VON TORSTEN SCHWANKE
Während der sowjetischen Besatzung war das katholische Leben in Estland und Lettland nahezu erloschen. Die jahrhundertealten Gemeinden wurden fast vollständig zum Schweigen gebracht. Doch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Rückerlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 begann für beide Länder ein neuer Abschnitt. Auch die katholische Kirche fand sich vor einem Neuanfang wieder – voller Hoffnungen, aber auch mit großen Herausforderungen. Inmitten dieser schwierigen Situation, in der die Kirche eine Minderheit in einer Diaspora darstellt, wächst die Zuversicht und das Vertrauen in die Zukunft.
Die Gläubigen sind dankbar für die Unterstützung, die ihnen aus der weltweiten Kirche zuteilwird – besonders aus Deutschland. Die Verbundenheit und finanzielle Hilfe durch Organisationen wie Renovabis und das Bonifatiuswerk haben zahlreiche Projekte ermöglicht, die andernfalls nicht realisierbar gewesen wären. Diese Initiativen sind mehr als nur Bauvorhaben oder finanzielle Hilfen; sie sind lebendige Geschichten von Menschen, die ihren Glauben in dieser besonderen Region des Baltikums neu entfalten.
Estland und Lettland sind Länder mit einer reichen Geschichte und lebendigen Kulturen. Ihre gastfreundlichen Menschen laden ein, selbst zu erleben, wie der Glaube vor Ort lebendig wird – durch Begegnungen, Beziehungen und gemeinsames Feiern. Die katholische Kirche im Baltikum zeigt sich facettenreich: Sie trägt in sich den Aufbruch nach schweren Zeiten, die Vielfalt der Traditionen und zugleich die großen Herausforderungen eines Neubeginns.
Ein Bild, das diese Situation eindrücklich symbolisiert, bietet die Kirche Mariä Himmelfahrt in Skaistkalne, einem kleinen Ort an der lettisch-litauischen Grenze. Dort erheben sich die roten Dächer und weißen Mauern wie ein leuchtendes Zeichen des Glaubens – ganz so, wie die Nationalflagge Lettlands in Rot-Weiß-Rot. Die Geschichte dieser Kirche ist eng mit der Christianisierung durch den Deutschen Orden im frühen 13. Jahrhundert verbunden. Lange Zeit war die Region von lutherischen Einflüssen geprägt, doch im 18. Jahrhundert, als sie zum Russischen Zarenreich gehörte, begann das katholische Leben wieder zu erwachen. Doch diese Erneuerung wurde im 20. Jahrhundert von der sowjetischen Herrschaft fast zum Erliegen gebracht.
Heute jedoch ist die katholische Kirche im Baltikum wieder lebendig und auf dem Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft. Neue Gotteshäuser entstehen, soziale Herausforderungen werden angepackt, und das gemeinsame Bekenntnis zum Glauben verbindet Menschen, die sich auch in einer Minderheit standhaft zeigen.
Susannes Wallfahrt durch Estland und Lettland spiegelt diesen Aufbruch wider – eine Reise voller spiritueller Begegnungen, historischen Erinnerungen und gelebtem Glauben inmitten einer faszinierenden Landschaft und Kultur.
In Skaistkalne ist die Gemeinde klein, sonntags versammeln sich dort kaum mehr als zwei Dutzend Menschen zum Gottesdienst. Anders ist es nur an den großen Kirchenfesten, da finden sich schon mal über fünfzig Gläubige ein, erzählt der Pfarrer mit einem warmen Lächeln. Die Kirche Mariä Himmelfahrt in Skaistkalne, erbaut im 17. Jahrhundert, entstand gemeinsam mit einem Jesuitenkloster in einer Zeit, als die Reformation weite Teile des Baltikums im Griff hatte. Während viele Regionen lutherisch wurden, blieb der Osten Lettlands, das damals Teil des polnisch-litauischen Staates war, katholisch – und das bis heute. Im Osten wurde 1995 das Bistum Rēzekne-Aglona gegründet, das weit über die Landesgrenzen hinaus für seinen Wallfahrtsort Aglona bekannt ist.
Fast drei von zehn Einwohnern in dieser Region bekennen sich zum katholischen Glauben, doch die Bevölkerung ist überwiegend russischsprachig, und die orthodoxe Kirche hat ebenfalls einen festen Platz. Im Bistum Jelgava, weiter südlich im Land, ist der Anteil der Katholiken sogar noch höher – mehr als ein Drittel der Menschen hier lebt ihren Glauben katholisch. Genau hier steht die Kirche in Skaistkalne, und hier wurde im Herbst 2022 auch Lettlands jüngste Kirche eingeweiht: eine kleine Barmherzigkeitskirche in Eleja, nahe der litauischen Grenze. Jeden Sonntag kommt Bischof Edvards Pavlovskis persönlich, um mit der kleinen Gemeinde von rund zwanzig Menschen die Messe zu feiern. Denn der Priestermangel macht auch vor dem Baltikum nicht Halt. Bischof Pavlovskis berichtet, dass die Priester in seiner Diözese oft in zwei oder mehr Kirchen gleichzeitig dienen müssen.
Ähnlich sieht es in der Diözese Liepāja im Westen Lettlands aus. Dieses Gebiet ist fast so groß wie das Bundesland Thüringen, doch für 33 Gemeinden stehen hier nur rund ein Dutzend Priester zur Verfügung. Einer von ihnen ist Vjačeslavs Bogdanovs, der für vier Kirchen verantwortlich ist: Alsunga, Gudenieki, Jūrkalne und Kuldīga. An einem einzigen Sonntag legt er über hundert Kilometer zurück, um alle Gottesdienste zu halten. Zeit für Gespräche mit den Gläubigen bleibt kaum, pastorale Arbeit ist dadurch stark eingeschränkt. Im Westen Lettlands, einer Region, die seit der Reformation mehrheitlich lutherisch geprägt ist, sind nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung katholisch. Dennoch gab es nach der Wende einen großen Bedarf an neuen Kirchenbauten.
So entstanden in Saldus die St.-Peter-und-Paul-Kirche, in Grobiņa die St.-Birgitta-Kirche, und in der Hafenstadt Liepāja bauten die Dominikaner ein Kloster samt Kirche. Noch mitten im Bau befindet sich die „Māras draudze“, die Marienkirche. Vom Turmkreuz aus hat man einen prächtigen Blick über die Plattenbauten und das Meer. Drinnen dagegen ist alles noch provisorisch: Die Elektroinstallation liegt offen, an der Decke hängt die Dämmung frei, und die Chorempore hat bislang nur dünne Bretter als Geländer. Die unverputzten Wände sind notdürftig mit Heiligenbildern bedeckt. Seit Jahren ist das Gotteshaus in Bau, fertiggestellt ist bislang nur die Werktagskapelle. Pater Vladimirs Gussevs OP berichtet, dass die Gemeinde während der Pandemie, als Abstandsregeln die üblichen Gottesdienste verhinderten, angefangen hat, in der noch unfertigen Kirche zu beten – und dort geblieben ist. „Als wir damals Weihnachten gefeiert haben, fühlte sich das fast an wie in einem Stall“, sagt der 56-Jährige und eilt weiter ins Dominikanerkloster, wo er für eine weitere Gemeinde die Messe hält.
Susanne war tief verwurzelt in ihrem christlichen Glauben, eine Gläubige, die in der stillen Kraft ihrer Überzeugung lebte. Für sie war die Wallfahrt kein bloßer Akt des Rituals, sondern eine persönliche Reise zu Gott, zu Maria und zu sich selbst. Ihre Schritte führten sie oft durch kleine Dörfer und weite Landschaften Lettlands, wo sie die Zeichen des Glaubens und die Spuren der Vergangenheit spürte.
Sie wusste um den Mangel an Berufungen, der sich auch in der Kirche in ihrer Heimat bemerkbar machte – besonders im Priesterseminar von Riga, das nur wenige Stunden von ihrem Zuhause entfernt lag. Dort, in den Hallen der Katoļu iela, spürte sie den Wandel, den Zbigņevs Stankevičs, der Erzbischof von Riga, oft mit schwerem Herzen beschrieb. Wo einst mehrere Dutzend junge Männer ausgebildet wurden, waren es heute nur noch wenige. Die Säkularisierung hatte auch Lettland erreicht, und Susanne konnte das spüren, wie die Glut des Glaubens leiser zu werden drohte.
Doch gerade in dieser Zeit des Mangels empfand Susanne Hoffnung. Sie hörte von der Neugründung des Seminars des Neokatechumenalen Weges – einer geistlichen Gemeinschaft, die in Spanien ihren Ursprung hatte und nun auch in Riga eine neue Priestergeneration formte. Vier junge Männer, zwei aus Spanien, zwei aus den USA, wurden in einem bescheidenen Haus im Vorort Marupe auf ihre Berufung vorbereitet. Für Susanne war das ein Zeichen dafür, dass Gottes Ruf lebendig blieb, auch wenn er sich manchmal in neuen Formen zeigte.
Susannes Glaube war geprägt von dieser Erfahrung der Erneuerung – sie wusste, dass wahre Missionare keine Grenzen kannten, dass der Glaube eine lebendige Kraft war, die Menschen miteinander verband, auch über Ländergrenzen hinweg. Sie dachte an die Worte des Erzbischofs, der betonte, wie wichtig es sei, dass junge Menschen vor Ort diesen Weg gingen, dass sie die Kirche nicht nur empfingen, sondern selbst gestalteten.
Ihre Wallfahrt war für Susanne eine stille Antwort auf die Herausforderungen der Zeit. In jeder Kerze, die sie anzündete, in jedem Gebet, das sie sprach, lebte die Hoffnung auf eine Kirche, die trotz aller Veränderungen Bestand hatte – eine Kirche, die von Menschen getragen wurde, die aus tiefstem Herzen glaubten, so wie sie selbst.
Susannes christlicher Glaube war ihr Anker und ihre Kraftquelle, und auf ihren Wegen fühlte sie immer wieder die Nähe Gottes und die liebevolle Fürsorge Marias, die ihr Mut machten, auch in schwierigen Zeiten festzuhalten an der Botschaft von Liebe und Hoffnung. Ihre Wallfahrt war nicht nur eine Reise zu heiligen Orten, sondern eine innere Reise, die sie immer wieder neu mit der lebendigen Gemeinschaft des Glaubens verband.
Es war ein früher Morgen, als Susanne, eine tiefgläubige Christin mit leuchtenden Augen und einem Herzen voller Sehnsucht nach Wahrheit und Tiefe, in den Zug nach Rom stieg. Ihr Ziel: das RARZI-Studienprogramm an der Lateranuniversität, einer der bedeutendsten päpstlichen Hochschulen der Welt. Für Susanne war es keine gewöhnliche Reise. Es war eine Wallfahrt – nicht nur geografisch, sondern auch geistig und seelisch.
Susanne war eine Frau, die im Gebet geerdet und in der Kirche verwurzelt war. Ihre Entscheidung, Theologie zu studieren, war nicht aus Karrieregründen gefallen, sondern aus einem brennenden Wunsch heraus, den Menschen zu dienen – besonders jenen, die am Rande standen: Gefangene, Kranke, Einsame. Lettland war ihre Heimat, ein Land, in dem es keine staatlich bezahlten Gemeindereferenten gab. Doch sie wusste: Das Evangelium findet immer einen Weg.
Das RARZI-Programm war für sie ein Geschenk. Hier lernte sie nicht nur Dogmatik und Kirchengeschichte, sondern begegnete auch anderen Christen – Lutheranern, Baptisten, Orthodoxen. Und obwohl die katholische Kirche im Baltikum, ebenso wie die lutherische, eher konservativ geprägt war, spürte Susanne eine wachsende ökumenische Nähe. Für sie war das kein Widerspruch, sondern eine Einladung zur Versöhnung.
In den Gesprächen mit Dozentinnen wie Narkēviča, einer der wenigen Frauen in höheren Kirchenämtern, fand Susanne Inspiration und Mut. Diese Frauen lebten ihren Glauben in einer Struktur, die ihnen oft wenig Raum ließ – und doch waren sie präsent, klug, standhaft. Susanne sog das Wissen auf wie trockene Erde das Wasser. „Das hier vermittelte Wissen ist groß“, hatte Narkēviča gesagt. Für Susanne war es wie Brot für die Seele.
Eines Tages reiste Susanne während eines Studienaufenthaltes nach Estland, nach Ahtme, nahe der russischen Grenze. Dort besuchte sie die Josefskirche, ein schlichtes, aber warmes Gotteshaus, das erst nach der Unabhängigkeit Estlands errichtet worden war. In den Gesichtern der wenigen, älteren Gottesdienstbesucher erkannte sie tiefe Geschichten – von Verfolgung, Glaubenstreue, und einem nie versiegenden Durst nach Gott.
Besonders rührte sie die Geschichte von Maria, einer alten Frau, die einst stundenlange Fahrten nach Tallinn auf sich genommen hatte, nur um die Messe zu besuchen. „Schwere Zeiten waren das“, sagte Maria. Und Susanne verstand: Diese Frau war wie sie – eine Pilgerin, die den Glauben nicht losließ, auch wenn die Umstände widrig waren.
Am Abend, als sie allein auf einer Bank vor der Kirche saß und den Blick über das flache Land schweifen ließ, betete Susanne still: für die Einheit der Christen, für ein neues Feuer im Herzen der Kirche, für Mut zur Wahrheit. Sie war keine Kämpferin, keine Rebellin – aber eine Beterin. Und manchmal, so wusste sie, verändert ein stilles Gebet mehr als laute Worte.
Als sie Wochen später nach Rom zurückkehrte, war Susanne nicht mehr dieselbe. Ihr Glaube war tiefer, ihr Blick weiter, ihr Herz freier geworden. Ihre Wallfahrt hatte sie nicht nur geografisch durch das Baltikum und Italien geführt – sie war eine Reise zu Gott, zum Menschen und zu sich selbst.
Und tief in ihrem Innern wusste Susanne: Ihre Aufgabe war nicht nur zu lernen – sondern zu dienen. Mit dem Herzen einer Christin, mit der Demut einer Pilgerin und mit der Klarheit einer Frau, die weiß, wohin sie gehört.
Der Morgennebel hing noch über den Hügeln, als Susanne ihren kleinen Rucksack schulterte. Sie war aus Deutschland nach Estland gereist – allein, mit einem Rosenkranz in der Manteltasche und einer Sehnsucht im Herzen, die sie nicht benennen konnte. Ihr Ziel: die Kathedrale Peter und Paul in Tallinn, die lebendige Mitte des katholischen Lebens in diesem kühlen, klaren Land am baltischen Meer.
Auf dem Weg dorthin machte sie Halt in Sillamäe, einem kleinen Ort mit Blick auf die See. Die Kirche dort war schlicht, aber in ihrer Schlichtheit lag Würde. Schon eine halbe Stunde vor der Messe saßen Gläubige in den Bänken und murmelten leise den Rosenkranz. Susanne fühlte sich sofort aufgenommen – nicht wegen vieler Worte, sondern wegen des gemeinsamen Glaubens, der hier spürbar dichter war als in ihrer Heimat.
Im Gespräch mit einer älteren Frau erfuhr Susanne, dass es in Estland heute nur noch rund 1,3 Millionen Einwohner gibt – ein Rückgang seit der Unabhängigkeit 1989, als es noch 1,6 Millionen waren. In Lettland sei es noch dramatischer: Dort habe man seitdem fast ein Drittel der Bevölkerung verloren. Junge Menschen zögen fort, suchten ihr Glück in Westeuropa. „Es ist ruhig geworden“, sagte die Frau mit einem melancholischen Lächeln. „Aber der Glaube ist geblieben.“
In Tallinn schließlich fand Susanne, was sie suchte. Die Kathedrale war nicht groß, aber voller Leben. Nach dem Gottesdienst versammelten sich Gläubige bei Tee und Gespräch. Auch Bischof Philippe Jourdan war darunter – nahbar, herzlich, kein Hirte aus der Ferne. Susanne sprach mit Lennart, einem Journalisten, der einst atheistisch war, nun aber, wie er sagte, „durch die Gemeinschaft zur Taufe gefunden“ hatte.
„Wir sind eine kleine Herde“, sagte Lennart, „aber stark. Man muss hier nicht viel glauben – man muss nur anfangen.“
Susanne dachte an die Liturgie in ihrer Heimat, an Kindergottesdienste und Frauen am Altar. Hier war alles anders. Konservativer, zurückhaltender, zugleich aber von einer Frömmigkeit getragen, die im Westen oft verloren gegangen war. Keine modernen Gruppen, keine Pastoralreferenten. Dafür Lieder, Beichten, Marienlitaneien – Volksfrömmigkeit, gespeist aus Jahrhunderten.
„Terra Mariana“, hatte sie gelesen – Marienland. Der Name stammte aus dem Mittelalter, und doch fühlte sich Susanne, als würde er erst jetzt für sie lebendig.
Auf der Rückreise schrieb sie ein paar Zeilen in ihr Tagebuch:
„Ich bin in ein Land gegangen, das schrumpft, aber sein Herz bewahrt hat. In einer Diaspora, klein und verstreut, wird der Glaube nicht schwächer, sondern klarer. Vielleicht muss man sich manchmal verlieren, um neu zu glauben.“
Susanne stand am Ufer der Ostsee, der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht. Hinter ihr ragte die Silhouette von Tallinn in den Himmel – eine Stadt, in der Fernsehtürme und moderne Hochhäuser zwar die Skyline bestimmten, aber die Kirchtürme immer noch das Herz berührten.
Die drei Wochen, die sie für ihre Wallfahrt durchs Baltikum geplant hatte, waren weder durchorganisiert noch touristisch geprägt. Susanne suchte das Spirituelle, das Unaufdringliche, das, was zwischen den Zeilen liegt. Ihr Ziel: in den kleinen katholischen Gemeinden Estlands und Lettlands zu beten, zu schweigen, zuzuhören.
Die katholische Kirche in Estland war wie ein leiser Fluss – schmal, aber stetig. Nur 0,5 Prozent der Bevölkerung zählten sich zur katholischen Kirche, insgesamt etwa 7.000 Gläubige. In einem Land von über 45.000 Quadratkilometern bedeutete das: lange Wege zwischen den zehn Pfarrgemeinden, verstreute Gemeinschaften, stille Kapellen.
In Tallinn besuchte Susanne die Kathedrale des Bischofs Philippe Jean-Charles Jourdan, dem einzigen katholischen Bischof Estlands. Sie sprach kurz mit einer der 19 Ordensschwestern, die ihr von ökumenischen Projekten erzählte, von Jugendlichen, die katholische Schulen besuchten, obwohl sie orthodox oder lutherisch waren.
„Hier müssen wir die Einheit des Glaubens leben, nicht predigen“, sagte die Schwester. Susanne spürte, dass ihr Glaube hier in einer anderen Dimension atmete – nicht laut, sondern tief.
Als Susanne über die Grenze nach Lettland kam, veränderte sich etwas. Das Land war größer – über 64.000 Quadratkilometer – und das Katholische hatte hier Gewicht: 369.000 registrierte Katholiken, fast 20 Prozent der Bevölkerung. In 255 Pfarrgemeinden und durch das Wirken von 122 Diözesanpriestern, 101 Ordensschwestern und vier ständigen Diakonen war die Kirche hier sichtbar, hörbar, lebendig.
In Riga, der Hauptstadt, wohnte sie einem Gottesdienst der vietnamesischen Gemeinde bei. Der Klang der Lieder, der Duft von Räucherstäbchen und die leuchtenden Farben erinnerten sie daran, dass die Kirche nicht europäisch war, sondern katholisch – allumfassend.
In der alten Hafenstadt Liepāja besuchte Susanne das Dominikanerkloster. Eine Möwe saß auf dem Dach – fast wie ein Wächter. Von dort aus sah sie hinüber zur orthodoxen St.-Nikolaus-Kathedrale, deren Türme sich wie Zwiebeln zum Himmel streckten. Zar Nikolaus II. selbst hatte sie einst eingeweiht – ein Ort voller Geschichte, mit Ikonen, Gold und Weihrauch.
Die Unterschiede der Kirchen waren äußerlich sichtbar: Hier ein Hahn, dort ein lateinisches Kreuz, da ein orthodoxes Kreuz mit schrägem Balken. Und doch: Susanne spürte eine verborgene Einheit. In ökumenischen Radiosendungen, in gemeinsamen Stellungnahmen der Bischöfe zu sozialen Fragen, und in einfachen Gesten wie einem Kaffee unter Priestern aller Konfessionen.
Sie erinnerte sich an eine Szene, die ihr ein lettischer Priester erzählt hatte: „Einmal zahlt der eine, dann der andere. Ganz brüderlich.“ So einfach. So stark.
In Aglona, dem berühmtesten Wallfahrtsort Lettlands, endete Susannes Reise. Die Basilika war umgeben von Feldern, Pilgern, Stille. Hier fühlte sie sich plötzlich nicht mehr als Einzelne, sondern als Teil einer lebendigen, betenden Gemeinschaft.
Sie schrieb in ihr Tagebuch:
„Die Kirchen hier sind keine Machtzentren. Sie sind Orte des Atemholens. In Estland ist der Glaube zart wie eine Kerzenflamme im Wind. In Lettland hat er ein stärkeres Fundament, doch überall atmet er Ökumene, Brüderlichkeit, leisen Widerstand gegen die Gottvergessenheit.“
Am nächsten Tag verließ sie Aglona mit einem Stein aus dem Ufer des Sees – ein stilles Andenken an ihre Wallfahrt. Nicht als Tourist. Sondern als Pilgerin.
Susanne stand am Kai, das Haar vom Ostseewind zerzaust, die Augen hell wie der baltische Himmel, der sie rief. Ihre Reise war kein Urlaub, keine Flucht – sie war eine Pilgerreise, getragen von Sehnsucht, Glauben und dem Wunsch nach innerer Einheit. Eine Reise zu den Spuren des christlichen Lebens im Baltikum, durch die stille Kraft des Glaubens und die leise Sprache der Ökumene.
In Riga betrat Susanne ehrfürchtig den lutherischen Dom. Sie dachte an die Weihe des katholischen Erzbischofs Zbigņevs Stankevičs im Jahr 2010 – ausgerechnet hier, in diesem lutherischen Gotteshaus. Es war mehr als ein Akt kirchlicher Diplomatie. Es war ein Zeichen echter Geschwisterlichkeit im Glauben.
„Hier ist Ökumene kein Konzept, sondern gelebte Wirklichkeit“, flüsterte sie.
Papst Franziskus’ Worte nach seiner Reise 2018 durch das Baltikum klangen ihr in den Ohren: „Hier gibt es wahre Ökumene: zwischen Lutheranern, Baptisten, Anglikanern und auch Orthodoxen.“ Es war spürbar – in den alten Steinen des Doms, in den gefalteten Händen der Gläubigen, in den offenen Türen.
In einem kleinen Studio in Riga begegnete sie Pater Jānis Meļņikovs. Statt Gewänder trug er Kopfhörer, statt Weihrauchduft umgaben ihn Kabel und Bildschirme. Doch was hier geschah, war nicht weniger heilig.
„Wir sind die Stimme Gottes in der Gesellschaft“, sagte der Jesuit mit ruhiger Stimme. Radio Marija verband – nicht nur über UKW, sondern über Herzen. Susanne saß bei einer Live-Sendung dabei, als Rosenkranzgebete durch den Äther klangen. Sie sah, wie Dutzende Freiwillige ein und aus gingen – junge Menschen, alte Hände, Suchende.
„In der Sowjetzeit wurden wir alle unterdrückt“, erzählte Meļņikovs. „Katholiken, Lutheraner – jeder Christ war plötzlich gleich. Diese gemeinsame Not hat unsere Herzen vereint.“
Susanne erkannte: Die Narben der Vergangenheit hatten hier Brücken gebaut. Der Schmerz war zur Wurzel geworden, aus der ein neuer Baum gewachsen war – ökumenisch, lebendig, tief verwurzelt im Evangelium.
In der Kleinstadt Kuldīga besuchte Susanne ein stilles Haus voller Gebet – das Zuhause der Dominikanerinnen. Sie lebten hier nach dem alten Motto „Ora et labora“, beten und arbeiten. Und doch war alles neu: Podcasts, Online-Andachten, moderne Medienformate.
„Unser Apostolat lebt vom Hinhören“, sagte eine Schwester. „Viele Menschen hier wissen nichts mehr vom Glauben. Aber sie hören zu. Und manchmal beginnt so etwas wie ein Gespräch mit Gott.“
Susanne spürte: Auch hier wirkte der Geist, still, aber tief. Es war nicht der Glanz großer Prozessionen oder die Pracht von Kathedralen. Es war das geduldige Licht einer Kerze, das nicht verlöscht – getragen von Hoffnung, getragen von einer Liebe, die alle Grenzen überwindet.
Auf der Rückfahrt über die Fähre nach Deutschland saß Susanne allein an Deck. Sie sah das Meer, grau und glitzernd. Sie dachte an die Sowjetzeit, an Radio Marija, an den ökumenischen Geist Rigas, an die Dominikanerinnen. Sie dachte an eine Kirche, die lebt – durch Leid, durch Wandel, durch die Liebe Gottes.
Und sie betete still:
„Herr, mache auch mich zu einer Brücke. Lass mich das Deine suchen im Anderen, und das Gemeinsame ehren in Vielfalt.“
So endete ihre Pilgerreise. Aber ihre innere Reise hatte gerade erst begonnen.
Die Sonne hing tief über der Ostsee, als Susanne, eine schlanke, brünette junge Frau mit warmen Augen und einer ruhigen Ausstrahlung, in Tallinn ankam. Ihre Reise war keine gewöhnliche Tour, kein flüchtiger Urlaubstrip – es war eine Pilgerreise, eine Suche nach Stille, Gebet und Begegnung mit Gott in einer Region, in der der Glaube oft im Verborgenen lebte.
Gleich zu Beginn führte ihr Weg sie ins Birgittenkloster von Pirita, nur wenige Gehminuten von der Ostsee entfernt. Zwischen Ruinen aus dem 15. Jahrhundert und moderner Architektur empfing sie Schwester Vimalla, eine Frau voller Güte und Kraft, mit einem warmen „Willkommen“.
Susanne war sofort fasziniert vom schlichten, aber festen Leben der acht Ordensschwestern, die – mit grauem Habit, schwarzem Schleier und der markanten Leinenkrone mit fünf roten Punkten – ihren Alltag unter dem Motto „Ora et labora“ führten. Der Konvent war eine Insel der Ruhe, offen für jeden, der suchte: Pilger, Gläubige, Touristen – alle waren willkommen.
„Hier“, dachte Susanne, während sie an einer Vesper teilnahm, „wächst Glauben leise, aber beständig – wie Moos auf einem alten Stein.“
Sie erfuhr, dass die Birgitten nach der sowjetischen Besatzung erst 2001 zurückkehren konnten – eine stille Wiedergeburt ihres Ordens in Estland. In einem Land, in dem nur 0,5 % der Bevölkerung katholisch sind, sei ihre bloße Anwesenheit ein Zeichen – und ein Mutmacher. Und tatsächlich: Die Schwestern berichteten, dass sie oft auf der Straße angesprochen würden – freundlich, interessiert, respektvoll. „Glaube kann auch in der Diaspora blühen“, schrieb Susanne abends in ihr Reisetagebuch.
Die nächste Etappe führte sie nach Riga, Lettlands Hauptstadt, wo der Jesuitenorden mit nur drei Patres eine kleine Niederlassung betreibt – gegründet erst vor acht Jahren. Am Stadtrand, weit entfernt von Touristenströmen, leben sie zurückgezogen und dennoch mitten im Leben: als Schulseelsorger, Pfarrer, Seelsorger in der Diaspora.
Susanne war bewegt von der Demut und Entschlossenheit der Patres, die mit wenigen Mitteln große Wirkung erzielen. „Ein Licht in der Peripherie“, nannte sie diese Gemeinschaft.
Weit im Westen Lettlands, in Liepāja, stieß Susanne auf ein anderes Beispiel katholischer Standhaftigkeit. Dort hatten die Dominikaner ein neues Kloster errichtet, umgeben von einer lebendigen Gemeinde. In der Kirche – einer Mischung aus Rohbau und Hoffnung – zelebrierte Pater Vladimirs Gussevs regelmäßig Gottesdienste auf Lettisch und Russisch.
Susanne war beeindruckt, wie sehr sich hier die liturgische Vielfalt mit der kulturellen Realität verband. Inmitten sowjetischer Plattenbauten sei die „Māras draudze“ ein Ort des Lichts. Die Präsenz der Dominikaner – nicht historisch, sondern ganz aktuell – machte Susanne bewusst, dass Kirche dort wächst, wo Menschen sie tragen.
In der kleinen, wunderschönen Stadt Kuldīga (ehemals Goldingen), heute UNESCO-Weltkulturerbe, begegnete Susanne schließlich den Dominikanerinnen, die dort ein Exerzitienhaus führen. Mitten in der Altstadt, neben der barocken Dreifaltigkeitskirche, arbeiten die Schwestern mit Jugendlichen, bieten Besinnungswochenenden, organisieren Glaubenswochen – in einem Umfeld, in dem Kinder oft zum ersten Mal mit Religion in Kontakt kommen.
Schwester Agnese, eine junge lettische Ordensfrau, erzählte Susanne von der Herausforderung, in einer Gesellschaft, in der Religion oft keine Rolle spielt, überhaupt das Interesse am Glauben zu wecken. Die Schwester lachte, als sie erzählte, wie sie per SMS und WhatsApp zu Katechesen einlädt. „Mission im digitalen Zeitalter“, notierte Susanne bewundernd.
Als Susanne Wochen später nach Hause zurückkehrte, war ihr Gepäck leicht, aber ihr Herz schwer voller Eindrücke. In den stillen Klöstern, zwischen rauem Ostseewind, sowjetischer Nachkriegsarchitektur und liturgischer Schönheit, hatte sie nicht nur Spuren des Christentums entdeckt – sondern eine lebendige Kirche in der Diaspora, getragen von wenigen, aber mutigen Menschen.
„Das Evangelium ist nicht schwach“, schrieb sie später in einem Artikel über ihre Reise. „Es lebt – manchmal verborgen, aber immer gegenwärtig.“
Susanne war eine stille Frau. Ihre Sensibilität war kein zartes Flimmern, sondern eine tiefe, schweigende Kraft – wie das Wasser eines Brunnens, aus dem sie ihre Kraft schöpfte. In ihrem Herzen trug sie eine Sehnsucht, die mit keiner Landschaft, keinem Laut, keinem Blick aufzulösen war. Sie nannte es Gottes Sehnsucht. Und so stand sie eines Morgens im Spätsommer in Riga, mit Pilgertasche und Rosenkranz, bereit, das unbekannte Baltikum zu durchwandern. Ihre Füße wollten nicht nur Erde berühren – sie wollten Geschichte, Glauben und Menschen spüren.
Ihr erstes Ziel war Alsunga – ein kleiner Ort in Westlettland, wo die Menschen seit vier Jahrhunderten gegen alle Umbrüche am katholischen Glauben festhielten. Die Suiti, wie sich die Bewohner nannten, waren einst durch eine Liebesgeschichte zum Katholizismus zurückgekehrt: Johann Ulrich von Schwerin, ein lutherischer Grafensohn, hatte eine polnische Katholikin geheiratet und ihretwegen konvertiert. Susanne lächelte leise, als sie davon hörte – ein Glaube geboren aus Liebe.
In Alsunga wurde sie von Māra empfangen, einer Frau mit dunklen Augen und kräftiger Stimme. Māra sang in einem Suiti-Chor, trug die bunte Tracht, und zeigte ihr die kleine Kirche, in der immer noch mehrstimmige Bourdon-Lieder erklangen. Susanne saß während der Messe ganz hinten, die Hände gefaltet, das Herz offen – als würde sie durch den Gesang hindurch die Jahrhunderte atmen.
„Es war nie leicht, katholisch zu bleiben“, sagte Māra später bei einer Tasse Kräutertee. „Aber es war richtig. Auch wenn wir alleine waren.“
Susanne nickte. Auch sie war oft allein in ihrem Glauben. Nun wusste sie, dass auch in der Isolation Identität geboren werden kann.
Von Lettland aus ging sie weiter nach Süden, dem Ruf des Daugava-Flusses folgend, der einst Düna hieß. In Ikšķile, wo heute eine kleine Insel im Fluss liegt, stand sie ehrfürchtig vor den alten Fundamenten der Kirche Meinhards.
Meinhard, der erste Bischof von Livland, hatte hier 1184 eine Kirche erbauen lassen, ein Symbol der Hoffnung. Susanne dachte an ihn, jenen Chorherren aus Segeberg, der gekommen war, um zu lehren, zu bauen, zu taufen – und zu bleiben.
„Nu was als ich han vernomen…“ flüsterte sie leise aus der livländischen Reimchronik, die sie in einem kleinen Pilgerheft entdeckt hatte. Diese Verse erzählten von einem Mann, der nicht aus Macht, sondern aus Güte kam.
Am 14. August war es soweit. Das Wasser des Stausees wurde abgelassen, und Susanne ging mit hunderten Gläubigen barfuß zur Meinhard-Insel, zu den Überresten der Kirche. Dort, in der Stille des Morgens, betete sie. Kein Priester war nötig, keine Orgel, keine Glocke – der Glaube war in der Luft, im Stein, im Fluss.
In Estland fand sie die katholische Kirche nur in kleinen Spuren – verstreut, leise, aber nicht verschwunden. In einem Dorf traf sie einen jungen Priester aus Polen, der sie zum Gebet einlud. „Wir sind wenige“, sagte er, „aber jeder, der kommt, ist wie ein Licht.“
Susanne blieb einige Tage, half im Garten des Pfarrhauses, sprach wenig, lachte viel. Die wenigen katholischen Familien erinnerten sie an die Suiti: unauffällig, standhaft, singend gegen das Vergessen.
Als sie Wochen später zurück nach Riga kam, war sie verändert. Nicht im Äußeren – ihre Schritte waren noch immer ruhig, ihr Blick sanft, ihre Stimme leise. Aber in ihr war etwas gewachsen. Keine Erkenntnis, kein theologischer Gedanke. Es war eine Erfahrung: der katholische Glaube im Baltikum ist wie ein alter Baum in karger Erde. Tief verwurzelt. Still. Wahrhaftig.
Und Susanne, die stille Christin, hatte ihn mit ihrer Pilgerschaft berührt.
Susanne war schön wie eine Madonna. Nicht wie eine Figur aus Marmor, kalt und fern, sondern wie jene Maria, die in „Terra Maria“ mit lebendiger Inbrunst verehrt wird – warm, leuchtend, voller Liebe. Wer sie sah, sprach oft: „Sie trägt das Licht in den Augen.“ Doch es war nicht nur äußere Anmut, die die Menschen anzog, sondern etwas Tieferes – eine stille Heiligkeit, eine Sehnsucht, die ihr Antlitz umgab wie ein Gebet.
In einem heißen August begann sie ihre Pilgerreise durch das Baltikum – allein, aber nicht einsam. Sie trug einen schlichten Rucksack, ein kleines Holzkreuz an einer Kette, und ein zerlesenes Gebetbuch mit Bildern der Gottesmutter. Ihre erste Station: Riga.
Im katholischen Gymnasium der lettischen Hauptstadt besuchte Susanne eine Ausstellung über Boļeslavs Sloskāns. Der Name war ihr fremd, doch schon beim Betreten des Raumes spürte sie: Hier wurde Geschichte nicht erzählt, sie war gegenwärtig. Auf alten Fotografien lächelte ein Mann mit sanften Augen, von dessen Lebensweg sie bald ergriffen war.
Sloskāns, 1917 Priester in Russland, wurde früh zum Bischof geweiht, dann von den Sowjets verhaftet und in Lager verschleppt. Susanne stand lange vor dem Bild, das ihn als jungen Geistlichen zeigte. 33 Jahre, so jung wie Christus, als er geweiht wurde... flüsterte sie. Ihre Finger streiften das Glas des Rahmens. In der Stille sprach sie ein Ave Maria – für ihn, für all die lettischen Priester, die zwischen 1940 und 1960 in Gulags litten. 82, zwölf gestorben. Namenlose Zeugen des Glaubens.
Sie schrieb in ihr Tagebuch:
"Sie lebten, litten, starben – ohne Applaus, aber mit Christus. Und wir fragen heute: Werden sie selig? Ich glaube, sie sind es längst."
Am nächsten Tag reihte sich Susanne in den endlosen Zug von Pilgern ein, der zur Basilika Mariä Himmelfahrt führte. Inmitten von Tausenden stand sie barfuß auf heißem Pflaster, trug ihren Kanister zum Brunnen, trank von dem Wasser, das Wunder verheißen sollte. Umgeben von fremden Sprachen, fühlte sie sich seltsam geborgen.
Die Basilika lag eingebettet zwischen zwei silbernen Seen wie ein leuchtender Edelstein im Herz Lettgallens. Über dem Altar thronte das Gnadenbild Unsere Liebe Frau von Aglona, umgeben von Blumen, Kerzen und dem Raunen unzähliger Gebete. Dort, unter den heiligen Bögen, wo auch die Gebeine Sloskāns ruhen, fiel Susanne auf die Knie.
Sie betete nicht um etwas. Sie war einfach nur da – wie eine Tochter bei ihrer Mutter.
Ihre Reise führte sie weiter nach Estland. In Tallinn stand sie in der Kirche, in der einst Eduard Profittlich predigte, der deutsche Jesuit, der Estland diente und im sowjetischen Kerker starb. 1942 wurde er zum Tod verurteilt, doch seine Hoffnung lebte weiter. Der Bischof von heute, Philippe Jourdan, sprach in einem Interview über ihn: „So Gott will, sehr bald“ – dann werde auch er seliggesprochen.
Susanne dachte an Profittlichs letzten Atemzug. Weit weg von seiner Heimat, mitten in der Kälte der Zelle, aber getragen von einem Glauben, der über die Zeit hinausstrahlte. Wie viele Menschen hatten wie er gehofft, gelitten, gebetet – im Verborgenen, unter Repression, und dennoch mit leuchtendem Herzen?
„Nicht jeder Heilige trägt einen Heiligenschein, aber jeder lässt Licht zurück“, schrieb Susanne in ihr Tagebuch.
Als sie ihre Pilgerreise beendete, war sie nicht mehr dieselbe. Die Madonna, die in ihr lebte, war nicht mehr nur ein Bild der Schönheit. Sie war geworden zur inneren Gestalt – zur stillen Kraft, zur himmlischen Mutter, zur Freundin auf dem Weg.
Susanne kehrte heim mit dem Duft der Kerzen von Aglona in der Kleidung, mit dem Schweigen der lettischen Wälder im Blick, mit der brennenden Kerze der Heiligen im Herzen. Sie war eine moderne Glaubensapostelin geworden – nicht durch Predigt, sondern durch das stille Gehen, durch das Sehen, das Erinnern, das Beten.
Noch immer warten die Gläubigen im Baltikum auf die offiziellen Seligsprechungen von Sloskāns und Profittlich. Doch für Menschen wie Susanne sind sie längst Heilige. Nicht, weil Rom es verkündet hat – sondern weil ihre Zeugnisse Leben verwandeln.
So wird es auch weitergehen: Von Herz zu Herz, von Schritt zu Schritt, von Gebet zu Gebet.
Und vielleicht, irgendwann, wird jemand sagen:
„Susanne – schön wie eine Madonna. Aber noch schöner war ihr Glaube.“
Susanne sprach nicht. Nicht aus Trotz, nicht aus Schmerz, sondern aus einer Art innerer Stille, die viele für Schwäche hielten, die in Wahrheit aber eine Kraft war – tief, sanft, unerschütterlich. Sie war eine Frau von beinahe überirdischer Zartheit, ihre Bewegungen weich, ihr Blick scheu, fast durchscheinend. Die dunklen Röcke, die sie trug, hatten nichts Weltabgewandtes, nur eine Schlichtheit, die auf etwas Größeres wies.
In diesem Sommer, der wie ein warmer Atem über das Baltikum zog, war Susanne unterwegs – zu Fuß, mit leichten Schuhen und schwerem Rosenkranz, mit einer Karte, die kaum gebraucht wurde, und einem Herzen, das wusste, wohin es ging: nach Aglona, zum Altötting Lettlands, zum Marienheiligtum.
Drei Wochen war sie unterwegs, über Felder, durch regennasse Wälder, vorbei an Wegkreuzen, an strohgedeckten Höfen, in denen Großmütter ihr Brot und gesegnete Kräuter gaben. Susanne nahm sie schweigend an, mit gesenktem Blick, und ging weiter.
Sie war nicht allein auf diesem Weg. Andere Pilger schlossen sich ihr an, blieben ein paar Tage, gingen wieder. Manche versuchten, ihr Geschichten zu erzählen, manche fragten sie nach ihrem Schweigen, andere flüsterten nachts, sie sei vielleicht eine Art Heilige. Susanne antwortete nie, doch in ihrem Blick war ein Licht, das zur Ruhe brachte.
In der dritten Woche kam sie zum Dominikanerkloster. Schon aus der Ferne sah sie die schmale Silhouette der alten Mauern, spürte die Nähe des heilsamen Wassers. Seit dem 17. Jahrhundert hatten hier Brüder gebetet, gedient, geschwiegen. Im 19. Jahrhundert war es ein Dominikaner, der die Quelle untersuchen ließ – grünlich und salzig sei sie einst gewesen, hieß es, voller Schwefel und Kraft.
Susanne trat an den Brunnen. Der Geschmack des Wassers war eisenhaltig, metallisch – doch sie trank langsam, mit einem Ausdruck stiller Dankbarkeit. In der Kapelle neben dem Quell blieb sie lange knien. Das Licht fiel durch ein kleines Fenster, tanzte auf ihren gefalteten Händen.
Je näher sie Aglona kam, desto mehr Pilger begleiteten sie. In ihren Gesichtern lag Erschöpfung, Hoffnung, manchmal Trauer. Für viele bedeutete diese Pilgerfahrt mehr als ein religiöser Akt – sie war Bitte, Buße, Sehnsucht.
Am Morgen des 15. August, Mariä Himmelfahrt, war das Feld vor der Basilika überfüllt. Die weiße Fassade glänzte in der Sonne, die beiden 60 Meter hohen Türme ragten wie Finger in den Himmel. Susanne stand ganz hinten, erhob sich auf die Zehenspitzen – nicht um zu sehen, sondern um zu beten.
Zwei Stunden stand sie in der Schlange, um vor das Gnadenbild zu treten. Andere murmelten Gebete, weinten, baten. Susanne blieb auch hier stumm. Und doch war ihr Gebet das lauteste: ein Atem, ein Flüstern der Seele, ein „Fiat“, das Maria galt.
In der Nacht zog die Lichterprozession durch Aglona. Tausende Kerzen, tausende Gesichter im Schein der Flammen. Die Pilger sangen, manche trugen Marienbilder, andere Blumen.
Susanne ging barfuß. Ihre Augen glänzten im Widerschein der Kerzen, aber ihre Lippen blieben geschlossen. Inmitten all dieser Stimmen war es ihr Schweigen, das den Himmel zu berühren schien.
Am nächsten Morgen empfingen Kinder ihre Erstkommunion. Jugendliche wurden gefirmt. Die Glocken der Basilika läuteten über dem See. Susanne stand still an der Mauer, betrachtete das Wasser, das klar und tief unter dem Sonnenlicht schimmerte.
Dann machte sie sich wieder auf den Weg – allein. Keine Verabschiedung, keine Worte. Nur das leise Klicken des Rosenkranzes in ihrer Hand, während sie sich entfernte.
Wer war Susanne? Eine Pilgerin, sagen die einen. Eine Heilige, meinen andere. Manche glauben, sie sei niemals angekommen, sondern immer noch unterwegs – durch Lettlands stille Wälder, zu einem Ziel, das kein Ort ist.
Aber wer einmal in Aglona war, an der Quelle getrunken, unter den Türmen gebetet, weiß: Solche Seelen hinterlassen Spuren. Auch ohne ein einziges Wort.
Es war an einem kühlen Augustmorgen, als Susanne, eine stille Frau mit leuchtendem Blick und dem festen Glauben an Gott und Maria, ihre Pilgerreise durchs Baltikum begann. Ihre Reise sollte sie von den lichten Wäldern Lettlands bis zu den windgepeitschten Küsten Estlands führen. Doch mehr als nur spirituelle Einkehr suchte Susanne in dieser Reise – sie wollte die Zeichen der Zeit erkennen, Gottes Wirken auch in der Welt der Technik, Wirtschaft und Gesellschaft spüren.
In Tallinn, der Hauptstadt Estlands, betrat Susanne durch das ehrwürdige Viru-Tor die mittelalterliche Altstadt. Die gepflasterten Gassen atmeten Geschichte, und doch war alles durchzogen von einer unübersehbaren Modernität. Hochhäuser umgaben die alte Kirche des St.-Johannes-Altenheims wie ein stummer Dialog zwischen Ewigkeit und Fortschritt. In der Nähe, vor der russischen Botschaft, standen Protestplakate gegen den Krieg in der Ukraine – ein stilles, eindrückliches Zeugnis der Gegenwart.
Während sie durch die Stadt wanderte, fiel ihr auf, wie anders hier das alltägliche Leben funktionierte. An einem kleinen Café wollte sie bar bezahlen, doch der Kellner lächelte freundlich und zeigte auf das Kartenlesegerät. „In Estland zahlt man mit der Karte oder dem Handy, sogar in der Kirche“, witzelte er. Tatsächlich wurde hier bereits 2011 der Euro eingeführt, doch Bargeld schien selten in Gebrauch zu sein. Für Susanne, die gewohnt war, in Deutschland mit Münzen ihre Opfergabe zu entrichten, war das eine kleine Umgewöhnung. Doch sie erkannte darin auch eine Offenheit für Neues – ein Vertrauen in das Unsichtbare, das auch ihren Glauben kennzeichnete.
Sie erinnerte sich an das, was sie in einem Reiseführer gelesen hatte: Estland sei der „baltische Tiger“ – eine Bezeichnung, die auf den erstaunlichen wirtschaftlichen Aufstieg seit 1991 hinweist. Nach dem Ende der sowjetischen Zentralwirtschaft habe das Land sich rasch zu einer Marktwirtschaft gewandelt. Schon 2008 herrschte nahezu Vollbeschäftigung, und auch Ende 2023 lag die Arbeitslosenquote bei nur 6,7 Prozent.
Während Susanne auf einer Bank Platz nahm, kam sie ins Gespräch mit einer jungen Frau, die als Entwicklerin bei einem Start-up arbeitete. Sie sprach mit Begeisterung von der estnischen Innovationskultur. „Skype? Bolt? Alles hier geboren!“, sagte sie stolz. Susanne staunte: Hatte nicht auch Jesus Fischer zu Menschenfischern gemacht? Vielleicht waren diese jungen Leute auf ihre Weise auch Missionare – nicht des Glaubens, aber des Fortschritts.
„In Estland kann man ein Haus kaufen, ein Auto anmelden und sogar heiraten, ohne das Haus zu verlassen – alles online“, erklärte die Entwicklerin weiter. „Nur zur Hochzeit selbst muss man noch persönlich erscheinen.“ Susanne lachte herzlich. „Da hat Gott wohl doch ein Wörtchen mitgeredet“, sagte sie.
Sie zog weiter, ließ sich treiben durch ein Land, das nicht nur mit skandinavischer Nüchternheit, sondern auch mit digitaler Weitsicht gesegnet war. Die engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Finnland, Lettland und Schweden spiegelten sich nicht nur in den Banken und Supermärkten wider, sondern auch in einer gewissen nordischen Gelassenheit, die Susanne tief berührte.
Abends betete sie in einer kleinen, modern ausgestatteten Kapelle. Statt Weihrauchschwaden lag der Geruch von Desinfektionsmittel in der Luft, aber Susanne störte das nicht. Sie dankte Gott für die Offenheit dieses Volkes, für seinen klugen Umgang mit der Zeit und für die Zuversicht, mit der es sich Herausforderungen stellte – sei es die Wirtschaftskrise 2009 oder die digitale Transformation, die viele andere Länder nur mühsam bewältigten.
In ihrem Reisetagebuch schrieb sie:
„Estland hat mir gezeigt, dass Glaube und Fortschritt keine Gegensätze sein müssen. Hier tanzen die mittelalterlichen Türme mit den digitalen Signalen im Einklang. Möge Gott diese Menschen segnen, die die Zukunft nicht fürchten.“
So endete Susannes Pilgerreise nicht mit einem dramatischen Höhepunkt, sondern mit einem stillen, inneren Frieden. In der Begegnung mit dem „baltischen Tiger“ hatte sie nicht nur ein modernes Land, sondern auch einen Teil von Gottes Schöpfung neu verstanden.
Christin Susanne war eine sanfte Seele mit leuchtenden Augen, einem Rucksack voller Rosenkränze und einem festen Ziel: eine Pilgerreise durchs Baltikum, auf den Spuren der stillen Heiligen, der verschwundenen Klöster – und ihrer eigenen Sehnsucht nach Einkehr. Sie war süß, wie ihre Freunde sie nannten, aber nicht naiv. Ihr Glaube trug sie, wie ein inneres Licht, durch das von Geschichte durchwobene Land, das sich zwischen Nord und Ost, Vergangenheit und Zukunft, Glaube und Zweifel spannte.
Tallinn empfing sie wie eine aufgeschlagene Chronik. Die Altstadt, mit ihren gotischen Türmen und der orthodoxen Alexander-Newski-Kathedrale, wirkte wie ein Mosaik aus dem Heiligen und dem Profanen. Christin Susanne zündete eine Kerze an, flüsterte ein Gebet für den Frieden – besonders für die Ostflanke Europas, wo die alten Wunden nie ganz heilten.
Am Rande eines kleinen Souvenirstandes entdeckte sie die estnische Euromünze. Kaum größer als ein Hostienblättchen, aber mit schwerem politischem Gewicht. Der Umriss Estlands auf der Münze – wie sie las – reichte in russisches Territorium hinein. Moskau hatte das als Provokation gewertet. Und obwohl 2011 endlich ein gemeinsamer Grenzvertrag unterzeichnet worden war – just im Jahr der Euro-Einführung – war das Misstrauen nie ganz verschwunden.
Sie blickte zum Himmel, über ihr die zarten Töne der estnischen Hymne, die dieselbe Melodie hat wie die finnische. In der dritten Strophe besingen die Esten: „Über Dich wache Gott / mein liebes Vaterland!“ – und Christin Susanne murmelte die Zeile leise mit, als Gebet für ein Land, das sich selbst noch suchte zwischen Ost und West.
Ein paar Tage später stand sie am Ufer des Peipussees. Er glänzte silbern im Morgenlicht, etwa sieben Mal so groß wie der Bodensee, ein scheinbar friedliches Gewässer, das doch ebenfalls eine Grenze markierte – zu Russland, zu Geschichten, die unter der Oberfläche brodelten.
Ein alter Mann in einem verbeulten Ruderboot winkte ihr zu. In gebrochenem Deutsch sagte er: „Hier war einmal Grenze... heute? Vielleicht immer noch.“ Christin Susanne nickte. Sie wusste um die NATO-Präsenz, die seit 2017 als Reaktion auf die russische Annexion der Krim in Estland rotierend stationiert war. Die Pilgerin betete auch für die jungen Soldaten – für die mit estnischem Namen ebenso wie für jene mit russischem Akzent.
Denn auch das hatte sie gelernt: 23 Prozent der estnischen Bevölkerung gehören zur russischsprachigen Minderheit. In Städten wie Narva oder Sillamäe, wo Häuser aus der Sowjetzeit wie Relikte vergangener Reiche wirkten, fühlte sich Estnisch manchmal fremder an als Russisch. Es war schwer, sich nicht zu fragen, ob Frieden mehr war als nur die Abwesenheit von Krieg.
In Riga, der lettischen Hauptstadt, nahm sie an einer katholischen Messe teil – sie war eine von wenigen, doch der Chor war kräftig, die Stimmen rein. Der Glaube im Baltikum war selten laut, oft versteckt gewesen, jahrzehntelang unterdrückt. Doch er war geblieben – wie sie selbst. Eine junge Ordensfrau erzählte ihr von der kleinen, aber wachsenden katholischen Gemeinde, von Konversionen, aber auch vom Pragmatismus vieler Letten. Der Glaube, sagte sie, sei hier weniger Romantik, mehr Überleben.
Am Ende ihrer Reise stand sie auf einem Hügel in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, und schaute zurück auf den Weg, den sie gegangen war. Drei Länder, drei Sprachen, drei Geschichten – und ein Strom an Erinnerungen.
Estland war für sie das größte Mysterium geblieben. Ein Land mit nur rund 1,3 Millionen Einwohnern, kaum größer als Niedersachsen, aber mit einer Staatsverschuldung von nur 20 Prozent des BIP – die niedrigste in der EU. In Deutschland, wo sie herkam, war die Verschuldung drei Mal so hoch. Und trotzdem: Trotz wirtschaftlicher Stärke war Estland ein Land unter Spannung, zerrissen zwischen Stolz und Sorge.
Am Abend schrieb Christin Susanne in ihr Tagebuch:
„Ich kam hierher, um Gott zu suchen. Gefunden habe ich ein stilles Ringen um Identität, ein Hoffen auf Frieden, ein Europa, das sich verteidigt – mit Waffen und mit Gebeten. Vielleicht ist das Baltikum der Ort, an dem wir am klarsten erkennen, wie zerbrechlich unser Zusammenleben ist. Und wie dringend wir Gott brauchen – nicht als Symbol, sondern als lebendige Hoffnung.“
Dann schlug sie das Buch zu, zog den Rosenkranz aus ihrer Tasche, setzte sich auf eine moosige Bank unter Birken – und betete. Für Estland. Für Russland. Für Europa. Für den Frieden.
Als die fromme Susanne an einem kühlen Augustmorgen in Tallinn ankam, war sie beseelt von einem einfachen Wunsch: im Geiste Marias durch das Baltikum zu wandern, die Spuren der Geschichte zu erspüren, Menschen zu begegnen – und vielleicht auch etwas von Gottes Wirken in einer Region zu entdecken, die einst unter sowjetischer Hand stand, nun aber ihre Seele zurückzugewinnen schien.
Ihr erstes Ziel war die Küstenstadt Sillamäe, deren Name in Estland noch immer einen düsteren Klang trägt. Während sie die menschenleeren Straßen entlanglief, lag eine bleierne Stille über dem Ort. Ein alter Mann auf einer Bank erzählte ihr leise von den Zeiten, als hier Uran abgebaut wurde, von der radioaktiven Verseuchung, die bis heute das Erdreich durchdringt. „Die Sowjets haben hier nicht nur Erde und Gestein ausgebeutet,“ sagte er, „sondern auch Menschen und Hoffnung.“ Susanne verharrte still, betete für die Wunden der Erde – und für die Seelen derer, die nie zurückgekehrt waren.
Weiter zog sie durch den Nordosten Estlands, wo einst ganze Landstriche vom Phosphoritabbau zerstört wurden. An einer abgegrabenen Grube stellte sie sich vor, wie einst Menschen gegen neue Minen protestierten – eine Bewegung, die später als „Phosphoritkrieg“ in die Geschichte einging. Die Umweltkampagne hatte nicht nur die Abbaupläne gestoppt, sondern war auch zum Katalysator der estnischen Unabhängigkeit geworden. Susanne, die sich immer gefragt hatte, wie Glaube und Engagement zusammengehen können, fand hier eine Antwort: Die Liebe zur Schöpfung war stärker als jede Unterdrückung.
In Narva verweilte sie kurz – ein Ort, an dem man die Zerrissenheit der Geschichte noch spürt. Die ethnische Vielfalt hier, von sowjetischen Behörden bewusst herbeigeführt, um nationale Identitäten aufzuweichen, hatte ihre Spuren hinterlassen. Susanne spürte den Wunsch der Menschen nach Zugehörigkeit, nach einem neuen Miteinander.
Doch nicht nur die Vergangenheit formte das Land. Als sie weiter Richtung Süden nach Tartu kam, hörte sie Stimmen der Hoffnung. Junge Menschen diskutierten auf einem Universitätsplatz über Estlands Energiepolitik. Sie sprachen vom Ölschiefer, der noch immer zur Stromgewinnung genutzt wird, von den damit verbundenen 11,5 Tonnen CO₂ pro Kopf, und davon, dass Estland dadurch früh unabhängig von russischem Gas war. Doch auch die Last der Asche, die entsorgt werden muss, wurde nicht verschwiegen.
Susanne fragte sich, warum die grüne Partei trotz all dessen so klein war, nicht einmal im Parlament vertreten. Doch sie spürte: Der Wandel braucht Zeit. In einem kleinen Gottesdienst in einer katholischen Kapelle betete sie für politische Einsicht und die Kraft zur Umkehr.
Als sie Riga erreichte, öffnete sich die Welt erneut. Lettland, so erfuhr sie, ist fast zur Hälfte von Wäldern bedeckt – 57 Prozent, mehr als in Bayern, aus dem sie stammt. Die Stille des Waldes war ihr Gebet, das Zwitschern der Vögel ihre Litanei. Doch auch hier spürte sie Gegensätze: Prosperität und Probleme lagen eng beieinander. Lettland schrumpft, die Bevölkerung sinkt, aber die Hoffnung lebt weiter.
Sie stand auf dem Gaiziņkalns, Lettlands höchster Erhebung mit seinen bescheidenen 311,5 Metern, und lächelte. Der Berg war klein, doch die Weite der Wälder um ihn herum war überwältigend. In einem abgelegenen Kloster traf sie einen jungen Pater, der Eishockey liebte – ganz Lettland sei stolz auf die Bronzemedaille bei der WM 2023, sagte er, und Susanne spürte, dass selbst Sport ein Ort für nationale Heilung sein konnte.
In ihren letzten Tagen in Vilnius verweilte sie in stiller Einkehr. Die baltischen Staaten hatten gelitten, geblutet, aber sie standen. Ihre Wunden waren nicht verheilt, aber sie trugen sie mit Würde. Susanne verließ das Baltikum nicht als Touristin, sondern als Pilgerin, die Gottes Handschrift selbst in Phosphoritgruben, Uranstaub und dem Schatten der Vergangenheit erkannt hatte.
„Gott wirkt auch in der Asche“, schrieb sie in ihr Tagebuch.
Und sie wusste: Diese Reise hatte sie verändert.
Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, als Susanne ihren schweren Rucksack auf die Schultern hob und sich vom kleinen Klosterhof in Vilnius verabschiedete. Es war Anfang Mai, das Gras feucht vom Tau, und in ihrer Hand hielt sie den Rosenkranz, den ihr einst eine alte Benediktinerin in Lourdes geschenkt hatte. Sie war eine marianische Christin, mit tiefer Liebe zur Gottesmutter und einer wachen Aufmerksamkeit für die Zeichen Gottes in der Welt. Ihre Pilgerreise sollte sie durch Litauen, Lettland und Estland führen – drei Länder, die zwar katholische Wurzeln hatten, doch in der Gegenwart mit anderen Realitäten rangen.
Riga empfing Susanne mit einer Mischung aus hanseatischem Glanz, sowjetischer Nüchternheit und stiller Hoffnung. Am Abend ihres Ankommens besuchte sie die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale. Sie kniete sich in eine hintere Bank, die Hände um den Rosenkranz gefaltet, und betete für Einheit – in Europa, in den Herzen der Menschen, in der Kirche.
Doch schon am nächsten Tag kam sie in Berührung mit der anderen Seite Lettlands. Im Gespräch mit einer jungen Journalistin, die sie beim Frühstück in einem Gästehaus traf, lernte sie von den tiefen Spannungen im Land.
„Wissen Sie“, sagte die Frau, während sie an ihrem schwarzen Kaffee nippte, „unsere Verfassung ist eine der ältesten Europas. Sie stammt noch aus dem Jahr 1922 – das ist ein Teil unseres Stolzes. Obwohl sie zwischenzeitlich von der Sowjetmacht außer Kraft gesetzt war, ist sie seit Anfang der 90er Jahre wieder gültig.“
Susanne horchte auf. Verfassungen waren für sie immer wie ein Spiegel der Seele eines Volkes.
„Erst spät“, fuhr die Frau fort, „wurde Lettisch in Artikel 4 als Amtssprache festgeschrieben. Es gab sogar 2012 ein Referendum, ob Russisch zweite Amtssprache werden soll. Aber das wurde abgelehnt.“
Susanne dachte an die russischsprachigen Menschen, die sie in einem Bus nach Daugavpils getroffen hatte. Freundlich, aber in sich gekehrt. Wie Geister, denen ein Zuhause fehlte.
„Fast 200.000 von ihnen sind staatenlos“, sagte die Journalistin leise. „Und viele haben sich nie einbürgern lassen, obwohl sie seit Jahrzehnten hier leben. Vielleicht, weil sie nicht müssen – sie dürfen visafrei reisen. Und doch gehören sie nie ganz dazu.“
Susanne spürte das Gewicht dieser Worte auf ihrem Pilgerherzen. Wie oft hatte auch Maria auf der Flucht leben müssen – nach Ägypten, ohne Status, ohne Sicherheit, nur mit dem Vertrauen auf Gott.
In einem kleinen Dorf nahe Ludza, unweit der russischen Grenze, lernte Susanne einen Pfarrer kennen, der ihr vom neuen Grenzzaun erzählte.
„Drei Meter hoch, 276 Kilometer lang, gebaut seit 2016“, sagte er, während sie auf einer Bank im Pfarrgarten saßen. „Früher war da nur Wald. Jetzt stehen da NATO-Soldaten. Eine multinationale Kampfgruppe, wissen Sie? Als Schutz gegen Moskau.“
Susanne blickte in die Weite. Die friedliche Natur stand in seltsamem Kontrast zu der politischen Spannung, die sie spürte.
„Wir stehen fest an der Seite der Ukraine“, sagte der Pfarrer. „Aber natürlich haben wir Angst. Moskau hat oft vorgegeben, Russen im Ausland schützen zu wollen. Das macht uns verwundbar.“
Die Madonna aus Holz, die im Garten stand, war von Wind und Wetter gezeichnet. Und doch lächelte sie – unerschütterlich.
Wirtschaftlicher Aufbruch und Unsichtbare Wunden
In Jelgava kam Susanne mit einem jungen Start-up-Gründer ins Gespräch, der sie am Bahnhof aufhob, als sie müde und verloren wirkte.
„Wir sind ein baltischer Tiger, sagen sie“, lachte er. „Aber wissen Sie – nach der Finanzkrise 2008 war nicht viel mit Tiger. Unsere Wirtschaft ist fast um 15 Prozent eingebrochen, die Arbeitslosigkeit war katastrophal.“
Susanne erinnerte sich an die zerfallenen Fabriken, die sie an der Peripherie der Stadt gesehen hatte – Überbleibsel einer Industriezeit, als sowjetische Arbeitskräfte ins Land strömten und die ethnische Balance fast kippen ließen.
„Heute sind wir besser dran“, sagte der junge Mann. „Aber Litauen und Estland sind uns oft ein paar Schritte voraus. Und die Grenzen zu Belarus und Russland? Ein Dauerthema. Die illegale Migration... 2023 gab es Tausende Grenzübertritte.“
Am letzten Tag ihrer lettischen Etappe stand Susanne auf einem Hügel bei Sigulda. Vor ihr breitete sich ein weiter Wald aus, durchzogen von Nebel, still wie ein Gebet. In der Ferne rief eine Amsel.
Sie nahm ihren Rosenkranz in die Hand. Ihre Gedanken gingen zurück zu all den Begegnungen, Fakten, Ängsten, Hoffnungen.
Was bedeutete es, marianisch zu leben, in einer Welt, die so komplex, so gespalten, so politisch war? Vielleicht war es das: Mit Maria zu wandern, mitfühlend, aufrecht, lauschend. Und die Geschichten der Menschen in sich aufzunehmen wie einen Psalm.
Als sie die Grenze nach Estland überquerte, fühlte sich Susanne nicht als Fremde. Sie fühlte sich als Pilgerin, als Hörende, als Trägerin von all dem, was ihr begegnet war. Lettland hatte sie nicht nur mit seiner Geschichte berührt – sondern mit seinem tiefen Ringen um Identität, Sicherheit und Gnade.
Und vielleicht, dachte sie, betete Maria gerade auch für Lettland. Ganz still. Ganz treu.
Es war ein kühler Augustmorgen, als Susanne in Tallinn ankam – mit festem Schuhwerk, einem wetterfesten Rucksack und einem Rosenkranz, den sie einst von ihrer Großmutter geerbt hatte. Ihre Reise war kein gewöhnlicher Urlaub, sondern eine Pilgerreise durch das Baltikum – eine Suche nach innerer Einkehr, Begegnung mit Gott, und einem tieferen Verständnis für die Welt jenseits der Nachrichten.
Tallinn, die Hauptstadt Estlands, lag noch im morgendlichen Nebel, doch Susanne fühlte sich sofort willkommen. Die mittelalterliche Altstadt wirkte wie ein stilles Gebet in Stein. Hier begann ihr Weg – durch Estland, Lettland und Litauen, geführt vom Glauben, doch offen für alles, was sie unterwegs begegnen würde.
In Riga angekommen, traf sie auf eine ganz andere Atmosphäre. Die lettische Hauptstadt wirkte lebendiger, aber auch schwerer. Etwas lag in der Luft – vielleicht war es die Last der Gegenwart.
In einem kleinen Café sprach Susanne mit Marta, einer jungen Lehrerin. Sie erzählte ihr von den Schwierigkeiten des Landes:
„Seit Corona und dem Krieg in der Ukraine ist alles teurer geworden“, sagte Marta mit müdem Blick. „2022 hatten wir eine Inflation von über 17 Prozent. Und doch verdienen wir nicht mehr. Die Kaufkraft sinkt – bei uns liegt der Index nur bei 74. In Litauen sind es 89, in Estland 87. Selbst Rumänien ist vor uns.“
Susanne hörte zu, schweigend, nur ihre Finger glitten über den Rosenkranz. Ihre Gedanken gingen zu Maria, der Trösterin in Zeiten der Not.
Später wanderte sie entlang der Düna, vorbei an grauen Wohnblöcken und stillen Kirchen. In einer davon betete sie allein, während draußen die Berufspendler in Bussen und alten Autos vorbeizogen. Der Priester, ein alter Mann mit ruhiger Stimme, sprach nach der Messe mit ihr über das soziale Netz Lettlands.
„Wir haben viele arme Menschen“, sagte er. „Fast ein Viertel unserer Bevölkerung ist armutsgefährdet. Das Netz ist zu grobmaschig. Doch der Glaube… der Glaube hilft uns zu tragen.“
Und doch war da auch Hoffnung. Susanne war beeindruckt, als sie von Lettlands Vorreiterrolle bei den erneuerbaren Energien hörte.
„Wir sind klein, ja“, sagte ein junger Ingenieur, den sie in einem Hostel kennenlernte, „aber 42 Prozent unserer Energie kommen aus erneuerbaren Quellen – vor allem aus Wasserkraft. Wind wäre schön, bei 500 Kilometern Küste, aber... wir haben kaum Windparks.“
Er lachte bitter. „Kohle, Gas, Öl – alles importieren wir. Dafür haben wir kaum CO₂-Ausstoß pro Kopf. Wenigstens da.“
Susanne betrachtete den Fluss, der träge durch Riga floss. In der Bewegung des Wassers erkannte sie eine stille Kraft – wie den Glauben, der unbeirrt weiterfließt, auch wenn die Umstände hart sind.
Riga – einst Metropole des Baltikums – verlor Einwohner. Susanne las in einer Zeitung, dass fast ein Drittel der Letten in Riga lebten, aber die Zahl sinke.
„Die jungen Leute gehen weg“, erzählte ihr eine ältere Frau im Park. „In den Westen. Nach Irland, nach Deutschland. Schon seit Jahren. 2008, zur Finanzkrise, gingen 200.000. Jetzt... jetzt kommen wieder Menschen – aus der Ukraine.“
2022 wuchs Lettland zum ersten Mal seit Jahrzehnten – 22.000 neue Einwohner, ein Zuwachs von 0,39 Prozent.
Susanne begegnete einer geflüchteten Familie aus Charkiw. Die Mutter trug ein Kreuz um den Hals. In stiller Übereinkunft schwiegen sie gemeinsam in einer Kirche. Verschiedene Sprachen, gleicher Glaube.
Auf dem Domplatz stand eine Skulptur der Bremer Stadtmusikanten. Susanne schmunzelte – ein Stück Heimat im fernen Lettland. Doch sie erinnerte sich an die Botschaft des Märchens: Gemeinsam sind wir stark. Selbst wenn wir alt, schwach oder verwundet sind.
In Litauen, ihrer letzten Station, kam Susanne erschöpft, aber erfüllt an. In der Kapelle der Heiligen Faustyna in Vilnius, vor dem berühmten Bild „Jesus, ich vertraue auf dich“, ließ sie sich nieder.
Sie dachte an all die Begegnungen, die Worte, die Blicke. An Armut, Hoffnung, Exil und Energie. An ein Land, das kämpft – und betet. Und sie wusste: Diese Reise hatte ihren Glauben nicht nur vertieft, sondern geerdet.
Susanne, eine zierliche Frau mit braunem Zopf, zog sich das schwere Leinengewand über und schnürte die Schuhe, die sie bereits auf vielen Pilgerwegen getragen hatte – durch Bayern, über die Alpen, durch das Elsass und zuletzt bis nach Tschenstochau. Doch nun hatte sie ein neues Ziel: das Baltikum.
Nicht aus Abenteuerlust oder bloßer Reiselust. Nein – ihre Reise war ein stiller Schwur. In einer Zeit, da die Welt sich so oft dem Vergessen hingab, wollte sie erinnern. Erinnern an Glauben, an Leid, an Hoffnung. Mit ihrem Rosenkranz, einem zerlesenen Reisepsalter und einem kleinen Holzkreuz begann sie ihre Pilgerreise an der lettischen Küste.
In Riga begegnete sie als Erstes dem bekannten Märchenbild – Esel, Hund, Katze und Hahn, gestapelt wie bei den Bremer Stadtmusikanten. Doch hier, in der lettischen Hauptstadt, standen die Tiere nicht frei im Raum, sondern zwischen zwei gewaltigen Stahlträgern. Susanne trat näher.
Ein Schild verriet: Die Skulptur war ein Geschenk der Stadt Bremen an ihre Partnerstadt Riga – 1990, in einer Zeit des Wandels. Der "Eiserne Vorhang", den die Träger symbolisierten, war nur leicht geöffnet. Doch diese Öffnung hatte gereicht, um Freiheit zu ermöglichen. Die Tiere blickten trotzig in den Spalt – als wollten sie sagen: „Wir gehen hindurch – zusammen.“
Susanne faltete die Hände. Ihre Lippen bewegten sich stumm: „Friede sei mit dieser Stadt.“
Tage später stand Susanne auf der Hohen Klippe von Saka, der Wind zerrte an ihrem Mantel. Vor ihr ragte ein Denkmal empor – schlicht, aus Stein und Eisen – es erinnerte an das Ende der deutschen Präsenz in Estland. Die Umsiedlung der Deutschbalten, ein stilles Kapitel europäischer Geschichte, hatte hier ihren symbolischen Ort.
Ein älteres Paar stand ebenfalls dort, schweigend. Susanne trat einen Schritt näher und fragte leise: „Habt ihr jemanden verloren?“
„Mein Großvater wurde hier verabschiedet“, sagte der Mann. „Er war kein Held. Nur ein Bäcker aus Reval – heute Tallinn. Aber die Zeit ließ keinen Platz für Bäcker.“
Susanne blickte aufs Meer hinaus. Es war grau, unendlich, voller Geschichten.
In Narva, der estnischen Grenzstadt zu Russland, schritt Susanne durch die alten Straßen, die einst von deutschen, schwedischen und russischen Soldaten gleichermaßen durchquert worden waren. Von der estnischen Seite aus konnte sie die mächtige russische Festung Iwanogorod sehen, trutzig, kalt.
„Frieden ist hier ein schmaler Grat“, sagte ein Priester, dem sie in einer kleinen orthodoxen Kapelle begegnete. „Doch wir halten ihn – jeden Tag.“
In dieser Stadt, wo Sprachen und Kulturen aufeinanderprallten, betete Susanne für Versöhnung. Für Brücken, wo Mauern drohten.
Die Gedenkstätte bei Šķēde, außerhalb von Liepāja, ließ sie schweigen. Hier, inmitten von Dünen, waren über 3.000 Juden im Zweiten Weltkrieg ermordet worden. Es war still, nur das Meer rauschte.
Susanne kniete nieder und legte einen kleinen Stein auf eine der Tafeln. Dann holte sie eine Seite aus ihrem Psalter hervor, auf der sie die Namen aufgeschrieben hatte, die sie noch finden konnte – Namen von Menschen, deren Leben hier ausgelöscht worden war.
„Gott vergesse sie nicht“, flüsterte sie.
Ihre Reise endete in Tallinn, einst Reval genannt. Die engen Gassen, das Pflaster, die Türme – sie atmeten Geschichte. In einer alten lutherischen Kirche zündete Susanne eine Kerze an.
Sie erinnerte sich an das, was sie auf ihrer Reise gelernt hatte: Dass Estland – obwohl geografisch „baltisch“ – sprachlich und ethnisch ganz anders war. Dass die Menschen hier von finno-ugrischen Wurzeln stammten, dass das Estnische näher am Finnischen war als am Lettischen.
Doch so verschieden sie auch waren – Esten, Letten, Litauer – sie alle teilten die Erfahrung, von außen beherrscht worden zu sein. Die Kreuzritter, die Reformation, die Zaren, die Sowjets – sie alle hatten ihre Spuren hinterlassen.
Als Susanne heimkehrte, trug sie keinen Schatz mit sich, kein Reliquiar, keine Heiligenstatue. Nur ein kleines Stück Sand von Šķēde. Ein Fetzen Birkenrinde aus Saka. Und eine Karte mit einem Spruch, den sie in Riga gefunden hatte:
"Es gibt ein Europa des Krieges – und eines der Hoffnung. Wähle, zu welchem du gehörst."
Die Sonne stand tief über dem Hafen von Tallinn, als Susanne ihr kleines Gepäck auf den Rücken lud. Ein schlichtes Kreuz baumelte um ihren Hals, ihr Rosenkranz klirrte leise bei jedem Schritt. Die katholische Christin aus Bayern war gekommen, um das Baltikum zu durchwandern – betend, hörend, sehend. Ein spiritueller Weg durch Estland und Lettland, getragen vom Glauben und begleitet von der Geschichte dieser Länder.
Susanne begann ihren Weg in der Altstadt von Tallinn, wo mittelalterliche Kirchen zwischen moderner Geschäftigkeit stehen. In der Alexander-Newski-Kathedrale verweilte sie lange im stillen Gebet – ein Symbol für das lange Ringen der baltischen Völker zwischen Ost und West.
In der Ferne glänzte das Freiheitskreuz auf dem Domberg – 2009 errichtet, erinnerte es an den estnischen Freiheitskrieg von 1918 bis 1920. Susanne spürte Ehrfurcht, als sie davor stand. „Herr, schenke Frieden, wo einst Blut vergossen wurde“, flüsterte sie.
Die Geschichte war für sie nicht bloß Kulisse – sie war Mahnung und Offenbarung. Im kleinen Museum nahe des Sängerfestplatzes Lauluväljak lernte sie von der Singenden Revolution: Wie 1988 über 300.000 Esten in Tallinn alte Lieder anstimmten, um sich der sowjetischen Herrschaft zu entledigen. „Mu isamaa, mu õnn ja rõõm“ – Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude. Auch Susanne stimmte leise mit ein, allein in der leeren Halle.
Die Spuren der Sowjetzeit waren überall. Alte Plattenbauten, verlassene Industriekomplexe, rostige Kräne – die Schwerindustrie, ein trauriges Relikt aus dunkleren Tagen. Susanne las über die systematische Russifizierung im 19. Jahrhundert, den Verlust der deutschen Sprache als Amtssprache, die Verdrängung nationaler Identitäten. Und doch – gerade in dieser Zeit hätten sich die Völker nicht verloren, sondern ihre Wurzeln wiederentdeckt: Sängerfeste, Zeitungen, Vereine – ein Erwachen trotz Unterdrückung.
In Tartu, dem alten Dorpat, verweilte sie einen Tag im Gebet in der katholischen Gemeinde St. Peter. Die Gläubigen waren wenige, aber ihre Stimmen klangen stark. Inmitten der protestantischen Mehrheiten war der Katholizismus im Baltikum eine stille Minderheit – und dennoch lebendig.
In Riga spürte Susanne eine andere Schwere. Der Wind wehte kalt über den Brīvības piemineklis, das Friedensdenkmal. Hier, 1987, hatten sich 5.000 Menschen zur ersten offenen Demonstration gegen die Sowjets versammelt. Susanne zündete eine Kerze an. „Für die Mutigen, die nicht schwiegen.“
Sie besuchte das ehemalige KZ Salaspils – dort, wo die NS-Schergen mit lokalen Kollaborateuren das jüdische Leben nahezu ausgelöscht hatten. Susanne konnte kaum atmen. Ein Viertel der Bevölkerung verloren, hieß es. Sie betete für die Seelen der Opfer – Juden, Christen, Andersdenkende.
Auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Saldus las sie Namen – Namen, wie sie auch aus ihrem bayerischen Dorf stammen könnten. Die Geschichte verband sie, auf schmerzliche Weise.
Auf ihrem Weg traf Susanne immer wieder auf kleine katholische Gemeinden – in Estland oft lettischer Herkunft, in Lettland gemischt mit Polen, Litauern, Russen. Nur etwa 60 % der Letten seien ethnische Letten, hörte sie, und in Estland machten die Esten selbst nur etwa 65 % der Bevölkerung aus. Ein Erbe der sowjetischen Besiedelungspolitik, die das Land mit Arbeitskräften für die Industrie füllte.
Doch in jeder Kirche, so klein sie war, brannte das ewige Licht. Ein Zeichen der Hoffnung – des Überdauerns.
Als Susanne am letzten Tag ihrer Reise an der Ostseeküste stand, blickte sie zurück. Ihr Herz war schwer von der Geschichte, aber leicht vom Geist. Sie hatte gebetet an Orten der Dunkelheit, gesungen in Hallen der Freiheit, geweint in Lagern der Vernichtung.
Der Katholizismus im Baltikum war kein dominierender Glaube – aber ein treuer. Wie eine Kerze im Wind, standhaft trotz aller Stürme.
Susanne kniete im Sand und zeichnete ein Kreuz.
„Danke, Herr, dass ich gehen durfte – und sehen. Dass ich erinnern durfte – und hoffen.“
Dann stand sie auf – und ging heim.
Die Sonne ging golden über dem Hafen von Tallinn auf, als die heilige Susanne ihren Fuß auf baltischen Boden setzte. Ihre Sandalen, staubbedeckt vom langen Weg durch Europa, berührten nun die gepflasterten Straßen der estnischen Hauptstadt, deren Schönheit wie ein stilles Gebet im Morgenlicht lag. Sie war gekommen, um zu pilgern. Nicht zu einem heiligen Grab, sondern zu den Menschen – in ein Land, das trotz seiner Größe großes Leid, Hoffnung und Wandel in sich trug.
Estland war für Susanne kein unbekannter Ort. Schon in früheren Jahren hatte sie gespürt, wie sich die baltischen Staaten wie Salz und Pfeffer in der großen Suppe Europas verhielten – kleine, scharfe und unentbehrliche Gewürze, die unter der Herrschaft fremder Mächte dennoch ihre Seele bewahrt hatten. Nun aber war das Land in Alarmbereitschaft. Nicht nur wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022, sondern weil schon Jahre zuvor hybride Bedrohungen wie Cyber-Angriffe und Luftraumverletzungen die Ruhe gestört hatten.
Susanne wusste: Das Baltikum lebte seit 2014 unter einem Schatten. Seit der Annexion der Krim durch Russland hatte sich das Gefühl der Unsicherheit wie eine kalte Decke über Estland, Lettland und Litauen gelegt. Sie spürte es in den Augen der Menschen, die sie in Tallinn traf – stille Resignation, aber auch Entschlossenheit.
In einer kleinen Kapelle, nahe der Altstadt, legte sie ihre Hände auf die bröckelnde Mauer und betete. Für die Ukraine. Für die baltischen Länder. Für die Russen, die hier lebten und sich zerrissen fühlten zwischen Herkunft und Heimat. Viele von ihnen hatten keinen estnischen oder lettischen Pass – waren „Nichtbürger“, obwohl sie seit Jahrzehnten hier lebten. Ihre Loyalität wurde hinterfragt, ihre Existenz politisch instrumentalisiert.
„Frieden ist nicht still“, flüsterte Susanne. „Er ist das Ringen um Gerechtigkeit.“
Sie zog weiter, über die Grenze nach Lettland. Der Weg nach Riga war von Wind durchweht, Felder und Wälder zogen vorbei wie Erinnerungen. In Riga angekommen, kniete Susanne an der Gedenkstätte des KZ Salaspils. Der Boden, der dort unter ihren Knien bebte, schien noch die Schreie der Vergangenheit zu tragen. In diesem Land war Geschichte kein ferner Traum – sie war Gegenwart.
In Saldus, einem kleinen Ort im Westen Lettlands, traf Susanne auf das, was ihr Herz zutiefst bewegte. In einem unscheinbaren Kellerraum der Peter-und-Paul-Kirche ging mitten in der Nacht ein Licht an. Svetlana Malberga, eine Frau mit einem Gesicht wie aus Stein gemeißelt, stand am Herd. Es roch nach Brühe, nach Dill, nach Armut und Hoffnung. „Heute gibt es Rosolnik“, sagte Svetlana mit sanfter Stimme – eine Salzgurkensuppe, einfach, aber warm. Neben ihr stand Daiga Ročkus, Anwältin und Präsidentin der Malteser in Lettland. Sie erzählte Susanne von der Suppenküche, die jeden Morgen 90 hungrige Seelen versorgte.
„Die Not ist groß“, sagte sie. „Auf dem Land gibt es kaum Arbeit. Aber wir haben Glaube. Und Suppe.“
Susanne nickte. Es war mehr als nur Essen, das hier verteilt wurde. Es war Würde.
Später, als sie im stillen Gebet unter dem weiten lettischen Himmel stand, dachte sie an die NATO-Truppen, die nun an den Grenzen präsent waren. Auch Deutschland hatte Soldaten geschickt – als Zeichen der Entschlossenheit. Doch sie wusste: Der wahre Schutz kam nicht allein durch Waffen, sondern durch Menschen wie Svetlana, durch Gemeinschaften, die halfen, wo Politik scheiterte.
Ihre Reise endete nicht hier. Aber der baltische Teil ihres Weges würde sie nie verlassen. Sie war gekommen, um das Heilige im Profanen zu finden – und hatte es gefunden: in einer dampfenden Schüssel Rosolnik, in einem Keller voller Licht, in der Stimme einer russischstämmigen Lettin, die das Brot teilte.
Und so schrieb sie in ihr Pilgerbuch:
„Lettland und Estland sind nicht nur Länder am Rand Europas – sie sind sein Gewissen. Ihre Wunden sind offen, aber ihre Herzen brennen. Die heilige Reise führt nicht immer nach Rom. Manchmal geht sie durch Saldus.“
Susanne spürte es schon, als sie aus dem Bus stieg: Diese Reise war anders. Nicht nur ein Streifzug durch Städte, Kirchen und stille Wälder – sie war eine Reise zu den Menschen, in ihre Not, ihre Würde, ihren Glauben. Die Luft in Riga war klar, ein wenig herb, das Licht golden, wie es nur die Spätsommer der nördlichen Länder schenken können.
Die tiefgläubige Katholikin hatte sich aufgemacht, das Baltikum zu durchqueren – von Tallinn bis Vilnius – auf den Spuren alter Glaubenswege, zwischen Klöstern, Wallfahrtskirchen und Hilfsprojekten. Ein stilles Pilgern, geführt vom Rosenkranz in ihrer Jackentasche, vom Vertrauen in Gott und Maria – und von der Sehnsucht, mehr zu sehen als nur Fassaden.
In Lettland führte ihr Weg sie in das kleine Städtchen Saldus, wo sie sich dem Dienst der Malteser anschloss – für ein paar Tage helfen, bevor sie weiterziehen wollte. Doch was sie dort erlebte, ließ sie innehalten.
Die Suppenküche im Keller der Peter-und-Paul-Kirche war kein Ort des Komforts. Tische, Stühle – Fehlanzeige. Die Bedürftigen kamen mit alten Gläsern, Tupperdosen oder Konservendosen. Jeder brachte, was er hatte. In einer Ecke schwang Jurgis Malbergs die Suppenkelle. Sein Gesicht wirkte müde, doch seine Bewegungen waren geübt, liebevoll fast. Neben ihm stand Svetlana, seine Frau, die tagein, tagaus in der kleinen Küche warme Mahlzeiten vorbereitete. Meist Suppe – sättigend, einfach, gut.
„Die Menschen hier haben nicht viel“, sagte Svetlana mit leiser Stimme zu Susanne. „Aber sie haben Würde. Und Hunger.“
Susanne half, so gut sie konnte. Sie lernte Aina Vieško kennen, eine 78-Jährige mit klarem Blick. Aina lebte alleine, im fünften Stock eines maroden Plattenbaus. Früher arbeitete sie auf einer Kolchose. Heute blieb ihr nur eine schmale Rente von 345 Euro. „Zu wenig“, sagte sie schlicht. „Aber Gott sei Dank gibt es die Suppe.“
Die Zahlen, die Susanne erfuhr, ließen sie erschrecken: Durchschnittlich 419 Euro Rente – bei fast gleichen Preisen wie in Deutschland. Doch das war nur ein Teil des Problems. Lettland, so hörte sie von Inese Motte, der Generalsekretärin der Malteser, sei zwar EU-Mitglied, „aber das ist eher ein Titel – kein Zustand.“ Die Inflation, besonders im Jahr 2022 mit 17,2 Prozent, habe viele Menschen über Nacht abgehängt.
Susanne war beeindruckt von Inese. Eine studierte Theologin, die nun einen Abschluss in Sozialarbeit machte und die Malteserbewegung in Lettland mit aufgebaut hatte. „Gerade alte Menschen brauchen uns“, sagte sie, und ihre Augen funkelten vor Engagement.
Zwischen Gebeten, dem Austeilen von Essen und dem Zuhören wurde Susanne immer stiller. Sie begann zu begreifen: Pilgern bedeutete nicht nur, Kirchen zu besuchen, sondern auch, in den Hunger der Welt hineinzusehen – und trotzdem das Licht nicht zu verlieren.
Am Abend, als sie allein in der kleinen Kapelle saß, betete sie für Aina, für Svetlana und Jurgis, für Inese – und für all jene, die vergessen sind, obwohl sie mitten unter uns leben.
„Maria, hilf mir, zu sehen, was Du siehst“, flüsterte sie. Und sie wusste: Ihre Reise hatte erst begonnen.
Susanne war nicht wie andere Pilger. Wo andere schweigend beteten, redete sie. Wo andere mit gesenktem Blick liefen, schaute sie den Menschen in die Augen. Sie war Mitte vierzig, trug eine weinrote Windjacke, einen Rosenkranz um das Handgelenk und ein Notizbuch in der Tasche – „um die Wunder aufzuschreiben, die keiner sieht“, wie sie sagte. Ihre Pilgerreise durchs Baltikum war keine Wallfahrt im üblichen Sinn. Sie suchte nicht nur Gott, sondern auch Geschichten von Hoffnung, Leid und gelebter Barmherzigkeit.
In Lettlands Hauptstadt, wo die glänzenden Bürotürme der Banken in den Himmel ragen, begegnete Susanne zuerst dem Kontrast dieser Welt: ukrainische Flüchtlinge, gestrandet in einem Land, das ihnen Schutz bot – aber keinen Frieden. In einem Seitenflügel der Altstadt, wo einst ein altes Lagerhaus gestanden hatte, fand sie das Zentrum der Malteser. Dort traf sie auf Ivanna, eine Mutter aus Charkiw. Mit müden Augen, aber fester Stimme sagte sie: „Ohne die Lebensmittelpakete der Malteser wäre es für uns hier nicht möglich zu überleben.“
Susanne durfte helfen, Pakete zu packen. Es roch nach Schwarzbrot, Dosenfisch, Haferflocken – einfache Dinge, und doch waren sie für viele ein Segen. Nebenan liefen Sprachkurse, und im hinteren Raum sprach eine Psychologin leise mit einer jungen Frau, die kaum den Blick heben konnte. Susanne stand still und faltete die Hände. Sie schrieb später: „Der Krieg brüllt laut, aber Barmherzigkeit flüstert. Und dennoch hört man sie – wenn man still genug ist.“
Im Bistum Liepāja, in Saldus, kam Susanne an einem regnerischen Nachmittag an. Der BONIBus, ein sonnengelber Neunsitzer aus Deutschland, parkte vor dem Gemeindezentrum. Daiga, die Koordinatorin der Malteser vor Ort, begrüßte Susanne herzlich. Sie lud sie ein, mit auf die Runde zu kommen. Erste Station: Renata Druviņa, 87 Jahre alt, lebte in einem kleinen Holzhaus am Waldrand. Die Tür klemmte, der Wind pfeifte durch die Ritzen. Renata kochte mit Holz und duschte neben dem Herd. Sie lächelte, als sie Susanne sah.
„Ich kann kaum noch kochen“, sagte Renata, „aber die Malteser bringen mir warme Suppe. Ich lebe noch, weil jemand an mich denkt.“
Susanne fühlte in diesem Moment mehr Gebet als in mancher Kirche.
Zurück in Riga wollte Susanne einen Ort besuchen, von dem sie gehört hatte: Das Bethlehem-Haus der Barmherzigkeit. Sie wurde dort von Dana Anskaite empfangen, der Leiterin, die 2011 den Mut gehabt hatte, einen Zufluchtsort zu schaffen, wo es nur Hoffnung, aber kein Geld gab. Susanne war beeindruckt von Danas Klarheit: „Fünf Jahre lebten wir nur von der Barmherzigkeit Gottes.“
Im Haus traf sie Alesja, 33 Jahre alt, früher drogenabhängig. Ihre kleine Tochter spielte auf dem Teppich mit Bauklötzen. „Ich lerne gerade, wie man lebt – nicht nur überlebt“, sagte sie. Das Bethlehem-Haus war ein Ort der Heilung. Therapie, Gebet, Arbeit – drei Säulen, auf denen viele neue Leben ruhen durften.
Susanne verließ das Baltikum verändert. In ihrem Notizbuch stand am Ende ein letzter Satz:
„Ich bin nicht nur durch Länder gegangen – ich bin durch Herzen gegangen. Und überall, wo Barmherzigkeit wohnt, wird Gott sichtbar. Still. Einfach. Und unaufhaltsam.“
Seit Februar 2022 leben Tausende ukrainischer Geflüchteter in Lettland, vor allem in Riga.
Die Malteser betreiben dort einen Anlaufpunkt mit Lebensmittelhilfe, Sprachkursen und psychologischer Beratung.
In Saldus betreibt das Bistum Liepāja eine Suppenküche, unterstützt durch einen BONIFATIUS aus Deutschland.
Weniger als 10 % der Bevölkerung im Bistum Liepāja sind katholisch – die Hilfe geschieht in der Diaspora.
Das Bethlehem-Haus in Riga wurde 2011 gegründet und wird seit 2016 auch von der Stadt unterstützt. Es bietet Menschen mit Suchterfahrungen einen Weg zurück ins Leben.
Der Himmel über Riga war an diesem Abend ein schwerer Kelch aus Blei, aus dem der Regen tröpfelte wie ein unruhiger Segen. Susanne trat ein in das „Haus am halben Weg“, dessen Name in ihren Ohren wie eine Prophezeiung klang. Hier, so wusste sie, verweilten Seelen, die bereits durch die ersten Feuer der Prüfung gegangen waren und nun im Zwielicht der Geduld auf ihre Auferstehung warteten.
Die Küche war klein, das Licht warm wie Kerzenflammen im Marienmonat. Männer saßen um einen Tisch, als wären sie Brüder im selben Gelübde. Arvis, der schon neun Monate in dieser Archenkammer verweilte, sprach von seinen zwölf Schritten, als wären sie die steinernen Stufen zu einem himmlischen Tor. Oskars, dessen Stimme tief wie das Meeresrauschen der Daugava klang, sagte:
„Mein Programm ist der Rest meines Lebens.“
Susanne dachte an die Worte des Apostels Paulus: „Ich laufe, um das Ziel zu ergreifen.“
Unten im Keller arbeitete Priester Mariušs, wie ein heiliger Josef unter den Werkbänken. Er schmiedete Geduld aus Holz und Wachs, schuf aus den Resten der Dunkelheit kleine Lichtträger – Kerzen, die in den Händen der Brüder zu Gebeten werden würden.
Am folgenden Tag führte ihr Weg hinaus in die Weite Lettlands, zum Bauernhof in Olaine. Dort atmete die Erde langsam, wie eine alte Kreatur unter dem Schnee. Schafe blökten im Nebel, Ziegen blickten sie an mit den Augen von Kindern, die nicht wissen, wie die Welt außerhalb der Weide schmeckt. Hier, in der Abgeschiedenheit, gab es keinen verlockenden Apfel, nur den Acker, den Himmel und das langsame Reinwerden.
Dana, die Leiterin, sprach zu Susanne wie eine Wächterin am Rand eines Klosters: von steigenden Preisen, vom Traum einer Solaranlage, von der Notwendigkeit, standhaft zu bleiben. „Wir haben schon ganz andere Dinge gemeistert“, sagte sie – und Susanne hörte darin das Echo der Jungfrau Maria unter dem Kreuz.
Als die Nacht herabstieg, ging Susanne weiter. Hinter ihr lag das Haus am halben Weg, vor ihr der Pfad nach Norden. Doch in ihrem Herzen wusste sie: Jeder Schritt, den sie nach außen tat, führte sie zugleich tiefer in das unsichtbare Reich, in dem Gott die zerbrochenen Krüge des Lebens sammelt und füllt. Und so betete sie leise, während sie weiterging:
„Fiat voluntas tua.“
Als Susanne an diesem kühlen Frühlingsmorgen Riga betrat, roch die Luft nach Regen und altem Kopfsteinpflaster. Ihre Pilgerreise hatte sie schon durch Estland geführt, vorbei an stillen Kirchen in Tallin und den salzigen Winden der Ostseeküste. Doch hier, in Lettlands Hauptstadt, wartete etwas anderes auf sie – nicht nur eine Kathedrale, sondern ein Herzschlag.
Geführt von einer inneren Stimme – vielleicht war es der Heilige Geist, vielleicht nur die Freude am Entdecken – fand sie sich im Stadtteil Torņakalns wieder. Durch eine geöffnete Tür drangen pulsierende Rhythmen: Shakira, und zwar laut. Verwundert trat sie ein und stand plötzlich mitten in einem Raum voller Kinder und Jugendlicher, die lachend den Zumba-Schritten einer jungen Frau folgten. „Tse dobre!“, rief die Trainerin. Ukrainisch.
Später erfuhr Susanne, dass diese junge Frau aus Schytomyr geflohen war und hier im Caritas-Jugendzentrum nicht nur tanzte, sondern auch Hoffnung schenkte. An den Wänden hingen bunte Plakate: Englischkurs, Lettisch für Anfänger, Kreativworkshops. Die Luft roch nach Tee und frischer Farbe.
Susanne setzte sich zu einer Gruppe junger Leute, die Karten spielten und zwischendurch Englisch und Lettisch durcheinanderwarfen. Sie hörte ihnen zu, und etwas in ihr wusste: Hier geschieht Evangelium – nicht in Predigten, sondern in Lachen, Freundschaften und kleinen Gesten.
Am nächsten Tag half sie beim Lettischkurs. Sie konnte nur wenige Worte, aber sie lachte, als die 19-jährige Anhelina ihr die Melodie der lettischen Sprache erklärte. „Es ist wie ein Lied“, sagte Anhelina. Susanne nickte – und dachte: Ja, und Gott ist der Komponist.
Sie blieb einige Tage, half beim Abendprogramm, betete in einer kleinen Kapelle um die Ecke und sprach mit Arta, der Leiterin des Zentrums. Diese erzählte von der Vision, einen Ort zu schaffen, an dem junge Menschen – lettische wie ukrainische – ihre Talente entdecken, ihre Herzen öffnen und lernen, füreinander einzustehen.
Als Susanne weiterzog, hinaus nach Litauen, trug sie kein Souvenir bei sich. Nur Bilder im Herzen: tanzende Jugendliche, dampfende Teetassen, Karten auf einem Holztisch – und den tiefen Frieden zu wissen, dass Gott auch dort wirkt, wo Shakira im Hintergrund singt.
Als Susanne an diesem warmen Sommerabend durch die kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt von Riga schlendert, hat sie den Eindruck, dass die Stadt nicht schläft. Musiker spielen in Straßencafés, Touristen bleiben vor den verzierten Jugendstilfassaden stehen, und irgendwo riecht es nach frisch gebackenem Brot.
Sie folgt dem Klang einer Kirchenglocke und steht plötzlich vor der strahlend weißen Kirche der Schmerzhaften Maria. Daneben fällt ihr eine unscheinbare Tür auf, über der in geschwungenen Buchstaben „Brīnumu sadraudzība“ steht. Darunter liest sie: Miracle Fellowship.
Neugierig öffnet sie die Tür. Drinnen ist es warm, hell und einladend. An einem kleinen Tresen steht ein Priester mit dunklen Augen und freundlichem Lächeln – Vinay Kamath, wie sie später erfährt, ein Missionar aus Bombay. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee mischt sich mit dem leisen Murmeln der Gespräche.
„Alles kostenlos“, sagt er, als Susanne zögernd nach einer Tasse greift. „Nicht, weil wir reich sind – sondern weil Gott gibt, ohne zu fordern.“
Sie setzt sich an einen Tisch, wo eine junge Frau mit lebendigen Augen gerade ein Brettspiel aufbaut. Laura Barkovska heißt sie, erzählt von ihrem Weg zum Glauben, davon, wie Menschen sie mit Freundlichkeit und Geduld geprägt haben. Susanne spürt, wie ihre Reise nicht nur durch Länder, sondern auch durch Herzen führt.
Das „Miracle Fellowship“ ist kein stilles Kloster, kein Ort der Abgeschiedenheit – es ist laut, bunt und offen. Hier spricht man Lettisch, Englisch, manchmal auch nur mit Gesten. Kaffee, Kekse, ein Stück Pizza – alles wird geteilt, als gehöre es ohnehin allen.
Als Susanne später wieder auf die Straße tritt, leuchten die Fenster der kleinen Gemeinschaft wie ein Herzschlag in der Nacht. Sie geht weiter – nicht nur durch Riga, sondern auf ihrem eigenen inneren Weg, dankbar für diese unerwartete Station, an der sie Gottes Liebe schmecken, hören und sehen durfte.
Als Susanne an jenem klaren Herbstmorgen die schmale Klostera iela in Riga betrat, wusste sie noch nicht, dass sich hinter der unscheinbaren Fassade der Hausnummer 5 ein kleines Wunder verbarg. Manchmal, so erfuhr sie, verwandelte sich das Haus in ein Restaurant – aber eines ganz besonderer Art: Gedeckt wurde nicht für Gruppen oder Touristen, sondern ausschließlich für verheiratete Paare.
„Laulāto kurss – der Ehekurs“, erklärte ihr Dainis Stikuts, ein Mann mit warmem Blick und dem ruhigen Selbstbewusstsein von fast dreißig Ehejahren. Gemeinsam mit seiner Frau Baiba leitete er diese Abende, die mehr waren als ein gemeinsames Mahl. „Paare brauchen eine gemeinsame Tradition“, sagte er, „etwas, das nur ihnen gehört – wie ein Essen zu zweit.“ Manche Abende standen sogar unter dem Motto „Rendezvous“, um den Funken langjähriger Liebe neu zu entfachen.
Susanne sah, wie die Paare einander zuhörten, leise lachten, einander ansahen wie früher. Baiba erzählte: „Im Alltag geht das oft verloren. Die Kirche bringt dann wieder Romantik.“ Dainis lachte bei diesen Worten, doch seine Augen verrieten, dass er es ernst meinte.
Ein paar Straßen weiter, im Terēzes māja, erlebte Susanne eine andere Art von Zuwendung. Dort arbeitete Anna Dombrovska, Physiotherapeutin mit einem Herz, das so weit schien wie die baltische Landschaft. Vor Susanne kniete ein kleines Mädchen auf allen Vieren auf einer Matte, hob das rechte Bein und streckte vorsichtig den linken Arm nach vorne. „Ļoti labi!“ rief Anna, und das Kind lachte – so sehr, dass es fast umkippte.
Hier, in diesem Caritas-Haus, bekamen Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen kostenfrei Therapie – Ergo, Musik, Physio. „Mein Ziel ist es, ihnen zu zeigen, dass sie wertvoll sind“, sagte Anna später. Susanne sah die Geduld in Annas Händen, das tiefe Verständnis in ihrem Blick. „Manchmal“, gestand Anna, „muss ich den Plan ändern, weil das Kind heute etwas anderes braucht. Fortschritt kommt langsam – und jedes Leben hat seinen eigenen Rhythmus.“
Als Susanne das Theresienhaus verließ, spürte sie, dass diese Pilgerreise nicht nur über Kopfsteinpflaster und durch gotische Gassen führte. Sie war auch ein Weg durch die Herzen der Menschen – dorthin, wo Liebe, Geduld und Glaube still und leise Wunder wirken.
Der Himmel über Riga war grau, doch in Susannes Herz brannte ein leises Feuer. Sie war gekommen, um Spuren Jesu in der Ferne zu suchen – nicht in alten Kathedralen allein, sondern in den Gesichtern der Menschen.
Ihr Weg führte sie an einem Donnerstag ins Theresienhaus, einem Ort, der von der Caritas Lettlands getragen wird. Sie hatte gehört, dass hier Kinder und junge Erwachsene mit Behinderungen Unterstützung finden – zumindest solange, bis der Staat seine Hilfe einstellt, oft schon mit dem 18. Lebensjahr.
Vor der Tür begegnete sie Dārta, einer jungen Frau mit leuchtenden Augen, die an der Hand ihrer Mutter Vlada kam. Die beiden strahlten, als sie hereinkamen. Drinnen erklang das Rumpeln einer Waschmaschine, und Dārta stieß einen Freudenschrei aus. Susanne musste lächeln – hier wurde Freude nicht gezügelt, sondern willkommen geheißen.
Lina Dančauska, die Leiterin des Hauses, führte Susanne durch die Räume. „Viele dieser Kinder“, sagte sie, „wurden früher versteckt. In der Sowjetzeit zählte nur der gesunde Werktätige. Die Folgen spüren wir noch heute – auf den Straßen, in den Köpfen.“
Susanne spürte die Last dieser Worte. Doch sie sah auch die Gegenkraft – die warmen Hände, die Musiktherapie, das Schälen von Kartoffeln, das gemeinsame Lachen.
Abends kehrte sie in die kleine Kapelle zurück, die an eine katholische Schule angeschlossen war. Dort hingen Kreuze in den Klassenräumen, das „Vaterunser“ war an die Wand geschrieben. Schüler hatten eine Wandzeitung gestaltet, und im Religionsunterricht lasen sie nicht nur die Evangelien, sondern sprachen auch über Philosophie und Theater.
Susanne dachte an Jesu Worte: „Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“
Auf ihrer Pilgerreise hatte sie nicht nur Kirchen gesehen, sondern Kirche gelebt – in einem Theresienhaus, in einer Schule, in den Herzen von Menschen, die einander trugen.
Und so schrieb sie in ihr Tagebuch:
"Im Baltikum lernte ich, dass Pilgern nicht heißt, viele Kilometer zu gehen, sondern viele Grenzen zu überqueren – vor allem die, die in unseren Köpfen sind."
Als Susanne an diesem kühlen Herbstmorgen die Tür des katholischen Gymnasiums in Riga öffnet, schlägt ihr sofort eine warme, fast familiäre Atmosphäre entgegen. Es riecht nach frisch gebackenen Brötchen aus der kleinen Schulküche, und irgendwo im Flur erklingt leises Lachen.
Die Direktorin, Frau Jermakoviča, empfängt sie herzlich und führt sie durch helle Klassenräume. Dabei spricht sie von einem Konzept, das Susanne sofort berührt: Wertebildung im Mathematikunterricht.
„Wir wollen, dass unsere Schüler vor allem an sich selbst arbeiten“, sagt Jermakoviča mit einem leisen Lächeln. „Ehrlichkeit – das ist unser aktuelles Thema, fächerübergreifend. Auch in Mathe.“ Susanne erfährt, dass die Kinder hier nicht nur Formeln lernen, sondern auch darüber sprechen, warum es nicht richtig ist, bei Tests zu schummeln, und wie wichtig es ist, fair zu bleiben – sich selbst und anderen gegenüber.
In einer Ecke des Schulhofs trifft Susanne Pater Ivars Juhņevičs, den Jesuitenpater und Schulseelsorger. Er spricht ruhig, fast wie jemand, der das Meer lange betrachtet hat. „Ich sehe in allen Schülern das Kind und Werk Gottes“, sagt er. Zwei Mal pro Woche feiert er mit ihnen Gottesdienst – freiwillig, und doch ist die Kirche oft voll.
Der 17-jährige Rojs, den Susanne in einer Pause kennenlernt, erzählt, wie die Schule seinen Glauben gestärkt hat. „Hier lernen wir Liebe, Freundlichkeit und Ehrlichkeit – Dinge, die wir im Leben brauchen.“ Sein Freund Markuss, der seit der ersten Klasse hier ist, nickt zustimmend, auch wenn er selbst zugibt, nicht immer „nach den Regeln“ zu leben.
Susanne spürt: In dieser Schule ist Bildung nicht nur Wissensvermittlung. Es ist eine leise, aber kraftvolle Formung von Herz und Verstand – und sogar in Mathematik geht es um weit mehr als Zahlen.
Als sie am Nachmittag wieder auf den Straßen Rigas steht, denkt sie: Vielleicht liegt die wahre Pilgerreise nicht nur im Gehen von Ort zu Ort, sondern im Entdecken solcher Inseln von Sinn und Wärme – mitten im Alltag.
Als Susanne nach langen Stunden auf holprigen Straßen die estnische Universitätsstadt Tartu erreichte, lag ein leiser Nieselregen über den Kopfsteinpflastern. Der Himmel spannte sich wie eine matte Glasglocke über den Fluss Emajõgi, und irgendwo in der Ferne läuteten Glocken – ein seltener Klang in diesem Land, in dem kaum jemand sonntags zur Kirche geht.
Ihr Ziel war das Tartu Katoliku Hariduskeskus, das katholische Bildungszentrum, von dem sie auf ihrer Wallfahrtsroute durch das Baltikum gehört hatte. Es lag unscheinbar zwischen Wohnhäusern, kein pompöses Kirchenportal, kein Weihrauchduft, sondern ein freundlicher, heller Bau. Dort empfing sie Liina Tamm, die Direktorin – eine Frau mit wachen Augen, die selbst vom lutherischen Glauben zum Katholizismus konvertiert war.
Liina sprach ruhig, fast wie jemand, der weiß, dass er täglich gegen einen unsichtbaren Strom anrudert. In Estland, erzählte sie, seien nur 0,5 Prozent der Menschen katholisch. „Wir können uns keine Blase leisten“, sagte sie, während sie durch einen hellen Flur gingen, in dem Kinderzeichnungen hingen. „Von unseren fast 500 Schülerinnen und Schülern sind nur zehn Prozent katholisch. Aber hier müssen sich auch lutherische Kinder oder Kinder ohne Glauben nicht schämen, wenn sie von Gott sprechen.“
Susanne merkte, wie sehr Liina an diesem Ort arbeitete wie eine Gärtnerin in karger Erde – geduldig, ohne zu erwarten, dass jedes Samenkorn aufgeht. Sie sprach auch von den Schatten der Sowjetzeit, in der Religion nicht nur misstrauisch beäugt, sondern staatlich unterdrückt wurde. „Viele Menschen wissen gar nicht, was wir glauben. Manche fragen mich, ob ich Nonnenkleidung tragen muss, nur weil ich hier arbeite.“ Liina lächelte dabei, aber in ihren Augen lag ein Hauch Müdigkeit.
In einem Klassenzimmer erzählte ein Junge namens Pärtel, er sei aus einer nichtgläubigen Familie. „Aber hier lerne ich etwas über Religion – das ist gut. In anderen Schulen erfährt man nichts davon.“ Neben ihm nickte seine Mitschülerin Silvia, für die die christliche Ausrichtung ein „großes Plus“ sei.
Später, als Susanne das Gebäude verließ, blieb sie kurz auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen, vor der Kirche, in der die Schulgottesdienste gefeiert werden. Sie dachte an die Worte Liinas: „Wir zeigen, dass Katholiken nicht beißen.“ In dieser nördlichen Diaspora, wo der Glaube wie ein leiser Bach unter gefrorenem Eis fließt, war dieses Bildungszentrum ein warmer Quell.
Und Susanne ging weiter – mit dem Gefühl, dass Wallfahrten manchmal nicht nur zu alten Kathedralen führen, sondern auch zu kleinen Schulen, in denen Hoffnung unterrichtet wird.
Der Wind von der Ostsee wehte kühl, als Susanne nach Liepāja kam. Die Stadt im Westen Lettlands wirkte zunächst unscheinbar, doch ihr Ziel war klar: die kleine „Liepājas Katoļu pamatskola“. Schon von außen wirkte das Schulgebäude wie ein Relikt vergangener Zeiten – ein Vorkriegsbau, der nun als provisorisches Zuhause für 170 Kinder diente.
Direktorin Elvita Vizule begrüßte Susanne mit einem warmen Lächeln, das sofort Geborgenheit ausstrahlte. „Hier zählt jeder einzelne Mensch“, sagte sie, während sie über die schmale Rampe ging, die zwei rollstuhlfahrenden Kindern den Zugang zum Hochparterre ermöglichte. Die Klassen waren klein, fast schon familiär, und Susanne spürte sofort, wie hier nicht nur Köpfe, sondern Herzen gebildet wurden. Algebra wurde unterrichtet, ja – aber stets verbunden mit Lebensweisheiten: wie man Rückschläge annimmt, wie man gemeinsam weitergeht.
Susanne erkannte: Diese Schulen waren kleine Leuchttürme des Glaubens in einem Land, in dem Katholiken nur eine Minderheit bildeten. Sie erfuhr, dass es in ganz Lettland nur drei katholische Schulen gab – und doch waren sie Orte, an denen Kinder nicht nur über den Glauben lernten, sondern ihn im Alltag lebten.
Ein paar Tage später stand Susanne in Riga, im Hafenviertel. Hier fuhren keine Fischerboote vor, sondern ein italienischer Lastwagen, vollgeladen mit Nudeln, Zucker und Tomatensoße. Die Malteser entluden Kiste um Kiste – Lebensmittel für hunderte ukrainische Flüchtlinge. Zwischen Konservendosen und Mehlsäcken erzählte Inese Motte, Generalsekretärin der Malteser Lettland, von ihrer Arbeit: Essenspakete verteilen, Sprachkurse organisieren, psychologische Hilfe leisten.
Susanne half mit und trug Taschen in den Keller. Dabei spürte sie, wie hier christliche Nächstenliebe nicht nur gepredigt, sondern gelebt wurde – in jedem Lächeln, in jeder helfenden Hand.
Später besuchte sie noch das Jugendzentrum der Caritas, wo Ukrainer und Letten gemeinsam bastelten, lachten, tanzten. „Für viele ist es schwer, hier Freundschaften zu schließen“, erklärte die Leiterin Arta Zepa, „aber manchmal beginnt Gemeinschaft einfach damit, dass man zusammen einen Papierstern ausschneidet.“
Für Susanne war klar: Ihre Wallfahrt war nicht nur ein Weg zu Gott, sondern auch eine Reise zu den Menschen, die seinen Auftrag im Alltag umsetzen – still, unscheinbar, aber mit einer Kraft, die Berge versetzen konnte.
Der Morgennebel hing noch schwer über den Feldern, als Susanne ihren Rucksack wieder schultern musste. Ihre Wallfahrt hatte sie von Estland bis nach Lettland geführt – auf schmalen Wegen zwischen Birkenwäldern, über holprige Landstraßen und durch stille Dörfer, deren Kirchendächer wie kleine Leuchttürme aus der Landschaft ragten.
In Aglona, einem berühmten Marienwallfahrtsort, verweilte sie länger als geplant. Dort begegnete sie Menschen, deren Geschichten nicht nur von Glauben, sondern auch von Widerstandskraft erzählten. Unter ihnen war eine kleine Gruppe aus Riga, die im Rahmen der Ukraine-Hilfe der Kirche unterwegs war. Sie luden Susanne zu einer landestypischen Mahlzeit ein – Roggenbrot, Hering, Rote-Bete-Salat und ein dampfender Teller Borschtsch, den man in Solidarität mit ukrainischen Flüchtlingsfamilien anbot.
Während sie aß, hörte sie von den Projekten der Caritas: Essenspakete, Kunstaktionen für Kinder, Begegnungsräume für Menschen, die ihre Heimat verloren hatten. Eine Frau erzählte, wie der Erzbischof von Riga selbst Räume organisiert hatte, damit geflüchtete Kinder ihre Bilder ausstellen konnten.
Am nächsten Tag, in Riga, kam Susanne zufällig in den Dom, wo Erzbischof Zbigņevs Stankevičs mit Gemeindemitgliedern sprach. Er redete nicht wie ein ferner Würdenträger, sondern wie jemand, der den Staub der Straßen kennt: von Säkularisierung, vom Schwinden der Kirchenbänke, aber auch von neuen Gemeinschaften, Glaubenskursen und der Kraft, hinauszugehen zu denen, die nicht von selbst kommen.
Susanne merkte, dass ihre Wallfahrt nicht nur aus den Kilometern bestand, die sie lief, sondern aus den Begegnungen, die sich wie Perlen an einer Schnur reihten. Die Mahlzeit mit den Helfern, das Lachen der Kinder in den improvisierten Ateliers, das ernste, aber hoffnungsvolle Wort des Erzbischofs – all das war Teil ihres Weges.
Als sie am Abend am Flussufer stand und das Wasser in der Dämmerung glitzerte, begriff sie: Pilgern hieß nicht nur, zur Gottesmutter zu gehen, sondern mit offenen Augen durch eine Welt zu ziehen, in der Glaube sich in Brot, Farbe und Gemeinschaft verwandelt.
Der Wind vom Meer war frisch und salzig, als Susanne früh am Morgen in Tallinn ankam. Die Türme der Altstadt ragten wie stille Wächter über das Pflaster, das schon Jahrhunderte lang Pilger, Händler und Soldaten getragen hatte. Für Susanne war es der Beginn einer Reise, die nicht nur durch das Baltikum führen, sondern auch tief in die Geschichte und das Herz einer kleinen, aber lebendigen Kirche hineinreichen würde.
Ihr Weg führte sie zur Kathedrale St. Peter und Paul, wo Bischof Philippe Jean-Charles Jourdan – der erst zweite katholische Bischof seit der Reformation in Estland – die Messe zelebrierte. Er war ein Mann mit wachen Augen und einer Stimme, die zugleich sanft und fest klang. Nach der Liturgie sprach er mit ihr und den anderen Wallfahrern über die Situation der Kirche in Estland: eine kleine Gemeinschaft, eine Brücke zwischen Esten und russischsprachigen Gläubigen, zwischen lutherischer Tradition und orthodoxer Spiritualität.
Susanne spürte, wie sehr hier jeder Schritt der Kirche auch ein Schritt in die Gesellschaft hinein sein musste. Sie erfuhr von der katholischen Schule in Tartu, die nicht nur Bildung, sondern auch Begegnung ermöglichte – eine leise, aber wirkungsvolle Evangelisierung.
In den Gesprächen tauchten auch die Schatten der Gegenwart auf: der Krieg in der Ukraine, die Spannungen mit Russland. Der Bischof sprach klar, ohne Hass, aber mit dem unerschütterlichen Willen, die Wahrheit zu sagen. Fake News, Gerüchte – all das wollte er mit Aufklärung und Bildung entkräften.
Von Estland führte Susannes Pilgerweg weiter nach Lettland, wo die katholische Kirche stärker verwurzelt ist. In Riga, in den alten Kirchen mit ihren barocken Altären, spürte sie eine andere Atmosphäre: mehr Gläubige, mehr Priester, aber dieselbe Sehnsucht nach Frieden und Treue zum Evangelium.
Am Ende ihrer Wallfahrt stand Susanne wieder am Meer, diesmal in Liepāja. Sie dachte an die Worte des Bischofs: „Ich hoffe, wir können bald ein Bistum werden.“ Und sie begriff, dass solche Hoffnungen nicht in großen Gesten, sondern in kleinen, treuen Schritten wachsen – so wie ihre eigene Pilgerreise: Schritt für Schritt, im Vertrauen, dass Gott den Weg führt.
Als Susanne nach Liepāja kam, spürte sie sofort die besondere Mischung aus Weite, Wind und geistiger Tiefe. Die Ostsee rauschte hinter den Mauern von Karosta, dem einstigen Kriegshafen der russischen und später sowjetischen Flotte. Dort, wo früher Soldaten exerzierten und Kinder russischer Marineoffiziere zur Schule gingen, ertönte nun wieder Lachen, Gebet – und manchmal das Knistern einer Suppenkelle im Gemeinschaftsraum der katholischen Gemeinschaft Chemin Neuf.
Seit 2011 lebt hier eine kleine Gruppe von Menschen mit einer großen Mission: Glaube, Gemeinschaft und Hoffnung in einer Region zu stärken, in der Katholiken eine winzige Minderheit bilden. Auf zehn Einwohner kommt in der Diözese Liepāja nur ein Katholik. Schwester Bianca aus Deutschland, das Ehepaar Błażej und Katrīna mit ihrem dreijährigen Sohn, und einige junge Erwachsene gestalten das Leben in diesem „Hafen des Friedens“.
Błażej, einst Priesterkandidat in Polen, hatte seine Berufung im Familienleben gefunden – und in der Gemeinschaft. „Hier glaubt man nicht nur, man lebt den Glauben“, sagte er zu Susanne, während er mit kräftigen Händen Bretter für den Kapellenbau zurechtschnitt. Die Kapelle, so überdimensioniert sie für eine Handvoll Bewohner wirkt, soll bald während Einkehrwochen und Treffen über hundert Menschen fassen können.
Susanne lernte an diesem Tag auch die jungen Katholiken kennen, die aus Riga angereist waren: Rojs, Alisa, Markuss und Sintija – alle um die 18. Sie erzählten von einem Leben zwischen Kirchgang und Partys, zwischen jugendlicher Freiheit und der ernsten Gegenwart eines Krieges in der Nachbarschaft. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 liegt ein Schatten über vielen Gesprächen. Rojs sprach leise über die Wehrpflicht, die Lettland wieder eingeführt hat. „Ich freue mich nicht darauf, eingezogen zu werden“, meinte er, „aber vielleicht lernt man auch etwas Wichtiges – Disziplin, Zusammenhalt.“
Am Abend nahm Susanne an der Liturgie teil. Das warme Kerzenlicht der provisorischen Kapelle spiegelte sich in den Augen der Kinder, die zwischen den Bänken umherliefen. Sie dachte an die Worte Katrīnas: „Gott hat einen Plan mit uns, auch wenn wir ihn noch nicht ganz sehen.“
Und vielleicht, so spürte Susanne, war dieser Plan schon im Werden – hier, in einem alten Kriegshafen, der zum Hafen des Friedens geworden war.
Es war ein klarer, kühler Sonntagmorgen in Tallinn. Nach der Messe in der Peter-und-Paul-Kirche roch es im Gemeindesaal nach starkem Kaffee und frisch gebackenen Keksen. Susanne trat ein und sah ihn: Bischof Philippe Jourdan, mitten unter den Menschen, eine Tasse Tee in der Hand, ein Lächeln im Gesicht. Er lachte über eine Bemerkung einer älteren Dame, beugte sich dann zu einem jungen Mann hinunter, um ihm zuzuhören.
„Er ist so nahbar“, flüsterte Liis Kilk neben ihr, „man kann ihn alles fragen.“ Susanne nickte. Es war spürbar, dass hier nicht die Distanz eines hohen Amtes herrschte, sondern die Wärme einer kleinen, starken Gemeinschaft.
Liis erzählte, wie sie erst vor einem Jahr getauft worden war. „Ich war 38 – eine sehr junge Katholikin“, lachte sie. Neben ihr stand Jaak, ein Freund, der sie in die Kirche gebracht hatte, nachdem er selbst nach Jahren der Abkehr zurückgefunden hatte.
Und da war Lennart, ein Journalist, der sich einst aus intellektuellem Interesse für den Glauben zu öffnen begann – und geblieben war. „Man kann spirituell nicht allein wachsen“, sagte er. Susanne dachte darüber nach, wie oft sie selbst auf ihrem Weg von anderen getragen worden war.
Später, in Riga, lernte sie drei junge Männer kennen – David, Emanuel und Jonathan. Sie kamen aus Spanien, Texas und Miami, sprachen noch kaum Lettisch, hatten Schnee zum ersten Mal berührt und doch beschlossen, hier zehn Jahre zu bleiben, um Priester zu werden. Ihr Zuhause war ein schlichtes Einfamilienhaus in Marupe – das „Redemptoris Mater“-Seminar.
„Wir leben hier unseren Glauben in Gemeinschaft“, sagte David. Und Susanne wusste: Das war es, was sie auf dieser Wallfahrt immer wieder fand – nicht nur Orte, sondern Menschen, die bleiben, tragen, teilen.
Der Wind von der Ostsee trug an diesem Morgen den Duft von Salz und Herbstlaub nach Tallinn. Ich stand vor dem schlichten Gebäude, das seit drei Jahren jungen Männern aus allen Himmelsrichtungen Europas eine Heimat bietet – dem Seminar des Neokatechumenats. Bischof Philippe Jourdan selbst hatte sie hierhergerufen. „Das ist unsere große Hoffnung für die Zukunft“, sagte er mit leiser Stimme, als er mich begrüßte. Ich spürte, dass dieser Satz hier kein frommer Wunsch war, sondern ein stilles Ringen gegen den Mangel an Berufungen.
Weiter führte mich mein Weg nach Riga. In der „Katoļu iela“ – der katholischen Straße – liegt das „Redemptoris Mater“, ein Haus mit Mauern, die Geschichten atmen. Es hatte den Kommunismus überstanden, ja, war zuweilen das einzige Seminar der ganzen Sowjetunion. Jetzt wohnen hier nur noch sieben Seminaristen. Regens Marcins Vozņaks blickte ernst, als er von der „Krise der Berufungen“ sprach. Doch dann lächelte er sanft: „Zum Seminar beruft nicht der Mensch. Gott ruft – und wir helfen, seinen Ruf zu verstehen.“
Henriks Rektiņš, 29, empfing mich in einem kleinen Arbeitszimmer voller Bücher. Früher hatte er Tourismus studiert, doch es erfüllte ihn nicht. „Ich lebte, wie ich wollte“, erzählte er, „bis ich beschloss, mich von Gott führen zu lassen.“ Seine Worte trugen die Schwere und das Leuchten einer Entscheidung, die täglich geprüft wird.
Neben ihm saß Arturs Supe, kaum zwanzig, mit wachen Augen. Seine Eltern sind nicht gläubig; es war die Großmutter, die ihn zur Erstkommunion schickte. „Wenn Gott ruft, folgt man“, sagte er einfach. Später möchte er in ein Dorf zurück, wo man noch selbst Hand anlegt und die Erde kennt.
Am nächsten Tag führte mein Weg zum RARZI, dem Hochschulinstitut für Religionswissenschaften. In den Gängen roch es nach frischem Kaffee, Stimmen hallten von den Wänden. Žanete Narkēviča, die Direktorin, begrüßte mich mit festem Händedruck. Sie sprach von Studiengängen, die mit der Lateranuniversität in Rom verbunden sind, und von Studierenden, die trotz geringer Aussicht auf hohen Lohn ihre Wochenenden dem Studium widmen. Lutheraner, Baptisten, Katholiken – alle vereint von dem Wunsch, tiefer zu verstehen.
Besonders stolz erzählte sie von Kursen zur Prävention sexualisierter Gewalt – eine Seltenheit in Lettland – und von Absolventen, die als erste Ständige Diakone geweiht wurden. „Es ist eine Zukunft“, sagte sie, „die nicht laut ist, aber trägt.“
Und so endete meine Wallfahrt im Baltikum nicht mit dem Anblick einer großen Prozession oder eines vollen Seminars, sondern mit dem stillen Vertrauen jener Menschen, die Tag für Tag den Ruf Gottes beantworten.
Zwischen den stillen Kirchen Estlands und den windgepeitschten Straßen Rigas habe ich verstanden: Hoffnung kann leise sein – aber sie wächst, wenn man sie lebt.
Der Morgen in Sigulda roch nach feuchtem Sommergras und den ersten Klängen einer Orgelprobe. Als Susanne die schwere Holztür der Herz-Jesu-Kirche aufstieß, erwartete sie das gedämpfte Licht eines heiligen Ortes – und fand sich stattdessen in einem Raum wieder, der halb Kirche, halb Fernsehstudio war. Mehrere Kameras blickten stumm auf den Altar, Kabel liefen wie schwarze Lianen hinauf zur Empore, wo Monitore flackerten und Regler blinkten.
Hinter der Technik stand Pfarrer Rihards Rasnacis, ein Mann mit wachem Blick und der Energie eines Menschen, der nie nur einen Plan hat. „Ich bin ein Nerd, was Technik angeht“, sagte er lächelnd, während er mit einem Knopfdruck das Bild von der Lektorin zum Altarraum wechseln ließ. Hier, in Sigulda, wurde Liturgie nicht nur gefeiert, sondern auch gesendet – ins Internet, zu Gläubigen, die von zu Hause aus teilnahmen.
Doch die wahre Kraft dieser Gemeinde lag nicht in den Kabeln, sondern in den Händen ihrer Menschen. Rasnacis hatte einen Pfarrgemeinderat ins Leben gerufen, etwas Seltenes im Baltikum, und mit ihm einen mutigen Plan: zwanzig Jahre in die Zukunft zu denken. „Eine Kirche ist nicht nur ein Raum zum Gebet“, erklärte Harijs Teteris, der Vorsitzende des Rates. „Sie muss Herz einer Gemeinschaft sein.“
Während Susanne den Chor auf der Empore hörte, verstand sie, was er meinte. Kristiāna Eglīte, die Chorleiterin, sang mit einer Hingabe, die den ganzen Körper erfasste – ihr Chor trug den Gottesdienst, und manchmal das ganze Dorf.
Doch nur wenige Stunden später, weit im Osten Estlands, sah Susanne das andere Gesicht der katholischen Kirche im Baltikum. Sillamäe – eine Stadt, die einst nicht einmal auf den Landkarten stand. Ihre Vergangenheit als sowjetische Rüstungs- und Uranstadt hing noch immer wie ein Schatten über den grauen Häusern.
Pfarrer Grzegorz Senkowski begrüßte sie in einer kleinen Kapelle nahe der Ostsee. Der Wind trug das Rauschen der Wellen herein, während in den Bänken kaum ein Dutzend Gläubige saß. „Unsere Gemeinde stirbt aus“, sagte er leise. Viele seien fortgezogen oder alt geworden, und die Pandemie habe den Schwund beschleunigt.
Susanne spürte hier eine andere Art von Glauben – stiller, fast zerbrechlich, doch unbeirrbar. Zwischen den kräftigen Chorstimmen von Sigulda und den leisen Gebeten von Sillamäe spannte sich ein weiter Bogen, und sie wusste: Beides war lebendige Kirche.
Als sie am Abend ihre Kerze entzündete, dachte sie daran, dass Wallfahrten nicht nur zu heiligen Orten führen, sondern zu den Herzen der Menschen, die dort glauben – ob im Klang eines großen Chors oder im Flüstern einer kleinen Kapelle am Meer.
In den stillen Gassen Tartus, wo der Nebel frühmorgens über die alten Pflastersteine kriecht, macht sich Susanne auf den Weg. Ihre Schritte sind leise, fast wie ein Flüstern zwischen den ehrwürdigen Mauern der Stadt, die seit Jahrhunderten zwischen Ost und West, Glaube und Zweifel steht.
Vor dem Gottesdienst in der kleinen Kapelle Narvas, dort, wo nur ein unscheinbares Kreuz den Eingang ziert, falten einige Menschen ihre Hände und beten den Rosenkranz. Der Klang ihrer Stimmen vermischt sich mit dem leisen Wind, der vom nahen Grenzfluss herüberweht. In dieser Stadt, nur zwanzig Minuten von der russischen Grenze entfernt, lebt der Glaube still und bescheiden – kaum zwanzig Seelen versammelt der Pfarrer hier sonntags. Susanne fühlt die Einsamkeit dieser Gemeinde, doch auch ihre Kostbarkeit.
Doch dann führt ihre Wallfahrt sie weiter nach Tartu, der zweiten großen Stadt Estlands, wo die Universität aus dem Jahr 1632 stolz über den Fluss wacht. Hier pulsiert das Leben anders: die Kirche der Unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria erhebt sich neogotisch und stark, wie ein stiller Wächter der Zeit. Pfarrer Miguel Angel Arata Rosenthal, ein Mann mit südamerikanischen Wurzeln, lebt und atmet hier seinen Glauben, bringt Hoffnung und Taufe in das Herz einer jungen, lebendigen Gemeinde.
Susanne beobachtet die kinderreichen Familien des Neokatechumenalen Weges, die wie funkelnde Sterne in dieser Diaspora leuchten. Sie nennen sich „Familien in Mission“ und bringen ihren Glauben mit unerschütterlichem Mut in eine Gegend, die oft kalt und distanziert wirkt. Die Stadt, einst eine Hochburg der Hanse, atmet heute den Geist einer kleinen, aber lebendigen Kirche – ein „Klein-Vatikan“ mitten im Baltikum.
Neben der Kirche leben die Franziskanerschwestern, nebenan entsteht ein Jugendhaus, und die katholische Schule mit Kindergarten singt das Lied des Lernens und Glaubens. Susanne spürt, wie hier Menschen wachsen – nicht nur in Wissen, sondern in Gemeinschaft, in Liebe, in Nähe zu Christus und zueinander.
Sie denkt an das Praktikum im Norden, das jungen Menschen aus aller Welt einen Zugang zu diesem Land schenkt. Hier, in diesem nordischen Licht, werden Horizonte erweitert, und Herzen schlagen im Rhythmus der alten und neuen Heimat.
Am Ende ihrer Wallfahrt steht Susanne vor dem Rathaus, das wie ein stiller Zeuge über die Stadt wacht. Sie fühlt sich dankbar, Teil dieser Geschichte zu sein – einer Geschichte von Glaube und Hoffnung, von Heimat und Weg, von Menschen, die beten, lieben und leben, wo es sonst nur still gewesen wäre.
Im Herzen des Baltikums, wo die Straßen Rigas vom kühlen Wind des Meeres umweht werden, begann Susannes Reise – eine Wallfahrt des Herzens und des Glaubens. Sie kam nicht, um zu suchen, was sie verloren hatte, sondern um zu geben, was ihr tief in der Seele wohnte: Zeit, Mitgefühl und Hoffnung.
Susanne war jung, kaum älter als neunzehn, als sie aus ihrer vertrauten Welt aufbrach, um sieben Monate lang in der fremden Stadt zu verweilen. In Riga, der größten Stadt Lettlands, die mit ihren sechshunderttausend Einwohnern pulsiert, fand sie Orte, an denen ihre Hände gebraucht wurden – die Kerzenwerkstatt, die Suppenküche, das Familienzentrum. Orte, an denen das Unsichtbare sichtbar wurde: Not, Einsamkeit, der stille Ruf nach Nähe.
Die Kerzenwerkstatt war mehr als nur ein Ort des Arbeitens. Dort, zwischen Wachs und Flamme, half sie Menschen mit Behinderung, ihre Kunst zu formen. Kerzen, die Wärme und Licht versprechen – so wie auch Susanne versuchte, Wärme in die Herzen der Menschen zu tragen. Besonders in der Weihnachtszeit spürte sie die Kraft ihres Wirkens: jede Bestellung, jede helfende Hand war ein kleines Licht im Dunkel.
Doch es war die Suppenküche, die ihr Herz besonders berührte. Dort traf sie auf die Wohnungs- und Seelenlosen, auf jene, die vergessen schienen, und schenkte ihnen mehr als nur eine warme Mahlzeit: sie schenkte Zeit und ein offenes Ohr. In den Gesprächen fand sie Augen, die dankbar leuchteten, und Worte, die mehr sagten als jede Dankbarkeit – Worte der Hoffnung und des Glaubens.
In dieser Diasporakirche, die im Fremden wurzelt, erlebte Susanne, wie der Glaube die Menschen verbindet, wie die Schwestern mit offenen Armen jeden empfingen, der Hilfe suchte. Hier zählte nicht Besitz oder Rang, sondern die Hingabe – geleitet von einer tiefen Überzeugung, getragen vom Glauben an Gott und an die Menschlichkeit.
Am Tag ihres Abschieds, als die Schwestern für sie beteten, spürte Susanne die stille Macht ihrer Segnungen: Mögest du glücklich werden, möge deine Familie gesund bleiben, mögest du behütet heimkehren. Ein Gebet, das sie tief im Herzen trug, ein Versprechen, das ihre Wallfahrt nie enden ließ.
Susannes Wallfahrt war keine Pilgerreise zu heiligen Stätten. Sie war ein Gang zu den Menschen – ein Zeugnis der Liebe, das in den Gassen Rigas weiterleuchtete, wie das Licht einer Kerze, die niemals verlischt.
Susanne wanderte durch die kühlen Morgennebel des Baltikums, die alte Erde noch feucht vom Tau. Ihr Herz war schwer und zugleich hoffnungsvoll. Die Jahre der Unterdrückung hatten auch ihre kleine Gemeinde berührt – Kirchen standen leer, Klöster verfallen, der Glaube war bedrängt und doch nicht erloschen.
Die Wallfahrt war für Susanne mehr als eine Reise – es war ein Aufbruch. Ein Aufbruch in eine neue Zeit, die von Hilfe getragen war. Denn irgendwo, so wusste sie, waren Menschen, die ihre Kirche nicht vergessen hatten, die ihre stillen Gebete hörten und Stütze boten. Das Bonifatiuswerk war diese Hand, die heimlich, aber beständig half.
Sie dachte an die leuchtenden Fenster des Karmel-Klosters in Ikšķile, wo die Karmelitinnen in strenger Klausur lebten – ein stiller Widerstand gegen die Vergessenheit. Der Neubau war ein Wunder, das nur möglich war durch die Unterstützung von fern. Zehntausende Euro, gesammelt in Deutschland, hatten Mauern errichtet, in denen Gott wieder wohnen konnte.
In Lettland, in Narva, wo sie einst selbst getauft worden war, wurden Kirchen renoviert, Gemeindehäuser gehegt – Räume für das Leben und die Begegnung. Die Stimmen der Kinder, die in der Jugendpastoral neuen Glauben fanden, erfüllten die Luft mit frischem Klang. Die Hilfen, dachte Susanne, sind wie Lichtstrahlen, die durch das dichte Blätterdach brechen.
Doch nicht nur Mauern, auch Menschen wurden gestärkt. Jugendkoordinatoren und Medienbeauftragte verbanden die verstreuten Gläubigen, webten ein unsichtbares Netz der Gemeinschaft und des Trostes. Besonders die Erinnerung an den Jesuiten Eduard Profittlich, dessen Seligsprechung nahte, gab ihnen Mut, standhaft zu bleiben.
Susanne kniete nieder, der kalte Boden kühlte ihre Hände. Sie dankte für die Menschen, die halfen – die Hände, die bauten, die Herzen, die begleiteten. Die Hilfen waren mehr als Geld und Projekte. Sie waren ein Zeichen der Hoffnung, dass Glaube nicht nur überlebt, sondern lebt.
Als die Sonne über den Horizont stieg, fühlte Susanne die Kraft der Gemeinschaft in sich pulsieren – aus der Diaspora heraus, durch Grenzen hindurch, getragen von der Liebe, die sie alle verband.
*
Weihe Estlands, Lettlands und Litauens an das Unbefleckte Herz Mariens und das Heiligste Herz Jesu
O Heiligstes Herz Jesu,
Du ewige Quelle der Liebe, Barmherzigkeit und Wahrheit,
wir, die Völker Estlands, Lettlands und Litauens,
knien heute in Demut und Vertrauen vor Deinem Thron nieder.
Du hast durch Dein Kreuz die Welt erlöst,
und aus Deinem geöffneten Herzen strömt das Blut und Wasser
als Gnade für alle Völker und Nationen.
Wir erkennen Dich an als unseren König, Erlöser und Herrn.
Wir vertrauen Dir unsere Länder an, unsere Familien, unsere Geschichte und Zukunft.
Heiligstes Herz Jesu, erbarme Dich unser.
Heiligstes Herz Jesu, herrsche in unseren Nationen.
Heiligstes Herz Jesu, sei unser Schutz in jeder Not.
O Unbeflecktes Herz Mariens,
Du reinste Mutter unseres Herrn,
Du Stern der Hoffnung und Königin des Friedens,
wir weihen Dir, mit kindlicher Liebe,
die Nationen des Baltikums: Estland, Lettland und Litauen.
Blicke auf unsere Völker mit mütterlichem Erbarmen.
Du hast uns nie verlassen, auch nicht in Zeiten der Dunkelheit, der Unterdrückung und des Leids.
Du hast in den Herzen vieler das Licht des Glaubens bewahrt.
Heute kommen wir zu Dir, o Mutter,
um Dir unsere Länder neu zu schenken –
unsere Jugend, unsere Familien, unsere Kirchen, unsere Zukunft.
Unbeflecktes Herz Mariens, führe uns zu Deinem Sohn.
Unbeflecktes Herz Mariens, beschütze unsere Heimat.
Unbeflecktes Herz Mariens, sei unsere Zuflucht in aller Bedrängnis.
Jesus, sanftmütig und demütig von Herzen,
forme unsere Herzen nach Deinem göttlichen Herzen.
Maria, Mutter der Kirche, lehre uns, Deinem Sohn treu zu folgen.
O Heilige Herzen Jesu und Mariens,
vereint in vollkommener Liebe,
nehmt unsere Nationen in euren Schutz.
Segnet unsere Hirten, unsere Regierenden und jeden einzelnen Menschen.
Erweckt in unseren Völkern einen neuen Geist der Umkehr, des Glaubens, der Einheit und des Friedens.
Estland, Lettland und Litauen gehören euch,
jetzt und für alle Zeiten.
Amen.