskutieren.
Diesmal fand sie ein positives Echo
beim Parteivorstand. Kautsky lud sie
im März 1899 zu sich nach Hause ein
und schlug ihr ein Bündnis
gegen militaristische Tendenzen in der SPD vor.
Wilhelm Liebknecht erlaubte ihr
ein Referat über den aktuellen Kurs
der Regierung und der SPD in Berlin.
Bebel traf sich mit ihr, unterstützte ihre Forderungen,
lehnte aber eine eigene Stellungnahme weiterhin ab,
weil er Wahleinbußen für die SPD fürchtete.
Damit hatte die Parteiführung sie
als Dialogpartnerin anerkannt.
Sie nutzte dies, um für mehr Akzeptanz
der SDKP-Positionen zu werben.
Vom 4. bis 8. April 1899 antwortete Rosa Luxemburg
auf Bernsteins neues Buch
Die Voraussetzungen des Sozialismus
und die Aufgaben der Sozialdemokratie
mit einer zweiten Artikelserie zum Thema
Sozialreform oder Revolution?
in der Leipziger Volkszeitung.
Darin bejahte sie den Alltagskampf der SPD
um Reformen als notwendiges Mittel
zum Zweck der Abschaffung
des ausbeuterischen Lohnsystems.
Bernstein habe diesen Zweck aufgegeben
und das Mittel des Klassenkampfs,
die Reformen, zum Selbstzweck gemacht.
Damit habe er im Grunde die Mission der SPD
für historisch überholt erklärt.
Die SPD gäbe sich selbst auf, würde sie dem folgen.
Die Marx’sche Krisentheorie bleibe aktuell,
da das Wachstum der Produktivkräfte
im Kapitalismus zwangsläufig
periodische Absatzkrisen erzeuge und Kredite
und Unternehmerorganisationen diese Krisen
nur auf zwischenstaatliche Konkurrenz verlagerten,
aber nicht aufhöben. Sie forderte
die „Revisionisten“ auf, die SPD zu verlassen,
weil sie das Parteiziel aufgegeben hätten.
Dafür fand sie viel Zustimmung in der SPD.
Mehrere SPD-Wahlkreise beantragten
den Ausschluss der Revisionisten.
Beim Reichsparteitag in Hannover (1899)
bekräftigte Bebel als Hauptredner
das Erfurter Programm,
die freie und kritische Diskussion
über die Marx’sche Theorie
und lehnte den Ausschluss der Revisionisten ab.
Rosa Luxemburg stimmte ihm weitgehend zu:
Da die Revisionisten die SPD-Position
ohnehin nicht bestimmten,
sei ihr Ausschluss nicht notwendig.
Es genüge, sie ideologisch in die Schranken zu weisen.
Eine proletarische Revolution bedeute
die Aussicht auf ein Geringstmaß an Gewalt;
wieweit diese notwendig werde,
bestimme der Gegner.
Seit dieser innerparteilichen Auseinandersetzung
war Rosa Luxemburg als scharfzüngige
und intelligente Gegnerin
der „Revisionisten“ bekannt,
geachtet und zum Teil auch gefürchtet.
Sie erfuhr als Jüdin aus dem Ausland
viel Ablehnung in der SPD.
1900 starb ihr Vater.
Auf ihr Verlangen zog Leo Jogiches zu ihr nach Berlin.
Sie löste ihre Ehe mit Gustav Lübeck auf.
1903 wurde sie Mitglied
im Internationalen Sozialistischen Bureau.
Im Reichstagswahlkampf 1903
behauptete Kaiser Wilhelm II.,
er verstehe die Probleme der deutschen Arbeiter
besser als jeder Sozialdemokrat.
Darauf antwortete Rosa Luxemburg
in einer Wahlkampfrede:
„Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz
der deutschen Arbeiter spricht,
hat keine Ahnung von den Tatsachen.“
Dafür wurde sie im Juli 1904
wegen „Majestätsbeleidigung“
zu drei Monaten Gefängnis verurteilt,
von denen sie sechs Wochen verbüßen musste.
1904 kritisierte sie in der russischen Zeitung Iskra
erstmals Lenins zentralistisches Parteikonzept
(Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie).
Als Vertreterin der SPD und der SDKP
setzte sie beim Kongress der Zweiten Internationale
in Amsterdam klassenkämpferische
gegen reformistische Positionen durch.
1905 wurde sie Redakteurin
bei der SPD-Parteizeitung Vorwärts.
Im Dezember 1905 reiste sie unter dem Pseudonym
„Anna Matschke“ mit Leo Jogiches nach Warschau,
um die russische Revolution 1905 zu unterstützen
und die SDKP zur Teilnahme daran zu bewegen.
Im März 1906 wurde sie verhaftet.
Es gelang ihr, ein Kriegsgerichtsverfahren
mit drohender Todesstrafe abzuwenden.
Nach ihrer Freilassung gegen eine hohe Kaution
reiste sie nach Petersburg und traf dort
russische Revolutionäre, darunter Lenin.
In diesem Zusammenhang
warfen polnische Nationalisten ihr öffentlich vor,
sie lenke den „jüdischen“ internationalistischen Flügel
der Sozialdemokratie, der eine Verschwörung
zur Zerstörung Kongresspolens betreibe.
Der Antisemit Niemojewski machte das Judentum
für den Sozialismus verantwortlich.
Rosa Luxemburg erreichte daraufhin,
dass führende westeuropäische Sozialdemokraten
(der Franzose Jean Jaurès sowie
August Bebel, Karl Kautsky, Franz Mehring)
gemeinsam den Antisemitismus als Ideologie
des reaktionären Bürgertums verwarfen.
Sie warnte frühzeitig vor einem kommenden Krieg
der europäischen Großmächte,
griff immer stärker den deutschen Militarismus
und Imperialismus an und versuchte,
ihre Partei zu einem energischen
Gegenkurs zu verpflichten.
1906 wurde sie auf Antrag der Staatsanwaltschaft Weimar
wegen „Anreizung verschiedener Klassen
der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten“
in einer SPD-Parteitagsrede
zu zwei Monaten Haft verurteilt, die sie voll verbüßte.
Ihre Erfahrungen mit der russischen Revolution
verarbeitete sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland
in der Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften.
Um die „internationale Solidarität der Arbeiterklasse“
gegen den Krieg einzuüben,
forderte sie darin von der SPD die Vorbereitung
des Generalstreiks nach polnisch-russischem Vorbild.
Zugleich setzte sie ihr internationales Engagement fort
und nahm 1907 mit Leo Jogiches
am fünften Parteitag der russischen Sozialdemokraten
in London teil. Beim folgenden Kongress
der Zweiten Internationale in Stuttgart
brachte sie erfolgreich eine Resolution ein,
die gemeinsames Handeln aller europäischen
Arbeiterparteien gegen den Krieg vorsah.
Ab 1907 unterhielt sie eine mehrjährige
Liebesbeziehung zu Kostja Zetkin,
aus der etwa 600 Briefe erhalten sind.
Ebenfalls ab 1907 lehrte sie als Dozentin
für Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie
an der SPD-Parteischule in Berlin,
1911 kam noch das auf ihre Anregung hin
eingeführte Unterrichtsfach
„Geschichte des Sozialismus“ hinzu.
Einer ihrer Schüler war der spätere KPD-Gründer
und DDR-Präsident Wilhelm Pieck.
Als die SPD sich beim Aufstand
der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika,
dem heutigen Namibia, klar
gegen den Kolonialismus und Imperialismus
des Kaiserreichs aussprach,
verlor sie bei der Reichstagswahl 1907 –
den sogenannten „Hottentotten-Wahlen“ –
rund ein Drittel ihrer Reichstagssitze.
Doch den Generalstreik als politisches Kampfmittel
lehnten SPD- und Gewerkschaftsführung
weiterhin strikt ab. Darüber zerbrach 1910
Rosa Luxemburgs Freundschaft mit Karl Kautsky.
Damals machten Berichte der New York Times
über den Sozialistenkongress in Magdeburg
sie auch in den USA bekannt.
1912 reiste sie als Vertreterin der SPD
zu europäischen Sozialistenkongressen,
darunter dem in Paris, wo sie und Jean Jaurès
die europäischen Arbeiterparteien
zu einer feierlichen Verpflichtung brachten,
beim Kriegsausbruch zum Generalstreik aufzurufen.
Als der Balkankrieg 1913
fast schon einen Weltkrieg auslöste,
organisierte sie Demonstrationen gegen den Krieg.
In zwei Reden in Frankfurt-Bockenheim
am 25. September und in Fechenheim
bei Frankfurt am Main am 26. September 1913
rief sie eine Menge von Hunderttausenden
zu Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung auf:
„Wenn uns zugemutet wird,
die Mordwaffen gegen unsere französischen
oder anderen ausländischen Brüder zu erheben,
so erklären wir: Nein, das tun wir nicht!“
Daher wurde sie der „Aufforderung
zum Ungehorsam gegen Gesetze
und Anordnungen der Obrigkeit“ angeklagt
und im Februar 1914 zu insgesamt 14 Monaten
Gefängnis verurteilt. Ihre Rede
vor der Frankfurter Strafkammer
wurde später unter dem Titel
Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse veröffentlicht.
Vor dem Haftantritt konnte sie Ende Juli
noch an einer Sitzung des Internationalen
Sozialistischen Büros teilnehmen.
Dort erkannte sie ernüchtert:
Auch in den europäischen Arbeiterparteien,
vor allem den deutschen und französischen,
war der Nationalismus stärker
als das internationale Klassenbewusstsein.
Am 2. August, in Reaktion auf die Kriegserklärung
des Deutschen Reiches an Russland und Frankreich
vom Vortag, erklärten die deutschen Gewerkschaften
einen Streik- und Lohnverzicht
für die gesamte Dauer des bevorstehenden Krieges.
Am 4. August 1914 stimmte die SPD-Reichstagsfraktion
einstimmig und gemeinsam
mit den übrigen Reichstagsfraktionen
für die Aufnahme der ersten Kriegskredite
und ermöglichte damit die Mobilmachung.
Rosa Luxemburg erlebte diesen Bruch
der SPD-Vorkriegsbeschlüsse
als schweres, folgenreiches Versagen der SPD
und dachte deswegen an Selbstmord.
Aus ihrer Sicht hatte der Opportunismus,
den sie immer bekämpft hatte, gesiegt
und das Ja zum Krieg nach sich gezogen.
Am 5. August gründete sie
mit Hermann Duncker, Hugo Eberlein,
Julian Marchlewski, Franz Mehring,
Ernst Meyer und Wilhelm Pieck
die „Gruppe Internationale“,
der sich wenig später auch Karl Liebknecht anschloss.
Darin sammelten sich diejenigen Kriegsgegner der SPD,
die deren Stillhaltepolitik komplett ablehnten.
Sie versuchten, die Partei zur Rückkehr
zu ihren Vorkriegsbeschlüssen
und zur Abkehr von der Burgfriedenspolitik zu bewegen,
einen Generalstreik für einen Friedensabschluss
vorzubereiten und so auch einer internationalen
proletarischen Revolution näherzukommen.
Daraus ging 1916 die reichsweite
„Spartakusgruppe“ hervor, deren Spartakusbriefe
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
gemeinsam herausgaben.
Rosa Luxemburg musste am 18. Februar 1915
die Haftstrafe im Berliner Weibergefängnis antreten,
die sie für ihre in Frankfurt am Main gehaltene Rede
erhalten hatte. Ein Jahr später wurde sie entlassen.
Schon drei Monate später wurde sie
nach dem damaligen Schutzhaft-Gesetz
zur „Abwendung einer Gefahr
für die Sicherheit des Reichs“
zu insgesamt zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.
Im Juli 1916 begann ihre „Sicherungsverwahrung“.
Drei Jahre und vier Monate verbrachte sie
zwischen 1915 und 1918 im Gefängnis.
Sie wurde zweimal verlegt,
zuerst nach Wronke nahe Posen,
dann nach Breslau.
Dort sammelte sie Nachrichten aus Russland
und verfasste einige Aufsätze,
die ihre Freunde herausschmuggelten
und illegal veröffentlichten.
In ihrem Aufsatz Die Krise der Sozialdemokratie,
erschienen im Juni 1916 unter dem Pseudonym Junius,
rechnete sie mit der „bürgerlichen Gesellschaftsordnung“
und der Rolle der SPD ab,
deren reaktionäres Wesen der Krieg offenbart habe.
Lenin kannte diese Schrift und antwortete positiv darauf,
ohne zu ahnen, wer sie verfasst hatte.
Im Februar 1917 weckte der revolutionäre Sturz
des Zaren in Russland Hoffnungen
auf ein baldiges Kriegsende.
Die Provisorische Regierung setzte den Krieg
gegen Deutschland jedoch fort.
Dort kam es im März in vielen Städten
zu monatelangen Protesten und Massenstreiks:
zuerst gegen die Mangelwirtschaft,
dann gegen Lohnverzicht
und schließlich gegen den Krieg und die Monarchie.
Im April 1917 erfolgte der Kriegseintritt der USA.
Nun gründeten die Kriegsgegner,
die die SPD ausgeschlossen hatte,
die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands,
die rasch Zulauf gewann.
Obwohl der Spartakusbund die Parteispaltung
bis dahin abgelehnt hatte,
trat er nun der neuen Linkspartei bei.
Er behielt seinen Gruppenstatus,
um weiterhin konsequent
für eine internationale sozialistische Revolution
werben zu können. Diesem Ziel folgten
nur wenige USPD-Gründer.
Während die SPD-Führung erfolglos versuchte,
die Oberste Heeresleitung (OHL)
zu Friedensverhandlungen
mit US-Präsident Woodrow Wilson zu gewinnen,
ermöglichte diese Lenin die Durchreise
aus seinem Schweizer Exil
nach Sankt Petersburg.
Dort gewann er die Führung der Bolschewiki
und bot den Russen einen sofortigen Separatfrieden
mit Deutschland an.
Damit gewannen die Bolschewiki
eine Mehrheit im Volkskongress,
doch nicht in der Duma,
dem russischen Nationalparlament.
In der Oktoberrevolution besetzten sie es,
lösten es auf und setzten die Arbeiterräte
(Sowjets) als Regierungsorgane ein.
Rosa Luxemburg ließ sich fortlaufend
über diese Ereignisse informieren
und schrieb dazu den Aufsatz
Zur russischen Revolution.
Darin begrüßte sie Lenins Revolution,
kritisierte aber zugleich scharf seine Strategie
und warnte vor einer Diktatur der Bolschewiki.
In diesem Zusammenhang formulierte sie
den berühmten Satz: „Freiheit
ist immer Freiheit des Andersdenkenden.“
Erst 1922 veröffentlichte ihr Freund
Paul Levi diesen Aufsatz.
Trotz ihrer Vorbehalte rief sie nun unermüdlich
zu einer deutschen Revolution
nach russischem Vorbild auf
und forderte eine „Diktatur des Proletariats“,
grenzte diesen Begriff aber gegen Lenins
Avantgardekonzept ab.
Sie verstand darunter die demokratische
Eigenaktivität der Arbeiter
im Revolutionsprozess,
Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung
und politische Streiks
bis zur Verwirklichung
sozialistischer Produktionsverhältnisse.
Im Januarstreik 1918 bildeten sich
in vielen bestreikten Betrieben
eigenständige Arbeitervertreter heraus,
die revolutionären Obleute.
Immer mehr Deutsche lehnten
die Fortsetzung des Krieges ab.
Nach dem Durchbruch der Triple Entente
an der Westfront am 8. August 1918
beteiligte die kaiserliche Regierung
auf Verlangen der Obersten Heeresleitung (OHL)
am 5. Oktober erstmals den Reichstag
an ihren Entscheidungen.
Max von Baden wurde Reichskanzler,
mehrere Sozialdemokraten traten
in die Regierung ein.
Diese bat die Entente um Waffenstillstandsverhandlungen.
Die Spartakisten sahen diese Verfassungsänderung
als Täuschungsmanöver zur Abwehr
der kommenden Revolution
und stellten am 7. Oktober reichsweit
ihre Forderungen nach einem grundlegenden
Umbau der Gesellschafts- und Staatsordnung.
Die Novemberrevolution erreichte am 9. November
Berlin, wo Philipp Scheidemann
eine deutsche, der vorzeitig
aus dem Gefängnis entlassene Karl Liebknecht
eine sozialistische Republik ausriefen.
Rosa Luxemburg wurde am 8. November
aus der Breslauer Haft entlassen
und traf am 10. November in Berlin ein.
Karl Liebknecht hatte bereits
den Spartakusbund reorganisiert.
Beide gaben gemeinsam die Zeitung
Die Rote Fahne heraus,
um täglich auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen.
In einem ihrer ersten Artikel forderte Rosa Luxemburg
eine Amnestie für alle politischen Gefangenen
und die Abschaffung der Todesstrafe.
Am 18. November schrieb sie:
„Der Bürgerkrieg, den man aus der Revolution
mit ängstlicher Sorge zu verbannen sucht,
lässt sich nicht verbannen.
Denn Bürgerkrieg ist nur ein anderer Name
für Klassenkampf, und der Gedanke,
den Sozialismus ohne Klassenkampf,
durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluß
einführen zu können, ist eine lächerliche
kleinbürgerliche Illusion.“
Sie trat damals für den Schutz der Berliner Kulturgüter
gegen Plünderer ein und sorgte dafür,
dass eine Wache für die Berliner
Museumsinsel abgestellt wurde.
Ebert hatte sich am Abend des 10. November
mit Ludendorffs Nachfolger,
General Wilhelm Groener,
im Ebert-Groener-Pakt heimlich
auf eine Zusammenarbeit gegen Versuche
einer Entmachtung der kaiserlichen Offiziere
und weitergehenden Revolution verständigt
und beorderte Anfang Dezember
ehemalige Fronttruppen nach Berlin.
Diese sollten unerwünschte Ergebnisse
des geplanten Reichsrätekongresses vereiteln,
der eine neue Verfassung und Wahlen
vorbereiten sollte. Am 6. Dezember
erschossen Soldaten dieser Truppen
bei Straßenkämpfen demonstrierende Arbeiter.
Am 10. Dezember zog
die Garde-Kavallerie-Schützen-Division
in Berlin ein. Rosa Luxemburg vermutete,
dass Ebert diese Reichswehreinheiten
gegen Berliner Arbeiter einzusetzen vorhatte,
und forderte daraufhin im Artikel
Was will der Spartakusbund?
am 14. Dezember in der Roten Fahne
alle Macht für die Räte,
die möglichst gewaltlose Entwaffnung
und die Umerziehung
der heimgekehrten Soldaten.
Beim Reichsrätekongress
vom 16. bis zum 20. Dezember
waren nur zehn Spartakisten vertreten.
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
erhielten kein Rederecht.
Eine Mehrheit stimmte gemäß
dem breiten Bevölkerungswillen
für parlamentarische Wahlen
zur Weimarer Nationalversammlung
am 19. Januar 1919
und die Selbstauflösung der Arbeiterräte.
Eine Kontrollkommission sollte das Militär überwachen,
eine Sozialisierungskommission sollte
die vielfach geforderte Enteignung
kriegswichtiger Großindustrie beginnen.
Infolge der Weihnachtskämpfe vom 24. Dezember
verließen die Mitglieder der USPD
am 29. Dezember den Rat der Volksbeauftragten.
Am 1. Januar 1919 gründeten die Spartakisten
und andere linkssozialistische Gruppen
aus dem ganzen Reich die KPD.
Diese nahm Rosa Luxemburgs Spartakusprogramm
kaum verändert als Parteiprogramm an.
Darin betonte sie, dass Kommunisten
die Macht niemals ohne erklärten
mehrheitlichen Volkswillen ergreifen würden.
Ihre dringende Empfehlung,
an den kommenden Parlamentswahlen teilzunehmen,
um auch dort für eine Fortsetzung
der Revolution zu werben,
lehnte eine deutliche Parteitagsmehrheit ab.
Als Ebert am 4. Januar 1919
den Berliner Polizeipräsidenten
Emil Eichhorn (USPD) absetzte,
Gustav Noske mit der Aufstellung
und Herbeirufung von Freikorps beauftragte
und dieser immer mehr Militär
um Berlin zusammenzog,
riefen Revolutionäre Obleute am 5. Januar
zu einem Generalstreik auf
und besetzten das Berliner Zeitungsviertel,
um zum Sturz der restlichen Übergangsregierung
aufzurufen. Während Karl Liebknecht
sie unterstützte und die KPD erfolglos
Berliner Regimenter zur Teilnahme
zu bewegen versuchte,
hielt Rosa Luxemburg
diesen zweiten Revolutionsversuch
für mangelhaft vorbereitet und verfrüht
und kritisierte Liebknecht deswegen intern scharf.
In Zeitungen kursierten seit Anfang Dezember
Mordaufrufe gegen die Spartakusführer;
Eduard Stadtler hatte damals mit Geldern
der Deutschen Bank und von Friedrich Naumann
eine „Antibolschewistische Liga“ gegründet,
deren Antibolschewistenfonds
ab 10. Januar 1919 Gelder
der deutschen Wirtschaft erhielt.
Damit wurden unter anderem die Anwerbung
und Ausrüstung der Freikorps
sowie Belohnungen zur Festsetzung
und Ermordung von Spartakisten bezahlt.
Der Vorwärts rief zur „Stunde der Abrechnung“
mit ihnen auf. Vermittlungsgespräche
zwischen dem Revolutionskomitee
und der Übergangsregierung scheiterten.
Von Noske befehligte kaiserliche Truppen
schlugen den sogenannten Spartakusaufstand
vom 8. bis 12. Januar gewaltsam nieder
und erschossen Hunderte von Aufständischen,
darunter auch viele Unbewaffnete,
die sich schon ergeben hatten.
Die Spartakusführer mussten untertauchen,
blieben aber in Berlin.
In ihren letzten Lebenstagen ging es
Rosa Luxemburg gesundheitlich sehr schlecht,
trotzdem verfolgte sie noch aktiv
das revolutionäre Geschehen.
In ihrer letzten Veröffentlichung
in der Roten Fahne bekräftigte sie nochmals
ihr unbedingtes Vertrauen in die Arbeiterklasse;
sie werde aus ihren Niederlagen lernen
und sich bald wieder zum „Endsieg“ erheben.
Am 15. Januar 1919 nahm eine „Bürgerwehr“,
die über genaue Steckbriefe verfügte,
sie und Karl Liebknecht
in einer Wohnung der Mannheimer Straße 27
in Wilmersdorf fest und brachte sie
in das Eden-Hotel.
Dort residierte der Stab
der Garde-Kavallerie-Schützen-Division,
der die Verfolgung von Spartakisten
in Berlin organisierte.
Die Gefangenen wurden nacheinander verhört
und dabei schwer misshandelt.
Kommandant Waldemar Pabst
beschloss mit seinen Offizieren,
sie zu ermorden; der Mord
sollte nach einer spontanen Tat
Unbekannter aussehen.
Der am Haupteingang bereitstehende Jäger
Otto Wilhelm Runge schlug Rosa Luxemburg
beim Verlassen des Hotels
mit einem Gewehrkolben zweimal,
bis sie bewusstlos war.
Sie wurde in einen bereitstehenden Wagen geworfen.
Der Freikorps-Leutnant Hermann Souchon
sprang bei ihrem Abtransport
auf das Trittbrett des Wagens auf
und erschoss sie
mit einem aufgesetzten Schläfenschuss
etwa an der Ecke Nürnberger Straße/Kurfürstendamm.
Kurt Vogel ließ ihre Leiche
in den Berliner Landwehrkanal
in der Nähe der Lichtensteinbrücke werfen.
FÜNFTER GESANG
Clara wurde als älteste Tochter
von Josephine Vitale,
deren Vater Jean Dominique
durch die Französische Revolution 1789
und seine Teilnahme an Napoleons Kriegen geprägt war,
und Gottfried Eißner,
Sohn eines Tagelöhners
und Dorfschullehrers von Wiederau, geboren.
Ihre Mutter stand mit Pionierinnen
der damals entstandenen bürgerlichen Frauenbewegung
in Kontakt, insbesondere Louise Otto-Peters
und Auguste Schmidt, las Bücher von George Sand
und gründete in Wiederau einen Verein
für Frauengymnastik.
Die Familie siedelte 1872 nach Leipzig über,
um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen.
Ab 1874 hatte die in Leipziger Privatseminaren ausgebildete
Volksschullehrerin Kontakte zur Frauen- und Arbeiterbewegung.
Clara Eißner trat 1878 der Sozialistischen Arbeiterpartei
Deutschlands bei, die 1890 in SPD umbenannt wurde.
Wegen des Sozialistengesetzes (1878–1890),
das sozialdemokratische Aktivitäten
außerhalb der Landtage und des Reichstags verbot,
ging sie 1882 zuerst nach Zürich,
dann nach Paris ins Exil.
Dort nahm sie den Namen ihres Lebenspartners,
des russischen Revolutionärs Ossip Zetkin an,
mit dem sie zwei Söhne hatte,
Maxim Zetkin und Kostja Zetkin.
In ihrer Zeit in Paris hatte sie 1889
während des Internationalen Arbeiterkongresses
einen bedeutenden Anteil an der Gründung
der Sozialistischen Internationale.
Im Herbst 1890 kehrte die Familie
nach Deutschland zurück
und ließ sich in Sillenbuch bei Stuttgart nieder.
Dort arbeitete Clara Zetkin als Übersetzerin
und seit 1892 als Herausgeberin
der Frauenzeitschrift Die Gleichheit.
Nach dem Tode Ossip Zetkins heiratete sie 1899
42-jährig in Stuttgart den 24-jährigen
Kunstmaler Friedrich Zundel aus Wiernsheim.
Nach zunehmender Entfremdung
wurde die Ehe 1927 geschieden.
1907 lernte Clara Zetkin
anlässlich des Internationalen Sozialistenkongresses
in Stuttgart den russischen Kommunisten Lenin kennen,
mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband.
In der SPD gehörte sie zusammen
mit ihrer engen Vertrauten, Freundin
und Mitstreiterin Rosa Luxemburg
wortführend zum revolutionären linken Flügel der Partei
und wandte sich mit ihr um die Jahrhundertwende
zum 20. Jahrhundert in der Revisionismusdebatte
entschieden gegen die reformorientierten
Thesen Eduard Bernsteins.
Einer ihrer politischen Schwerpunkte
war die Frauenpolitik.
Hierzu hielt sie beim Gründungskongress
der Zweiten Internationalen
am 19. Juli 1889 ein berühmt gewordenes Referat,
in dem sie die Forderungen
der bürgerlichen Frauenbewegung
nach Frauenwahlrecht, freier Berufswahl
und besonderen Arbeitsschutzgesetzen für Frauen,
wie sie um Helene Lange und Minna Cauer
vertreten wurden, im Rahmen
des herrschenden Systems kritisierte:
„Wir erwarten unsere volle Emanzipation
weder von der Zulassung der Frau zu dem,
was man freie Gewerbe nennt,
und von einem dem männlichen gleichen Unterricht –
obgleich die Forderung dieser beiden Rechte
nur natürlich und gerecht ist –
noch von der Gewährung politischer Rechte.
Die Länder, in denen das angeblich allgemeine,
freie und direkte Wahlrecht existiert,
zeigen uns, wie gering der wirkliche Wert desselben ist.
Das Stimmrecht ohne ökonomische Freiheit
ist nicht mehr und nicht weniger
als ein Wechsel, der keinen Kurs hat.
Wenn die soziale Emanzipation
von den politischen Rechten abhinge,
würde in den Ländern mit allgemeinem Stimmrecht
keine soziale Frage existieren.
Die Emanzipation der Frau
wie die des ganzen Menschengeschlechtes
wird ausschließlich das Werk der Emanzipation
der Arbeit vom Kapital sein.
Nur in der sozialistischen Gesellschaft
werden die Frauen wie die Arbeiter
in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen.“
Damit erklärte Zetkin die fehlende Gleichberechtigung
der Geschlechter zu einem Nebenwiderspruch
der herrschenden sozialen und ökonomischen Bedingungen,
den sie dem Hauptwiderspruch zwischen Kapital
und Arbeit unterordnete.
Ihre Verschiebung der formalpolitischen Emanzipation
der Frau auf die Zeit nach der Revolution
vertiefte die Konflikte der deutschen Frauenbewegung
vor dem Ersten Weltkrieg
und führte zu langwierigen Auseinandersetzungen
mit anderen, gemäßigteren Protagonistinnen
auch innerhalb der sozialdemokratischen Frauenbewegung,
etwa mit Lily Braun oder Luise Zietz.
Zetkin war von 1891 bis 1917
Herausgeberin der SPD-Frauenzeitung Die Gleichheit,
in deren programmatischer Eröffnungsnummer
sie sich erneut gegen die reformistische Vorstellung wandte,
durch rechtliche Gleichstellung mit den Männern
unter Beibehaltung des Kapitalismus einen Fortschritt
für die Frauen erreichen zu wollen:
„Die Gleichheit geht von der Überzeugung aus,
dass der letzte Grund der jahrtausendealten
niedrigen gesellschaftlichen Stellung
des weiblichen Geschlechts nicht
in der jeweils von Männern gemachten Gesetzgebung,
sondern in den durch wirtschaftliche Zustände
bedingten Eigentumsverhältnisse zu suchen ist.
Mag man heute unsere gesamte Gesetzgebung
dahin abändern, dass das weibliche Geschlecht
rechtlich auf gleichen Fuß mit dem männlichen gestellt wird,
so bleibt nichtsdestoweniger für die große Masse
der Frauen die gesellschaftliche Versklavung
in härtester Form weiterbestehen:
ihre wirtschaftliche Abhängigkeit
von ihren Ausbeutern.“
Später revidierte sie diese rigide Haltung
und trat nun ebenfalls für das Frauenwahlrecht ein,
das bereits seit 1891 zentraler Bestandteil
des Parteiprogramms der SPD war.
1907 wurde ihr die Leitung
des neu gegründeten Frauensekretariats
der SPD übertragen.
Beim Internationalen Sozialistenkongress,
der im August 1907 in Stuttgart stattfand,
wurde die Gründung der Sozialistischen
Fraueninternationale beschlossen,
mit Clara Zetkin als Internationaler Sekretärin.
Auf der Zweiten Internationalen
Sozialistischen Frauenkonferenz
am 27. August 1910 in Kopenhagen
initiierte sie gegen den Willen
ihrer männlichen Parteikollegen,
gemeinsam mit Käte Duncker,
den Internationalen Frauentag,
der erstmals im folgenden Jahr
am 19. März 1911 begangen werden sollte
(ab 1921 am 8. März).
Zusammen mit Franz Mehring,
Rosa Luxemburg und sehr wenigen weiteren
SPD-Politikern stimmte Zetkin 1914
kurz vor Beginn des Krieges
gegen die Bewilligung der Kriegskredite.
Sie blieb damit dem Grundsatz
der Zweiten Internationale treu,
keinen Angriffskrieg zu unterstützen
und stand fortan im Widerspruch
zur großen Mehrheit der im Reichstag vertretenen SPD.
In der Zeit des Ersten Weltkriegs
lehnte Zetkin mit Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg,
Franz Mehring und wenigen anderen
einflussreichen SPD-Politikern
die Burgfriedenspolitik ihrer Partei ab.
Neben anderen Aktivitäten gegen den Krieg
organisierte sie 1915 in Bern
die Internationale Konferenz sozialistischer Frauen
gegen den Krieg.
In diesem Zusammenhang entstand
das maßgeblich von ihr ausformulierte
Anti-Kriegs-Flugblatt „Frauen des arbeitenden Volkes!“,
das außerhalb der Schweiz polizeilich gesucht wurde.
Wegen ihrer Antikriegshaltung
wurde Clara Zetkin während des Krieges
mehrfach inhaftiert, ihre Post beschlagnahmt
und ihre Söhne, beide Ärzte im Militärdienst, schikaniert.
Sie war ab 1916 an der ursprünglich
von Rosa Luxemburg gegründeten
revolutionären innerparteilichen Oppositionsfraktion
der SPD, der Gruppe Internationale
oder Spartakusgruppe beteiligt,
die am 11. November 1918
in Spartakusbund umbenannt wurde.
1917 schloss sich Clara Zetkin der USPD
unmittelbar nach deren Konstituierung an.
Diese neue linkssozialdemokratische Partei
hatte sich aus Protest
gegen die kriegsbilligende Haltung der SPD
von der Mutterpartei abgespalten,
nachdem die größer gewordene Gruppe
der Kriegsgegner aus der SPD-Reichstagsfraktion
und der Partei ausgeschlossen worden war.
Nach der Novemberrevolution wurde –
ausgehend vom Spartakusbund
und anderen linksrevolutionären Gruppen –
am 1. Januar 1919 die Kommunistische
Partei Deutschlands (KPD) gegründet,
der auch Zetkin beitrat.
Von 1919 bis 1920 war Zetkin Mitglied
der Verfassunggebenden Landesversammlung
Württembergs und dort eine
unter den ersten 13 weiblichen Abgeordneten.
Sie beteiligte sich ab dem 25. Juli 1919
am Sonderausschuss für den Entwurf
eines Jugendfürsorgegesetzes.
Am 25. September 1919 stimmte Zetkin
gegen die Annahme der Verfassung
des freien Volksstaates Württemberg.
Von 1920 bis 1933 war sie für die KPD
im Reichstag der Weimarer Republik
als Abgeordnete vertreten.
Ab 1919 gab Clara Zetkin die Zeitschrift
Die Kommunistin heraus.
Von 1921 bis zu ihrem Tode war sie
Präsidentin der Internationalen Arbeiterhilfe.
In der KPD war Zetkin bis 1924
Angehörige der Zentrale,
und von 1927 bis 1929 des Zentralkomitees der Partei.
Des Weiteren war sie von 1921 bis 1933
Mitglied des Exekutivkomitee
der Kommunistischen Internationale.
1925 wurde Zetkin außerdem zur Vorsitzenden
der Roten Hilfe Deutschlands gewählt.
In der KPD saß Zetkin
im Lauf ihrer politischen Tätigkeit,
während der die dominierenden innerparteilichen Flügel
mehrfach wechselten, oft zwischen den Stühlen,
behielt jedoch zeitlebens einen bedeutenden
Einfluss in der Partei.
Im Allgemeinen wird sie von namhaften Historikern
eher dem „rechten“ Flügel der KPD zugeordnet,
vor allem, weil sie den ideologischen Vorgaben
der Komintern und aus der Sowjetunion
teilweise kritisch gegenüberstand.
So lehnte sie 1921 zusammen mit dem damaligen
von März 1919 bis Februar 1921 amtierenden
innerparteilich umstrittenen KPD-Vorsitzenden
Paul Levi (Parteiausschluss Mitte 1921)
die vom Komintern-Chef Sinowjew
befürwortete „Offensivstrategie“ als „Putschismus“ ab.
Bei der entsprechenden von der KPD mehrheitlich
unterstützten Kampagne war eine revolutionär
ausgerichtete Arbeiterrevolte, die Märzaktion
in der Provinz Sachsen, blutig gescheitert,
wobei über hundert Menschen
ums Leben gekommen waren.
Anders als die Parteivorsitzenden Levi und Ernst Däumig
blieb sie jedoch in der KPD
und schloss sich nicht der Kommunistischen
Arbeitsgemeinschaft an.
Am 21. Januar 1923, kurz nach dem Beginn
der Besetzung des Ruhrgebietes
durch französische und belgische Truppen
infolge der von Deutschland nicht erfolgten
Reparationszahlungen laut den Bestimmungen
des Versailler Vertrags von 1919,
warf Zetkin unter der Überschrift
Um das Vaterland der Großbourgeoisie vor,
ihr „Verrat“ sei schuld an der krisenhaften Zuspitzung
der Situation der Weimarer Republik
infolge von Hyperinflation und Reparationen.
Mit dem Flugblatt „Zur Befreiung
des deutschen Vaterlandes“
rief sie zum Sturz der Regierung
und zur Bildung einer Arbeiterregierung auf.
Diese nationalistisch anmutenden Töne,
die kurzzeitig dazu führten, dass Zetkin
von einigen Parteigenossen
der Versuch vorgeworfen wurde,
die bürgerlichen Parteien
mit nationalen Parolen rechts überholen zu wollen,
wurden zwei Tage später von der Parteizentrale korrigiert.
Darauf rief die KPD zur Solidarität der Proletarier
in Deutschland und in Frankreich auf
und bekräftigte damit die internationalistische
Ausrichtung der KPD.
Im Juni 1923 erregte Zetkin
auf der Tagung des Exekutivkomitees
der Komintern in Moskau mit ihren Thesen
zum Klassencharakter des Faschismus,
der im Jahr zuvor in Italien
an die Macht gekommen war, Aufsehen.
Der bei vielen Marxisten verbreiteten These,
Mussolinis Diktatur sei als „bloßer bürgerlicher Terror“
und als Angstreaktion der Kapitalisten
auf die Bedrohung durch die Oktoberrevolution zu verstehen,
erteilte sie eine scharfe Absage.
In Wahrheit habe der Faschismus
„eine andere Wurzel. Es ist das Stocken,
der schleppende Gang der Weltrevolution
infolge des Verrats der reformistischen Führer
der Arbeiterbewegung. Ein großer Teil
der proletarisierten und von der Proletarisierung
bedrohten klein- und mittelbürgerlichen Schichten,
der Beamten und bürgerlichen Intellektuellen
hatte die Kriegspsychologie
mit einer gewissen Sympathie
für den reformistischen Sozialismus ersetzt.
Sie erhofften vom reformistischen Sozialismus
dank der Demokratie eine Weltwende.
Diese Erwartungen sind bitter enttäuscht worden.
So kam es, dass sie nicht bloß den Glauben
an die reformistischen Führer verloren,
sondern an den Sozialismus selbst.“
Den Nationalsozialismus bezeichnete sie
als „Strafe“ für das Verhalten
der deutschen Sozialdemokratie
in der Novemberrevolution.
Im April 1925 polemisierte Zetkin
auf einer weiteren Tagung in Moskau
gegen die zu der Zeit aktuelle KPD-Führung
unter Ruth Fischer und Arkadi Maslow,
denen sie „sektiererische Politik“ vorwarf.
Damit half sie deren Absetzung vorzubereiten.
Nachfolger wurde im Herbst 1925 Ernst Thälmann,
den Stalin protegierte.
Zetkin lehnte die parlamentarische Demokratie
der Weimarer Republik strikt ab,
die sie als „Klassendiktatur der Bourgeoisie“
bezeichnete. Zugleich stand sie jedoch
auch der stalinschen Sozialfaschismusthese
kritisch gegenüber, die ein Bündnis
mit der Sozialdemokratie
gegen den Nationalsozialismus verhinderte.
Als Alterspräsidentin des Deutschen Reichstages
führte sie den Vorsitz auf der konstituierenden Sitzung
des Reichstages am 30. August 1932
„in der Hoffnung trotz meiner jetzigen Invalidität
das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin
den ersten Rätekongreß Sowjetdeutschlands zu eröffnen.“
Trotz des vorausgehenden Wahlerfolgs für die KPD
erkannte sie gleichwohl die Gefahr,
die von der inzwischen stärksten Fraktion des Reichstags,
der NSDAP, ausging, und rief in derselben Rede
zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten auf:
„Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit
müssen alle fesselnden und trennenden politischen,
gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen
Einstellungen zurücktreten.“
Nach der Machtergreifung durch die NSDAP
unter Adolf Hitler und dem Ausschluss der KPD
aus dem Reichstag infolge des Reichstagsbrands 1933
ging Clara Zetkin noch einmal,
das letzte Mal in ihrem Leben, ins Exil,
diesmal in die Sowjetunion,
wo sie bereits von 1924 bis 1929
ihren Hauptwohnsitz gehabt hatte.
Nach Angaben von Maria Reese,
einer KPD-Abgeordneten des Reichstags,
die sie dort unter Schwierigkeiten besuchte,
lebte sie bereits parteipolitisch isoliert.
Sie starb wenig später am 20. Juni 1933
im Alter von fast 76 Jahren.
Ihre Urne wurde in der Nekropole
an der Kremlmauer in Moskau beigesetzt.
Stalin selbst trug die Urne zur Beisetzung.
SECHSTER GESANG
Von 1893 bis 1900 besuchte Thälmann
die Volksschule. Rückblickend beschrieb er später
Geschichte, Naturgeschichte, Volkskunde, Rechnen,
Turnen und Sport als seine Lieblingsfächer.
Religion hingegen mochte er nicht.
Mitte der 1890er Jahre eröffneten seine Eltern
ein Gemüse-, Steinkohlen- und Fuhrwerksgeschäft
in Eilbek, einem Stadtteil von Hamburg.
In diesem Geschäft musste er nach der Schule aushelfen.
Seine Schularbeiten erledigte er am frühen Morgen
vor dem Unterrichtsbeginn. Seine Erfahrungen
im elterlichen Geschäft beschrieb er später so:
„Beim Einkaufen der Kunden im Geschäft
bemerkte ich schon die sozialen Unterschiede
im Volksleben. Bei den Arbeiterfrauen
Elend, Not und teilweise Hunger bei ihren Kindern
und geringe Einkäufe,
bei den bemittelten Kunden größere Einkäufe.“
Trotz dieser Belastung war Thälmann
ein guter Schüler, dem das Lernen
viel Freude bereitete. Sein Wunsch,
Lehrer zu werden oder ein Handwerk zu erlernen,
erfüllte sich nicht, da seine Eltern ihm
die Finanzierung verweigerten.
Er musste daher weiter im Kleinbetrieb
seines Vaters arbeiten, was ihm,
nach eigenen Aussagen, großen Kummer bereitete.
Durch das frühzeitige „Schuften“
im elterlichen Betrieb kam es zu vielen
Auseinandersetzungen mit seinen Eltern.
Thälmann wollte für seine Arbeit
einen richtigen Lohn und nicht nur ein Taschengeld.
Darum suchte er sich eine Arbeit als „Ungelernter“
im Hafen. Hier kam Thälmann bereits als Zehnjähriger
mit den Hafenarbeitern in Kontakt,
als sie vom November 1896 bis Februar 1897
im Hamburger Hafenarbeiterstreik
die Arbeit niederlegten. Der Arbeitskampf
wurde von allen Beteiligten erbittert geführt.
Er selbst schrieb 1936 aus dem Gefängnis
an seine Tochter, dass „der große Hafenarbeiterstreik
in Hamburg vor dem Kriege
der erste sozialpolitische Kampf“ gewesen sei,
„der sich für immer in sein Herz“ eingeprägt habe.
Der sozialpolitische Inhalt der Gespräche
der Hafenarbeiter soll ihn sehr geprägt haben.
Anfang 1902 verließ er im Streit das Elternhaus
und kam zunächst in einem Obdachlosenasyl unter,
später in einer Kellerwohnung.
Ab 1904 fuhr er als Heizer
auf dem Frachter AMERIKA zur See,
unter anderem in die USA.
Hier war er 1910 in der Nähe von New York
für kurze Zeit als Landarbeiter tätig.
In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg
betätigte sich Thälmann als konsequenter Streiter
für die Interessen der Hamburger Hafenarbeiter.
Von 1913 bis 1914 arbeitete er
als Kutscher für eine Wäscherei.
Anfang 1915 wurde er zum Kriegsdienst
bei der Artillerie eingezogen
und kam an die Westfront,
an der er bis zum Kriegsende als Kanonier kämpfte.
Zweimal kam er nach Verwundungen
in Lazarette in Köln und Bayreuth.
Er selbst gab an, an folgenden Schlachten
und Gefechten teilgenommen zu haben:
Schlacht in der Champagne,
Schlacht an der Somme, Schlacht an der Aisne,
Schlacht von Soissons, Schlacht von Cambrai
und Schlacht bei Arras.
Thälmann erhielt im Krieg mehrere Auszeichnungen.
Die Eltern waren parteilos;
im Unterschied zum Vater
war die Mutter tief religiös.
Nach der Geburt ihres Sohnes Ernst
übernahmen die Eltern eine Kellerwirtschaft
in der Nähe des Hamburger Hafens.
Im März 1892 wurden die Eltern Thälmanns
wegen Hehlerei zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt,
weil sie entwendete Waren gekauft
oder für Schulden in Zahlung genommen hatten.
Thälmann und seine jüngere Schwester
wurden getrennt und in unterschiedliche Familien
zur Pflege gegeben. Die Eltern wurden jedoch
vorzeitig aus der Haft entlassen.
Die Straftat seiner Eltern
wurde noch 36 Jahre später im Wahlkampf
gegen Ernst Thälmann verwendet.
Den politischen Gegnern kam es gelegen,
dass schon der Vater ein Zuchthäusler gewesen war.
Wenige Tage vor Beginn seines Kriegsdienstes
heiratete er am 13. Januar 1915 Rosa Koch.
Aus dieser Ehe ging die Tochter Irma Thälmann hervor.
Irma war nicht die einzige Nachkommin ihres Vaters.
Thälmann wurde am 15. Mai 1903 Mitglied der SPD.
Am 1. Februar 1904 trat er dem Zentralverband
der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter
Deutschlands bei, in dem er zum Vorsitzenden
der Abteilung Fuhrleute aufstieg.
1913 unterstützte er eine Forderung
von Rosa Luxemburg nach einem Massenstreik
als Aktionsmittel der SPD
zur Durchsetzung politischer Forderungen.
Im Oktober 1918 desertierte Thälmann
gemeinsam mit vier befreundeten Soldaten,
indem er aus dem Heimaturlaub nicht mehr
an die Front zurückkehrte,
und trat Ende 1918 der USPD bei.
In Hamburg beteiligte er sich am Aufbau
des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates.
Ab März 1919 war er Vorsitzender der USPD in Hamburg
und Mitglied der Hamburger Bürgerschaft.
Gleichzeitig arbeitete er als Notstandsarbeiter
im Hamburger Stadtpark,
dann fand er eine gut bezahlte Stelle beim Arbeitsamt.
Hier stieg er bis zum Inspektor auf.
Ende November 1920 schloss sich
der mitgliederstarke linke Flügel der USPD
der Kommunistischen Internationale (Komintern) an
und vereinigte sich damit mit deren deutscher Sektion,
der KPD. Thälmann war der wichtigste Befürworter
dieser Vereinigung in Hamburg.
Auf sein Betreiben hin traten 98 Prozent der Mitglieder
der Hamburger USPD der KPD bei.
Im Dezember wurde er in den Zentralausschuss
der KPD gewählt. Am 29. März 1921 wurde er
wegen seiner politischen Tätigkeit
vom Dienst im Arbeitsamt fristlos entlassen,
nachdem er unerlaubt seinem Arbeitsplatz
ferngeblieben war. Er war einem Aufruf
der KPD gefolgt, sich der März-Aktion anzuschließen.
Im Sommer des Jahres 1921
fuhr Thälmann als KPD-Vertreter
zum III. Kongress der Komintern nach Moskau
und lernte dort Lenin kennen.
Am 17. Juni 1922 wurde ein rechtsradikales Attentat
auf seine Wohnung verübt,
um Thälmann zu ermorden.
Thälmann war Teilnehmer
und einer der Organisatoren
des Hamburger Aufstandes
vom 23. bis 25. Oktober 1923.
Der Aufstand scheiterte,
und Thälmann musste für eine Weile untertauchen.
Später urteilte er in der Berliner Ausgabe
des Parteiorgans Die Rote Fahne:
„Unsere Partei als Ganzes war noch viel zu unreif,
um diese Fehler der Führung zu verhindern.
So scheiterte im Herbst 1923 die Revolution
am Fehlen einer ihrer wichtigsten Voraussetzungen:
dem Bestehen einer bolschewistischen Partei.“
Das Scheitern des Aufstandes wurde vor allem
den ehemaligen KPD-Vorsitzenden
und „Rechtsabweichlern“ Heinrich Brandler
und August Thalheimer vorgeworfen.
Die fehlende Bolschewisierung sei schuld
an der Niederlage gewesen.
Zu einem ähnlichen Schluss kam Georgi Dimitrow
nach dem gescheiterten „Antifaschistischen
Septemberaufstand“ 1923 in Bulgarien.
Ab Februar 1924 war er stellvertretender Vorsitzender
und ab Mai Reichstagsabgeordneter der KPD.
Unter seiner Führung lehnte die Partei
die Kritik Rosa Luxemburgs am Leninismus
als Luxemburgismus ab,
was sich in der unkritischen Solidarität
mit Stalin bemerkbar machte.
Die Entwicklung der bolschewistischen Partei
in der Sowjetunion, die sich mehr auf Stalin
und seine Interpretation des Kommunismus konzentrierte,
machte sich auch unter ihm in der KPD bemerkbar.
Den Posten im Reichstag hatte Thälmann
bis zum Ende der Weimarer Republik inne.
Im Sommer 1924 wurde er
auf dem V. Kongress der Komintern
in ihr Exekutivkomitee
und kurze Zeit später ins Präsidium gewählt.
Am 1. Februar 1925 wurde er Vorsitzender
des Roten Frontkämpferbundes
und am 1. September des Jahres
Vorsitzender der KPD,
als Nachfolger von Ruth Fischer,
die kurze Zeit später als „ultralinke Abweichlerin“
aus der KPD ausgeschlossen wurde.
Thälmann kandidierte bei der Reichspräsidentenwahl 1925
auch für das Amt des Reichspräsidenten.
Obwohl er im ersten Wahlgang
nur sieben Prozent der Stimmen bekommen hatte,
hielt er seine Kandidatur
auch für den zweiten Wahlgang aufrecht.
In diesem Zusammenhang wurde Thälmann vorgeworfen,
dass sein Wahlergebnis von 6,4 Prozent
dem Kandidaten der bürgerlichen Partei,
Wilhelm Marx (45,3 Prozent), fehlten
und den Sieg des Monarchisten
Paul von Hindenburg mit 48,3 Prozent ermöglichten.
Im Oktober 1926 unterstützte Thälmann in Hamburg
den dortigen Hafenarbeiterstreik.
Er sah dies als Ausdruck der Solidarität
mit einem englischen Bergarbeiterstreik,
der seit dem 1. Mai anhielt
und sich positiv auf die Konjunktur
der Unternehmen im Hamburger Hafen auswirkte.
Thälmanns Absicht war, dieses „Streikbrechergeschäft“
von Hamburg aus zu unterbinden.
Am 22. März 1927 beteiligte sich Ernst Thälmann
an einer Demonstration in Berlin,
wo er durch einen streifenden Säbelhieb
über dem rechten Auge verletzt wurde.
1928 fuhr Thälmann nach dem VI. Kongress
der Komintern in Moskau nach Leningrad,
wo er zum Ehrenmitglied der Besatzung
des Kreuzers Aurora ernannt wurde.
Die Komintern setzte Thälmann am 6. Oktober
nach innerparteilichen Streitigkeiten
auf eine Intervention Stalins hin
wieder in seine Parteifunktionen ein.
Stalin verurteilte die Fraktionsbildung
innerhalb der KPD, die Lenin schon
in seinem Werk Was tun? kritisiert hatte
und die bei den Mitgliedsparteien
der Komintern verboten war,
obgleich die Broschüre sich auf die besondere Rolle
der Parteien im damaligen zaristischen System konzentrierte,
da eine legale Parteiarbeit unmöglich erschien.
In den nachfolgenden Wochen
wurde in den KPD-Bezirken in Sitzungen
der Bezirksleitungen und Parteiarbeiterkonferenzen
die Resolution der Komintern diskutiert
und zur Abstimmung gestellt.
Die parteiinterne Abstimmung ergab
eine dominierende Majorität in der Partei.
Auf dem 12. Parteitag der KPD
vom 9. bis 15. Juni 1929 in Berlin-Wedding
ging Thälmann angesichts der Ereignisse des Blutmai,
der sich dort zuvor zugetragen hatte,
auf deutlichen Konfrontationskurs zur SPD.
Neben innenpolitischem Engagement
setzte er sich auch für außenpolitische
und nationale Belange ein,
insbesondere kritisierte er die Nationalsozialisten,
die nicht für die Anträge der KPD stimmten,
die einen Austritt aus dem Völkerbund
und eine Beseitigung der Reparationslasten forderten.
So schrieb er in einem Brief
in der Neuen Deutschen Bauernzeitung 1931:
„Die nationalsozialistischen
und deutschnationalen Betrüger
versprachen euch Kampf zur Zerreißung
des Youngplanes, Beseitigung der Reparationslasten,
Austritt aus dem Völkerbund,
aber sie wagten nicht einmal, im Reichstag
für den kommunistischen Antrag
auf Einstellung der Reparationszahlungen,
Austritt aus dem Völkerbund zu stimmen.“
In dem Brief betont er auch seine nationalen
Absichten mit „Vorwärts zur nationalen
und sozialen Befreiung!“
Am 13. März 1932 kandidierte er neben Adolf Hitler
und Theodor Duesterberg für das Amt
des Reichspräsidenten gegen Hindenburg.
Wahlspruch der KPD war:
„Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler,
wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“
Gegen den stärker werdenden Nationalsozialismus
propagierte er kurze Zeit später
eine „Antifaschistische Aktion“
als „Einheitsfront von unten“,
also unter Ausschluss der SPD-Führung.
Dieses Vorgehen entsprach der Sozialfaschismusthese
der Komintern. Die Zerschlagung der SPD
blieb ein zentrales Ziel der KPD.
Die Antifaschistische Aktion diente auch dazu,
deren Führer als Verräter der Arbeiterklasse
zu „entlarven“. Nach der Reichstagswahl
im November 1932, bei der die NSDAP
eine empfindliche Stimmeneinbuße verzeichnete,
schienen die Nationalsozialisten
auf einem absteigenden Ast.
Thälmann verschärfte den Kampf der KPD
gegen die Sozialdemokratie im Gegenzug abermals.
Als der NSDAP am 30. Januar 1933
die Macht übertragen wurde,
schlug Thälmann der SPD einen Generalstreik vor,
um Hitler zu stürzen,
doch dazu kam es nicht mehr.
Am 7. Februar des Jahres fand im Sporthaus Ziegenhals
bei Königs Wusterhausen eine vom ZK einberufene
Tagung der politischen Sekretäre, ZK-Instrukteure
und Abteilungsleiter der KPD statt.
Auf dem von Herbert Wehner vorbereiteten Treffen
sprach Thälmann zum letzten Mal
vor leitenden KPD-Funktionären
zu der am 5. März 1933 bevorstehenden Reichstagswahl
und bekräftigte die Notwendigkeit
eines gewaltsamen Sturzes Hitlers
durch das Zusammengehen aller linken
und liberalen Parteien zu einer Volksfront.
Am Nachmittag des 3. März 1933
wurde Thälmann festgenommen.
Dem war eine gezielte Denunziation vorausgegangen.
In den Tagen zuvor hatten allerdings
vier weitere Personen ihr Wissen über Thälmann
an die Polizei weitergegeben.
Die Unterkunftsmöglichkeit in der Lützower Straße
hatte Thälmann schon seit einigen Jahren
gelegentlich und nun wieder
seit Januar 1933 genutzt;
sie zählte zwar nicht zu den sechs illegalen Quartieren,
die der Apparat für Thälmann vorbereitet hatte,
galt aber nicht als polizeibekannt.
Thälmann hatte am 27. Februar
eine Sitzung des Politbüros
in einem Lokal in der Lichtenberger Gudrunstraße geleitet
und war bei seiner Rückkehr über den Brand
des Reichstages und die schlagartig
einsetzenden Massenverhaftungen
kommunistischer Funktionäre informiert worden.
In den nächsten Tagen verließ er die Wohnung nicht mehr
und stand nur noch über Mittelsmänner
mit der restlichen Parteiführung in Verbindung.
Für den 3. März plante Thälmann
den Wechsel in eines der vorbereiteten
illegalen Quartiere, ein Forsthaus
bei Wendisch Buchholz. Beim Packen der Koffer
wurde er von der Polizei überrascht.
Thälmanns Festnahme war rechtswidrig,
da seine nach Artikel 40a der Reichsverfassung
als Mitglied des Ausschusses zur Wahrung
der Rechte der Volksvertretung
gewährleistete Immunität
auch durch die Reichstagsbrandverordnung
nicht aufgehoben worden war.
Erst am 6. März stellte ein Berliner Staatsanwalt
„im Interesse der öffentlichen Sicherheit“
einen – formell ebenfalls rechtswidrigen –
Haftbefehl aus, der dann einfach rückdatiert wurde.
Einige Ungereimtheiten im Zusammenhang
mit der die KPD stark verunsichernden
Festnahme Thälmanns waren nach 1933
bereits Gegenstand von parteiinternen Untersuchungen.
Zu diesen Auffälligkeiten zählte etwa,
dass Thälmann trotz der offenen Verfolgung
der Partei wochenlang ein- und dieselbe,
für eine derartige Situation nicht vorgesehene
Wohnung genutzt hatte, vor allem aber
der erstaunliche Umstand, dass weder das Gebäude
noch die Wohnung selbst
von Angehörigen des Parteiselbstschutzes
gesichert worden war. Dadurch liefen
nach einigen Stunden auch noch
Erich Birkenhauer, Thälmanns politischer Sekretär,
und Alfred Kattner, der persönliche Kurier
des Parteichefs, in die Arme der Polizei.
Bei den KPD-Ermittlungen geriet insbesondere
Hans Kippenberger ins Zwielicht,
der als Leiter des Apparats die Verantwortung
für die Sicherheit des Parteichefs trug
und mit Blick auf die Ereignisse des 3. März
auch ausdrücklich übernahm
(„eine Katastrophe und eine Schande
vor der ganzen Internationale“).
In den folgenden Jahren kam es dennoch
wiederholt zu Vertuschungsversuchen
und gegenseitigen Verdächtigungen
der mittel- und unmittelbar beteiligten Personen,
die noch durch gezielte Desinformation
und vor allem durch weitere Verhaftungserfolge
der Gestapo angeheizt wurden.
Dieser war es gelungen, Kattner
in der Haft „umzudrehen“
und mit dessen Hilfe am 9. November 1933
den Thälmann-Nachfolger John Schehr
sowie am 18. Dezember auch Hermann Dünow,
der Kippenberger abgelöst hatte, festzunehmen.
Kattner, dem von der Gestapo obendrein
eine tragende Rolle im geplanten Prozess
gegen Thälmann zugedacht worden war,
wurde am 1. Februar 1934 in Nowawes
von Hans Schwarz, einem Mitarbeiter des Apparats,
erschossen. Birkenhauer, dem Thälmann
die Schuld an der Verzögerung
seines Quartierwechsels und damit
an seiner Festnahme gegeben hatte,
und Kippenberger wurden
im sowjetischen Exil hingerichtet,
Hirsch kam in sowjetischer Haft ums Leben.
Die nationalsozialistische Justiz plante zunächst,
Thälmann einen Hochverrats-Prozess zu machen.
Hierfür sammelte sie intensiv belastendes Material,
das die behauptete „Putschabsicht“
der KPD beweisen sollte.
Ende Mai 1933 wurde Thälmanns „Schutzhaft“
aufgehoben und eine formelle Untersuchungshaft
angeordnet. In diesem Zusammenhang
wurde er vom Polizeipräsidium am Alexanderplatz
in die Untersuchungshaftanstalt Moabit verlegt.
Dieser Ortswechsel durchkreuzte
den ersten einer Reihe von unterschiedlich
konkreten Plänen, Thälmann zu befreien.
Thälmann wurde 1933 und 1934
mehrfach von der Gestapo
in deren Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße verhört
und dabei auch misshandelt.
Bei einem Verhör am 8. Januar
schlug man ihm vier Zähne aus,
anschließend traktierte ihn ein Vernehmer
mit einer Nilpferdpeitsche.
Am 19. Januar suchte Hermann Göring
den zerschundenen Thälmann auf
und ordnete seine Rückverlegung
in das Untersuchungsgefängnis Moabit an.
Die in dieser Phase entstandenen Verhörprotokolle
wurden bis heute nicht aufgefunden
und gelten als verloren.
Thälmann blieb unterdessen lange
ohne Rechtsbeistand; der jüdische Anwalt
Friedrich Roetter, der sich seiner angenommen hatte,
wurde nach kurzer Zeit
aus der Anwaltschaft ausgeschlossen
und selbst in Haft genommen.
1934 übernahmen die Rechtsanwälte
Fritz Ludwig (ein NSDAP-Mitglied)
und Helmut R. Külz die Verteidigung Thälmanns.
Vor allem Ludwig, der für ihn Kassiber
aus der Zelle und Zeitungen und Bücher
in die Zelle schmuggelte
sowie die als Geheime Reichssache deklarierte
Anklageschrift an Unterstützer
im Ausland weiterleitete, vertraute Thälmann sehr.
Über die Anwälte – daneben auch über Rosa Thälmann –
lief ein Großteil der verdeckten Kommunikation
zwischen Thälmann und der KPD-Führung.
Mit Rücksicht auf das Ausland, vor allem aber,
weil die Beweisabsicht der Staatsanwaltschaft
erkennbar wenig gerichtsfest war
und ein mit dem Reichstagsbrandprozess
vergleichbares Desaster vermieden werden sollte,
einigten sich die beteiligten Behörden
im Laufe des Jahres 1935,
von einer „justizmäßigen Erledigung“
Thälmanns Abstand zu nehmen.
Am 1. November 1935 hob der II. Senat
des Volksgerichtshofes die Untersuchungshaft auf,
ohne das Verfahren als solches einzustellen,
und überstellte Thälmann gleichzeitig
als „Schutzhäftling“ an die Gestapo.
1936 erreichte die internationale Protestbewegung
gegen die Inhaftierung Thälmanns einen Höhepunkt.
Zu seinem 50. Geburtstag am 16. April 1936
bekam er Glückwünsche aus der ganzen Welt,
darunter von Maxim Gorki, Heinrich Mann,
Martin Andersen Nexö und Romain Rolland.
Im selben Jahr begann der Spanische Bürgerkrieg.
Die XI. Internationale Brigade
und ein ihr untergliedertes Bataillon
benannten sich nach Ernst Thälmann.
1937 wurde Thälmann von Berlin
in das Gerichtsgefängnis Hannover
als „Schutzhäftling“ überführt.
Thälmann bekam später eine größere Zelle,
in der er jetzt Besuch empfangen konnte.
Dies war ein Vorwand,
um Thälmann in der Zelle abzuhören.
Allerdings wurde ihm die Information
über das heimliche Abhören zugespielt.
Um sich dennoch frei „unterhalten“ zu können,
nutzten er und seine Besucher
kleine Schreibtafeln und Kreide.
Als Deutschland und die Sowjetunion 1939
ihre Beziehungen verbessert hatten
(Hitler-Stalin-Pakt),
setzte Stalin sich offenbar nicht
für Thälmanns Freilassung ein.
Nach der Befreiung seiner Familie
durch die Rote Armee erfuhren
die Angehörigen sogar,
dass Thälmanns Rivale Walter Ulbricht
alle ihre Bitten ignoriert und nicht für die Befreiung
von Thälmann Position bezogen hatte.
Anfang 1944 schrieb Ernst Thälmann
in Bautzen seine heute noch erhaltene Antwort
auf die Briefe eines Kerkergenossen.
Die genauen Umstände von Thälmanns Tod sind unklar.
SIEBENTER GESANG
Pieck war der Sohn eines Kutschers.
Er wuchs in Guben auf;
sein Elternhaus stand im östlichen Teil der Stadt,
dem nach 1945 polnischen Gubin.
Nach Abschluss der Volksschule
begann er 1890 eine Tischlerlehre
und begab sich anschließend auf Wanderschaft.
Dort kam der aus römisch-katholischem Hause stammende
junge Mann erstmals in Kontakt
mit der Arbeiterbewegung.
1894 wurde er Mitglied des gewerkschaftlichen
Deutschen Holzarbeiterverbandes
und 1895 trat er in die Sozialdemokratische
Partei Deutschlands ein.
Seit 1896 arbeitete er als Tischler in Bremen.
In der SPD wurde er 1897 Hauskassierer
und 1899 Stadtbezirksvorsitzender.
1900 übernahm er die Funktion des Vorsitzenden
der Zahlstelle Bremen des Holzarbeiterverbandes.
1904 wurde er in das Bremer Gewerkschaftskartell
delegiert und 1905 als Vertreter der 4. Klasse
in die Bremische Bürgerschaft gewählt,
der er bis 1910 angehörte.
1905 war er auch Vorsitzender der Pressekommission
und 1906 hauptamtlich Erster Sekretär
der Bremer SPD.
Pieck besuchte 1907/1908 die Reichsparteischule
der SPD in Berlin, wo er unter den Einfluss
Rosa Luxemburgs kam
und 1910 Zweiter Sekretär
des zentralen Bildungsausschusses der SPD wurde.
Während des Ersten Weltkrieges
nahm er als entschiedener Gegner
der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik
an Konferenzen linker Sozialdemokraten teil.
1915 wurde er zum Kriegsdienst einberufen.
Auch als Soldat agitierte er gegen den Krieg
und wurde vor ein Kriegsgericht gestellt.
Bevor es zu einem Urteil kommen konnte,
floh Pieck 1917 in den Untergrund nach Berlin,
und als Mitglied des Spartakusbundes
ging er später nach Amsterdam ins Exil.
Nach dem Krieg 1918 kehrte er nach Berlin zurück
und wurde Gründungsmitglied
der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).
Er nahm am Spartakusaufstand
(5. bis 12. Januar 1919) teil
und wurde am 15. Januar
mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verhaftet.
Luxemburg und Liebknecht wurden ermordet;
Pieck wurde freigelassen.
Piecks Entkommen hatte Verdächtigungen zur Folge,
die 1929 den KPD-Vorsitzenden
Ernst Thälmann veranlassten,
Pieck vor ein Ehrengericht der Partei zu stellen.
Die KPD gab die Entscheidung nicht bekannt.
Das Gericht hatte unter dem Vorsitz
Hans Kippenbergers getagt,
der 1937 in Moskau
nach einem Geheimprozess hingerichtet wurde.
Viel später behauptete der Offizier Waldemar Pabst,
der seinen Soldaten den Befehl
zur Ermordung von Liebknecht
und Luxemburg gegeben hatte,
er habe Pieck freigelassen, weil er ihn ausführlich
über militärische Pläne sowie Verstecke
führender Mitglieder der KPD informiert hatte.
1921 wählte ihn die KPD ins Exekutiv-Komitee
der Kommunistischen Internationale;
so lernte er Lenin kennen.
Zur gleichen Zeit wurde er als Nachrücker
von Adolph Hoffmann Abgeordneter
des Preußischen Landtags, dessen Mitglied er
bis zu seiner Wahl in den Reichstag 1928 blieb.
1922 war er Mitbegründer der Internationalen
Roten Hilfe und wurde 1925 Vorsitzender
der Roten Hilfe Deutschlands.
Seine internationale Tätigkeit brachte ihm
die Wahl ins Präsidium des Exekutiv-Komitees
der Kommunistischen Internationale 1931.
Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers
im Januar 1933 und der einsetzenden Verfolgung
deutscher Kommunisten nahm Pieck
am 7. Februar 1933 an der Funktionärstagung
der KPD im Sporthaus Ziegenhals bei Berlin teil.
Am 23. Februar 1933 trat Pieck
zur Vorbereitung der Märzwahlen
auf der letzten Großkundgebung der KPD
im Berliner Sportpalast als Hauptredner auf.
Im Mai 1933 musste er nach Paris ins Exil gehen.
Im August 1933 stand Piecks Name
auf der ersten Ausbürgerungsliste
des Deutschen Reichs.
Die KPD war nun nur noch im Untergrund
oder aus dem Ausland heraus tätig.
Nach der Ermordung von John Schehr
im Februar 1934 wurde Pieck
als dessen Stellvertreter
mit dem Parteivorsitz beauftragt.
1935 wurde Pieck auf der Brüsseler Konferenz
der KPD zum Parteivorsitzenden
für die Dauer der Inhaftierung Thälmanns gewählt
und verlegte sein Exil nach Moskau,
wo er unter anderem für Radio Moskau arbeitete.
Er überlebte den Großen Terror in den 1930er Jahren,
dem ein großer Teil der nach Moskau geflüchteten
deutschen Kommunisten zum Opfer fiel.
1943 gehörte er zu den Initiatoren
des Nationalkomitees Freies Deutschland.
Nachdem Pieck gemeinsam mit Angehörigen
der Gruppe Ulbricht und anderer KPD-Kader
von Stalin Instruktionen erhalten hatte,
kehrte er am 1. Juli 1945 nach Berlin zurück.
Es war sein Auftrag, die Durchsetzung
der hegemonialen Macht der Kommunisten
bei der Errichtung einer staatlichen Struktur
in der Sowjetischen Besatzungszone zu bewirken.
Zunächst forcierte er den Prozess
der Zwangsvereinigung von SPD und KPD
zur SED (Sozialistischen Einheitspartei).
Im April 1946 wurde er gemeinsam
mit Otto Grotewohl (SPD)
Vorsitzender der SED
und nach Gründung der Deutschen
Demokratischen Republik (DDR)
im Oktober 1949 deren erster und einziger Präsident;
er blieb dies bis zu seinem Tode 1960.
Der eigentliche Machthaber der DDR
war jedoch bereits Walter Ulbricht
als Generalsekretär und Erster Sekretär
des ZK der SED. Nach Piecks Tod
wurde der Staatsrat der DDR
als Nachfolgeorgan des Amtes
des Präsidenten geschaffen.
ACHTER GESANG
Als erstes Kind des gelernten Schneiders
Ernst August Ulbricht
und dessen Ehefrau Pauline Ida
wurde Walter Ulbricht 1893 in Leipzig geboren.
Ulbrichts Elternhaus war aktiv
sozialdemokratisch geprägt.
Nach seiner Volksschulzeit begann er 1907
eine Lehre als Möbeltischler,
die er 1911 erfolgreich abschloss.
Bereits 1908 trat Ulbricht
dem Arbeiterjugendbildungsverein Alt-Leipzig bei,
1912 wurde er Mitglied der SPD.
Als Jungfunktionär hielt Ulbricht Vorträge
vor Jugendgruppen der SPD
und übernahm ehrenamtliche Tätigkeiten
beim Arbeiterbildungsinstitut
sowie in der Leipziger Arbeiterjugendbewegung.
Im Jahr 1913 wurde er zum engsten SPD-Funktionärskreis,
der so genannten „Korpora“, zugelassen.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges
verfasste und veröffentlichte Walter Ulbricht
als Mitglied des linken Flügels der SPD
unter Führung von Karl Liebknecht
und Rosa Luxemburg zahlreiche Flugblätter
mit Aufrufen zur Beendigung des Krieges.
Auf einer Funktionärsversammlung
der SPD „Groß-Leipzig“ im Dezember 1914
forderte Ulbricht, die Reichstagsabgeordneten der SPD
sollten künftig gegen weitere Kriegskredite stimmen.
Er wurde für seine Haltung persönlich angegriffen,
der Antrag wurde abgelehnt.
Von 1915 bis 1918 diente Ulbricht
als Soldat an der Ostfront
und auf dem Balkan in Serbien
und Mazedonien als Gefreiter;
1917/18 war er wegen Malaria im Lazarett in Skopje.
Im Jahr 1917 trat er der USPD bei,
einer Abspaltung der SPD.
Obwohl er als Soldat nicht agitatorisch aktiv wurde,
galt er den Militärbehörden als politisch verdächtig.
Bei seiner Verlegung an die Westfront
desertierte Ulbricht 1918 auf dem Transport,
wurde wieder aufgegriffen
und zu zwei Monaten Haft verurteilt.
Kurze Zeit nach seiner Entlassung
und erneuten Verwendung als Soldat in Brüssel
wurde er wegen des Besitzes
von gegen den Krieg gerichteten Flugblättern
in Belgien erneut festgesetzt.
Einem weiteren Militärgerichtsverfahren
konnte Ulbricht sich bei Ausbruch
der Novemberrevolution
durch Flucht und Desertion entziehen.
Während der Novemberrevolution 1918
war Ulbricht Mitglied des Soldatenrates
des XIX. Armeekorps in Leipzig.
Seit 1920 war er Mitglied der KPD,
stieg jedoch als Parteifunktionär rasch auf.
So organisierte er den Parteibezirk Groß-Thüringen neu.
Ende 1920 hielt er sich anlässlich des IV. Weltkongresses
der Kommunistischen Internationale (Komintern),
für die er ab 1924 tätig war,
erstmals in Moskau und Petrograd auf.
Ulbricht vertrat das Organisationsprinzip
der Betriebszellen im Gegensatz
zur bisher üblichen Gliederung nach Wohnortgruppen.
Von 1926 bis 1929 war er sächsischer Landtagsabgeordneter
und ab 1928 für den Wahlkreis Westfalen-Süd
auch Mitglied des Reichstags
und kurz darauf auch im Zentralkomitee (ZK) seiner Partei
und ab 1929 Politischer Leiter des KPD-Bezirks
Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark.
In dieser Funktion war er maßgeblicher Befürworter
der Planung der Morde auf dem Berliner Bülowplatz
im August 1931. Zwischenzeitlich
war Ulbricht im Jahr 1928 Mitglied
der Kommunistischen Partei
der Sowjetunion (KPdSU) geworden.
Im November 1932 war er einer
der Mitorganisatoren des wilden Streiks
bei der Berliner Verkehrsgesellschaft,
hinter dem neben der KPD auch die NSDAP stand.
Bei einer Massenkundgebung trat Ulbricht
gemeinsam mit dem NSDAP-Gauleiter
von Berlin Joseph Goebbels auf.
Nach der Machtübernahme der NSDAP
im Januar 1933 nahm Ulbricht
am 7. Februar 1933 an der geheimen
Funktionärstagung der KPD
im Sporthaus Ziegenhals bei Berlin teil.
Er führte die Arbeit der KPD in der Illegalität weiter
und wurde daher steckbrieflich gesucht,
weswegen er nach Paris emigrierte.
Nach seinem Aufenthalt in Paris und Prag
zog er im Jahr 1938 nach Moskau.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs
verteidigte Ulbricht den deutsch-sowjetischen
Nichtangriffspakt mit dem Argument,
das Hitlerregime werde unter anderem
wegen der Stärke der Roten Armee
nun im Gegensatz zu England
notgedrungen einen friedlichen Weg einschlagen.
„Die deutsche Regierung erklärte sich
zu friedlichen Beziehungen zur Sowjetunion bereit,
während der englisch-französische Kriegsblock
den Krieg gegen die sozialistische Sowjetunion will“,
so Ulbricht. Im Jahr 1940 verurteilte Walter Ulbricht
in der von ihm herausgegebenen Stockholmer Zeitschrift
Welt die Vorschläge anderer Widerständler,
England im Krieg gegen Deutschland zu unterstützen.
Er schrieb, dass fortschrittliche Kräfte
nicht „den Kampf gegen den Terror
und gegen die Reaktion in Deutschland führen“,
nur um stattdessen dem „englischen Imperialismus“
zum Sieg zu verhelfen.
Unmittelbar nach Deutschlands Überfall
auf die Sowjetunion im Juni 1941
setzte die Kominternführung Ulbricht
beim deutschsprachigen Programm
von Radio Moskau ein.
Im Schützengraben forderte er deutsche Soldaten
in der Schlacht von Stalingrad
über Megaphon zur Kapitulation
und zum Überlaufen auf.
In sowjetischen Kriegsgefangenenlagern
versuchte er, deutsche Soldaten
für den Aufbau einer deutschen Nachkriegsordnung
im Sinne der KPD zu gewinnen.
Er war 1943 Mitbegründer
des „Nationalkomitees Freies Deutschland“.
Nach einer Idee der politischen Abteilung
der Roten Armee sollten kommunistische Emigranten
und deutsche Kriegsgefangene
im Sinne der Volksfronttaktik zusammenarbeiten.
Am 30. April 1945 kehrte Ulbricht als Chef
der nach ihm benannten Gruppe Ulbricht
in das zerstörte Deutschland zurück
und organisierte in der Sowjetischen Besatzungszone
die Neugründung der KPD
und 1946 den Vereinigungsparteitag
von KPD und SPD zur SED in Berlin.
Von 1946 bis 1951 war Ulbricht Abgeordneter
des Landtages der Provinz Sachsen.
Im Landtag gehörte er der Fraktion der SED an
und war Mitglied des Ausschusses für Recht und Verfassung
und des Wirtschaftsausschusses.
Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949
wurde er stellvertretender Vorsitzender
im Ministerrat unter dem Vorsitzenden Otto Grotewohl,
übertraf jedoch diesen und Staatspräsident Wilhelm Pieck
an Macht. Nach dem III. Parteitag der SED
wurde Ulbricht am 25. Juli 1950
vom ZK zum Generalsekretär des ZK der SED gewählt,
einer Position, die 1953 in Erster Sekretär
des ZK der SED umbenannt wurde.
Nachdem durch die strikte Ablehnung der Stalin-Noten
und den Deutschlandvertrag deutlich geworden war,
dass sich die westlichen Regierungen
nicht davon abhalten ließen,
den westdeutschen demokratischen Teilstaat aufzubauen,
setzte Ulbricht im Juli 1952
den Aufbau des Sozialismus nach sowjetischem Muster
in der DDR durch. Kurz zuvor hatte er sich
diesen Kurs von Josef Stalin,
dem eigentlichen Machthaber in der DDR,
genehmigen lassen. Auf der II. Parteikonferenz
der SED – Parteitage wurden erst wieder
ab 1954 durchgeführt – erklärte Ulbricht:
„Die politischen und die ökonomischen Bedingungen
der Arbeiterklasse sowie das Bewusstsein
der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Werktätigen
sind so weit entwickelt, dass
der Aufbau des Sozialismus
zur grundlegenden Aufgabe
in der Deutschen Demokratischen Republik geworden ist.“
In der Folge wurde die Abriegelung
der innerdeutschen Grenze forciert,
die bereits Ende Mai 1952
vom Ministerrat beschlossen worden war.
Auch die Kasernierte Volkspolizei,
die erste Armee der DDR,
war kurz vorher gegründet worden.
Sie wurde später (1956)
zur Nationalen Volksarmee ausgebaut.
Das 1950 eingerichtete Ministerium
für Staatssicherheit wurde gleichfalls ausgebaut
und verschärfte seine Tätigkeit
gegen echte und vermeintliche Staatsfeinde,
insbesondere gegen die Jungen Gemeinden der Christen;
die Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat
wurde eingestellt. Die Länder wurden abgeschafft,
seitdem wurde die DDR zentralistisch regiert.
Die Verstaatlichung von Wirtschaftsbetrieben
wurde vorangetrieben, wobei nach sowjetischem
Vorbild ein besonderes Gewicht
auf den Aufbau einer Schwerindustrie gelegt wurde.
Diesem Ziel wurde der Ausbau
der Konsumgüterindustrie nachgeordnet.
Auch begann die Kollektivierung der Landwirtschaft,
bei der Ulbricht indes auf Schwierigkeiten stieß:
Erst 1960 waren alle Landwirte
einer Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaft beigetreten.
Nach dem Tod Josef Stalins am 5. März 1953
war die Position Ulbrichts zeitweise stark gefährdet,
da er als Archetyp eines Stalinisten galt.
Auch wurde ihm der um ihn betriebene
Personenkult vorgeworfen, insbesondere
im Zusammenhang mit seinem 60. Geburtstag
am 30. Juni 1953, für den aufwändige
Jubelfeiern geplant waren,
auf die Ulbricht dann verzichtete.
Der vor dem Geburtstag (unter Beteiligung
namhafter Kulturschaffender) hergestellte Film
Baumeister des Sozialismus – Walter Ulbricht
blieb bis zum Ende der DDR unter Verschluss.
Paradoxerweise rettete ihn der Volksaufstand
des 17. Juni 1953, der durch den von Ulbricht
befohlenen forcierten Aufbau des Sozialismus
mit ausgelöst worden war. Die Sowjetunion
hätte seine geplante Absetzung
als Schwächezeichen verstanden,
jedoch wurde eine schon vorgestellte Briefmarke
mit Ulbrichts Porträt für das Standardporto
eines Briefes der DDR nicht ausgegeben.
Die mangelnde Rückendeckung
seiner innerparteilichen Rivalen
seitens der Besatzungsmacht stärkte seine Position,
so dass er den politischen Machtkampf
innerhalb der SED für sich entscheiden konnte.
1960 wurde er Vorsitzender
zweier neu geschaffener Gremien,
des Nationalen Verteidigungsrates und des Staatsrates,
der nach dem Tode Wilhelm Piecks
das Amt des Präsidenten der DDR ersetzte.
Ulbricht war damit Staatsoberhaupt der DDR
und hatte die entscheidenden Herrschaftsfunktionen
über Staat und Partei auf seine Person vereint.
Innerparteiliche Kritiker wurden ab 1958
als „Fraktionsbildner“ diffamiert
und politisch ausgeschaltet. Ulbricht
hatte die Machtfülle eines Diktators besessen.
Der Bau der Berliner Mauer
durch die DDR 1961 fand unter Ulbrichts
politischer Verantwortung statt,
nachdem er als Ergebnis
harter Verhandlungen die Moskauer Staatsführung
von der Notwendigkeit ihres Baues
aus Sicht der DDR-Regierung
(wegen der damaligen Abwanderung
der gut Ausgebildeten und der Elite,
des so genannten „Ausblutens“) überzeugt hatte.
Zunächst hatte er sich auf einer Pressekonferenz
am 15. Juni 1961 bemüht,
derartige Absichten öffentlich zu dementieren,
auch indem er auf die Frage
einer westdeutschen Journalistin einging.
Frage: „Ich möchte eine Zusatzfrage stellen.
Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung
einer freien Stadt Ihrer Meinung nach,
dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor
errichtet wird? Und sind Sie entschlossen,
dieser Tatsache mit allen Konsequenzen
Rechnung zu tragen?“
Ulbricht: „Ich verstehe Ihre Frage so,
dass es Menschen in Westdeutschland gibt,
die wünschen, dass wir die Bauarbeiter
der Hauptstadt der DDR mobilisieren,
um eine Mauer aufzurichten, ja?
Äh, mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht,
da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt
hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen,
und ihre Arbeitskraft dafür voll ausgenutzt wird,
voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht,
eine Mauer zu errichten!“
Obwohl nicht speziell nach der Art
der Abriegelungsmaßnahmen gefragt wurde,
war Ulbricht selbst damit der erste,
der den Begriff „Mauer“ diesbezüglich in den Raum stellte.
Ob er dies aus einer Unachtsamkeit heraus
oder mit Absicht tat, konnte
nie abschließend geklärt werden.
Zwei Monate später, am Sonntag,
dem 13. August 1961, begannen nachts
gegen 1 Uhr Streitkräfte der DDR,
die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin
sowie der zwischen West-Berlin und der DDR
auf ihrer vollen Länge praktisch lückenlos
und zur gleichen Zeit mit einem gewaltigen Aufwand
an Menschen und Material abzuriegeln
und Sperranlagen zu errichten.
Beim Aufbau der DDR forderte Ulbricht
auf dem III. Parteitag der SED
die Abkehr vom (westlichen,
im Bauhaus in Weimar begründeten) Formalismus.
Die Architektur habe der Form nach national zu sein.
Diese gespaltene Haltung spiegelte sich
in der Gründung einer Deutschen Bauakademie
und der Zeitschrift Deutsche Architektur,
sowie etlichen widersprüchlichen
Abbruch- und Baumaßnahmen wider.
Aus ideologischen Gründen
und vor dem Hintergrund des Aufbaus
sozialistischer Stadtzentren
wurden während der Herrschaft Walter Ulbrichts
in den 1950er und 1960er Jahren
zahlreiche wiederaufbaufähige Kriegsruinen
bedeutsamer und stadtbildprägender
historischer Gebäude abgerissen.
So wurden z. B. das Berliner Schloss (1950)
und das Potsdamer Stadtschloss (1959) gesprengt.
Etwa 60 Kirchenbauten,
darunter einige intakte oder wiederaufgebaute,
wurden gesprengt oder abgerissen,
darunter 17 Kirchen in Ostberlin.
Die Ulrichkirche in Magdeburg wurde 1956 gesprengt,
die Dresdner Sophienkirche 1963,
die Potsdamer Garnisonkirche am 23. Juni 1968
und die intakte 700 Jahre alte Leipziger
Universitätskirche am 30. Mai 1968.
Dabei kam es nach Bürgerprotesten
gegen die Kirchensprengung auch zu Inhaftierungen.
Viele der Neubauten wurden während der 1950er Jahre
im Stil des Sozialistischen Klassizismus errichtet,
zum Beispiel die Stalinallee in Berlin.
Ulbricht sah den Sozialismus
als eigenständige längerdauernde Phase
und setzte sich damit auch von anderen Ländern ab.
Einen in diesem Sinne
„nationalen Weg zum Sozialismus“
spiegeln auch die Verwendung von Elementen
der früheren Uniform der Wehrmacht
bei den NVA-Uniformen,
nach preußischen Militärs benannte Orden der NVA
wie dem Blücher- und dem Scharnhorst-Orden
sowie der später unter Honecker
nicht mehr gesungene Text
der DDR-Hymne wider.
Nach dem Mauerbau 1961
öffnete sich die DDR zunächst nach innen,
insbesondere gegenüber der Jugendkultur in der DDR.
Ulbricht beabsichtigte eine möglichst umfassende
eigene Jugendkultur der DDR zu schaffen,
die weitgehend unabhängig
von westlichen Einflüssen sein sollte.
Bekannt wurde seine auf das „Yeah, Yeah, Yeah“
der Beatles anspielende Aussage
„Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck,
der vom Westen kommt, nun kopieren müssen?
Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je,
und wie das alles heißt, ja,
sollte man doch Schluss machen.“
Prägend für die Neugliederung der DDR
war die Ausschaltung und Beseitigung
der Selbstverwaltung durch Auflösung der fünf Länder
und Neugliederung in 14 Bezirke,
zu denen Ost-Berlin als „Hauptstadt der DDR“ hinzukam.
Die Ende der 50er Jahre erhöhten Planzielerwartungen,
die weiter forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft
und die durch Drohungen Chruschtschows verschärfte
Berlin-Krise machten die Lage der DDR prekär.
Diese wurde durch das bekannteste
durch Walter Ulbricht begonnene Bauwerk,
die paradoxerweise dem ungeliebten Formalismus
verhaftete Berliner Mauer,
1961 wieder stabilisiert.
Ulbricht versuchte seit 1963
mit dem Neuen Ökonomischen System
der Planung und Leitung –
später kurz Neues Ökonomisches System –
eine größere Effizienz der Wirtschaft zu erreichen.
Der gesamtheitliche Plan sollte bestehen bleiben,
aber die einzelnen Betriebe sollten größere
Entscheidungsmöglichkeiten bekommen.
Es ging dabei nicht nur um den Anreiz
durch eigene Verantwortung, sondern auch darum,
dass konkrete Fragen vor Ort
besser entschieden werden können.
Mit der Modernisierung des ökonomischen Systems
gingen Reformen im gesellschaftlichen Bereich
(etwa durch das Bildungsgesetz von 1965) einher.
Die DDR nahm Züge einer „sozialistischen
Leistungsgesellschaft“ an,
in der nicht mehr nur politische Rechtgläubigkeit,
sondern auch fachliche Qualifikationen
über die berufliche und damit
gesellschaftliche Stellung entscheiden sollte.
Zunehmend rückten auch Fachleute
in politische Führungspositionen auf.
Verfassungsrechtlich wurden die gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Veränderungen 1968
in der zweiten Verfassung der DDR festgeschrieben.
Einer der Interessenschwerpunkte Ulbrichts
war die wissenschaftliche Leitung
der Wirtschaft und Politik,
unter anderem mittels „Kybernetik“,
Elementen der Psychologie und Soziologie,
aber vor allem stärker
auf naturwissenschaftlich-technischer Basis.
Grundpfeiler dessen war eine umfassende
Computerisierung und der Ausbau
der Elektronischen Datenverarbeitung.
Das NÖS sah auch die Verbindung der Ökonomie
mit der Wissenschaft vor, was in der Praxis hieß,
dass mehr und mehr Fachleute
die wichtigen Entscheidungen trafen
und einzelne Betriebe und Unternehmen
eine größere Selbständigkeit erlangten.
Im Frühjahr 1972 bestanden noch etwa
rund 11.400 mittelständische Betriebe in der DDR,
unter ihnen circa 6500 halbstaatliche Betriebe,
die insbesondere Konsumgüter
und Dienstleistungen anboten,
was von vielen Mitgliedern der SED
nicht gern gesehen wurde.
Schließlich kam es innerhalb der SED
zu größerem Widerstand gegen das NÖS.
Der Führer dieser Opposition,
die sich der Unterstützung Breschnews erfreute,
war Erich Honecker, der wiederum
auf die Stimmen zahlreicher Parteimitglieder
hoffen konnte und 1972 eine letzte
große Verstaatlichungswelle durchsetzte.
Ulbricht ignorierte „Widersprüche im Sozialismus“,
etwa bei den real vergleichsweise schlechten Beziehungen
der DDR zu den kleineren „Bruderstaaten“.
Sein dafür verwendeter Begriff „sozialistische
Menschengemeinschaft“ wurde nach seinem Tod
schnell fallengelassen. Wichtig und entscheidend
für die DDR wie auch die politische Karriere Ulbrichts
selbst war das Verhältnis zur Sowjetunion.
Mit Hinweis auf die vergleichsweise großen
wirtschaftlichen Erfolge propagierte Ulbricht
Ende der 60er Jahre das „Modell DDR“
als Vorbild aller entwickelten
realsozialistischen Industriegesellschaften
und geriet darüber in ideologische Konflikte
mit der KPdSU.
Der Niederschlagung des Prager Frühlings
stand Ulbricht wiederum positiv gegenüber.
Dem tschechoslowakischen Botschafter
hatte er vorher vorgeworfen,
mit ihrer entschiedenen Aufarbeitung
der eigenen Vergangenheit
würde die tschechoslowakische KP
den anderen sozialistischen Staaten
in den Rücken fallen:
„Jetzt liefern Sie das Material
für den psychologischen Krieg des Imperialismus
gegen den Sozialismus.
Jeden Tag bekommt die Weltpresse
von Ihnen Material für den Kampf
gegen das sozialistische Weltsystem.
Während in Westdeutschland die Jugendlichen
mutig auftreten, vom Imperialismus
geschlagen und getötet werden,
liefern Sie Material über den 'Terror
der Kommunisten'. Das ist zu viel,
das ist schlimmer als zu Zeiten Chruschtschows.“
Damit meinte Ulbricht die Auseinandersetzung
mit dem Stalinismus und dem damit
verbundenen Personenkult,
gegen die er selbst sich verwahrte,
da er seine Position gefährdet sah.
Beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts
in die ČSSR und der militärischen Zerschlagung
der Reformbewegung, die als „Konterrevolution“
oder „Sozialdemokratismus“ denunziert wurde,
nahm die Nationale Volksarmee nicht teil,
auch wenn die offizielle DDR-Propaganda
bis Ende der 1980er Jahre behauptete,
sie hätte an der Invasion teilgenommen.
Auf Ulbricht geht der Standpunkt
der DDR-Führung zurück,
dass es normale diplomatische Beziehungen
zwischen der DDR
und der Bundesrepublik Deutschland
nur geben könne, wenn beide Staaten
die volle Souveränität des jeweils anderen Staates
anerkannten (Ulbricht-Doktrin).
Dies stand im Gegensatz zur bundesdeutschen
Hallstein-Doktrin, der zufolge
die Bundesrepublik die Kontakte
zu einem Staat abbricht, der die DDR anerkennt.
Ab 1969 kam es zu Streitigkeiten
mit Mitgliedern des Politbüro der SED
zur weiteren Wirtschafts- und Außenpolitik der DDR.
Ulbricht war im Rahmen der Entspannungspolitik
von Bundeskanzler Willy Brandt bereit,
die Verhandlungen mit der Bundesrepublik
über eine völkerrechtliche Anerkennung
zurückzustellen. Er erhoffte sich
von der neuen Entspannungspolitik
der Bundesregierung wirtschaftliche Vorteile
für die DDR. Da die Mehrheit
im Politbüro nicht dieser Meinung folgte,
kam es ab 1970 zur Schwächung
seiner Position in der Partei.
Offiziell wurde in der DDR bis 1989 behauptet,
Ulbricht habe sich den deutschlandpolitischen
Entspannungsbemühungen zwischen
der neuen sozialliberalen Bundesregierung
und der Sowjetunion widersetzt.
Die Unterstützung der sowjetischen Führung
unter Leonid Breschnew verlor er aber bereits
ab 1967, als er die These aufstellte,
die DDR befinde sich auf dem Weg
in das „entwickelte gesellschaftliche
System des Sozialismus“
und dies stelle eine eigenständige
Gesellschaftsform dar.
Hierbei wollte er auch mit der KPdSU „gleichziehen“,
die behauptete, sie habe in der Sowjetunion
den Sozialismus bereits realisiert
und befinde sich auf dem Weg zum Kommunismus.
Damit stellte Ulbricht einen Monopolanspruch
der KPdSU auf deren Auslegung
der marxistisch-leninistischen Grundsätze in Frage
und beanspruchte für die SED bzw. für die DDR,
ein Vorbild für die anderen Ostblockstaaten
bei der Verwirklichung des Sozialismus
in einem industrialisierten Land zu sein.
Dafür wurde er von der sowjetischen Parteiführung
und Gesellschaftswissenschaftlern stark kritisiert.
Bei einem Gespräch zwischen Breschnew
und Erich Honecker am 28. Juli 1970 in Moskau
wurde vereinbart, dass Ulbricht
die Macht in der DDR abzugeben habe.
Bei der 14. Tagung des SED-Zentralkomitees
vom 9. bis 11. Dezember 1970
wurde dann über die Wirtschaftspolitik diskutiert
und die akuten Versorgungsprobleme,
welche man für die schlechte Stimmung
in der Bevölkerung gegenüber der SED
verantwortlich machte, allein auf die Politik
Ulbrichts geschoben. Zugleich
wurden sein Führungsstil und seine Alleingänge
in der Deutschlandpolitik kritisiert.
Am 21. Januar 1971 schrieben dann 13
(der damals 20) Mitglieder und Kandidaten
des Politbüros der SED
einen siebenseitigen geheimen Brief an Breschnew.
Mitverfasser dieses als „Geheime Verschlusssache“
deklarierten Briefes waren u. a. Willi Stoph,
Erich Honecker und Günter Mittag.
In diesem stellten sie dar, dass Ulbricht
nicht mehr in der Lage sei,
die wirtschaftlichen und politischen Realitäten
richtig einzuschätzen und mit seiner Haltung
gegenüber der Bundesrepublik eine Linie verfolge,
die das zwischen der SED und der KPdSU
abgesprochene Vorgehen empfindlich störe.
Sie schlugen Breschnew vor, die Entmachtung Ulbrichts
in der Art vorzunehmen, wie zwischen Honecker
und ihm im Juli 1970 besprochen.
Am 29. März 1971 reiste Ulbricht letztmals,
ohne das zu wissen, an der Spitze
einer SED-Delegation
zum XXIV. Parteitag der KPdSU nach Moskau.
In seiner Grußrede am 31. März 1971
erinnerte er die dortigen Delegierten daran,
dass er zu den wenigen Anwesenden zähle,
die Lenin noch persönlich gekannt hätten,
und stellte die DDR als Modell
für die industriell entwickelten
sozialistischen Länder dar.
Angesichts der bekannten Probleme in der DDR
wurden seine Äußerungen jedoch von den Zuhörern
in einer Mischung aus Skepsis
und Empörung aufgenommen.
Bei persönlichen Gesprächen
legte Breschnew Ulbricht den Rücktritt nahe;
er machte ihm klar, dass Ulbricht
mit keiner weiteren Unterstützung
durch die Sowjetunion zu rechnen habe
und dass auch die Mehrheit des Politbüros
der SED gegen ihn stand.
Am 3. Mai 1971 erklärte Ulbricht dann
gegenüber dem Zentralkomitee der SED
„aus gesundheitlichen Gründen“
seinen Rücktritt von fast allen seinen Ämtern.
Wie bereits in den Absprachen mit Breschnew
vorgesehen, wurde als Nachfolger
der damals 58-jährige Erich Honecker nominiert.
Dieser wurde dann auch auf dem VIII. Parteitag der SED
(1971 in Ost-Berlin) zum Ersten Sekretär des ZK gewählt.
Einzig das relativ einflusslose Amt des Vorsitzenden
des Staatsrates behielt Ulbricht
bis an sein Lebensende.
Außerdem erhielt er das neu geschaffene Ehrenamt
des „Vorsitzenden der SED“.
Er starb am 1. August 1973
im Gästehaus der Regierung der DDR am Döllnsee,
während der X. Weltfestspiele
der Jugend und Studenten.
Die Eröffnung der Weltfestspiele
fand im ehemaligen „Walter-Ulbricht-Stadion“
in Ost-Berlin statt, das wenige Tage zuvor
in „Stadion der Weltjugend“
umbenannt worden war.
Die beginnende Tilgung seines Namens
aus der DDR-Geschichtsschreibung
und dem öffentlichen Leben
durch Umbenennungen von Betrieben,
Institutionen und Einrichtungen
hatte Ulbricht schon 1972
mit der Entfernung seines Namens
aus der Bezeichnung der Akademie
für Staats- und Rechtswissenschaft
in Potsdam erlebt.
Ulbricht erhielt ein Staatsbegräbnis:
Der Staatsakt am frühen Nachmittag
des 7. August 1973 fand im Festsaal
des Staatsratsgebäudes statt,
und Honecker hielt die Gedenkansprache.
Auf einer Lafette wurde der Sarg Ulbrichts
dann am späten Nachmittag
durch ein Ehrenspalier der Nationalen Volksarmee
in das Krematorium Berlin-Baumschulenweg überführt.
Soldaten hatte entlang der Straße Aufstellung genommen,
auch Werktätige waren aus Betrieben
an die Strecke beordert worden.
Am 17. September wurde Ulbrichts Urne
im Rondell der Gedenkstätte der Sozialisten
auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt.
NEUNTER GESANG
Sein Vater Wilhelm Honecker war Bergarbeiter
und heiratete 1905 Caroline Catharina Weidenhof.
Zusammen hatten sie sechs Kinder.
Erich Honecker wurde in Neunkirchen (Saar) geboren;
seine Familie zog wenig später
in den Neunkircher Stadtteil Wiebelskirchen.
Er besuchte die evangelische Grundschule.
1922 wurde er noch vor seinem zehnten Geburtstag
in der fünfzig Mitglieder zählenden
kommunistischen Kindergruppe
von Wiebelskirchen untergebracht,
die auch seine Geschwister besuchten
und der später in Jung-Spartakus-Bund umbenannt wurde.
Nach der dritten Klasse wechselte er
in die evangelische Hauptschule,
die er 1926 nach der achten Klasse verließ,
womit automatisch seine Mitgliedschaft
im Jung-Spartakus-Bund endete.
Als Bergmannbauernfamilie nahmen die
in ihrem Revier des Saarlandes
familiär eng vernetzten Honeckers,
die als Hausbesitzer und Vermieter,
mit Obst- und Gemüsegarten
und einer Agrarparzelle
zu den wohlhabenderen Bergleuten
in Wiebelskirchen zählten,
eine materiell vergleichsweise gut gesicherte Position ein,
die sich, konträr zu den späteren Darstellungen
Erich Honeckers, von der Not
der im Deutschen Reich verelendeten Arbeitermassen
stark unterschied: Sie konnten
ihren kleinen Besitz
von Generation zu Generation weitergeben,
besaßen hinter dem Haus Stallungen für eine Kuh
und hielten Ziegen, Kaninchen
und zeitweise ein oder zwei Schweine.
Den Steckrübenwinter 1916/17,
der zu einer reichsweiten Hungersnot führte,
überstand die Familie Honecker
durch ihre bescheidene Landwirtschaft,
die die Ernährungslage der Familie
während der Kriegsjahre aufbesserte,
während der Vater Wilhelm Honecker
als Matrose an der Front kaum eingesetzt wurde.
Entgegen den Darstellungen Erich Honeckers
war sein Vater nicht an der Revolution
in Kiel beteiligt, und kehrte in Wahrheit
nicht erst Ende 1918,
sondern bereits Ende Juli 1917
als sogenannter „Reklamierter“
nach Wiebelskirchen zurück,
nachdem die Oberste Heeresleitung
den Abzug von 40.000 Bergarbeitern
von der Front angeordnet hatte,
weil deren ziviler Einsatz unter Tage
wegen der zwischenzeitlich dramatischen
Brennstoffknappheit wichtiger
als ihr Dienst als Soldaten geworden war.
Wilhelm Honecker trat auch nicht,
wie von seinem Sohn behauptet,
schon in Kiel der USPD bei,
sondern erst nach seiner Heimkehr ins Saarland,
wo die USPD erst Anfang 1918 entstanden war.
Die im Saargebiet paritätisch
von SPD- und USPD-Vertretern gebildeten
Arbeiter- und Soldatenräte wurden bereits
am 24. November von der ins Saargebiet
einmarschierenden französischen Armee aufgelöst.
Durch das im Versailler Vertrag integrierte
Saarstatut wurde ein völkerrechtlich
neues Gebilde geschaffen,
das fünfzehn Jahre lang wirtschaftlich
in das französische Zoll- und Währungsgebiet
eingegliedert wurde, während das Saargebiet
politisch von einer vom Völkerbund
eingesetzten Regierungskommission
beherrscht wurde. Die Familie Honecker
behielt die deutsche Staatsbürgerschaft bei,
stand aber dem katholischen Milieu fern,
dem die Mehrheit der Saarbevölkerung angehörte,
und wurde vom sich herausbildenden
linksproletarischen Milieu angezogen.
Als Honecker nach der Schulzeit
wegen der verschlechterten Wirtschaftslage
keine Lehrstelle fand, drängten ihn seine Eltern
zu Ostern 1926, eine anderweitige Beschäftigung
auf dem ihm von der Kinderlandverschickung her
bekannten Hof des Bauern Wilhelm Streich,
im hinterpommerschen Neudorf,
in der Nähe der Kreisstadt Bublitz, anzunehmen.
Honeckers Memoiren zufolge habe er sich dort
zwei Jahre lang nur für freies Essen
und freie Kleidung aufgehalten,
„um in der Landwirtschaft zu arbeiten“.
Streich behandelte ihn jedoch fast
als seinen künftigen Schwiegersohn,
machte ihn zum Jungbauern,
überantwortete Honecker infolge
einer Kriegsverletzung
schließlich die gesamte Feldbestellung
und entlohnte ihn mit 20 Reichsmark monatlich.
Im Frühjahr 1928 verzichtete Honecker
auf die materiellen Verlockungen
der in Aussicht gestellten Hofübernahme.
Seine Gastfamilie kleidete ihn daraufhin neu ein,
stattete ihn mit Geld aus
und er kehrte nach Wiebelskirchen zurück.
Da er als Landwirtschaftsgehilfe
keine Anstellung fand,
ließ er sich im Dachdeckergeschäft
seines Onkels Ludwig Weidenhof,
das dieser im Erdgeschoss
seines Elternhauses betrieb,
als Dachdeckergehilfe anlernen.
Im Anschluss nahm er eine Lehre als Dachdecker
beim Wiebelskirchener Dachdeckermeister Müller an.
Am 1. Dezember 1928 trat er
dem Kommunistischen Jugendverband Deutschland bei.
Der KJVD zählte zu dieser Zeit nur noch 200 Mitglieder
in elf Ortsgruppen. In seiner späteren DDR-Kaderakte
datierte er das KJVD-Eintrittsdatum auf 1926 zurück,
um seine zweijährige Tätigkeit
als Jungbauer in Hinterpommern
in seiner politischen Kampfbiographie zu vertuschen.
Er galt in den konkurrierenden Jugendverbänden
der Sozialdemokratie und des Zentrums
als „der Wortführer der Kommunisten“.
1929 wurde er in die Bezirksleitung
des KJVD-Saar gewählt.
Parallel absolvierte er diverse
innerparteiliche Schulungen,
um sich auf die Übernahme leitender Funktionen
im KPD-Jugendverband vorzubereiten.
Im Dezember 1929 beteiligte er sich
in Dudweiler an einem zweiwöchigen Lehrgang
der KJVD-Bezirksschule
über marxistische Theorie
und praktische Jugendarbeit.
In seiner Freizeit widmete sich Honecker
seinen Mitgliedschaften im örtlichen Spielmannszug
und in der Jugendorganisation
des Roten Frontkämpferbundes Roter Jungsturm,
der später in Rote Jungfront umbenannt wurde.
Im Kommunistischen Jugendverband
war er zunächst Kassierer
und später Leiter der Wiebelskirchener Ortsgruppe.
Honecker schloss sich formell der KPD an,
nachdem er bereits in verschiedenen Institutionen
des kommunistischen Parteimilieus aktiv war.
Das genaue Datum seines Parteieintritts
konnte bis heute nicht ermittelt werden.
Honecker selbst gab für seine Aufnahme in die KPD
nach 1945 erst das Jahr 1930
und ein anderes Mal Herbst 1931 an.
Schließlich verlegte er den Parteieintritt
auf 1929, um 1979 von der SED
für seine fünfzigjährige Parteimitgliedschaft
geehrt werden zu können.
Im Juli 1930 meldete sich Honecker
mit 27 weiteren Auserwählten
aus den verschiedenen KJVD-Bezirken
beim Parteivorstand der KPD
im Berliner Karl-Liebknecht-Haus,
um an einem Vorbereitungslehrgang
an der Reichsparteischule der KPD
in Fichtenau teilzunehmen.
In einem symbolischen Aufnahmeakt als „Genosse“,
der sich völlig der Herrschaft
der kommunistischen Lebenswelt
und deren Partei unterwirft,
bekam Honecker seinen neuen Parteinamen
Fritz Molter zugeteilt, den er auch
während der sich anschließenden
konspirativen Kaderschulung in Moskau führte.
Seine Dachdeckerlehre brach Honecker
nach zwei Jahren ohne Gesellenprüfung ab,
weil er vom KJVD im Sommer 1930
zu einem einjährigen Studium
an die Internationale Lenin-Schule
nach Moskau delegiert wurde,
einer vom Exekutivkomitee
der Kommunistischen Internationale errichteten
stalinistischen Kaderschmiede,
die ihn zu einem von zirka 370
deutschen „Kursanten“ nominierte.
Im Sommer 1931 absolvierte er
das obligatorische, von der Kommunistischen
Jugendinternationale eingerichtete
Praktikum des Kurses,
aus dem zahlreiche Kaderkräfte
kommunistischer Machtapparate
in Ostmitteleuropa nach 1945 hervorgingen.
Während dieser Zeit nahm er mit 27 anderen
Kursanten als „Internationale Stoßbrigade“
an einem Arbeitseinsatz in Magnitogorsk teil,
wo seit 1929 ein Stahlwerk als künftiges Zentrum
der sowjetischen Stahlgewinnung entstand.
Honeckers Lehrer an der Lenin-Schule
war Erich Wollenberg, der während
des Großen Terrors, im Zuge
der Wollenberg-Hoelz-Verschwörung
durch das NKWD als Gegner Stalins verfolgt wurde.
In der Ära der Schulleiterin Kirsanowa,
die als „eiserne Stalinistin“ galt,
wurde Honecker „Reinigungsritualen“
durch Anklage und Selbstanklage unterzogen,
um seine Ich-Interessen,
innerhalb eines geschlossenen Weltbildes,
systematisch dem Kollektiv
und den Interessen der Partei unterzuordnen.
In seinen Sechs-Tage-Wochen
hatte er ein rigides tägliches Arbeitspensum
von zehn Stunden und mehr abzuleisten,
das aus Unterricht und Selbststudium bestand
und zu politisch-ideologischer Einheitlichkeit
und mentaler Folgsamkeit erzog.
Das Pensum einer Schulstunde umfasste
4–5 Seiten Marx oder Engels,
6–7 Seiten Lenin,
7–8 Seiten Stalin
und 20 Seiten Belletristik.
Bis zu seinem Lebensende blieb Stalin
Honeckers prägendste politische Bezugsfigur.
Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933
war die Arbeit der KPD in Deutschland
nur noch im Untergrund möglich.
Das Saargebiet jedoch gehörte nicht
zum Deutschen Reich.
Honecker wurde kurz in Deutschland inhaftiert,
jedoch bald entlassen.
Er kam 1934 ins Saargebiet zurück
und arbeitete mit dem späteren ersten saarländischen
Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann
in der Kampagne gegen die Wiederangliederung
an das Deutsche Reich.
In dieser Zeit im Widerstand
in den Jahren 1934 und 1935
arbeitete er auch eng mit dem KPD-Funktionär
Herbert Wehner, später SPD, zusammen.
Bei der Saarabstimmung am 13. Januar 1935
stimmten jedoch 90,73 Prozent der Wähler
für eine Vereinigung mit Deutschland.
Der Jungfunktionär floh,
wie 4000–8000 andere Menschen auch,
zunächst nach Frankreich.
Am 28. August 1935 reiste Honecker
unter dem Decknamen „Marten Tjaden“
illegal nach Berlin,
eine Druckerpresse im Gepäck,
und war wieder im Widerstand tätig.
Im Dezember 1935 wurde Honecker
von der Gestapo verhaftet
und zunächst bis 1937
im Berliner Zellengefängnis Lehrter Straße
in Untersuchungshaft genommen.
Er wurde im Juni 1937
zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt;
der ebenfalls angeklagte Bruno Baum wurde –
auch durch Honeckers Aussagen –
zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Honecker verbüßte seine Haftzeit
während der Zeit des Nationalsozialismus
im Zuchthaus Brandenburg-Görden.
Aufgrund der gestiegenen Zahl
der Bombenangriffe auf Berlin ab 1943
teilte man ihn einer Baukolonne zu,
die mit LKW zu den beschädigten Gebäuden
gefahren wurde, um die Bombenschäden
zu reparieren. Als diese Transporte
nach einem Jahr zu unsicher wurden,
brachte man seine Baukolonne
im Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin unter.
Im März 1945 gelang Honecker
gemeinsam mit einem Mitgefangenen
während eines Bombenangriffs
die Flucht aus dem Frauengefängnis.
Er versteckte sich in der Wohnung
der Gefängnisaufseherin Charlotte Grund,
die in der Landsberger Straße 37 wohnte.
Nachdem dort das Vorderhaus ausgebombt wurde,
kehrte er, aufgrund der gestiegenen Entdeckungsgefahr,
in das Gefängnis zurück,
was offenbar durch die dienstverpflichteten
Aufseherinnen organisiert wurde.
Honecker wurde nach Brandenburg zurückverlegt.
Nach der Befreiung des Zuchthauses
durch die Rote Armee am 27. April
ging Honecker nach Berlin.
Seine mit den Mithäftlingen in Brandenburg
nicht abgesprochene Flucht,
sein Untertauchen in Berlin,
die „Rückmeldung“, die Nichtteilnahme
an dem geschlossenen Marsch
der befreiten kommunistischen Häftlinge nach Berlin
und die Verbindung mit einer Gefängnisaufseherin
bereiteten Honecker später
innerparteiliche Schwierigkeiten
und belasteten sein Verhältnis
zu ehemaligen Mithäftlingen.
Gegenüber der Öffentlichkeit verfälschte Honecker
das Geschehen in seinen Lebenserinnerungen
und in Interviews.
Im Mai 1945 wurde Honecker eher zufällig
von Hans Mahle in Berlin „aufgelesen“
und mit zur Gruppe Ulbricht genommen.
Durch Waldemar Schmidt wurde er
mit Walter Ulbricht bekannt gemacht,
der ihn bis dahin noch nicht persönlich kannte.
Bis in den Sommer hinein
war über die zukünftige Funktion Honeckers
noch nicht entschieden worden,
da er sich auch einem Parteiverfahren stellen musste,
welches mit einer strengen Rüge endete.
Zur Sprache kam dabei auch seine Flucht
aus dem Zuchthaus Anfang 1945.
1946 war er dann Mitbegründer
der Freien Deutschen Jugend,
deren Vorsitz er auch übernahm.
Seit dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD
im April 1946 war Honecker Mitglied der SED.
In der im Oktober 1949 gegründeten DDR,
einer realsozialistischen Parteidiktatur,
setzte Honecker seine politische
Karriere zielstrebig fort.
Als FDJ-Vorsitzender organisierte er
die drei Deutschlandtreffen der Jugend
in Berlin ab 1950
und wurde einen Monat nach dem ersten Deutschlandtreffen
als Kandidat ins Politbüro des ZK der SED aufgenommen.
Er war ein ausgesprochener Gegner
kirchlicher Jugendgruppen.
In den innerparteilichen Auseinandersetzungen
nach dem Volksaufstand vom 17. Juni
stellte er sich gemeinsam mit Hermann Matern
offen an die Seite Ulbrichts,
den die Mehrheit des Politbüros
um Rudolf Herrnstadt zu stürzen versuchte.
Am 27. Mai 1955 gab er den FDJ-Vorsitz
an Karl Namokel ab.
Von 1955 bis 1957 hielt er sich zu Schulungszwecken
in Moskau auf und erlebte
den XX. Parteitag der KPdSU
mit Chruschtschows Rede
zur Entstalinisierung mit.
Nach seiner Rückkehr wurde er 1958
Mitglied des Politbüros,
wo er die Verantwortung für Militär-
und Sicherheitsfragen übernahm.
Als Sicherheitssekretär des ZK der SED
war er der maßgebliche Organisator
des Baus der Berliner Mauer im August 1961
und trug in dieser Funktion den Schießbefehl
an der innerdeutschen Grenze mit.
Auf dem 11. Plenum des ZK der SED,
das im Dezember 1965 tagte,
tat er sich als einer der Wortführer hervor
und griff verschiedene Kulturschaffende
wie die Regisseure Kurt Maetzig
und Frank Beyer scharf an,
denen er „Unmoral“, „Dekadenz“,
„spießbürgerlichen Skeptizismus“
und „Staatsfeindlichkeit“ vorwarf.
In diese Kritik bezog er auch die kulturpolitisch
Verantwortlichen der SED mit ein,
ohne sie allerdings namentlich zu nennen:
Sie hätten „keinen prinzipiellen Kampf
gegen die aufgezeigten Erscheinungen geführt.“
Das Plenum beendete die Ansätze
einer kulturpolitischen Liberalisierung der DDR,
die sich nach dem Mauerbau gezeigt hatten.
Während Walter Ulbricht
mit dem Neuen Ökonomischen System
der Planung und Leitung
die Wirtschaftspolitik ins Zentrum gerückt hatte,
deklarierte Honecker die „Einheit
von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zur Hauptaufgabe.
Nachdem er sich die Unterstützung
durch die sowjetische Führung
unter Leonid Breschnew vergewissert hatte,
sammelte er Unterschriften im Politbüro
für die Forderung nach Ulbrichts Absetzung.
Als Ulbricht davon erfuhr,
warf er Honecker aus dem Politbüro.
Daraufhin wandte sich Honecker hilfesuchend
an den sowjetischen Botschafter Abrassimov,
und auf Breschnews Geheiß
musste ihn Ulbricht wieder aufnehmen.
Schließlich putschte sich Honecker
mit sowjetischem Einverständnis an die Macht:
Er wies seine Personenschützer an,
Maschinenpistolen mitzunehmen,
und fuhr mit ihnen zu Ulbrichts
Sommerresidenz in Dölln.
Dort ließ er alle Tore und Ausgänge besetzen,
die Telefonleitungen kappen
und zwang Ulbricht, ein Rücktrittsgesuch
an das Zentralkomitee zu unterschreiben.
Honecker wurde am 3. Mai 1971
als Nachfolger Ulbrichts Erster Sekretär
(ab 1976 Generalsekretär)
des Zentralkomitees der SED.
Wirtschaftliche Probleme und Unmut in den Betrieben
spielten eine große Rolle bei diesem Machtwechsel.
Nachdem er 1971 auch im Nationalen Verteidigungsrat
als Vorsitzender Ulbrichts Nachfolge angetreten hatte,
wählte ihn die Volkskammer am 29. Oktober 1976
schließlich auch zum Vorsitzenden des Staatsrats;
Willi Stoph, der diesen Posten seit 1973 innegehabt hatte,
wurde erneut, wie vor 1973,
Vorsitzender des Ministerrats.
Damit hatte Honecker die Machtspitze
der DDR erreicht. Von nun an
entschied er gemeinsam mit dem ZK-Sekretär
für Wirtschaftsfragen, Günter Mittag,
und dem Minister für Staatssicherheit,
Erich Mielke, alle maßgeblichen Fragen.
Bis zum Herbst 1989
stand die „kleine strategische Clique“
aus diesen drei Männern unangefochten
an der Spitze der herrschenden Klasse der DDR,
der zunehmend vergreisenden Monopolelite
der etwa 520 Staats- und Parteifunktionäre.
Honecker erlangte gemeinsam mit diesen beiden
eine Machtfülle wie kein anderer Herrscher
in der jüngeren deutschen Geschichte,
Ludendorff und Hitler eingeschlossen,
weshalb man ihn als Diktator beschreiben muss.
Unter Honecker entwickelte sich das Politbüro
rasch zu einem Kollektiv von kritiklosen,
unterwürfigen Vollstreckern und Ja-Sagern.
Honecker beantwortete Eingaben
von Bürgern immer schnell,
weshalb man ihn in Anlehnung
an den aufgeklärten Absolutismus
als „obersten Kümmerer seines Staats“ bezeichnet.
Honeckers engster persönlicher Mitarbeiter
war der ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda,
Joachim Herrmann. Mit ihm
führte er tägliche Besprechungen
über die Medienarbeit der Partei,
in denen auch das Layout
des Neuen Deutschlands
und die Abfolge der Meldungen
in der Aktuellen Kamera festgelegt wurden.
Auf schlechte Nachrichten
über den Zustand der Wirtschaft
reagierte er, indem er etwa 1978
das Institut für Meinungsforschung schließen ließ.
Große Bedeutung maß Honecker auch
dem Feld der Staatssicherheit bei,
das er einmal in der Woche
jeweils nach der Sitzung des Politbüros
mit Erich Mielke durchsprach.
Während seiner Amtszeit
wurde der Grundlagenvertrag
mit der Bundesrepublik Deutschland ausgehandelt.
Außerdem nahm die DDR
an den KSZE-Verhandlungen in Helsinki teil
und wurde als Vollmitglied in die UNO aufgenommen.
Diese diplomatischen Erfolge gelten
als die größten außenpolitischen
Leistungen Honeckers.
Am 31. Dezember 1982 versuchte
der Ofensetzer Paul Eßling,
die Autokolonne Honeckers zu rammen,
was in westlichen Medien
als Attentat dargestellt wurde.
Innenpolitisch zeichnete sich anfangs
eine Liberalisierungstendenz
vor allem im Bereich der Kultur und Kunst ab,
die aber weniger durch den Personalwechsel
von Walter Ulbricht zu Erich Honecker
hervorgerufen wurde, sondern Propagandazwecken
im Rahmen der 1973 ausgetragenen
X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten diente.
Nur wenig später erfolgten
die Ausbürgerung von Regimekritikern
wie Wolf Biermann und die Unterdrückung
innenpolitischen Widerstands
durch das Ministerium für Staatssicherheit.
Zudem setzte Honecker sich
für den weiteren Ausbau
der innerdeutschen Staatsgrenze
mit Selbstschussanlagen
und den rücksichtslosen Schusswaffengebrauch
bei Grenzdurchbruchsversuchen ein.
1974 sagte er dazu, „es sind die Genossen,
die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben,
zu belobigen.“
Wirtschaftspolitisch wurde unter Honecker
die Verstaatlichung und Zentralisierung
der Wirtschaft vorangetrieben.
Die schwierige wirtschaftliche Lage
zwang zur Aufnahme von Milliardenkrediten
von der Bundesrepublik Deutschland,
um den Lebensstandard halten zu können.
Die Londoner Financial Times sah Honecker 1981
auf der Höhe seiner Popularität
und stellt diesen Vergleich
zum damaligen Bundeskanzler auf:
„Wenn Helmut Schmidt, der westdeutsche Kanzler,
zu Deutschlands besten Rednern gehört,
so muss Erich Honecker
einer der am wenigsten begabten sein.
Sich seiner hohen Singsang-Stimme auszusetzen,
die die Litanei der ostdeutschen
Kommunistischen Partei beschwört,
ohne auch nur einen Hauch von Emotion
in seinem Gesicht,
kann eine sterbenslangweilige Erfahrung sein.“
1981 empfing er Bundeskanzler Helmut Schmidt
im Jagdhaus Hubertusstock am Werbellinsee.
Honeckers Einschätzung, die DDR habe
„wirtschaftlich Weltklasseniveau erreicht
und gehöre zu den bedeutendsten
Industrienationen der Welt“,
kommentierte Schmidt später mit dem Verdikt
vom „Mann von beschränkter Urteilskraft“.
Trotz der Wirtschaftsprobleme
brachten Honecker die 1980er Jahre
vermehrte internationale Anerkennung,
insbesondere als er am 7. September 1987
die Bundesrepublik Deutschland besuchte
und durch Bundeskanzler Helmut Kohl
in Bonn empfangen wurde.
Auf seiner Reise durch die Bundesrepublik
kam er nach Düsseldorf, Wuppertal, Essen, Trier,
Bayern sowie am 10. September
in seinen Geburtsort im Saarland.
Hier hielt er eine emotionale Rede,
in der er davon sprach, eines Tages
würden die Grenzen die Menschen
in Deutschland nicht mehr trennen.
Diese Reise war seit 1983 geplant gewesen,
wurde jedoch damals von der sowjetischen
Führung blockiert, da man
dem deutsch-deutschen Sonderverhältnis misstraute.
1988 war Honecker unter anderem
auf Staatsbesuch in Paris.
Sein großes Ziel, welches er aber nicht mehr erreichte,
war ein offizieller Besuch in den USA.
Er setzte deshalb in den letzten Jahren der DDR
auf ein positives Verhältnis zum Jüdischen
Weltkongress als möglichem „Türöffner“.
Auf dem Gipfeltreffen des Warschauer Paktes
in Bukarest am 7. und 8. Juli 1989
im Rahmen des „Politisch-Beratenden Ausschusses“
der Staaten des Warschauer Paktes
gab die Sowjetunion offiziell
die Breschnew-Doktrin
der begrenzten Souveränität der Mitgliedsstaaten auf
und verkündete die „Freiheit der Wahl“:
Die Beziehungen untereinander sollten künftig,
wie es im Bukarester Abschlussdokument heißt,
„auf der Grundlage der Gleichheit,
Unabhängigkeit und des Rechtes
eines jeden Einzelnen, selbstständig
seine eigene politische Linie,
Strategie und Taktik ohne Einmischung
von außen auszuarbeiten“ entwickelt werden.
Die sowjetische Bestandsgarantie
für die Mitgliedsstaaten
war damit in Frage gestellt.
Honecker musste seine Teilnahme
an dem Treffen abbrechen;
am Abend des 7. Juli 1989 wurde er
mit schweren Gallenkoliken
in das rumänische Regierungskrankenhaus eingeliefert
und dann nach Berlin ausgeflogen.
Im Regierungskrankenhaus Berlin-Buch
entfernte man ihm am 18. August 1989
die Gallenblase und einen Abschnitt des Dickdarms.
Während der Operation
wurde ein Nierentumor entdeckt,
doch die Ärzte wagten es nicht,
Honecker darüber zu unterrichten.
Erst im September 1989 tauchte Honecker
abgemagert und vergreist
wieder im Politbüro auf.
Währenddessen leitete Günter Mittag
die wöchentlichen Sitzungen des Politbüros.
Lediglich im August 1989
nahm er einige Termine wahr.
So erklärte er am 14. August 1989
bei der Übergabe der ersten Funktionsmuster
von 32-Bit-Prozessoren
durch das Kombinat Mikroelektronik Erfurt:
„Den Sozialismus in seinem Lauf
Hält weder Ochs noch Esel auf.“
Aber in den Städten der DDR
wuchsen Zahl und Größe der Demonstrationen,
und auch die Zahl der DDR-Flüchtlinge
über die bundesdeutschen Botschaften
in Prag und Budapest
und über die Grenzen
der „sozialistischen Bruderstaaten“
nahm stetig zu, monatlich waren es
mehrere Zehntausend.
Die ungarische Regierung öffnete
am 19. August 1989 an einer Stelle
und am 11. September 1989 überall
die Grenze zu Österreich.
Allein hierüber reisten Zehntausende
von DDR-Bürgern über Österreich
in die Bundesrepublik aus.
Die ČSSR erklärte den Zustrom der DDR-Flüchtlinge
für inakzeptabel. Am 3. Oktober 1989
schloss die DDR faktisch ihre Grenzen
zu den östlichen Nachbarn,
indem sie den visafreien Reiseverkehr
in die ČSSR aussetzte;
ab dem nächsten Tag wurde diese Maßnahme
auch auf den Transitverkehr
nach Bulgarien und Rumänien ausgedehnt.
Die DDR war dadurch nicht nur wie bisher
durch den Eisernen Vorhang nach Westen abgeriegelt,
sondern nun auch noch gegenüber
den meisten Staaten des Ostblocks.
Proteste von DDR-Bürgern
bis hin zu Streikandrohungen
aus den grenznahen Gebieten
zur ČSSR waren die Folge.
Die Beziehung zwischen Honecker
und dem Generalsekretär der KPdSU
und Präsidenten der UdSSR Gorbatschow
war schon seit Jahren gespannt:
Honecker hielt dessen Politik der Perestroika
und Kooperation mit dem Westen für falsch
und fühlte sich von ihm speziell
in der Deutschlandpolitik hintergangen.
Er sorgte dafür, dass offizielle Texte der UdSSR,
vor allem solche zum Thema Perestroika,
in der DDR nicht mehr veröffentlicht
oder in den Handel gebracht werden durften.
Am 6. und 7. Oktober 1989 fanden
die Staatsfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag
der DDR in Anwesenheit von Michail Gorbatschow statt,
der mit „Gorbi, Gorbi, hilf uns“-Rufen begrüßt wurde.
In einem Vieraugengespräch der beiden Generalsekretäre
pries Honecker die Erfolge des Landes.
Gorbatschow wusste aber, dass die DDR
in Wirklichkeit vor der Zahlungsunfähigkeit stand.
Am Ende einer Krisensitzung
am 10. und 11. Oktober 1989 forderte
das SED-Politbüro Honecker auf,
bis Ende der Woche einen Lagebericht abzugeben,
der geplante Staatsbesuch in Dänemark
wurde abgesagt und eine Erklärung veröffentlicht,
die Egon Krenz gegen den Widerstand
Honeckers durchgesetzt hatte.
Ebenfalls überwiegend auf Initiative von Krenz
folgten in den nächsten Tagen
Besprechungen und Sondierungen zu der Frage,
Honecker zum Rücktritt zu bewegen.
Krenz sicherte sich die Unterstützung
von Armee und Stasi
und arrangierte ein Treffen
zwischen Michail Gorbatschow
und Politbüromitglied Harry Tisch,
der den Kremlchef am Rande eines Moskaubesuchs
einen Tag vor der Sitzung
über die geplante Absetzung Honeckers informierte.
Gorbatschow wünschte viel Glück,
das Zeichen, auf das Krenz
und die anderen gewartet hatten.
Auch SED-Chefideologe Kurt Hager
flog am 12. Oktober 1989 nach Moskau
und besprach mit Gorbatschow
die Modalitäten der Honecker-Ablösung.
Hans Modrow dagegen wich einer Anwerbung aus.
Die für Ende November 1989 geplante
Sitzung des ZK der SED
wurde auf Ende der Woche vorgezogen,
dringendster Tagesordnungspunkt:
die Zusammensetzung des Politbüros.
Per Telefon versuchten Krenz und Erich Mielke
am Abend des 16. Oktober,
weitere Politbüromitglieder für die Absetzung
Honeckers zu gewinnen. Zu Beginn
der Sitzung des Politbüros vom 17. Oktober 1989
fragte Honecker routinemäßig:
„Gibt es noch Vorschläge zur Tagesordnung?“
Willi Stoph meldete sich
und schlug als ersten Punkt der Tagesordnung vor:
„Entbindung des Genossen Honecker
von seiner Funktion als Generalsekretär
und Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär“.
Honecker schaute zuerst regungslos,
fasste sich aber rasch wieder:
„Gut, dann eröffne ich die Aussprache.“
Nacheinander äußerten sich alle Anwesenden,
doch keiner machte sich für Honecker stark.
Günter Schabowski erweiterte sogar den Antrag
und forderte die Absetzung Honeckers
auch als Staatsratsvorsitzender
und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates.
Selbst Günter Mittag rückte von ihm ab.
Alfred Neumann wiederum forderte die Ablösung
von Mittag und von Joachim Herrmann.
Erich Mielke machte Honecker
für fast alle aktuellen Missstände in der DDR
verantwortlich und drohte Honecker schreiend,
kompromittierende Informationen, die er besitze,
herauszugeben, falls Honecker nicht zurücktrete.
Nach drei Stunden fiel der einstimmige Beschluss
des Politbüros. Honecker votierte, wie es Brauch war,
für seine eigene Absetzung.
Dem ZK der SED wurde vorgeschlagen,
Honecker, Mittag und Hermann
von ihren Funktionen zu entbinden.
Bei der folgenden ZK-Sitzung
waren 206 Mitglieder und Kandidaten anwesend.
Lediglich 16 fehlten, darunter Margot Honecker.
Das ZK folgte der Empfehlung des Politbüros.
Die einzige Gegenstimme kam
von der 81-jährigen Hanna Wolf,
der früheren Direktorin
der Parteihochschule „Karl Marx“.
Öffentlich hieß es: „Das ZK hat der Bitte
Erich Honeckers entsprochen,
ihn aus gesundheitlichen Gründen
von der Funktion des Generalsekretärs,
vom Amt des Staatsratsvorsitzenden
und von der Funktion des Vorsitzenden
des Nationalen Verteidigungsrates
der DDR zu entbinden.“ Egon Krenz
wurde per Akklamation einstimmig
zum neuen Generalsekretär der SED gewählt.
Am 20. Oktober 1989 musste auch Margot Honecker
von ihren Ämtern zurücktreten.
Die Volkskammer der DDR
setzte Mitte November 1989
einen Ausschuss zur Untersuchung
von Korruption und Amtsmissbrauch ein,
dessen Vorsitzender am 1. Dezember 1989
Bericht erstattete. Er warf den bisherigen
SED-Machthabern umfassenden Missbrauch
öffentlicher Ämter zu privaten Zwecken vor.
Honecker habe zudem seit 1978
jährliche Zuwendungen von rund 20.000 Mark
durch die Bauakademie der DDR erhalten.
Die Staatsanwaltschaft der DDR
leitete daraufhin strafrechtliche Ermittlungen
gegen 30 ehemalige DDR-Spitzenfunktionäre ein,
unter ihnen zehn Mitglieder des Politbüros.
Die meisten davon kamen in Untersuchungshaft,
so am 3. Dezember 1989
auch Honeckers Wandlitzer Nachbarn
Günter Mittag und Harry Tisch
wegen persönlicher Bereicherung
und Vergeudung von Volksvermögen.
Am selben Tag wurde Honecker
vom ZK aus der SED ausgeschlossen.
Er schloss sich daraufhin der neu gegründeten KPD an,
deren Mitglied er von 1992 bis zu seinem Tod war.
Am 30. November 1989
wurde dem Ehepaar Honecker
die Wohnung in Wandlitz gekündigt
und am 7. Dezember 1989 durchsucht.
Wegen der aufgeheizten Stimmung
lehnten die Honeckers ein Wohnungsangebot
am Bersarinplatz ab, beschwerten sich aber mehrfach,
man habe sie obdachlos gemacht.
Am 5. Dezember 1989 wurde auch gegen ihn
ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Honecker sei „verdächtig,
seine Funktion als Vorsitzender des Staatsrates
und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR
und seine angemaßte politische
und ökonomische Macht
als Generalsekretär des ZK der SED missbraucht“
und „seine Verfügungsbefugnisse
als Generalsekretär des ZK der SED
zum Vermögensvorteil für sich
und andere missbraucht zu haben“.
Federführend war bis Januar 1990
das Amt für Nationale Sicherheit der DDR,
also der Nachfolger der Stasi,
das hierzu einen „Maßnahmeplan
im Ermittlungsverfahren gegen Erich Honecker“
erarbeitet hatte, später betrieb
die Abteilung für Wirtschaftsstrafsachen
beim Generalstaatsanwalt der DDR das Verfahren.
Am 6. Januar 1990 erfuhr Honecker
nach einer erneuten Untersuchung
durch eine Ärztekommission aus den Abendnachrichten
der Aktuellen Kamera des DDR-Fernsehens,
dass er Nierenkrebs hat.
Am 10. Januar 1990 entfernte der Urologe
Peter Althaus einen pflaumengroßen Nierentumor.
Am Abend des 28. Januar 1990
wurde Honecker in seinem Krankenzimmer
der Charité festgenommen,
am nächsten Tag in das Haftkrankenhaus
des Gefängnisses Berlin-Rummelsburg eingeliefert
und nach einem Tag
wegen Haftunfähigkeit entlassen.
Rechtsanwalt Wolfgang Vogel wandte sich
im Auftrag Honeckers
an die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg
und bat um Hilfe.
Pastor Uwe Holmer,
Leiter der Hoffnungstaler Anstalten
in Lobetal bei Bernau,
bot daraufhin dem Ehepaar Unterkunft
in seinem Pfarrhaus an.
Althaus fuhr es noch am Abend
des 30. Januar 1990 dorthin.
Schon am selben Tag kam es zu Kritik
und später zu Demonstrationen
gegen die kirchliche Hilfe für das Ehepaar,
da beide solche Christen,
die sich nicht dem SED-Regime angepasst hätten,
benachteiligt hätten.
Das Ehepaar wohnte dennoch –
abgesehen von einer Unterbringung
in einem Ferienhaus in Lindow,
die im März 1990 schon nach einem Tag
wegen politischer Proteste abgebrochen werden musste –
bis zum 3. April 1990 weiter bei Holmers.
Dann siedelte das Ehepaar
in das sowjetische Militärhospital bei Beelitz über.
Bei erneuten Untersuchungen auf Haftfähigkeit
stellten dort die Ärzte bei Honecker
die Verdachtsdiagnose eines bösartigen Lebertumors.
Am 2. Oktober 1990, dem Vorabend
der Deutschen Wiedervereinigung,
wurden die wirtschaftsstrafrechtlichen Ermittlungsakten
im Fall Erich Honecker von der Generalstaatsanwaltschaft
der DDR an die der Bundesrepublik übergeben.
Am 30. November 1990 erließ das Amtsgericht Tiergarten
einen weiteren Haftbefehl gegen Honecker
wegen des Verdachts, dass er den Schießbefehl
an der innerdeutschen Grenze 1961 verfügt
und 1974 bekräftigt habe.
Der Haftbefehl war aber nicht vollstreckbar,
da Honecker sich in Beelitz
unter dem Schutz sowjetischer Stellen befand.
Am 13. März 1991 wurde das Ehepaar
mit einem sowjetischen Militärflugzeug
von Beelitz nach Moskau,
nach vorheriger Information des Bundeskanzlers Kohl
durch den sowjetischen Staatspräsidenten
Gorbatschow, ausgeflogen.
Das Kanzleramt war durch die sowjetische Diplomatie
über die bevorstehende Ausreise der Honeckers
nach Moskau informiert worden.
Die Bundesregierung beschränkte sich aber öffentlich
auf den Protest, es liege bereits ein Haftbefehl vor,
daher verstoße die Sowjetunion
gegen die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland
und damit gegen Völkerrecht.
Immerhin war zu diesem Zeitpunkt
der Zwei-plus-Vier-Vertrag,
der Deutschland die volle Souveränität zuerkennen sollte,
vom Obersten Sowjet noch nicht ratifiziert.
Erst am 15. März 1991 trat der Vertrag
mit der Hinterlegung der sowjetischen
Ratifizierungsurkunde beim deutschen Außenminister
offiziell in Kraft. Von diesem Augenblick an
wuchs der deutsche Druck auf Moskau,
Honecker zu überstellen.
Zwischen Michail Gorbatschow und Honecker
bestand ohnehin ein seit Jahren
stetig schlechter werdendes Verhältnis,
die UdSSR befand sich in der Auflösung.
Den Augustputsch in Moskau überstand Gorbatschow
nur geschwächt. Der neue starke Mann,
Boris Jelzin, Präsident der russischen Teilrepublik RSFSR,
verbot die KPdSU, deren Generalsekretär Gorbatschow war.
Am 25. Dezember 1991 trat Gorbatschow
als Präsident der Sowjetunion zurück.
Die russische Regierung unter Jelzin
forderte Honecker im Dezember 1991 auf,
das Land zu verlassen,
da andernfalls die Abschiebung erfolge.
Am 11. Dezember 1991 flüchteten die Honeckers
daher in die chilenische Botschaft in Moskau.
Nach Erinnerung Margot Honeckers
hatten zwar auch Nordkorea
und Syrien Asyl angeboten,
von Chile erhoffte man sich aber besonderen Schutz:
Nach dem Militärputsch von 1973
unter Augusto Pinochet hatte die DDR
unter Honecker vielen Chilenen,
auch dem Botschafter Clodomiro Almeyda,
Exil in der DDR gewährt,
und Honeckers Tochter Sonja
war mit einem Chilenen verheiratet.
In Anspielung auf die DDR-Flüchtlinge
in den bundesdeutschen Botschaften
in Prag und Budapest
wurde das Ehepaar Honecker ironisch
„letzte Botschaftsflüchtlinge der DDR“ genannt.
Chile allerdings wurde damals
durch eine links-bürgerliche Koalition regiert,
und die deutsche Bundesregierung äußerte,
wenn Russland und Chile
ihren Anspruch einlösen wollten,
Rechtsstaaten zu sein, müsste Honecker,
da mit Haftbefehl in Deutschland gesucht,
in die Bundesrepublik überstellt werden.
Am 22. Juli begründete der deutsche Botschafter
Klaus Blech im russischen Außenministerium:
„Nach Auffassung der deutschen Regierung
verstößt die widerrechtliche Verbringung
von Herrn Honecker gegen den Vertrag
über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts
und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs
der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet
der Bundesrepublik Deutschland
und gegen allgemeines Völkerrecht,
weil sie dazu diente, eine wegen Anstiftung
zur mehrfachen vorsätzlichen Tötung
durch Haftbefehl gesuchte Person
der Strafverfolgung zu entziehen.“
Allerdings war der bei Honecker bereits
in Beelitz erhobene Verdacht auf Leberkrebs
im Februar 1992 in Moskau
durch eine Ultraschall-Untersuchung
mit dem Befund „herdförmiger Befall der Leber –
Metastase“ bestärkt worden.
Drei Wochen später aber soll
die grundsätzlich zuverlässigere Untersuchung
durch ein Computertomogramm ergeben haben:
„Werte für einen herdförmigen Befall der Leber
wurden nicht festgestellt“.
Nun wurde gegen Honecker verbreitet,
er sei ein Simulant. Drei Tage später
verkündete der russische Justizminister
im deutschen Fernsehen, Honecker
werde nach Deutschland überstellt,
sobald er die Botschaft verlassen habe.
Am 7. März 1992 hieß es,
die chilenische Regierung korrigiere ihre Haltung
im Fall Honecker, Botschafter Almeyda
sei zur Berichterstattung nach Santiago beordert,
man sei verärgert über seinen Versuch,
mit offenbar manipulierten Berichten
über den todkranken Honecker
dessen Einreise nach Chile zu erreichen.
Almeyda wurde von seinem Posten abberufen.
Zwar protestierte am 18. März 1992
eine Gruppe von Ärzten aus dem russischen Parlament
und machte geltend, es sei die März-Diagnose,
die manipuliert worden sei.
Aber für die Öffentlichkeit schien Honeckers
altersgerecht guter Allgemeinzustand
gegen eine Krebserkrankung zu sprechen.
Im Juni 1992 sicherte der chilenische Präsident
Patricio Aylwin schließlich Bundeskanzler
Helmut Kohl zu, Honecker werde
die Botschaft in Moskau verlassen.
Die Russen ergänzten, sie sähen „keinen Grund“,
von ihrer Entscheidung von Dezember 1991 abzurücken,
„wonach Honecker nach Deutschland
zurückzukehren hat“. Am 29. Juli 1992
wurde Erich Honecker nach Berlin ausgeflogen,
wo er verhaftet
und in die Justizvollzugsanstalt Moabit gebracht wurde.
Margot Honecker dagegen reiste per Direktflug
der Aeroflot von Moskau nach Santiago de Chile,
wo sie zunächst bei ihrer Tochter Sonja unterkam
und bis zu ihrem Tod am 6. Mai 2016 lebte.
Am 29. Juli 1992 wurde Honecker
in Untersuchungshaft im Krankenhaus
der Berliner Vollzugsanstalten
in Berlin-Moabit genommen.
Die Schwurgerichtsanklage vom 12. Mai 1992
warf ihm vor, als Vorsitzender des Staatsrats
und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR
gemeinsam mit mehreren Mitangeklagten,
unter anderem Erich Mielke, Willi Stoph,
Heinz Keßler, Fritz Streletz und Hans Albrecht,
in der Zeit 1961 bis 1989 am Totschlag
von insgesamt 68 Menschen beteiligt gewesen zu sein,
indem er insbesondere als Mitglied des NVR
angeordnet habe, die Grenzanlagen um West-Berlin
und die Sperranlagen zur Bundesrepublik auszubauen,
um ein Passieren unmöglich zu machen.
Insbesondere zwischen 1962 und 1980
habe er mehrfach Maßnahmen und Festlegungen
zum weiteren pioniertechnischen Ausbau der Grenze
durch Errichtung von Streckmetallzäunen
zur Anbringung der Selbstschussanlagen
und der Schaffung von Sicht- und Schussfeld
entlang der Grenzsicherungsanlagen getroffen,
um Grenzdurchbrüche zu verhindern.
Außerdem habe er im Mai 1974
in einer Sitzung des NVR dargelegt,
der pioniermäßige Ausbau der Staatsgrenze
müsse weiter fortgesetzt werden,
überall müsse ein einwandfreies Schussfeld
gewährleistet werden und nach wie vor
müsse bei Grenzdurchbruchsversuchen
von der Schusswaffe rücksichtslos
Gebrauch gemacht werden.
„Die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich
angewandt haben“, seien „zu belobigen“.
Diese Anklage ist durch Beschluss des Landgerichts
Berlin vom 19. Oktober 1992
unter Eröffnung des Hauptverfahrens
zugelassen worden. Mit Beschluss vom gleichen Tage
wurde das Verfahren hinsichtlich 56
der angeklagten Fälle abgetrennt,
deren Verhandlung zurückgestellt wurde.
Die verbliebenen 12 Fälle waren Gegenstand
der am 12. November 1992
begonnenen Hauptverhandlung.
Ebenfalls am 19. Oktober 1992 erließ
die Strafkammer einen Haftbefehl
hinsichtlich der verbliebenen zwölf Fälle.
Eine zweite Anklageschrift
vom 12. November 1992
legte Honecker zur Last,
in der Zeit von 1972 bis Oktober 1989
Vertrauensmissbrauch in Tateinheit mit Untreue
zum Nachteil sozialistischen Eigentums
begangen zu haben. Es handelte sich hierbei
um Vorgänge im Zusammenhang
mit der Versorgung und Betreuung
der Waldsiedlung Wandlitz.
In diesem Zusammenhang erging am 14. Mai 1992
ein weiterer Haftbefehl.
Der von aller Welt mit Spannung erwartete Prozess
hatte nach Ansicht vieler Juristen
einen ungewissen Ausgang.
Denn nach welchen Gesetzen der Staatschef
der untergegangenen DDR
eigentlich verurteilt werden konnte, war umstritten.
Auch mussten die Politiker
der alten Bundesrepublik befürchten,
ihrem „vormaligen Bankettgesellen“
(so der DDR-Schriftsteller Hermann Kant),
den sie noch 1987 in Bonn, München
und anderen Städten mit allen protokollarischen
Ehren empfangen hatten,
im Gerichtssaal gegenübergestellt zu werden.
In seiner am 3. Dezember 1992
vor Gericht vorgetragenen Erklärung
übernahm Honecker zwar die politische Verantwortung
für die Toten an Mauer und Stacheldraht,
doch sei er „ohne juristische
oder moralische Schuld“.
Er rechtfertigte den Bau der Mauer damit,
dass aufgrund des sich zuspitzenden Kalten Krieges
die SED-Führung 1961
zu dem Schluss gekommen sei, dass anders
ein „dritter Weltkrieg mit Millionen Toten“
nicht zu verhindern gewesen sei,
und betonte die Zustimmung
der sozialistischen Führungen
sämtlicher Ostblockstaaten
zu dieser gemeinschaftlich getroffenen Entscheidung
und verwies auf die Funktionen,
die der DDR in seiner Amtszeit
im UN-Weltsicherheitsrat
trotz des Schießbefehls an der Mauer
zugestanden worden seien.
Im Weiteren führte er an, dass der Prozess gegen ihn
aus rein politischen Motiven geführt werde,
und verglich die 49 Mauertoten,
deretwegen er angeklagt war,
etwa mit der Anzahl der Opfer im von den USA
geführten Vietnamkrieg
oder der Selbstmordrate in westlichen Ländern.
Die DDR habe bewiesen, „dass Sozialismus möglich
und besser sein kann als Kapitalismus“.
Öffentliche Kritik an Verfolgungen durch die Stasi
tat er damit ab, dass auch der „Sensationsjournalismus“
in westlichen Ländern mit Denunziation arbeite
und die gleichen Konsequenzen habe.
Honecker war zu dieser Zeit bereits schwer krank.
Eine erneute Computertomographie
am 4. August 1992 bestätigte
die Moskauer Ultraschall-Untersuchung:
Im rechten Leberlappen befand sich
ein „fünf Zentimeter großer raumfordernder Prozess“,
vermutlich eine Spätmetastase des Nierenkrebses,
der Honecker im Januar 1990 in der Charité
entfernt worden war. Unter Berufung
auf diese Feststellungen stellten Honeckers Anwälte
Nicolas Becker, Friedrich Wolff und Wolfgang Ziegler
den Antrag, das Verfahren, soweit es sich
gegen Honecker richte, abzutrennen,
einzustellen und den Haftbefehl aufzuheben.
Das Verfahren sei eine Nagelprobe für den Rechtsstaat.
Ihr Mandant leide an einer unheilbaren Krankheit,
die entweder durch Ausschaltung der Leberfunktion
direkt oder durch Metastasierung
in anderen Bereichen zum Tode führe.
Seine Lebenserwartung sei geringer
als die auf mindestens zwei Jahre geschätzte
Prozessdauer. Es sei zu fragen, ob es human ist,
gegen einen Sterbenden zu verhandeln.
Den gestellten Antrag lehnte die Strafkammer
mit Beschluss vom 21. Dezember 1992 ab.
Das Landgericht führte in seiner Begründung aus,
dass kein Verfahrenshindernis bestehe.
Zwar habe sich die Einschätzung
der voraussichtlich eintretenden
Verhandlungsunfähigkeit aufgrund
der aktualisierten schriftlichen Gutachten
zeitlich verdichtet. Die Prognose des Eintritts
der Verhandlungsunfähigkeit sei jedoch
im Hinblick auf die Schwere
und Bedeutung des Tatvorwurfs
und des sich daraus ergebenden Gewichts
der verfassungsrechtlich gebotenen Pflicht
zur Strafverfolgung noch immer zu ungewiss,
als dass eine sofortige Einstellung des Verfahrens
zwingend geboten erscheine.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde
verwarf das Kammergericht durch Beschluss
vom 28. Dezember 1992.
Das Kammergericht kam jedoch zu dem Ergebnis,
aufgrund der Stellungnahmen und Gutachten
der medizinischen Sachverständigen
sei davon auszugehen, dass infolge
eines bösartigen Tumors im rechten Leberlappen
Honeckers eine Verhandlungsfähigkeit
mit hoher Wahrscheinlichkeit
nicht mehr lange bestehen werde
und Honecker mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit den Abschluss des Verfahrens
nicht überleben werde.
Das Kammergericht sah sich gleichwohl gehindert,
das Verfahren selbst einzustellen,
weil dies nach Beginn der Hauptverhandlung
nur noch vom Landgericht
durch Urteil ausgesprochen werden könne.
Dementsprechend könne es auch
den bestehenden Haftbefehl nicht aufheben,
bevor das Landgericht über das Vorliegen
eines Verfahrenshindernisses entschieden habe.
Hiergegen erhob Honecker Verfassungsbeschwerde
vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin.
Honecker führte aus, die Entscheidungen
verletzten sein Grundrecht auf Menschenwürde.
Die Menschenwürde gelte als tragendes Prinzip
der Verfassung auch gegenüber
dem staatlichen Strafvollzug
und der Strafjustiz uneingeschränkt.
Die Fortführung eines Strafverfahrens
und einer Hauptverhandlung
gegen einen Angeklagten,
von dem mit Sicherheit zu erwarten sei,
dass er vor Abschluss der Hauptverhandlung
und mithin vor einer Entscheidung
über seine Schuld oder Unschuld sterben werde,
verletze dessen Menschenwürde.
Die Menschenwürde umfasse insbesondere das Recht
eines Menschen, in Würde sterben zu dürfen.
Mit Beschluss vom 12. Januar 1993
entsprach der Verfassungsgerichtshof
der Verfassungsbeschwerde Honeckers.
Aufgrund der Feststellungen des Kammergerichts,
wonach Honecker den Abschluss des Verfahrens
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
nicht mehr erleben werde,
sei davon auszugehen,
dass das Strafverfahren seinen gesetzlichen Zweck
auf vollständige Aufklärung der
Honecker zur Last gelegten Taten
und gegebenenfalls Verurteilung und Bestrafung
nicht mehr erreichen könne.
Das Strafverfahren werde damit zum Selbstzweck,
wofür es keinen rechtfertigenden Grund gäbe.
Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls
verletze den Anspruch Honeckers
auf Achtung seiner Menschenwürde.
Der Mensch werde zum bloßen Objekt
staatlicher Maßnahmen insbesondere dann,
wenn sein Tod derart nahe sei,
dass ein Strafverfahren seinen Sinn verloren habe.
Noch am selben Tage stellte das Landgericht Berlin
das Verfahren ein und hob den Haftbefehl auf.
Den hiergegen von der Staatsanwaltschaft
und den Nebenklägern erhobenen Beschwerden
half das Landgericht nicht ab.
Der Antrag auf Erlass eines neuen Haftbefehls
wurde mit Beschluss vom 13. Januar 1993 abgelehnt.
Am 13. Januar 1993 lehnte das Landgericht Berlin
in Bezug auf die Anklageschrift
vom 12. November 1992 die Eröffnung
des Hauptverfahrens ab
und hob auch den zweiten Haftbefehl auf.
Nach insgesamt 169 Tagen wurde Honecker
aus der Untersuchungshaft entlassen,
was Proteste von Opfern
des DDR-Regimes nach sich zog.
Honecker flog unmittelbar darauf
nach Santiago de Chile zu Frau und Tochter Sonja,
die dort mit ihrem chilenischen Ehemann
Leo Yáñez und ihrem Sohn Roberto wohnte.
Die mit ihm Angeklagten wurden dagegen
am 16. September 1993 zu Freiheitsstrafen
zwischen vier und siebeneinhalb Jahren verurteilt.
Am 13. April 1993 wurde ein letzter
zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennter
und in Abwesenheit des Angeklagten
fortgesetzter Prozess gegen Honecker
vom Berliner Landgericht ebenfalls eingestellt.
Am 17. April 1993, dem 66. Geburtstag
seiner Frau Margot, rechnete Honecker
in einer Rede mit dem Westen ab
und bedauerte seine Genossen,
die noch im Gefängnis in Moabit saßen
und „dem Klassenfeind trotzten“.
Er schloss seine Rede mit den Worten:
„Sozialismus ist das Gegenteil von dem,
was wir jetzt in Deutschland haben.
Sodass ich sagen möchte, dass unsere
schönen Erinnerungen an die DDR viel aussagen
von dem Entwurf einer neuen, gerechten Gesellschaft.
Und dieser Sache wollen wir für immer treu bleiben.“
In den letzten Monaten musste Honecker
künstlich ernährt werden.
Am 29. Mai 1994 starb er im Alter von 81 Jahren
in Santiago de Chile.
Nach der Trauerfeier wurde seine Urne nicht beigesetzt.
ZEHNTER GESANG
Von 1954 bis 1962 besuchte Gysi
die Polytechnische Oberschule,
von 1962 bis 1966 die Erweiterte Oberschule
(ab 1965 Schule mit mathematischem Schwerpunkt)
in Berlin-Adlershof.
Hier erwarb er 1966 das Abitur
und legte gleichzeitig den Lehrabschluss
zum Facharbeiter für Rinderzucht ab.
Gysi absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaft
an der Humboldt-Universität zu Berlin,
das er 1970 als Diplom-Jurist beendete.
Ab 1971 war Gysi einer der wenigen
freien Rechtsanwälte in der DDR.
In dieser Funktion verteidigte er auch Systemkritiker
und Ausreisewillige,
darunter bekannte Personen wie Robert Havemann,
Rudolf Bahro, Jürgen Fuchs,
Bärbel Bohley und Ulrike Poppe.
1976 erfolgte seine Promotion zum Dr. jur.
mit der Arbeit Zur Vervollkommnung
des sozialistischen Rechtes
im Rechtsverwirklichungsprozeß.
Von 1988 bis 1989 war er Vorsitzender
des Kollegiums der Rechtsanwälte in Ost-Berlin
und gleichzeitig Vorsitzender der 15 Kollegien
der Rechtsanwälte in der DDR.
Am 12. September 1989 war er zusammen
mit dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel
in Prag, um die DDR-Flüchtlinge
in der deutschen Botschaft zur Rückkehr
in die DDR aufzufordern.
Im Herbst 1989, vor der politischen Wende in der DDR,
setzte Gysi sich als Anwalt für die Zulassung
des oppositionellen Neuen Forums ein.
Von August 2002 bis zu seiner Wiederwahl
als Abgeordneter des Bundestages im Jahre 2005
war er wieder als Rechtsanwalt tätig.
Seit 1967 war Gysi Mitglied der SED.
Als er 1989 in den Blickpunkt der Öffentlichkeit trat,
arbeitete er an einem Reisegesetz mit.
Am 4. November 1989 sprach Gysi vor 500.000 Menschen
auf der Massenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz
und forderte ein neues Wahlrecht
sowie ein Verfassungsgericht.
Seine Eloquenz und rhetorische Begabung
ließen ihn schnell zu einem der Medienstars
des Herbstes werden.
Ab dem 3. Dezember 1989 gehörte er
dem Arbeitsausschuss zur Vorbereitung
des außerordentlichen Parteitages der SED an
und war Vorsitzender eines parteiinternen
Untersuchungsausschusses.
Auf dem Sonderparteitag am 9. Dezember 1989
wurde Gysi mit 95 Prozent der Delegiertenstimmen
zum Vorsitzenden der SED gewählt.
Am 16. Dezember 1989 sprach er sich
auf dem Sonderparteitag der SED-PDS
für eine Zusammenarbeit beider deutscher Staaten
bei voller Wahrung ihrer Souveränität aus.
Im Winter 1989/90 war Gysi als Parteivorsitzender
der damaligen SED-PDS daran beteiligt,
dass die Partei nicht aufgelöst wurde
und das Parteivermögen sowie Arbeitsplätze
innerhalb der Partei erhalten blieben.
Den Parteivorsitz der PDS hatte Gysi
bis zum 31. Januar 1993 inne.
Danach wirkte er zunächst als stellvertretender
Parteivorsitzender, dann als Mitglied
im Parteivorstand weiter mit,
bis er im Januar 1997 endgültig
aus dem Parteivorstand ausschied.
Am 23. Dezember 2005 wurde er auch Mitglied
der WASG, ebenso wie Oskar Lafontaine
auch Mitglied in der Linkspartei PDS wurde.
Damit machten beide demonstrativ von der Möglichkeit
einer Doppelmitgliedschaft
in der Linkspartei und in der WASG Gebrauch.
Seit dem 16. Juni 2007 ist Gysi Mitglied
der Partei Die Linke.
Gysi ist Mitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Im Dezember 2016 wurde er zum Vorsitzenden
der Europäischen Linken gewählt.
„Die Klebekolonnen, die allerorten
durch die Lande ziehen,
um die Wahlkämfer ins rechte Licht zu rücken,
haben offensichtlich nicht nur viel zu tun,
sondern auch ein gerüttelt Maß Humor.“
Auf dem Sonderparteitag der SED
im Dezember 1989 unterstützte Gregor Gysi
den Fortbestand der SED
unter neuem Namen („SED-PDS“)
unter anderem mit dem Argument,
eine Auflösung und Neugründung
würde juristische Auseinandersetzungen
um das Parteivermögen nach sich ziehen
und sei eine ernste wirtschaftliche
Bedrohung für die Partei.
Später wurde ihm seitens der Unabhängigen
Kommission zur Überprüfung
des Vermögens der Parteien
und Massenorganisationen der DDR
vorgeworfen, er sei aktiv
an der Verschleierung des SED-
Parteienvermögens beteiligt gewesen
und habe im Putnik-Deal versucht,
mit Hilfe der KPdSU SED-Gelder
ins Ausland zu verschieben,
um sie vor dem Zugriff staatlicher Stellen zu sichern.
Der Untersuchungsausschuss
des Deutschen Bundestages 1998
zum Verbleib des SED-Parteienvermögens gab an,
dass Gysi bei seiner Befragung geschwiegen
und damit zusammen mit weiteren PDS-Funktionären
die Arbeit des Ausschusses behindert habe.
Von März bis Oktober 1990 war Gysi
Abgeordneter der ersten frei gewählten
Volkskammer der DDR,
dort Fraktionsvorsitzender der PDS.
Als solcher wurde er am 3. Oktober 1990
Mitglied des Deutschen Bundestages,
aus dem er am 1. Februar 2002 ausschied,
um das Amt des Wirtschaftssenators
in Berlin anzutreten.
Er war von 1990 bis 1998
Vorsitzender der PDS-Bundestagsgruppe,
dann bis zum 2. Oktober 2000
Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion.
Von 2001 bis 2002 war er Mitglied
des Abgeordnetenhauses von Berlin.
Am 17. Januar 2002 wurde Gysi Bürgermeister
und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen
des Landes Berlin in dem vom Regierenden
Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD)
geführten Senat.
Am 31. Juli 2002 trat er im Rahmen
der Bonusmeilen-Affäre von allen Ämtern zurück.
Für die Bundestagswahl 2005
kehrte er als Spitzenkandidat der Linkspartei zurück.
Er war Direktkandidat für den Wahlkreis 85
Treptow-Köpenick und führte die Landesliste
der Linkspartei Berlin an.
Bei der Wahl konnte er sich gegen seinen Konkurrenten
Siegfried Scheffler von der SPD durchsetzen
und zog mit 40 Prozent der abgegebenen Erststimmen
direkt in den Bundestag ein.
Gemeinsam mit Oskar Lafontaine wurde er
zum Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion gewählt.
Auch bei der Bundestagswahl 2009
trat er als Spitzenkandidat der Berliner Landesliste an.
Sein Erststimmen-Ergebnis
in seinem Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick
konnte er jedoch auf 44 Prozent verbessern
und zog somit erneut per Direktmandat
in den Bundestag ein.
Nach dem Verzicht Oskar Lafontaines
wurde Gysi am 9. Oktober 2009
mit 94 Prozent zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden
der Bundestagsfraktion der Linken bestimmt
und 2011 mit 81 Prozent im Amt bestätigt.
Bei der Bundestagswahl 2013
gelang es Gysi – wiederum Spitzenkandidat
der Berliner Landesliste –
trotz leichter Einbußen von 2,6 Prozent
sein Direktmandat mit 42 Prozent
erneut zu verteidigen.
Wie schon 2011 wies er Sahra Wagenknechts
Ambitionen auf eine Doppelspitze
in der Fraktion erfolgreich zurück
und wurde am 9. Oktober 2013
auf einer Fraktionsklausur
im brandenburgischen Bersteland erneut
zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden gewählt.
Aufgrund der regierenden Großen Koalition
war er damit Oppositionsführer.
Am 7. Juni 2015 gab er bekannt,
dass er nicht erneut für den Fraktionsvorsitz
der Linken kandidieren werde.
Entsprechend schied er am 12. Oktober 2015
aus beiden Ämtern aus.
Seine Nachfolge im Fraktionsvorsitz
und damit auch in der Oppositionsführung
wurden Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht.
Im Januar 2012 wurde bekannt, dass Gregor Gysi
als einer von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken
unter Beobachtung durch das Bundesamt
für Verfassungsschutz steht.
Nachdem diese Überwachung
Anfang 2014 eingestellt worden war,
stellte das Verwaltungsgericht Köln
in einem Anerkenntnisurteil
im September 2014 fest,
dass die Personenakte Gysis zu vernichten sei.
Laut Abschlussbericht des Immunitätsausschusses
des Deutschen Bundestages soll Gysi
zwischen 1975 und 1986 für das Ministerium
für Staatssicherheit der DDR
unter verschiedenen Decknamen,
dabei hauptsächlich als „IM Notar“
gearbeitet haben, nachdem in einer früheren Version
des Abschlussberichtes noch davon die Rede war,
dass ein solcher Nachweis aufgrund
der vorhandenen Unterlagen nicht erfolgen kann.
Im Abschlussbericht heißt es unter anderem,
Gysi habe „seine herausgehobene berufliche Stellung
als einer der wenigen Rechtsanwälte
in der DDR genutzt, um als Anwalt
auch international bekannter Oppositioneller
die politische Ordnung der DDR
vor seinen Mandanten zu schützen.
Um dieses Ziel zu erreichen,
hat er sich in die Strategien des MfS einbinden lassen,
selbst an der operativen Bearbeitung
von Oppositionellen teilgenommen
und wichtige Informationen an das MfS
weitergegeben. Auf diese Erkenntnisse
war der Staatssicherheitsdienst
zur Vorbereitung seiner Zersetzungsstrategien
dringend angewiesen.
Das Ziel dieser Tätigkeit unter Einbindung
von Dr. Gysi war die möglichst wirksame
Unterdrückung der demokratischen
Opposition in der DDR.“
Die Feststellungen des Immunitätsausschusses
hatten aber keine Auswirkungen auf Gysis Arbeit
als Abgeordneter, der im Abschlussbericht
selbst der Beschuldigung widersprach
und auf „wesentliche Mängel und Fehler“
im Verfahren hinwies. Die PDS und die FDP
stimmten dem Papier nicht zu.
Gysi legte erneut Klage gegen die Feststellung ein.
Er bekannte sich zur Kooperation
mit der Staatsanwaltschaft
und dem Zentralkomitee der SED
„im Interesse und mit Wissen seiner Klienten“
und ging mehrmals erfolgreich,
gerichtlich gegen die Verbreitung der Behauptung,
er wäre IM Gregor / IM Notar gewesen, vor.
1998 untersagte das Landgericht Hamburg
dem Magazin Der Spiegel, weiterhin zu behaupten,
Gregor Gysi habe für die Stasi-Spionageabteilung
gearbeitet und dort den Decknamen
IM Notar geführt, weil der Spiegel
seine Behauptungen nicht habe beweisen können.
Nachdem das ZDF am 27. Mai 2008
ein Interview mit Marianne Birthler ausgestrahlt hatte,
in dem sie Gysi eine Stasi-Tätigkeit vorwarf,
ging Gysi mit einem Unterlassungsbegehren
gegen den Sender vor.
Die Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen,
Marianne Birthler, erklärte,
es gäbe in ihrem Haus keine Zweifel daran,
dass der IM nach Aktenlage
„nur Gregor Gysi gewesen sein“ könne.
Der ARD sagte sie, es gebe Erkenntnisse,
dass Gysi „wissentlich und willentlich“
die Stasi unterrichtet habe.
Die erfolglose Klage richtete sich ferner
gegen die Freigabe von Protokollen,
ausweislich derer DDR-Staatschef Erich Honecker
Gysi über dessen Vater ausrichten ließ,
dieser solle im Rahmen der „juristisch konsequenten
Verteidigung“ Havemanns als dessen Rechtsanwalt
„ein Vertrauensverhältnis zu Havemann herstellen
mit dem Ziel, dass dieser seine
Außenpropaganda einstellt“.
Dem liegt ein Tonbandbericht in Ich-Form
über ein Gespräch bei, das Gysi 1979
mit Havemann führte.
(„Ich schlug ihm noch einmal vor,
jegliche Veröffentlichungen im Westen zu unterlassen
und sich allein auf die DDR zu beschränken.“)
Die zunächst mit seiner anwaltlichen Schweigepflicht
begründete Berufung zog Gysi später zurück.
Gysi bestreitet nach wie vor,
als IM tätig gewesen zu sein:
Er sei erstmals 1980 von der Stasi
wegen der Möglichkeit einer inoffiziellen Mitarbeit
überprüft und 1986 abschließend
„zur Aufklärung und Bekämpfung
politischer Untergrundtätigkeit
nicht geeignet“ befunden worden.
„Im September 1980 legte die Stasi einen Vorlauf an,
um zu prüfen, ob ich als IM infrage käme.
Wozu einen solchen Vorlauf im Jahr 1980,
wenn ich angeblich 1979 bereits IM war?“
Er habe „erhebliche Verbesserungen
für Havemann wie die Aufhebung des Hausarrestes
oder die Verhinderung weiterer Anklagen erreicht“.
Havemanns Sohn Florian hat Gysi
in der Angelegenheit ausdrücklich verteidigt.
Am 28. Mai 2008 erklärte er in einem Interview:
„Unabhängig von der Frage, ob Herr Gysi IM war,
was ich nicht beurteilen kann,
hat er im Sinne unseres Vaters gehandelt.“
Hingegen stellt Havemanns Frau Katja
anhand der Stasi-Unterlagen Gysis Rolle
in ein anderes Licht – und spricht dabei
auch über ihre Gewissheit, dass er sich eindeutig
hinter IM Gregor und IM Notar verbirgt.
Gysi hinterfragte die Glaubwürdigkeit der Akten:
Die Bundesbeauftragte habe in einem anderen Fall erklärt,
„dass sie die Diskrepanzen zwischen dem Akteninhalt
und tatsächlichen Begebenheiten nicht untersuchen dürfe.
Die Behörde sei auch nicht befugt,
Unterlagen zu bewerten und auch nicht,
Wahrheitsfeststellungen zu treffen.“
Am 28. Mai 2008 befasste sich der Bundestag
auf Verlangen von CDU/CSU und SPD
in der Aktuellen Stunde mit dem „Bericht
aus den Unterlagen der Bundesbeauftragten
für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler,
über vertrauliche Gespräche,
die Gregor Gysi 1979/1980
als DDR-Rechtsanwalt mit Mandanten geführt hat“.
In der Debatte forderten Abgeordnete
der CDU, SPD, Grünen und FDP
sowohl Konsequenzen in Form einer Entschuldigung
bei den Opfern als auch den Ämterverzicht Gysis.
Der Vorsitzende der Linksfraktion, Oskar Lafontaine,
forderte als Konsequenz aus den Äußerungen
von Marianne Birthler deren Entlassung.
Birthler bekräftigte dagegen,
dass die Aktenlage zweifelsfrei zeige,
dass Gysi wissentlich und willentlich
Informationen an die Stasi geliefert habe.
Dies sei gemäß Stasi-Unterlagengesetz entscheidend,
als Stasi-Spitzel zu gelten, „unabhängig davon,
ob eine Verpflichtungserklärung existiere oder nicht.“
Wegen neuer Hinweise hat die Staatsanwaltschaft
Hamburg ihre Ermittlungen gegen Gysi ausgeweitet.
Ermittelt wird wegen einer möglicherweise falschen
eidesstattlichen Versicherung.
Gysi hatte erklärt, „zu keinem Zeitpunkt
über Mandanten oder sonst jemanden
wissentlich und willentlich
an die Staatssicherheit berichtet zu haben“.
Im Wahlkampf 2013 behauptete Gysi,
in Deutschland gelte noch immer das Besatzungsstatut.
So forderte Gysi im Interview mit dem Deutschlandfunk
ein Ende der Besatzung Deutschlands
und die Aufhebung des Besatzungsstatuts,
damit Deutschland endlich als Land
souverän werden könne.
Im Jahr 2015 antwortete er auf die Frage,
ob Deutschland noch besetzt sei,
mit „nein“ und äußerte, dass die Bundesrepublik
Deutschland ein souveräner Staat sei,
sich aber nicht so benähme;
nahm in diesen Zusammenhängen
aber nicht zum Besatzungsstatut Stellung.
Gysi bezeichnet sich als ungläubig und ist konfessionslos.
ELFTER GESANG
Sahra Wagenknecht ist die Tochter
einer Deutschen und eines Iraners,
der als West-Berliner Student
ihre in der DDR lebende Mutter kennenlernte.
Ihr Vater gilt seit dem Ablauf
seiner Aufenthaltsgenehmigung
im Jahr 1972 als verschollen.
Als sie zum ersten Mal Bundestagsabgeordnete wurde,
änderte sie die amtliche Schreibung
ihres Vornamens entsprechend
der persischen Schreibweise ab,
wie es der ursprünglichen Namensgebung
der Eltern entsprach.
Ihre Mutter war nach Wagenknechts Angaben
gelernte Kunsthändlerin und arbeitete
für den staatlichen Kunsthandel.
Sahra wuchs zunächst bei ihren Großeltern
in einem Dorf bei Jena auf;
mit Schulbeginn zog sie zu ihrer Mutter
nach Ost-Berlin. Während ihrer Schulzeit
wurde sie Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ)
und schloss 1988 die Erweiterte Oberschule
„Albert Einstein“ in Berlin-Marzahn
mit dem Abitur ab.
Die in der DDR übliche militärische Ausbildung
für Schüler empfand sie als extrem belastend:
Sie konnte nichts mehr essen,
was ihr von den Behörden
als politischer Hungerstreik ausgelegt wurde.
Als repressive Reaktion darauf durfte sie
in der DDR nicht studieren.
Als Begründung wurde genannt,
sie sei „nicht genügend aufgeschlossen fürs Kollektiv“.
Ihr wurde eine Arbeitsstelle
als Sekretärin zugewiesen.
Diese kündigte sie allerdings nach drei Monaten,
was für DDR-Verhältnisse äußerst ungewöhnlich war.
Sie erhielt fortan keinerlei staatliche
Unterstützung mehr und bestritt ihren Lebensunterhalt
mit dem Erteilen von Nachhilfestunden.
Im Frühsommer 1989 trat Wagenknecht der SED bei,
nach eigenen Angaben,
um den in der Sackgasse steckenden Sozialismus
umzugestalten und Opportunisten entgegenzutreten.
Nach der Wende studierte sie
ab dem Sommersemester 1990 Philosophie
und Neuere Deutsche Literatur
an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
und der Humboldt-Universität zu Berlin.
Ihr Studium in Berlin brach sie ab,
da sie „an der Ostberliner Humboldt-Universität
kein Verständnis mehr für ihr Forschungsziel fand“.
Danach immatrikulierte sie sich
an der niederländischen Reichsuniversität Groningen
für den Studiengang Philosophie.
Nach eigenen Angaben hatte sie zuvor alle Scheine
bis auf die Abschlussarbeit in Berlin gemacht
und erwarb im September 1996 in Groningen
den akademischen Grad Magistra Artium
mit einer Arbeit über die Hegelrezeption
des jungen Marx. Diese Untersuchung
wurde 1997 als Buch veröffentlicht.
Nach eigenen Angaben begann sie 2005
ihre Dissertation zum Thema
„Die Grenzen der Wahlfreiheit.
Sparentscheidungen und Grundbedürfnisse
in entwickelten Ländern“
im Fach Volkswirtschaftslehre.
Im August 2012 reichte sie ihre Arbeit
an der Technischen Universität Chemnitz
beim Professor für Mikroökonomie Helmedag ein,
der unter anderem auch Vertrauensdozent
der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist.
Zwei Monate später bestand sie ihre mündliche Prüfung
zum Dr. rer. pol.
mit der Gesamtbewertung magna cum laude.
Im Oktober 2013 veröffentlichte
der Campus-Verlag ihre Doktorarbeit
über das Verhältnis von Einkommen und Rücklagen.
Von August 2012 bis August 2014 verfasste sie
in der Tageszeitung Neues Deutschland
regelmäßig Artikel in der Kolumne
Der Krisenstab.
Ab 1991 war Wagenknecht Mitglied
des Parteivorstandes der PDS.
Zwischen 1995 und 2000 jedoch musste sie
für fünf Jahre aus dem Vorstand ausscheiden,
weil Gysi sie für so untragbar hielt,
dass er mit seinem Rückzug gedroht hatte.
Von 1991 bis 2010 war sie Mitglied der Leitung
der vom Bundesamt für Verfassungsschutz
als linksextremistisch eingestuften
Kommunistischen Plattform (KPF),
einem Zusammenschluss orthodox-kommunistisch
orientierter Mitglieder und Sympathisanten
innerhalb der Partei und blieb dies auch
nach der Verschmelzung von WASG und PDS.
Die von Wagenknecht als Sprecherin der KPF
öffentlich vertretene „positive Haltung
zum Stalinismusmodell“
bewertete der Parteivorstand als unvereinbar
mit den Positionen der PDS.
Wagenknecht war das einzige Vorstandsmitglied,
das der Vorstandserklärung zum Mauerbau
die Zustimmung versagte,
weil die überfällige Mauer endlich
das lästige Einwirken des Klassenfeindes beendet habe.
Noch im Mai 2008 erklärte sie im Spiegel,
dass sie den Begriff Diktatur für die DDR
(die sie zuvor als „das friedfertigste
und menschenfreundlichste Gemeinwesen,
das sich die Deutschen im Gesamt
ihrer Geschichte bisher geschaffen haben“
bezeichnet hatte) für unangemessen halte.
2000 wurde sie erneut in den Parteivorstand
der PDS gewählt. Im März 2006
gehörte sie zu den Initiatoren
der Antikapitalistischen Linken,
einer gemeinsamen Gruppierung
aus Mitgliedern der WASG und Linkspartei.
Seit Juni 2007 ist Wagenknecht Mitglied
des Parteivorstandes der Partei Die Linke
und seit Oktober 2007 Mitglied
der Programmkommission.
Ihren innerparteilichen Vorstoß,
eine Kandidatur für den Vize-Parteivorsitz der Linken
beim ersten Parteitag der fusionierten Partei
im Mai 2008 zu erwägen,
beendete sie nach der Ablehnung
durch den Parteivorsitzenden Lothar Bisky
sowie durch den Fraktionsvorsitzenden der Linken
im Deutschen Bundestag Gregor Gysi
und erklärte in einer Pressemitteilung,
nicht als stellvertretende Vorsitzende zu kandidieren.
Sie wurde auf dem Parteitag mit 70 Prozent der Stimmen
erneut in den Parteivorstand gewählt.
Auf Vorschlag Gysis und des Parteivorstands
wurde Wagenknecht auf dem Bundesparteitag der Linken
Anfang Mai 2010 mit 75 Prozent der Stimmen
zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt.
Am 8. November 2011 wurde sie
mit 62 Prozent der Stimmen
zur 1. Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt.
Zur Bundestagswahl 1998 trat Wagenknecht
in Dortmund als Direktkandidatin der PDS an.
Sie errang in ihrem Wahlkreis 3,25 Prozent
der Erst- und 2,2 Prozent der Zweitstimmen.
Bei der Europawahl in Deutschland 2004
gelang Wagenknecht der Einzug
ins Europaparlament. Vorausgegangen
war eine parteiinterne Kampfabstimmung.
Im Juli 2009 schied sie
aus dem Europaparlament aus.
Bei der Bundestagswahl 2009
kandidierte Wagenknecht für das Direktmandat
im Wahlkreis Düsseldorf-Süd.
Am 18. März 2009 wurde sie dafür
vom Kreisverband der Linken in Düsseldorf nominiert.
Wagenknecht wurde vom Landesparteitag
auf Platz 5 der Landesliste
in Nordrhein-Westfalen gewählt.
Sie erhielt am 27. September 2009
9,7 Prozent der Erststimmen.
Über die Landesliste zog sie
in den Bundestag ein.
Wagenknecht ist seit 2011 eine von zwei
ersten Stellvertreterinnen des Vorsitzenden
der Bundestagsfraktion.
Im Januar 2012 wurde bekannt,
dass Sahra Wagenknecht als eine
von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken
unter Beobachtung durch das Bundesamt
für Verfassungsschutz stehe.
Am 6. März 2015 teilte sie
in einer persönlichen Erklärung mit,
im Herbst 2015 nicht zur Wahl für den Posten
der Fraktionsvorsitzenden anzutreten.
Nachdem der amtierende Fraktionsvorsitzende
Gregor Gysi am 7. Juni 2015
auf dem Bundesparteitag der Linken
in Bielefeld seinen Rückzug von diesem Amt
zum Herbst des Jahres angekündigt hatte,
erklärte sich Wagenknecht
wenige Tage später doch bereit,
gemeinsam mit Dietmar Bartsch
in einer Doppelspitze Gysis
Nachfolge antreten zu wollen.
Am 13. Oktober 2015 lösten Wagenknecht
und Bartsch Gysi im Fraktionsvorsitz ab
und fungieren seitdem gemeinsam
als Oppositionsführer im 18. Deutschen Bundestag.
Wagenknecht zeigt eine Sympathie
gegenüber der Wirtschaftspolitik
der Staaten Kuba und Venezuela.
Über eine Presseerklärung ließ sie mitteilen,
„dass die andauernde Existenz
des kubanischen Systems
einen Hoffnungsschimmer für diejenigen
in der sogenannten Dritten Welt bedeutet,
die die Verlierer einer markt- und profitorientierten
globalisierten Welt sind“.
Ebenso verteidigte sie die vom venezolanischen
Präsidenten Hugo Chávez beschlossene
Verstaatlichung der Ölförderanlagen
des US-Konzerns ExxonMobil.
Anfang Juni 2015 unterzeichnete Wagenknecht
zusammen mit 150 weiteren Prominenten
aus Kultur und Politik einen offenen Brief
an die Bundeskanzlerin,
in dem die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Lebenspartnerschaften gegenüber
der zweigeschlechtlichen Ehe gefordert wurde.
Wagenknecht wies angesichts der Flüchtlingswelle
im Januar 2016 auf „Kapazitätsgrenzen“
und „Grenzen der Aufnahmebereitschaft
in der Bevölkerung“ hin, wofür sie in ihrer Partei
und darüber hinaus scharf kritisiert wurde.
Weiter kritisierte sie die Flüchtlingspolitik
der Bundeskanzlerin Angela Merkel
als „planlos“, sie habe in Deutschland
zu einem „völligen Staatsversagen“ geführt,
„auf sozialem Gebiet ebenso
wie auf dem der inneren Sicherheit“.
Sie forderte eine stärkere Unterstützung
des Bundes für die Länder und Kommunen,
die den Großteil der Kosten
für Flüchtlinge selbst tragen würden
und an anderer Stelle kürzen müssten.
Wagenknecht warnte davor, „die Armen
gegen die Ärmsten auszuspielen“
und nannte als Beispiel
drohende Nahrungsengpässe
bei der offenen Tafel für Arme.
Wagenknecht bezeichnete
die Fluchtursachenbekämpfung
der Bundesregierung als „unglaubwürdig“,
da Deutschland Waffen in Spannungsgebiete exportiere
und Drohneneinsätze der USA
„mit logistischer Unterstützung aus Deutschland“
geflogen würden. Die Außenpolitik
von Kanzlerin Angela Merkel (CDU)
in Form einer Unterstützung der „Ölkriege
der USA und ihrer Verbündeten“
seien der Grund für die Existenz und Stärke
des Islamischen Staates.
Merkel trage deshalb und durch ihre Grenzöffnung
für Flüchtlinge sowie den Sparkurs bei der Polizei
eine „Mitverantwortung“
für den Anschlag in Berlin.
Beobachter attestierten ihr daraufhin
zum wiederholten Male eine ideologische Nähe
zur „Alternative für Deutschland“.
1992 lobte Wagenknecht in ihrem Artikel
„Marxismus und Opportunismus“
Stalins Herrschaft in der Sowjetunion
als „die Entwicklung eines um Jahrhunderte
zurückgebliebenen Landes
in eine moderne Großmacht
während eines weltgeschichtlich einzigartig
kurzen Zeitraums; damit die Überwindung
von Elend, Hunger, Analphabetismus,
halb feudalen Abhängigkeiten
und schärfster kapitalistischer Ausbeutung“.
Ihre Haltung zum Stalinismus
wurde innerhalb der Linkspartei
teilweise als zu unkritisch empfunden
und unter anderem von Gregor Gysi
und dem Bundestagsabgeordneten
Michael Leutert kritisiert. Letzterer
sprach sich 2008 gegen ihre Kandidatur
als stellvertretende Parteichefin aus,
weil sie sich zu wenig vom Stalinismus distanziere.
Gemeinsam mit anderen Mitgliedern
der Kommunistischen Plattform
sprach sich Wagenknecht 2008
in einer Stellungnahme gegen
ein allgemeines Gedenken
in Form eines Gedenksteins
auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde
mit der Aufschrift „Den Opfern des Stalinismus“ aus,
da sich unter diesen auch Faschisten befunden hätten,
drückte aber ihr Mitgefühl
mit den unschuldigen Toten aus.
In einem Interview aus dem Jahre 2009
setzt sich Wagenknecht kritisch
mit dem „repressiven politischen System
der DDR“ auseinander, lehnt aber
eine Charakterisierung der DDR
als Unrechtsstaat ab,
weil dies darauf hinauslaufe,
die DDR auf eine Ebene
mit der NS-Diktatur zu stellen.
Die DDR sei kein demokratischer Staat gewesen,
jedoch sei auch im heutigen kapitalistischen System
keine echte Demokratie möglich.
Als der israelische Staatspräsident Schimon Peres
am Tag des Gedenkens an die Opfer
des Nationalsozialismus 2010
als Gast im Deutschen Bundestag sprach,
erhoben sich die Abgeordneten
Christine Buchholz, Sevim Dağdelen
und Wagenknecht zum Schlussapplaus
nicht von ihren Sitzen.
Sie wurden deswegen öffentlich
und parteiintern kritisiert,
so erklärte der Berliner Landeschef der Linkspartei,
Klaus Lederer, das Verhalten der Abgeordneten
für „inakzeptabel“, Michael Leutert erklärte sie
für „nicht wählbar“.