EIN LEHRGEDICHT IN HEXAMETERN
VON TORSTEN SCHWANKE
GESCHRIEBEN FÜR QUENTIN
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bebte die Welt in den Tiefen,
wuchs auch im Denken der Mensch – es vollzog sich ein Wandel gewaltig.
Hin zu der Sprache nun lenkte der forschende Geist seine Kräfte,
sprachliche Form ward das Maß, die Philosophie ward zur Sprache.
Ludwig, der Denker aus Wien, geboren in bürgerlich‘ Fülle,
sah in dem Tractatus Sprache als Spiegel der Welt unsrer Ordnung.
Worte sind Bilder der Welt, geordnet nach strenger Struktur – so
dachte der junge Wittgenstein in den Kriegen der Geister.
Logik war Maß ihm und Grenze, das Denken geordnet wie Zahlen,
Welt und Bedeutung verbunden durch Namen, die Dinghaftes meinen.
Sprache – ein Bauwerk der Welt, aus logischen Sätzen erbaut.
Grenzen der Sprache sind Grenzen der Welt – so sprach er entschieden,
sprach, wie der Weise nur spricht, in nüchternem, tiefgründig Schweigen.
Doch was verschwiegen muss werden, das müsse im Schweigen versinken.
Später jedoch, in dem Wind der Zweifel, am Tische in Cambridge,
wandt er sich ab von der Strenge, von Bildern und logischer Klarheit.
Sprache sei Spiel, so erkannte er nun – Gebrauch sei das Wesen.
Nicht mehr als Bild, als System, sei Sprache zu denken, vielmehr
sei sie in Spielen gefasst, in Regeln, durch Praxis bestimmt.
Sprachspiel – das neue Konzept – warf Licht auf das Alltägliche Denken.
So ward der Denker ein Lehrer des Lebens im simplen Gesprochnen.
Zweimal begann er von neuem, zweimal entwarf er die Sprache,
baute zwei Häuser der Welt – das eine aus Stahl, das andre aus Lehm.
Strenge des Tractatus war nur ein Schritt auf dem Wege zum Späten,
wo er im Fragment das Denken in leiser Bewegung erfasste.
Nicht nur zur Sprache allein zog es ihn: Mathematik und das Denken,
Geist, seine Formen und Zweifel, und Ethik – all dies war sein Ringen.
„Über Gewissheit“, das späte Werk, blieb Skizze im Schatten des Endes,
doch es entfaltete Fragen der Wahrheit inmitten der Sprache.
Warum die Sprache, warum das Wort? Weshalb in ihr forschen?
Weil, so verstand er: Denken ist Sprachform, verwoben mit Leben.
Wer philosophiert, der prüft nicht Begriffe allein – sondern handelt
mitten im Alltag, im Reden, im Fragen, im stillen Verstehen.
Nur im Satze allein hat ein Name Bedeutung und Sinn nur.
Sprache und Welt, sie verlaufen in gleicher Strukturform:
Was sich im Satze zeigt, das ist Spiegel der Wirklichkeit.
Jeder Gedanke ist Satz, und ein Satz ist ein Bild jener Welt.
Denn was wir denken, das kleidet sich ein in die Ordnung der Namen.
Namen bezeichnen das Ding – doch erst der Satz gibt dem Namen den Sinn.
Also ist nur der Gedanke, was Wahrheit in Worte vermag.
Ist der Satz wohlgebildet, so trifft er das Mögliche klar.
Wahre Gesamtheit der Sätze beschreibt die vollendete Welt.
Doch nicht von Werten, noch von Gott, kann ein solcher Satz je berichten.
Denn was da zählt, liegt außerhalb allem, was Sprache vermag.
Gott offenbart sich nicht – denn er liegt jenseits der Welt.
Und so zeigt Sprache die Grenze, worüber hinaus nichts mehr ist.
Sätze vom Sinn, von den Werten, von Gott, dem Erhabnen,
können, so sagt er, nicht sinnvoll gesprochen mehr sein.
Alles, was sprechbar, das ist nur Abbild der Wirklichkeit draußen,
nur, was sich zeigt in der Welt, hat Bedeutung im Wort.
Alles Metaphysische, Ethik, die Rede von Göttern,
fällt aus dem Kreis, den die Sprache sinnvoll noch zieht.
Wittgenstein engt das Gesprochne aufs Sichtbare ein nur:
Träume, Gedanken, Gefühl – sie sind Bilder im Geist.
Keine Substanz sei die Seele, kein inneres Wesen,
alles ist Form und Figur, in der Sprache gezeigt.
Was wir „glauben“ und „hoffen“ und „sehnen“ und „denken“ benennen,
zeigt sich allein durch das Tun, durch Verhalten im Raum.
Sprache sei Spiegel der Welt, und die Logik ihr Rahmen;
und was sich nicht sagen lässt, das bleibt zu verschweigen.
Hatte er selbst doch geglaubt, nun seien die Fragen gelöset,
legte den Griffel beiseit’ und wurde zum Lehrer im Dorf.
Doch mit den Kindern, im Alltag, beim Lernen von Worten und Zeichen,
merkt er: Die Sprache ist mehr, als nur Spiegel der Welt.
Worte sind vieldeutig, schwankend in ihren Bedeutungen selber,
nicht durch Logik gefasst – nur durch Gebrauch wird ihr Sinn.
Also begann er zu wandeln den Pfad seiner ersten Gedanken,
wandte sich Sprache als Tun, nicht als Bildnis nun zu.
Nicht nur beschreibt sie die Welt, sie wirkt in der Welt durch das Sprechen,
Lob oder Tadel, ein Wunsch, eine Frage, ein Witz –
nicht stets sagt der Satz, was der Sprecher im Herzen nun meine,
doch durch das Sprachspiel wird Sinn in der Handlung erkannt.
Bedeutung entsteht nicht allein durch grammatische Ordnung,
sondern durch Brauch, durch Gewohnheit im Leben der Welt.
Zeichen sind Teile des Spiels, das wir täglich gemeinsam gestalten,
Regeln sind das, was wir tun – und nicht, was wir denken allein.
So wird die Sprache lebendig, verwoben im Leben der Menschen,
nicht als System, sondern Kraft, die das Denken bewegt.
Ich will das Ganze, die Sprache samt ihren Tätigkeiten nennen,
die sie durchwebt: ein Sprachspiel sei ihr gebührender Name.
Worte sind ungenau – doch macht sie dies nicht überflüssig,
sagt Wittgenstein: Nur weil sie verschwommen und offen geblieben,
können wir sinnvoll sie nutzen – das ist ihr eigentlicher Nutzen.
Bedeutung sei, was man tut mit dem Wort in Verwendung im Munde,
wird sie zum Werkzeug, das Sinn nur durch seine Nutzung entfalte.
Sprache wird dadurch autonom – sie ist nicht abhängig von Dingen.
War Wittgenstein früher Realist in naivem Gewande,
tritt nun der Konstruktivist hervor im Spätwerk des Denkens.
Sätze sind Werkzeuge, sagt er, ihr Sinn sei ihr aktives Wirken.
Also beschreibt er zu Anfang der „Philosophischen Untersuchungen“
Sprache als Frucht des Erwerbs, nicht bloß als Grammatik mit Listen.
Sprache sei Handeln im Alltag, gebrauchspraktisch offenbar wirksam.
Trotz vieler Unterschiede zwischen TLP und PU,
eint beide das Ziel, Probleme der Philosophie zu entwirren,
indem man prüft, wie Sprache uns Denken formt und verhexet:
„Philosophie ist der Kampf gegen den Bann, der aus Worten sich speiset.“
Wittgensteins Ziel ist es, jenes zu klären: Was heißt es, Bedeutung
einem Wort zuzuschreiben? – Nicht Pragmatik zunächst, nicht die Handlung,
sondern die Semantik allein war ihm zuerst wichtig im Denken.
Doch in der Suche nach dem, was Bedeutung wohl wirklich bedeute,
kam er zuletzt zum Begriff sprachlichen Handelns – gezwungenermaßen.
„Bedeutung ist sein Gebrauch“ – so fasst er das Ganze zusammen.
Weg von der Abbildtheorie, der extensionalen Semantik,
wendet er sich, da sie auf geistige Bilder vertraue:
Worte sind Namen, verknüpft mit dem Bild, das dem Hörer erstehe.
Doch diese Sicht sei verkehrt: In PU wird sie streng widerlegt.
Ein Beispiel zum Einstieg: Da geht einer einkaufen – im Laden
spricht er: „Ich will fünf rote Äpfel!“ – der Händler versteht ihn.
Was ist Bedeutung des Satzes? – Ein Ausdruck? Ein Name? Ein Satzstück?
Spricht er von Äpfeln? Kaum, denn gemeint ist ja auch eine Handlung:
Hole mir fünf davon! – so wird aus der Phrase ein Befehl,
nicht bloß Benennung von Dingen – das ist entscheidend bei Wittgenstein.
Wahrheit besitzt dieser Ausdruck nicht; er wirkt durch den Kontext.
Spricht man ihn anderswo aus, dann kann er vieles bedeuten:
Antwort, Behauptung, Beschreibung – je nach dem Spiel, das wir spielen.
So nennt Wittgenstein diese Kontexte sinnreicher Sprache: Sprachspiele.
Und sie bestimmen allein, wie Wörter Bedeutung entfalten.
Hinter dem Spiel steht die Lebensform – unser gelebtes Verstehen,
das, was wir fraglos gewiss schon teilen: der kulturelle Boden.
Trotzdem bleibt noch offen die Frage: Wie kommt es zur Deutung,
wie erhält ein Wort, gebraucht in der Rede, Bedeutung?
Nach der Theorie des Bildes wird Zeichen dem Dinge verliehen,
zeigt man dem Lernenden dies und spricht dabei seinen Namen.
So erkennt das Kind, was „Apfel“ bedeutet im Deutschen.
Doch dies weist Wittgenstein ab – der späte, nicht der des Tractats.
Wenn ein Franzose nun lernt, dass „pomme“ auf Deutsch „Apfel“ heiße,
weiß er doch nicht gleich, was jenes Wort wirklich bedeute.
Nicht durch Verknüpfung mit Dingen erlangt es Bedeutung, vielmehr:
weiß er, wie man’s gebraucht – das zeigt den Gebrauch des Begriffes.
Semantiker wollen oft klare Grenzen um Wörter errichten,
doch was sie fassen, sind nicht mehr Begriffe der Sprache.
Sätze wie: „Ich hab Schmerzen“, „Ich denke“ – sind nur bedeutungsvoll dann,
wenn wir im Sprachspiel erkennen, wie sie sich sinnvoll gebrauchen.
Nehmen wir weiter das „Meinen“: Man glaubt, es verleihe den Worten
erst ihren Sinn – doch das weist Wittgenstein scharf zurück.
Denn nicht alles lässt sich meinen, wie’s uns beliebe,
und ein Ausdruck verliert nicht Bedeutung, wenn wir’s nicht meinten.
„Meinen“ ist gleichgültig, Bedeutung entsteht nicht durch Wollen.
Niemand erkennt im Gespräch, was tief in uns drin wir bedeuten –
sehen doch nicht in den Kopf unsres Gegenübers beim Reden.
Sprache hat Sinn, wenn man sieht: Der andere hat es verstanden,
zeigt’s im Gebrauch – wenn er z. B. die Äpfel aus Kisten entnimmt.
Zeichen allein sind tot – erst im Gebrauch leben sie weiter
(I, vier-drei-drei – so hat es der Weise geschrieben).
In den „PU“ tritt nun an die Stelle der „Elementarsätze“
ein umfassendes Spiel von Regeln, ein Kalkül, das da lebt.
Wie in der Mathematik – auch diese ist nur ein Kalkül,
nicht Entdeckung, vielmehr Erfindung – ist’s auch mit der Sprache.
Nicht isoliert lernt man Wörter, nur in lebendiger Rede,
durch das Gespräch mit dem Andern erfährt man des Wortes Bedeutung.
So bleibt Philosophie – nicht Entdecken, nur Heilung von Irrtum.
Nicht eine einzige Art von Methode wird vorgeschrieben –
viele Methoden bestehen, verschieden wie Heilkunst und Praxis.
Sprache zu analysieren heißt nicht: zerlegen in Teile –
sondern: das Sprachspiel enthüllen, die Ordnung der Worte erhellen.
So verschwinden Probleme, die einst durch Missbrauch entstanden –
wenn wir die Wörter zurückführen auf ihren Alltaggebrauch.
Nicht mehr metaphysisch, doch offen, wie Menschen sie sprechen.
Dies ist die späte Philosophie – nicht Entdecken, doch Klärung,
nicht mehr Erfindung, doch Sicht auf das, was schon immer vorhanden.
Inwiefern sei das denkbar und möglich – in deutscher Sprache?
Wittgenstein, der Zweite, verwirft die realistische Deutung,
die er früher vertrat, da galt: Ein Wort steht für Dinge.
Heute erkennt er: Probleme entstehen durch sprachliche Mehrdeut’.
„Bedeutung“, so sagt er, „liegt einzig im Brauch eines Wortes“.
Nicht wird dadurch das Problem gelöst, nein – es verschwindet.
Aber dies führt uns hin zu der Sprach-Relativität selber.
Sprachspiele formen den Sinn, doch wechseln sie stets mit dem Wandel:
Gruppen und Zeiten verändern Gebrauch und Bedeutung der Wörter.
So wird die Sprache unsicher, zweifelhaft wird die Philosophie nun.
Auch Satzsysteme, sofern sie nicht rein mathematisch geregelt,
folgen kaum strengen Gesetzen – die Sprache bleibt unbeständig.
Kann man denn wirklich die Sprache aufs Alltagsreden beschränken?
Soll sich die Hochsprache neigen dem Wandel im Umgang der Menschen?
Welche Konsequenz ergibt sich aus solcher Entscheidung im Denken?
Hat sich der späte Wittgenstein ganz gegen den frühen gewendet,
dass wir gezwungen nun wären zu wählen – Anfang oder Ende?
Oder gibt’s einen Weg, die Gegensätze doch zu versöhnen?
Solche Gedanken eröffnen den Weg zur vertieften Betrachtung,
die in der Forschung gedeiht – in der Arbeit des Geistes entfaltet.