JOACHIM DU BELLAY SONETTE


NACHGEDICHTET VON TORSTEN SCHWANKE


FÜR MADEMOISELLE JEANINE RIMBAUD



O Gott des Stroms, der in den Fluten tief sich wiegt,

Empfängt dein feuchter Strom, was mein' Auge betrübt,

Ein endlos Weinen, das dir neue Wasser schenkt,

Und deinen Lauf hinab die Flut ins Weite lenkt.


Wann war es einst, dass deine Wellen ruhig flossen,

Und auf dem Wind die Locken luftig sich ergossen?

In leerem Himmelszelt sahst du sie tänzelnd schweben,

Ein Spiel der Freiheit, ungezähmt in ihrem Leben.


Dort hundert Nymphen einst, gefangen in dem Kreis

Dein' Arme hielten sie, ein Ufer blieb ihr Preis.

Die bleichen Tiefen brachst du auf, gabst sie zurück.


Da kam das Jahr mit Göttern neu in goldenem Glück.

Das alte Leuchten strahlt, wo einst die Zeit geruht,

Und füllt mein Land mit Glanz, der neu belebt die Flut.


*


Kein leichtes Laufen, das Dryaden je getan,

Noch Schwadronen im Feld, stolz in Waffen zur Wehr,

Noch stolze Schiffe, die durchs unendliche Meer

Mit sicherem Bug auf ihrem Pfade voran,


Noch Blumen, wo Bienen sich sammeln ihren Plan,

Noch Wälder, deren Haare wehen sacht und schwer,

Noch Vögel, die singen verborgen, nah und fern,

Noch Nächte, verzaubert von des Mondes Glanzwahn.


Nicht goldene Säulen, in Tempeln stehend hoch,

Noch Paläste von Marmor in kunstvoller Form,

Kein Schmuck aus Perlen, kein Gewand, das mich rührt.


Auch nicht des Himmels Schönheit, die sich mir erbot,

Noch Freude, die süß ist, hat je mein Herz verführt.

Denn was mir fehlt, ist das Licht, das auf mir ruht.


*


Wenn er die Wahrheit sprach, dann dörre diesen Schein,

Den Schatten, der den Baum der Heiligen umfasst,

Die Zierde meiner Verse, die mein Geist erfasst,

Mein Name bleibe fremd dem weiten Sternensein.


Und prasselt Himmelsregen auf mich nieder drein,

Bin ich aus Seufzern wild, die stürmisch unermast,

Den rauen Klippen nah, die mich im Kampf erfasst,

Tauch ich in Abgrund tief, wo alle Hoffnungen spein.


Doch lügt er, möge rein die weiße Elfenhand

Mit Blättern, die ich ehr, mein Haupt zur Krone zieren,

Mögen die Sterne mir als Grenzen Ruhm gebieten.


Der Himmel sei mir hold, enthüll' mir seine Spur,

Dein Augenpaar, das Licht, soll meine Fahrt regieren,

Führ' mich zum Hafen hin, zu Deiner Gnade nur.


*


Göttlicher Geist, den hoch von Zwillingshöhen

Die edle Schar beim Klang der Lieder ehrt,

Der Schwan, der neu geboren, sanft verklärt,

Von stillen Küsten schwebt zu Nordwindfluren wehen:


Wenn meine Leier, der in dir gefällt,

Die Ehr’ verschweigt, die deiner würdig ist,

So lieb’ ich, rühm’ ich, preis’ im goldnen Licht

Den Flug der Feder, die dein Ruhm erhellt.


Der stolze Arno huldigt deinem Baum,

Dem hehren Lorbeer, der unsterblich blüht,

Und Délie schmückt sich mit des Stroms Applaus.


Auch meine Loire, die Kunst zum Halbgott macht,

Reicht brennend ihre Arme voller Glut

Dem Ölzweig, der an ihren Ufern wacht.


*


Wenn unser Leben nur ein flüchtig' Stündlein ist,

Im Lauf der Ewigkeit, im Wandel der Gebärden,

So eilen wir dahin, und ohne Ruh zu werden,

Verschwenden wir die Zeit, die uns zu eigen ist.


Warum, gefang'ne Seele, träumst du stets so licht?

Was brennt im kurzen Glanz des Tags, in deinen Schatten,

Da du nach Höh'n verlangst, die dich hinauf zu Gatten

Mit Flügeln ziehen lassen, die dein Streben bricht?


Dort ist das Wahre, das der Geist in Sehnsucht sucht,

Dort liegt die Ruh, von Menschenherzen heiß erbeten,

Dort wartet Liebe, dort ein tief erfülltes Sein.


Dort, meine Seele, wo kein Nebel je verflucht,

Dort magst du schaun, was hier, im Glanz der Erdenzeiten,

Nur ein Gedankenbild, ein Schatten blieb, allein.


*


Ich dringe nicht ins Herz der tiefen Natur ein,

Erforsche nicht die Seele, die Welten umspannt.

Den Abgrund dort, ich lasse ihn unerkannt,

Und himmlisch' Bauwerk bleibt für mich allein.


Ich male nicht in Kunst ein reiches Bild,

Solch edle Themen fehlen meinem Streben.

Doch wage ich, im Schreiben selbst zu leben,

Und schaue auf das Hier, das rastlos spielt.


Ich stöhne über Verse, wenn ich Leid empfinde,

Und lache mit, erzähle ihre Geheimnis' klar,

Von dem, was meines Herzens Kreis bewahrt.


Darum bedarf es nicht der Zier, die Blicke binde,

Kein schöner' Name macht sie wunderbar:

Es sind Fragmente, die der Schreiber offenbare.


*


Ich werde nie das Meer der Griechen Netzen weih’n,

Noch Horaz’ feine Zeilen kunstvoll nachzuzeichnen,

Auch Petrarcas Gnade wird mein Ziel nicht sein,

Noch Ronsards Stimme, die von Reue sacht erweichten.


Die Dichter, die Apoll einst selbst in Ehr’ erhob,

Sie weben ihre Verse mutig, feurig, kühn.

Doch mir fehlt jener Hauch, der Geist, der sie durchzog,

Zu tiefen Weihen bin ich nur zu fern, zu kühn.


So sei’s, dass ich mit minderem Gesang mich schmück’

Und schreib’, was mich die Leidenschaft zu singen zwingt,

Ganz ohne Anspruch, dass mein Wort die Zeit durchbricht.


Ich ließ die Eitelkeit, die Ewigkeit verlockt,

Denn prahlen möcht’ ich nicht, dass mein Gedicht noch klingt,

Wenn längst das Grab das Denkmal aller Werke stockt.


*


Ach, wo ist diese Verachtung für das Schicksal hin?

Wo ist das Herz, das allen Widrigkeiten trotzt,

Das ehrbar strebt nach Ruhm, der ewig glotzt,

Und hoch den Glanz verachtet, der gemein und dünn?


Wo ist der Freude Glut, die tief verborgen rinnt,

Die einst die Musen gaben, lichtumflossen,

Als ich in freier Luft, auf Wiesen unverdrossen,

In ihrem Reigen tanzte, wo der Traum beginnt?


Nun herrscht das Schicksal, und ich bin sein Knecht,

Mein Herz, das stolz sich nie zuvor verneigt,

Erliegt dem Gram, der mir in Dunkelheit wächst.


Ich denke kaum noch, was die Nachwelt erträumt,

Die göttliche Flamme, die mein Innerstes zeigt,

Ist fort, die Musen sind mir längst entfremdet, versäumt.


*


Wundere dich nicht, du, der mein Herz geteilt,

O Ronsard, wenn mein Name in Frankreich verweht,

Denn wo Italiens Glut in Lüften steht,

Hat ihre Leidenschaft mein Kunstwerk nicht geheilt.


Aus ihrer Augen Glanz, der heilig und rein,

Schießt Strahlen, die mir doch der Prinz nicht verwehrt.

Und du, Ronsard, dein Feuer, das hochgeehrt,

Belebt den Geist, lässt ihn entflammen und sein.


Doch mir, der seiner Sonne Strahlen vermisst,

Wie soll ich Wärme spüren im kalten Sein?

Mir fehlt die Flamme, die euch göttlich umschließt.


Die sonnenhellen Hänge tragen den Wein,

Doch aus Hyperboräas eisigem Mist

Bringt Wintersturm mir Schnee und Regen herein.


*


Es ist nicht Fluss Toskanens stolzes, grünes Band,

Noch ist’s die Luft, Ronsard, vom Lateinland bekannt,

Die meine Zunge schmückt, verziert mit fremden Zügen,

Als ob die Muttersprache fern mich müsste trügen.


Es ist des Lebens Last, schon mehr als Jahre drei,

Wie Prometheus gekettet, hier auf Fels gedeih,

Wo grausam Schicksal mich zum Knechtsein hat verdammt,

Nicht Liebe sanftes Joch, das Herz mit Glanz umflammt.


Was denn, o Ronsard, wenn Ovid einst in Not,

Weit fern, gezwungen ward zu reden Dialekt im Boot?

Wer mag mich tadeln heut, in diesem fremden Land?


Denn selbst mein Französisch, sei’s römergleich und fein,

Kaum wird es an Gestad des Lateins verstanden sein,

Wo fern die Griechenwelt und ihre Zungenstand.


*


Nach langem Wandern durch die finstre Ebene,

Wo Schatten weinen, elend, stumm und fahl,

Erreichst du jenen Ort im letzten Tal,

Wohin wir alle ziehn auf schweren Wegen.


Umsonst, vergebens irren wir verlegen

An düstren Ufern, heben Arme schmal

Dem Fährmann hin, der ohne Widerhall

Uns abweist; fehlt uns doch des Lohnes Segen.


Du aber ruhst, befreit von Müh und Sorgen,

Im süßen Frieden, wo Gelehrte wandeln,

Mit deinem Liebsten still im grünen Hain.


Vergessend Nacht und Gram, und auch das Morgen,

Hörst nicht die Ruder, die im Fährboot handeln,

Und träumst im ew'gen Licht – von dir allein.


*


Glücklich der Mann, der ein süßes Ende der Reise

Wie Odysseus fand oder vom Vlies, dem goldenen Heil,

Heimkehrt, weise und weitgereist nach Griechenland, weil

Das Leben ihm neu blüht in altem Kreise.


Ach, wann wird sanft der Rauch des Herdes steigen,

Wann wird das Jahr mich heim zur Hütte führen?

Wann soll mein Blick den Garten neu berühren,

Den armen Grund, den meine Väter zeigten?


Mir ist das Haus, das alte Hände bauten,

Mehr wert als Marmor, selbst von Gold umschienen;

Mehr wert als Roms Paläste und Kolonnen.


Ich liebe Liré mehr als stolze Lauten,

Die Tiber wälzt; und über Meereswinden

Die Luft von Anjou, süß in sanften Gründen.


*


Oh, selig ist, wer seine Tage still verbringt,

Im Kreis der Seinen, frei von täuschend' Wahn,

Von Neid und Ehrgeiz, die das Herz umfahn,

Und ohne Furcht in eig'nen Schranken singt.


Kein dürftig Sehnen, das nach Ruhm sich zwingt,

Erniedrigt seine freie Seelenbahn,

Sein Wunsch bleibt maßvoll, still und ungetan,

Er lebt dem Erbe treu, das ihm gelingt.


Er strebt nicht nach des anderen Geschick,

Kein König, Hof und Gunst beugt seinen Sinn,

Er ist sein Herr, vertraut nur seinem Blick.


Kein fernes Land zieht ihn mit fremdem Gewinn,

Er wahrt sein Sein und kehrt in sich zurück,

Denn reicher ist, wer nichts besitzt darin.


*


Ich liebe Freiheit, schmachte doch im Dienst,

Ich hasse Höfe, bin jedoch ein Höfling,

Die Masken täuschen, die ich wider Willen führe,

Die Wahrheit schätze ich, doch ringsum Bosheit sprießt.


Ich hasse Habgier, doch sie treibt mein Tun,

Verachte Ehre, strebe dennoch nach ihr,

Ich würde Treue halten, doch sie bricht hier,

Nach Tugend suche ich – die Laster ruh’n.


Die Ruhe flieht, obgleich ich nach ihr ringe,

Nach Freuden greif’ ich – finde nur die Leere,

Der Diskurs stört, Vernunft bleibt mir die Stimme.


Krank bin ich doch, gezwungen zu marschieren,

Die Muse ruft, doch Arbeit zehrt die Sinne,

Morel, sag selbst: Kann man dies Los verlieren?


*


Lass uns leben, lass uns leben, Gordes, und verweil

Nicht bei dem Klagelied der Alten, ihrem Fall.

Lass uns das Leben feiern, kurz ist seine Zahl,

Und Könige selbst sind nur des Todes Spielgeheul.


Der Tag verglimmt, die Dämmerung zieht sanft ins Tal,

Die Jahreszeiten kreisen, wiederholt in Qual,

Doch wenn des Lichts Glanz schwindet, wird die Nacht zur Schall,

Und Tod uns wirft in Schlaf, in ew'gen, schwarzen Saal.


Soll'n wir wie Kreaturen leben, still vergehn?

Nein! Lass uns heben Haupt, zum Himmel aufzustehn,

Das Leben ruft, des Daseins Süße zu erfassen.


Ein Narr, der Sicherheit für Hoffnung will verziehn,

Das Jetzt verschmäht für Traum von ungewissen Gassen,

Und ewig bleibt im Streit mit seinem eig'nen Sinn.


*


Den heiligen Geheimnissen des Heiligen Römischen

Ich öffne nicht den Schleier, enthüll' kein stilles Heil,

Kein Wort soll jungfräuliches Antlitz röten feil.

Ich weise nur auf Laster, kaum verborgen, hin,

Die hinter einer frommen Maske lauernd sind.


Doch sprichst du, meine Buße sei schlecht durchdacht,

Weil leicht mein Wort oft wirkt und keine Tiefe hat:

Doch tobt nicht ewig stürmisch jedes Meeres Flut,

Und auch Phoebus hält oft im Köcher seine Wut.


Was leicht erscheint, ist nicht stets flach in seiner Art,

Was ungeweiht, trägt dennoch einen echten Bart.

Mein Lied, am Ufer ausgesungen, mag dich lehren:


Mein Seufzen ist kein Spiel, es gilt, das Herz zu kehren.

Und wenn ich lache, scheint es zwar wie Spott zu sein,

Doch trau ihm, denn mein Ernst verbirgt sich hinterm Wein.


*


Ich schreibe nicht aus Liebe, nicht aus zarten Trieben,

Denn keine Glut in mir, kein Feuer je geblieben.

Ich schreibe nicht von Schönheit, da mir die Muse fehlt,

Kein süßes Lied, das heute in mein Inneres quält.


Ich schreibe nicht aus Freude, Schmerz ist mein Begleiter,

Das Leben dunkel, hart, kein Tag ist jemals heiter.

Ich schreibe nichts von Reichtum, da ich selbst nichts besitz’,

Und auch Gesundheit fehlt, so bleibt mir fern der Witz.


Ich schreibe nicht vom Hof, wo Fürsten Glanz regieren,

Wo Höfling-Spiele herrschen, Worte nur verlieren.

Von Frankreich will ich schweigen, fern liegt mir die Welt,


Denn Freundschaft, die ich sah, war Lug, war Trug, entstellt.

Die Tugend hier ein Trugbild, leer die Priesterschaft,

Ich schreibe aus der Nacht, wo keiner Hoffnung schafft.


*


Wenn ich zum Palast steige, find' ich nur den Stolz,

Des Lasters Maskenspiel, der Förmlichkeit Geholz,

Den Lärm von Tamburinen, seltsam rau und schwer,

Und purpurn fließend Rot, ein Strom von Pracht und mehr.


Am Tische, wo die Bank die Neuerung erträgt,

Find' ich das neue Bild, das sich zu Wucher schlägt,

Die reichen Florentiner, in der Flucht vereint,

Die armen Sienesen, wo der Kummer weint.


Wohin ich wandern mag, da treibt mich Venus’ Schar,

In wilder Lust vereint, verführerisch und klar,

Der Zauber lieblich täuscht, die Masse willig lenkt.


Vom neuen Rom hinab ins alte Rom gelenkt,

Entdecke ich nur Grab und leere steinerne Pracht,

Ein Denkmal toten Glanzes, im Verfall erwacht.


*


Wisst ihr, was dieses Rom für alle Wesen ist?

Ein Schafott, aufgestellt, wo ganze Erd' sich misst;

Ein Schauplatz, ein Theater, voll von Wahn und Spiel,

Wo jedes Tun des Menschen zeigt sein falsches Ziel.


Das Schicksal spielt hier frei, es stürzt uns in den Staub,

Und hebt, wen's will, empor, dem Ruhm ein leeres Raub.

Hier zeigt ein jeder sich, ob hochgebor'n, ob nicht,

Und wird, wie er sich gibt, durch Namen angedicht'.


Hier flüstert Falsch und Wahr die Kunde durch die Stadt,

Hier prahlt der Müßiggang, und Neid hält Hof und Rat.

Hier herrscht die List, und Ehrgeiz führt das große Wort.


Hier gibt die Freiheit Mut, auch wem es Demut bracht',

Doch Müßiggang verkehrt, was Tugend einst entfacht',

Und Niedertracht macht Rom zum letzten Zufluchtsort.


*


Wie kommt es, Mauny, dass, je mehr man sich bemüht,

Dem Ort zu flieh’n, ein Geist uns stärker hält umschmiegt?

Und was ist dieser Geist, wenn nicht ein Gott, der webt

Ein Netz aus süßer Kraft, das uns gefangen hebt?


Ist’s Liebes Zeichen, süß verhüllt, ein Lockgesang,

Der uns betört und fängt mit seinem Seelenklang?

Oder ist’s Gift, das sacht in unser Herz sich gießt,

Das Stück für Stück die Seel‘ aus unsrem Körper schließt?


Tausendfach wollt‘ ich flieh‘n, doch merk‘ ich, wie mein Haar

Sich Blätter webt, mein Arm als Ast sich reckt und war

Ein Mensch, der Wurzeln schlägt und ewig hier verweilt.


Ein Stamm aus Holz bin ich, des Lebens süßer Wahn,

Beklage meinen Stand, verwandelt hier am Strand:

Englische Myrte bin ich, Alcinas süßer Plan.


*


Wer sucht für mich die Wurzel des Odysseus' Sinn,

Wer schützt mich vor der droh'nden, argen Zauberin,

Von Circe, die mich einst in Knechtschaft hat gebannt,

Ein Knecht der Lüste, ewig in ihr finstres Land?


Wird Melisandes Ring die Fesseln mir zersprengen,

Mich retten, wie Rogér es tat mit List und Ringen?

Was mag mir Merkur bringen, meiner Seele Halt,

Damit ich frei von Liebe lebe, ungestalt?


Wer lässt mich schreiten durch die Stille voller Licht,

Und taub sein für Sirenen, deren Sang zerbricht?

Wer jagt die Harpyien, die gierig mich bedrängen?


Wer leiht mir Himmelskraft, dass Sinnen sich befreien,

Die Augen klar erstrahlen, ohne Nebelschleiern,

Und mir den Frieden bringt, mein Brot allein zu fangen?


*


Das Haar gelockt in tausend Kringeln wundervoll,

Gezupfte Brauen schmücken sie wie zarte Bogen,

Mit Düften, edel, wird ihr Fleisch in Duft gezogen,

Von Kopf bis Fuß parfümiert, doch innerlich ist's hohl.


Verhüllt mit Weiß und Purpur glänzt sie voller Stolz,

Die Nächte maskiert, auch ihre Rede bleibt verborgen,

Sie gibt sich hin, bei jedem Wurf von Lust geborgen,

Doch bleibt ihr Herz wie Eis, ihr Innerstes ist Holz.


Sie tanzt, sie singt, sie spielt, im Bett tobt ihre Kunst,

Mit doppelter Zunge gaukelt sie den Männern Freude,

Und reißt zugleich ihr Netz aus, heimlich und gefliss.


Doch fragst du, warum ich dir solche Dinge kund?

Wenn du mehr wissen willst, so frage ohne Scheu,

Die Herren Gordes und La Chassaigne, sie wissen gewiss.


*


Was sollen wir sagen, Melin, von diesem Hof,

Wo jeder einen andern Weg sucht, Ruhm zu finden,

Die Niedrigen, sie steigen hoch in goldnen Winden,

Mit Tugend, Laster, Mühn, doch ohne Schmerz und Zof‘?


Man sieht, dass Fortschritt oft nicht ist mit Gold zu kaufen,

Ein andrer weiß dasselbe Ziel mit List zu preisen,

Der eine herrscht durch Strenge, Macht und kalte Weisen,

Der andre schlägt mit milder Zung' die süßern Haufen.


Es scheint, manch Vorteil sei mit Nachteil eng verwoben,

Ein andrer sieht im Leid das Glück sich heben leise,

Des einen Schwärze wird des andern helles Licht.


Wer weiß, ob Weisheit uns zum Heil erhebt von oben?

Ob Unverstand das Tor zum Glück erschließt mit Fleiße?

Sag, Melin, welche Macht regiert des Menschen Pflicht?


*


Es ist Karneval, da kann ein jeder frei,

In Masken schwelgen, tanzen, durch die Gassen geh’n,

Seh’n wir Mark Antonius, Clowns im bunten Reih’n,

Mit Il Magnifico, der stolz im Stück zu seh’n.


Wir schau’n dem Palio zu, dem Lauf in alter Art,

Und seh’n den dümm’ren Ochsen mit blutiger Nas’,

Den wilden Stier im Kampf, der stolz die Kräfte paart,

Und zeugen, wie geschickt das Eisen prahlt und las.


Wir werfen Eiersturm, parfümiert, durch die Luft,

Und feur’ge Raketen pfeifen im Himmelsduft.

Dann eilen wir zur Beicht’, noch vor der Ruhestund’.


Morgen zu den Heil’gen, in andächtigem Bund,

Wo wir mit unsern Blicken Liebe süß erspäh’n,

Denn Indiskretion sei nur in Maßen gescheh’n.


*


Lyon, die Herrin, thront in stolzem Licht

Wie Aeneas fand ich mich einst auf Pfaden,

Wo Scève die Hölle ließ, Elysium betrat.

Nach Gipfeln, kalt und karg, ward meine Fahrt

Hinab zu Lyon, der Stadt, die ich mag laden.


Die Saône umfängt mit Armen Landeskanten,

Gebiert ein Summen tausendfacher Taten,

Wie keine andre, selbst die Großen warten:

London, Venedig, Antwerpen – sie verbrannten.


Ich staunte Kuriere, geschäftige Reihen,

Die Drucker, Banker, Büchsenmacher, Dichter,

Wie Blumen reich verstreut im Frühlingsschein.


Doch mehr erstaunt' ich mich der Brücken Seilen,

Die Berge binden, Wege höher, lichter,

Zu schönen Höfen tief im Tal hinein.


*


Das Meer empfängt die Flüsse weit und breit,

Ohne Vermehrung, Devaulx, und wie das Meer

Ist Paris selbst: ein Überfluss so schwer,

Dass jede Seite ihm die Fülle weiht.


Paris ist Griechenland, in dem die Perlen glühn,

Ein Rom in seiner Pracht, voll Glanz und Macht,

Ein Asien, das Reichtum sondergleichen bracht',

Ein Afrika, wo Wüstenstürme sprühn.


Kurz: Devaulx, als ich die Stadt erblickt,

Da stand mein Auge staunend, doch geübt,

Denn fremdre Wunder hatte ich wohl gesehn.


Doch, was mein Blick mit Missbehagen schmückt,

Das Karren-Gedränge, das manch Herz betrübt,

Die Sitten und der Schlamm, die Straßen hin.


*


Ebenso wie in unserer Sprache wir verstehn,

In fremder Zunge Sinn und Tiefe zu erspähn,

So kann Natur sich selbst im Kunstwerk offenbaren,

Das eigne Bild, getreu, uns Menschen wiederfahren.


Noch feinrer Ausdruck zeigt die Kunst, durch Federmacht,

In Schriftgelehrsamkeit, in Büchern, Tag und Nacht:

Die Anmut, Haltung, Art und Statur, klug beschrieben,

Von dem, der einst von Äneas hat geschrieben.


Dieselbe Milde, Gnade, herrlich hohes Licht,

Dieselbe Süße, Strahl und majestätisch’ Sicht,

In deinem Virgil leuchtet dieselbe Pracht.


Französisch’ Übersetzungen, durch deine große Kraft,

Des Masures Werk: Kein Cäsar, kein Mäzen heut’ lebt,

Der diesen Tugenden den rechten Ruhm erstrebt.


*


Dem Weisen wird verlieh’n ein ehrenvoller Grad,

Der Mann der Recht erfüllt, empfängt ein ganzes Land,

Dem Höfling reicht man Gold, das in die Hände fand,

Dem Helden wird geschmückt der tapfre Brustpanad.


Der kühn Entdecker birgt die Beute reich und satt,

Dem Beamten reicht man seines Amtes feste Hand,

Der Diener wird bezahlt mit seines Herrn Bestand,

Der Dichter schlingt den Kranz um Lorbeerblatt an Blatt.


Warum denn, Muse, willst du klagen ohne End,

Wo Menschen dir doch wenig nur an Gaben reichen?

Jodelle, such dir Werke, die dein Brot verleih’n.


Denn nicht von Kunst allein wird Hunger je verbannt.

Was Lohn dir wird, wenn wir an deinem Werk uns freu’n?

Das Freuen selbst, mein Freund, sei deines Lohnes Band!


*


In der Hölle meines Körpers, meines angeketteten Geistes

(Und diese Hölle, Madame, war meine Abwesenheit),

Hab’ vier Jahr’ und mehr ich gebüßt in Bangigkeit,

Für alte Schuld, die mich befleckt’ mit Schmach und Pein.


Nun sei, den Göttern Dank, die Qual mir doch verwehrt,

Dein Anblick hat die Höll’ in Eden mir verkehrt.

Zu seiner göttlich’ Reinheit ist zurückgekehrt,

Was einst durch schwere Schuld so tief war aufgezehrt.


Gefangen nun von Gunst, von deiner Gnade Macht,

Find’t Ruhe meine Seel’ in Feldern voller Pracht.

Verlasse nicht den Ort, wo sie Erfüllung fand!


O sende sie nicht fort zu Lethe’s düstrer Flut,

Damit kein neues Sehnen ihr den Frieden raubt

Und sie erneut in Höll’ und Qual des Körpers band.