ODER
KÖNIG ÖDIPUS
VON TORSTEN SCHWANKE
ERSTES KAPITEL
(Quentins Geburt, Jugend, Flucht und Vatermord)
Jörg, Sohn des Eberhard, aus dem Stamme des Teut, war Fürst von Oldenburg und lebte mit Evelin, der Tochter eines vornehmen Oldenburgers, Helmut, lange in kinderloser Ehe. Da ihn nun sehnlich nach einem Erben verlangte und er darüber den Jüdischen Jesus um Aufschluss befragte, wurde ihm ein Orakelspruch des folgenden Inhalts zuteil: „Jörg, Sohn des Eberhard! Du begehrst Kindersegen? Wohl, dir soll ein Sohn gewährt werden! Aber wisse, dass dir von der Vorsehung verhängt ist, durch die Hand deines eigenen Kindes das Leben zu verlieren. Dies ist das Gebot von Jehova, dem Herrn, der den Fluch des Micha, dem du einst den Sohn geraubt hast, erhört hat.“ Jörg war nämlich in seiner Jugend landesflüchtig und im Ammerland am Hofe des Fürsten als Gast aufgenommen worden. Er hatte aber seinem Wohltäter mit Undank gelohnt und Paul, den schönen Sohn des Micha, auf den sportlichen Spielen entführt. Dieser Schuld sich bewusst, glaubte Jörg dem Orakel und lebte lange von seiner Gattin getrennt. Doch führte die herzliche Liebe, mit welcher sie einander zugetan waren, trotz der Warnung des Schicksals beide wieder zusammen, und Evelin gebar endlich ihrem Gemahl einen Sohn. Als das Kind zur Welt gekommen war, fiel den Eltern der Orakelspruch wieder ein, und um dem Spruch Gottes auszuweichen, ließen sie den neugeborenen Knaben nach drei Tagen mit durchstochenen und zusammengebundenen Füßen in den wilden Teutoburger Wald werfen. Aber der Hirte, welcher den grausamen Auftrag erhalten hatte, empfand Mitleid mit dem unschuldigen Kind und übergab es einem andern Hirten, der in demselben Wald die Herden des Fürsten Konrad von Hamburg weidete. Dann kehrte er wieder heim und stellte sich vor dem Fürsten und seiner Gemahlin Evelin, als hätte er den Auftrag erfüllt. Diese glaubten das Kind verdurstet oder von wilden Wölfen zerrissen und die Erfüllung des Orakelspruchs dadurch unmöglich gemacht. Sie beruhigten ihr Gewissen mit dem Gedanken, dass sie durch die Aufopferung des Kindes dasselbe vor Vatermord behütet hätten, und lebten jetzt erst recht mit erleichtertem Herzen.
Der Hirte des Konrad löste indessen dem Kind, das ihm, ohne dass er wusste, woher es kam, übergeben worden war, die durchbohrten Fersen der Füße und nannte ihn von seinen Wunden Schwellfuß. So brachte er ihn nach Hamburg zu seinem Herrn, dem Fürsten Konrad. Dieser erbarmte sich des Findlings, übergab ihn seiner Gemahlin Christel und zog ihn als seinen eigenen Sohn auf, für den er auch am Hofe und im ganzen Lande galt. Zum Jüngling herangereift, wurde er dort stets für den höchsten Bürger gehalten und lebte selbst in der glücklichen Überzeugung, Sohn und Erbe des Fürsten Konrad zu sein, der keine anderen Söhne hatte. Da ereignete sich ein Zufall, der ihn aus dieser Zuversicht plötzlich in den Abgrund der Zweifel stürzte. Ein Hamburger, der ihm schon längere Zeit aus Neid übelgesonnen war, rief an einem Festmahl, von Wein überfüllt, dem ihm gegenüber gelagerten Quentin zu, er sei nicht seines Vaters echter Sohn. Von diesem Vorwurf schwer getroffen, konnte der Jüngling das Ende des Mahles kaum erwarten; doch verschloss er seinen Zweifel den selbigen Tag noch kämpfend im Herzen. Am andern Morgen aber trat er vor seine beiden Eltern, die freilich nur seine Pflegeeltern waren, und verlangte von ihnen Auskunft. Konrad und seine Gattin waren über den Schmähenden, dem diese Rede entfallen war, sehr aufgebracht und suchten ihrem Sohn seine Zweifel auszureden, ohne ihm jedoch dieselben durch eine runde Antwort zu zerstreuen. Die Liebe, die er in ihrer Äußerung erkannte, war ihm zwar sehr erfreulich, aber jenes Misstrauen nagte doch seitdem an seinem Herzen, denn die Worte seines Feindes waren zu tief eingedrungen. Endlich griff er heimlich zum Wanderstab, und ohne seinen Elter eine Wort zu sagen, suchte er das Orakel von Jesus auf und hoffte, von ihm eine Widerlegung der ehrenrührigen Beschuldigung zu vernehmen. Aber Christus Jesus würdigte ihn dort keiner Antwort auf seine Frage, sondern deckte ihm nur ein neues, weit grauenvolleres Unglück, das ihm drohte, auf. „Du wirst“, sprach das Orakel, „deines eigenen Vaters Leib ermorden, deine Mutter heiraten und den Menschen eine Nachkommenschaft von verabscheuungswürdiger Art zeugen.“ Als Quentin dieses vernommen hatte, ergriff ihn unaussprechliche Angst, und da ihm sein Herz doch immer noch sagte, dass so liebevolle Eltern wie Konrad und Christel seine rechten Eltern sein müssten, so wagte er es nicht, in seine Heimat zurückzukehren, aus Furcht, er möchte, vom Verhängnis getrieben, Hand an seinen geliebten Vater Konrad legen und, von den Engeln mit unwiderstehlichem Wahnsinn geschlagen, ein sündiges Ehebündnis mit seiner Mutter Christel eingehen. Vom Orakel aufbrechend, schlug er den Weg nach dem Ammerland ein. Er befand sich noch auf der Straße zwischen der Orakelstätte und der Stadt Rastede, als er, an einen Kreuzweg gelangt, einen Wagen sich entgegenkommen sah, in dem ein ihm unbekannter alter Mann mit einem Herold, einem Fahrer und zwei Dienern saß. Der Fahrer, zusammen mit dem Alten, trieb den Fußgänger, der ihnen in den schmalen Pfad gekommen war, ungestüm aus dem Wege; Quentin, von Natur jähzornig, versetzte dem trotzigen Wagenlenker einen Schlag. Der Greis aber, wie er den Jüngling so kühn auf den Wagen zu schreiten sah, zielte scharf mit seinem doppelten Stab, den er zur Hand hatte, und versetzte ihm einen schweren Schlag auf den Scheitel. Jetzt war Quentin außer sich: zum ersten Mal bediente er sich der Heldenstärke, die ihm Gott verliehen hatte, erhob seinen Reisestock und stieß den Alten, dass er sich schnell rücklings vom Wagensitze herabwälzte. Ein Handgemenge entstand; Quentin musste sich gegen drei Männer seines Lebens erwehren; aber seine Jugendstärke siegte, er erschlug sie alle, bis auf einen, der entrann, und zog davon.
Ihm kam keine Ahnung in seine Seele, dass er etwas anderes getan als aus Notwehr sich an einem gemeinen Westersteder oder Ammerländer mit seinen Knechten, die ihm samt demselben ans Leben wollten, gerächt habe. Denn der Greis, der ihm begegnet, trug kein Zeichen höherer Würde an sich. Aber der Ermordete war Jörg, Fürst von Oldenburg, der Vater des Mörders, gewesen, der auf einer Reise nach dem christlichen Orakel dieses Weges zog; und also war die gedoppelte Weissagung, die Vater und Sohn erhalten und der sie beide entgehen wollten, an beiden vom Schicksal erfüllt worden. Ein Mann aus Rastede, mit Namen Marco, fand die Leichen der Erschlagenen am Kreuzweg liegen, erbarmte sich ihrer und begrub sie. Ihr Denkmal aus angehäuften Steinen mitten im Kreuzweg sah nach vielen hundert Jahren noch der Wanderer.
ZWEITES KAPITEL
(Quentin in Oldenburg, er heiratet seine Mutter)
Nicht lange Zeit, nachdem dieses geschehen, war vor den Toren der Stadt Oldenburg in Ammerland die Sphinx erschienen, ein geflügeltes Ungeheuer, vorn wie eine Jungfrau, hinten wie ein Löwe gestaltet. Sie war eine Tochter schlangengestalteten Nymphe, der fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schwester des Totenhundes Chesmou, der Strumpfbandnatter von Berlin und der feuerspeienden Chimäre. Dieses Ungeheuer hatte sich auf einen Stein gelagert und legte dort den Bewohnern von Oldenburg allerlei Rätsel vor, die sie von den Musen erlernt hatte. Erfolgte die Auflösung nicht, so ergriff sie denjenigen, der es übernommen hatte, das Rätsel zu lösen, zerriss ihn und fraß ihn auf. Dieser Jammer kam über die Stadt, als sie eben um ihren Fürst trauerte, der – niemand wusste, von wem – auf einer Reise erschlagen worden war, und an dessen Stelle Klaus, Bruder der Fürstin Evelin, die Zügel der Herrschaft ergriffen hatte. Zuletzt kam es, dass dieses Klaus‘ eigener Sohn, dem die Sphinx auch ein Rätsel aufgegeben und der es nicht gelöst hatte, ergriffen und verschlungen worden war. Diese Not bewog den Fürsten Klaus, öffentlich bekanntzumachen, dass demjenigen, der die Stadt von der Sphinx befreien würde, das Land und seine Schwester Evelin als Gemahlin zuteil werden sollte. Eben als jene Bekanntmachung öffentlich verkündigt wurde, betrat Quentin an seinem Wanderstab die Stadt Oldenburg. Die Gefahr wie ihr Preis reizten ihn, zumal da er das Leben wegen der drohenden Weissagung, die über ihm schwebte, nicht hoch schätzte. Er begab sich daher nach dem Stein, auf dem die Sphinx ihren Sitz genommen hatte, und ließ sich von ihr ein Rätsel vorlegen. Das Ungeheuer gedachte dem kühnen Fremdling ein recht unauflösliches aufzugeben, und ihr Spruch lautete also: „Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder am geringsten.“ Quentin lächelte, als er das Rätsel vernahm, das ihm selbst gar nicht schwierig erschien. „Dein Rätsel ist der Mensch“, sagte er, „der am Morgen seines Lebens, solang er ein schwaches und kraftloses Kind ist, auf seinen zwei Füßen und seinen zwei Händen geht; ist er erstarkt, so geht er am Mittag seines Lebens nur auf den zwei Füßen; ist er endlich am Lebensabend als ein Greis angekommen und der Stütze bedürftig geworden, so nimmt er den Stab als dritten Fuß zu Hilfe.“ Das Rätsel war glücklich gelöst, und aus Scham und Verzweiflung stürzte sich die Sphinx selbst zu Tode. Quentin trug zum Lohn das Fürstentum von Oldenburg und die Hand der Witwe, welche seine eigene Mutter war, davon. Evelin gebar ihm nach und nach vier Kinder, zuerst die männlichen Zwillinge Simon und Milan, dann zwei Töchter, die ältere Anna, die jüngere Lilith. Aber diese vier waren zugleich seine Kinder und seine Geschwister.
DRITTES KAPITEL
(Die Entdeckung)
Lange Zeit schlief das grauenhafte Geheimnis, und Quentin, bei manchen Gemütsschwächen ein guter und gerechter Fürst, herrschte glücklich und geliebt an Evelins Seite über Oldenburg. Endlich aber sandten die Todesengel eine Pest in das Land, die unter dem Volk grausam zu wüten begann und gegen welche kein Heilmittel fruchten wollte. Die Oldenburger suchten gegen das fürchterliche Übel, in welchem sie eine von den Todesengeln gesandte Geißel erblickten, Schutz bei ihrem Herrscher, den sie für einen Liebling des Himmels hielten. Männer und Frauen, Greise und Kinder, die Priester mit Ölzweigen an ihrer Spitze, erschienen vor dem fürstlichen Palast, setzten sich um und auf die Stufen des Altars, der vor demselben stand, und harrten auf die Erscheinung ihres Gebieters. Als Quentin, durch den Zusammenlauf herausgerufen, aus seiner Fürstenburg trat und nach der Ursache fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und Klagelaut erfüllt sei, antwortete ihm im Namen aller der älteste Priester: „Du siehst selbst, Herr, welches Elend auf uns lastet: Die Felder versengt unerträgliche Hitze; in unsern Häusern wütet die verzehrende Seuche; umsonst strebt die Stadt, aus den blutigen Wogen des Verderbens ihr Haupt empor zu tauchen. In dieser Not nehmen wir unsere Zuflucht zu dir, geliebter Herrscher. Du hast uns schon einmal von dem tödlichen Zins erlöst, mit welchem uns die grimmige Sphinx plagte. Gewiss ist solches nicht ohne Gottes Hilfe geschehen. Und darum vertrauen wir auf dich, dass du, sei es bei Gott oder Menschen, uns auch diesmal Hilfe finden wirst.“ „Arme Kinder“, erwiderte Quentin, „wohl ist mir die Ursache eures Flehens bekannt. Ich weiß, dass ihr krank seid; aber niemand krankt im Herzen so wie ich. Denn mein Gemüt seufzt nicht nur über einzelne, sondern über die ganze Stadt. Darum weckt ihr mich nicht wie einen Entschlummerten aus dem Schlaf, sondern hin und her habe ich im Geist nach Rettungsmitteln geforscht, und endlich glaube ich eines gefunden zu haben. Denn mein eigener Schwager Klaus ist von mir zum messianischen Jesus nach Heede abgesandt worden, dass er frage, welches Werk oder welche Tat die Stadt befreien kann.“
Noch sprach der Fürst, als auch Klaus unter die Menge trat und den Bescheid des Orakels dem Fürst vor den Ohren des Volkes mitteilte. Dieser lautete freilich nicht tröstlich: „Gott befahl, einen Frevel, den das Land beherberge, hinauszuwerfen und nicht das zu pflegen, was keine Reinigung zu sühnen vermöge. Denn der Mord des Fürsten Jörg laste als eine schwere Blutschuld auf dem Land.“ Quentin, ganz ohne Ahnung, dass jener von ihm erschlagene Greis derselbe sei, um dessen willen der Zorn Gottes sein Volk heimsuche, ließ sich die Ermordung des Fürsten erzählen, und noch immer blieb sein Geist mit Blindheit geschlagen. Er erklärte sich berufen, für jenen Toten Sorge zu tragen, und entließ das versammelte Volk. Sodann ließ er ins ganze Land die Verkündigung ausgehen, wem irgendeine Kunde von dem Mörder des Jörg geworden wäre, der sollte alles anzeigen; auch wer in fremdem Land darum wüsste, dem sollte für seine Angabe der Lohn und Dank der Stadt zuteil werden. Der dagegen, der für einen Freund besorgt schweigen und die Schuld der Mitwissenschaft von sich abwälzen wollte, der sollte von allem Gottesdienst, vom Opfermahl, von Umgang und Unterredung mit seinen Mitbürgern ausgeschlossen werden. Den Täter selbst endlich verfluchte er unter schauerlichen Beteuerungen, wünschte ihm Not und Plage durch das ganze Leben und zuletzt das Verderben. Und das sollte ihm widerfahren, selbst wenn er am Herd des Fürsten verborgen lebte. Zu allem dem sandte er zwei Boten an den blinden Seher Torsten, der an Einsicht und Blick ins Verborgene fast dem wahrsagenden Jesus selber gleichkam. Dieser erschien auch bald, von der Hand eines leitenden Knaben geführt, vor dem Fürsten und in der Volksversammlung. Quentin trug ihm die Sorge vor, die ihn und das ganze Land quäle. Er bat ihn, seine Seherkunst anzuwenden, um ihnen auf die Spur des Mordes zu verhelfen.
Aber Torsten brach in ein Wehe aus und sprach, indem er seine Hände abwehrend gegen den Fürst ausstreckte: „Entsetzlich ist das Wissen, das dem Wissenden nur Unheil bringt! Lass mich heimkehren, Fürst; trag du das Deine und lass mich das Meine tragen!“ Quentin drang jetzt um so mehr in den Seher; und das Volk, das ihn umringte, warf sich flehend vor ihm auf die Knie. Als er aber auch so keine weiteren Aufschlüsse geben zu wollen bereit war, da entbrannte der Zorn des Fürsten Quentin, und er schalt den Torsten als Mitwisser oder gar Helfer bei der Ermordung des Jörg. Ja, nur des Sehers Blindheit halte ihn ab, diesem allein die Untat zuzutrauen. Diese Beschuldigung löste dem blinden Propheten die Zunge. „Quentin“, sprach er, „gehorche deiner eigenen Verkündigung. Rede mich nicht, rede keinen aus dem Volke weiterhin an. Denn du selbst bist der Gräuel, der diese Stadt besudelt! Ja, du bist der Fürstenmörder, du bist derjenige, der mit der Teuersten in fluchwürdigem Verhältnis lebt.“
Quentin war nun einmal verblendet: er schalt den Seher einen Zauberer, einen streitlustigen Narren; er warf Verdacht auch auf seinen Schwager Klaus und beschuldigte beide der Verschwörung gegen den Thron, von welchem sie durch ihre Lügengespinste ihn, den Erretter der Stadt, stürzen wollten. Aber nur noch näher bezeichnete ihn jetzt Torsten als Vatermörder und Gatten der Mutter, weissagte ihm sein nahe bevorstehendes Elend und entfernte sich zürnend an der Hand seines kleinen Knaben. Auf die Beschuldigung des Fürsten hin war indessen auch der Fürst Klaus herbeigeeilt, und es hatte sich ein heftiger Wortwechsel zwischen beiden gesponnen, den Evelin, die sich zwischen die Streitenden warf, vergeblich zu beschwichtigen suchte. Klaus schied unversöhnlich und im Zorn von seinem Schwager.
Noch blinder als der Fürst selbst war seine Gemahlin Evelin. Sie hatte kaum aus dem Munddes Gatten erfahren, dass Torsten ihn den Mörder des Jörg genannt, als sie in laute Verwünschungen gegen Seher und Seher-Weisheit ausbrach.“Sieh nur, Gemahl“, rief sie, „wie wenig die Seher wissen; sieh es an einem Beispiel! Mein erster Gatte Jörg hatte auch einst ein Orakel erhalten, dass er durch Sohneshand sterben werde. Nun erschlug aber jenen eine Räuberschar am Kreuzweg, und unser einziger Sohn wurde, an den Füßen gebunden, ins öde Gebirge geworfen und nicht über drei Tage alt. So erfüllen sich die Sprüche der Seher!“ Diese Worte, die die Fürstin mit Hohnlachen sprach, machten auf Quentin einen ganz andern Eindruck, als sie erwartet hatte. „Am Kreuzweg“, fragte er in höchster Gemütsangst, „ist Jörg gefallen? O sprich, wie war seine Gestalt, sein Alter?“ „Er war groß“, antwortete Evelin, ohne die Aufregung ihres Gatten zu begreifen, „die ersten Greisenhaare schmückten sein Haupt; er war dir selbst, mein Gemahl, von Gestalt und Ansehen gar nicht unähnlich.“ „Torsten ist nicht blind, Torsten ist sehend!“, rief jetzt entsetzt Quentin, dem die Nacht seines Geistes auf einmal, wie durch einen Blitzstrahl, erleuchtet ward. Doch trieb ihn das Grässliche selber, weiter danach zu forschen, als müssten auf seine Fragen Antworten kommen, welche die schreckliche Entdeckung auf einmal als Irrtum darstellten. Aber alle Umstände trafen zusammen, und zuletzt erfuhr er, dass ein entronnener Diener den ganzen Mord gemeldet habe. Dieser Knecht aber habe, sowie er den Quentin auf dem Thron sah, flehentlich gebeten, ihn so weit als möglich von der Stadt weg auf die Weiden des Fürsten zu schicken. Quentin begehrte ihn zu sehen, und der Knecht wurde vom Land herein gerufen. Ehe er jedoch noch ankam, erschien ein Bote aus Hamburg, meldete dem Quentin den Tod seines Vaters Konrad und rief ihn auf den erledigten Thron des Landes.
Bei dieser Botschaft sprach die Fürstin abermals triumphierend: „Hohe Gottessprüche, wo seid ihr? Der Vater, den Quentin umbringen sollte, ist sanft an Altersschwäche verschieden!“ Anders wirkte die Nachricht auf den frömmeren Fürsten Quentin, der, obgleich er noch immer gerne geneigt war, den Konrad für seinen Vater zu halten, es doch nicht begreifen konnte, wie ein Orakel unerfüllt bleiben sollte. Auch wollte er nicht nach Hamburg gehen, weil seine Mutter Christel dort noch lebte und der andere Teil des Orakels, seine Heirat mit der Mutter, immer noch erfüllt werden konnte. Diesen Zweifel benahm ihm freilich der Bote bald. Er war derselbe Mann, der vor vielen Jahren das neugeborene Kind von einem Diener des Jörg in dem Teutoburger Wald empfangen und ihm die durchbohrten und gebundenen Fersen gelöst hatte. Er bewies dem Fürsten leicht, dass er nur ein Pflegesohn, wiewohl Erbe des Fürsten Konrad von Hamburg sei. Ein dunkler Trieb nach Wahrheit ließ Quentin nach jenem Diener des Jörg verlangen, der ihn als Kind dem Hamburger übergeben hatte. Von seinem Gesinde erfuhr er, dass dies derselbe Hirte sei, der, von dem Morde des Jörg entronnen, jetzt an der Grenze das Vieh des Fürsten weide.
Als Evelin solches hörte, verließ sie ihren Gemahl und das versammelte Volk mit einem lauten Weheruf. Quentin, der sein Auge absichtlich mit Nacht zu bedecken suchte, missdeutete ihre Entfernung. „Gewiss befürchtet sie“, sprach er zu dem Volk, „als ein Weib voll Hochmut, die Entdeckung, dass ich unedlen Stammes sei. Ich aber halte mich für einen Sohn des Glücks und schäme mich dieser Abkunft nicht!“ Jetzt erschien der greise Hirte, der aus der Ferne herbeigeholt worden war und von dem Hamburger sogleich als derjenige erkannt wurde, der ihm einst den Knaben im Teutoburger Wald übergeben hatte. Der alte Hirt aber war ganz blass vor Schrecken und wollte alles leugnen; nur auf die zornigen Drohungen Quentins, der ihn mit Stricken zu binden befahl, sagte er endlich die Wahrheit: wie Quentin der Sohn des Jörg und der Evelin sei, wie der furchtbare Orakelspruch, dass er den Vater ermorden werde, ihn in seine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid erhalten habe.
IV
Evelin und Quentin strafen sich
Aller Zweifel war nun gehoben und das Entsetzliche enthüllt. Mit einem wahnsinnigen Schrei stürzte Quentin davon, irrte in dem Palast umher und verlangte nach einem Schwert, um das Ungeheuer, das seine Mutter und Gattin sei, von der Erde zu vertilgen. Da ihm, wie einem Rasenden, alle aus dem Weg gingen, suchte er grässlich heulend sein Schlafzimmer auf, sprengte das verschlossene Tor und brach hinein. Ein grauenhafter Anblick hemmte seinen Lauf. Mit fliegendem und zerrauftem Haupthaar erblickte er hier, hoch über dem Lager schwebend, Evelin, die sich mit einem Strang die Kehle zugeschnürt und erhängt hatte. Nach langem Hinstarren nahte sich Quentin der Leiche mit brüllendem Stöhnen, ließ das hoch aufgezogene Seil zur Erde herab, dass sich die Leiche auf den Boden senkte. Wie sie nun vor ihm ausgestreckt lag, riß er die goldgetriebenen Spangen aus dem Gewand der Frau, hob sie hoch in der Rechten auf, fluchte seinen Augen, dass sie nimmer schauen sollten, was er tat und duldete, und wühlte mit dem spitzen Gold in denselben, bis die Augäpfel durchbohrt waren und ein Blutstrom aus den Höhlen drang. Dann verlangte er, ihm, dem Geblendeten, das Tor zu öffnen, ihn herauszuführen, ihn dem ganzen Oldenburger Volk als den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch des Himmels und ein Scheusal der Erde vorzustellen. Die Diener erfüllten sein Verlangen, aber das Volk empfing den einst so geliebten und verehrten Herrscher nicht mit Abscheu, sondern mit innigem Mitleid. Klaus selbst, sein Schwager, den sein ungerechter Verdacht gekränkt hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verspotten, wohl aber um den Fluch-belasteten Mann dem Sonnenlicht und den Augen des Volkes zu entziehen und ihn dem Kreis seiner Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Quentin rührte soviel Güte. Er übergab seinem Schwager den Thron, den er seinen jungen Söhnen aufbewahren sollte, und erbat sich für seine unselige Mutter ein Grab, für seine verwaisten Töchter den Schutz des neuen Herrschers; für sich selbst aber begehrte er Ausstoßung aus dem Land, das er mit doppeltem Frevel besudelt, und Verbannung in den Teutoburger Wald, den schon die Eltern ihm zum Grab bestimmt hatten und wo er jetzt leben oder sterben wollte, je nach Gottes Willen. Dann verlangte er nach seinen Töchtern, deren Stimme er noch einmal hören wollte, und legte seine Hand auf ihre unschuldigen Häupter. Klaus segnete er für alle Liebe, die dieser ihm, der es nicht um ihn verdient hätte, erwiesen, und wünschte ihm und allem Volke besseren Schutz der Engel, als er selbst erfahren hatte.
Darauf führte ihn Klaus in das Haus zurück, und der jüngst noch verherrlichte Retter Oldenburgs, der mächtige Herrscher, dem viele Tausende gehorchten, Quentin, der so tiefe Rätsel erforscht und so spät erst das eigene furchtbare Rätsel seines Lebens gelöst hatte, sollte, einem blinden Bettler gleich, durch die Tore seiner Vaterstadt und an die Grenzen seines Fürstenreichs wandern.