VON TORSTEN SCHWANKE
NACH
IHREM TOD AUFGESCHRIEBEN FÜR IHRE GELIEBTEN ENKEL JURI, MILAN UND
SIMON
Vierge
Marie,
Mère
chèrie!
Sie
ist im französischen Baskenland geboren, im Dorf Omize (baskisch)
oder Abense-de-haute (französisch). Sie ist als Kind katholisch
getauft worden auf den Namen Marie-Therese, aber alle nannte sie
Maite, das ist baskisch und heißt: Geliebte.
*
Im
Alter sagte sie mir einmal: „Meine Großmutter war ein Teufel!“
*
Im
Alter erinnerte sie sich oft an ihre Mutter. Die war gestorben, als
Maite ungefähr acht Jahre war. Maite erinnerte sich an ihre Mutter,
wie sie ihr die Lieblingspuppe geschenkt hatte. „Mein Vater hat
mich verwöhnt.“ Ich weiß nur von den beiden Schwestern Cathy und
Madelaine.
*
Als
ich im Sommer 1991 mit Maite und ihrer Tochter Karine im Baskenland
war, besuchten Karine und ich auf dem Dorffriedhof das Grab von
Cathy. Ich sah neben dem Grab einen großen weißen Engel mit Flügeln
aus Licht, der Engel reichte vom Friedhof bis in den Himmel.
*
Maite
Schwester Madelaine lebte auf einem Bauernof. Maite, Karine undd ich
besuchten sie dort. Madelaine war Katholikin sie hatte in der Küche
einen Heiligenkalender, aus dem ich erfuhr, dass mein Geburtstag
Karines Namenstag war. Madelaine sagte: „Derriere le mirroir il y‘a
le diable“. Madelaines Sohn Marc war Hirte.
*
Ich
lernte auch Maites Nichte Chantal kennen. Sie lebte in Paris und
sprach mit mir über die großen deutschen Dichter Rainer Maria Rilke
und Paul Celan.
*
Vom
Zweiten Weltkrieg hat Maite im Baskenland nichts mitbekommen.
*
Sie
ist katholisch erzogen worden. Im Alter träumte sie einmal von ihrer
toten Schwester Cathy, die sie in einer katholischen Kirche während
der Heiligen Messe traf und ging mit ihr gemeinsam zur Kommunion. Im
Alter erinnerte sie sich einmal an das Schuldbekenntnis „mea culpa,
mea culpa, mea maxima culpa“. Aber sie wurde wohl doch zu streng im
Glauben erzogen, jedenfalls hat sie sich als Jugendliche von der
Kirche abgewandt. „Ich wollte nicht mehr in die Kirche gehen, ich
wollte lieber tanzen.“
*
Als
junge Frau ist sie nach Paris gezogen. Dort hat sie bei verschiedenen
bürgerlichen Familien als Haushaltshilfe gearbeitet. Das war
Schwarzarbeit.
*
„Wie
und wo hast du Konrad kennen gelernt?“ - „Das war in Paris auf
einer Feier.“ Sie hat mit Konrad in Paris gelebt. Ich weiß nicht,
ob sie in Paris geheiratet haben. Jedenfalls trug sie fortan den
Namen Tiburzy.
*
1966
hat sie Karine geboren, am 24. September, in Paris. Karine ist
geborene Französin, Pariserin. Wenn man so will, ist sie die
französische Venus, die aus der Seine getaucht ist.
*
Von
der Kulturrvolution 1968 in Paris hat sie nie erzählt. Aber siee
kannte Simone de Bauvoirs Buch über die Frau. Und im Alter stimmte
sie mir zu, dass die Philosophie des Existentialismus von Jean-Paul
Sartres und Albert Camus eine „trostlose“ und „sinnlose“
Philosophie sei.
*
Sie
lebte mit Konrad und dem Baby Karine in Deutschland. Karine war drei
Jahre alt, als Konrad sich von Maite scheiden ließ und sie und
Karine verließ. Maite war nun eine alleinerziehende Mutter. Sie
arbeitete als Krankenschwester im evangelischen Krankenhaus in
Oldenburg. Sie wohnten im Stadtteil Bürgerfelde in der
Hermannsstädter Straße, einer Gegend mit Blockwohnungen. Karine war
schon früh sich selbst überlassen, weil Maite ja Geld verdienen
musste.
*
Karine
war ein „Schlüsselkind“. In der letzten Zeit vor ihrem Tod
dachte sie viel an ihre Kindheit zurück und sie machte insgeheim
Maite Vorwürfe, sie so allein gelassen zu haben. Nach Karines Tod
erzählte mir Maite von ihren schweren Schuldgefühlen deswegen. Ihre
Freundinnen wollten ihr die Schuld ausreden, aber das half nichts,
Maite fühlte sich wirklich schuldig. Sie konnte deswegen nicht gut
schlafen. Da suchte sie einen Psychologen auf, aber der konnte ihr
auch nicht helfen. Nun, Maite hat ihre Schuld wirklich bereut, darum
hat ihr Gott gewiss vergeben.
*
Von
der Zeit zwischen Karines Kindheit und der Zeit, da Karine und damit
auch Maite in mein Leben traten, weiß ich nichts. Ich lernte Karine
im Juli 1990 in Oldenburg kennen. Sie war Studentin der Slawistik und
ich Student der Germanistik. Wir wurden ein Liebespaar und reisten
viel.
*
Ich
erinnere mich, wie Karine und ich aus der Provence kamen und ich
Maite die Gedichte schenkte, die ich dort geschrieben hatte. Maite
wohnte in der Ziegelhofstraße in Oldenburg in einem sehr schönen
Haus. Sie lebte dort mit ihrem schwarzen Kater Amadee. Karine und ich
waren öfter dort. In jener Zeit trug ich immer den gleichen Pullover
und war nicht sehr gepflegt, und Maite hatte eine feine Nase. So bat
Maite Karine, dass Karine mich bitte, immer wenn ich komme, mich eben
im Badezimmer frisch zu machen und etwas Parfüm aufzutun.
*
Im
Sommer 1991 fuhren Maite und Karine und ich in ihre Heimat im
Baskenland. Karine und ich verbrachten eine Woche in einer einsamen
Hirtenhütte hoch oben in den Bergen, und ich fühlte mich Gott sehr
nah…
*
Wir
feierten auch einmal Weihnachten zusammen, da war noch Karines
Freundin Meike aus Berlin dabei. Maite konnte gut kochen und gab sich
immer sehr viel Mähe, einen köstlichen Kaffee zu kochen. Nach dem
Hauptgericht, das oft aus Fleisch bestand, gab es in guter
französischer Sitte Weißbrot und Käse. Zum Essen bot sie mir immer
ein Glas Rotwein an. Zwar schimpfte sie oft beim Kochen vor sich hin
(„merde!“) und meinte dann, das Essen sei ihr gar nicht gelungen,
aber es schmeckte doch immer sehr gut. Mit Karine und Maite lebte ich
„wie Gott in Frankreich“.
*
Mit
Karine lebte ich in einem kleinen Zimmer zusammen. Das wurde mir auf
die Dauer zu eng. Karine zog dann zu Maite in ihr Haus und hatte da
ein eigenes kleines Zimmer.
*
Im
Frühjahr 1993, nach dem Tod meiner Großmutter und meiner Begegnung
mit Christus, trennte ich ich von Karine. Ich nahm noch Abschied von
Maite. Im Dezember 1993 war ich noch einmal in Oldenburg, denn ich
war inzwischen nach Ostfriesland gezogen, da besuchte ich Maite noch
einmal, das heißt, ich wollte Karine sehen, aber sie war nicht da.
Maite stand oben auf der breiten Holztreppe zu ihrer Wohnung, ich am
Fuß der Treppe, wir wünschten uns gesegnete Weihnachten („Noel“),
sie hielt Amadee im Arm und nahm wirklich freundlich von mir
Abschied.
*
Ich
war wahnsinnig geworden, hatte einen Selbstmordversuch und einen
einjährigen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter mir, und Karine
nahm wieder Kontakt mit mir auf. Nun waren wir zwar kein Liebespaar
mehr, aber doch richtig gute Freunde. Sie besuchte mich in meiner
Ostfriesischen Einsamkeit, zweimal kam auch ihre beste Freundin Evi
mit. Und wegen Karine und Evi bin ich dann Anfang 1998 wieder nach
Oldenburg gezogen.
*
Am
13. November 2000 ist Juri geboren. Als Karine und ich im Sommer 1990
am französischen Mittelmeer am Strand lagen, wollten wir zwei Kinder
haben, sie sollten Buffodontel und Akkadanu heißen. Als Juri
Kleinkind war, sagte Karine zu mir: „Das ist auch eine Art, einen
Buffodontel zusammen zu haben, nicht wahr?“ Karine wohnte mit ihrem
Partner und Juri in der Dedestraße in Oldenburg-Osternburg, genau
zwischen dem heiligen Jüdischen Friedhof und der katholischen Kirche
des Heiligen Geistes. Maite wohnte einige Straßenecken weiter in der
Wiesenstraße, wo sie bis zu ihrem Tod wohnen blieb. Manchmal, wenn
ich Juri im Kinderwagen schob, wir beim katholischen Kindergarten auf
dem Spielplatz spielten, ich für Juri eine Kerze vor der
Gottesmutter angezündet hatte, besuchten wir zusammen Maite. Nun
lernte ich Maite ganz neu kennen, als Großmutter. Aber sie wollte
nicht Oma genannt werden, sondern „Amani“ (das heißt auf
baskisch Großmutter).
*
Im
Sommer 2001 war ich auf eine Jugend-Wallfahrt ins französische
Marien-Heiligtum Lourdes gefahren. Dort verliebte ich mich
unsterblich in die Jungfrau Maria und schrieb auf französisch ein
Liebesgedicht an Notre Dame d‘Amour, Unsere Liebe Frau von der
Liebe. Karine las es und sagte: Wow! Ich zeigte es auch Maite. Sie
sagte: „Das ist ja ein richtiges Liebesgedicht“. Karine und Maite
sprachen meistens französisch miteinander. Einmal schrieb ich für
Karine ein französisches Liebesgedicht. Ich nannte sie „ma jolie“,
sie sagte: „Pst, sag es keinem weiter.“ In dem Gedicht wollte ich
auch ihre „schöne Mutter“ grüßen und schrieb „ta belle mère“
aber Karine klärte mich auf, das heiße „Schwiegermutter“…
*
Maites
Wohnung hatte einen schmalen Flur, in dem viele Fotos ihrer
baskischen Familie hingen. Davongingen das kleine Badezimmer ab und
ihr großes Schlafzimmer. Ihre Küche war nur eng und klein. Ihr
Wohnzimmer hatte zwei Zentren, einmal einen runden Esstisch mit
mehreren Stühlen und einmal einem niedrigen Sofatisch mit einem
roten Schlafsofa und einem weißen Sessel. In der Ecke, bei den
Büchern, der Musikanlage und dem kleinen Fernseher stand noch ein
Sessel, in dem sie ihren Mittagsschlaf hielt. Die Balkontür führte
auf ihre kleine Terasse, da stand ein Tisch mit zwei Stühlen und ein
Sonnenschirm, da war ein kleines Beet, in dem sie Blumen gepflanzt
hatte, auf der Terrasse standen auch noch Blumenkübel. Ich werde
Maite immer mit dem Lavendel assoziieren.
*
Maite
liebte den kleinen Juri innig. Sie fütterte ihn mit Brei. Besonders
gut schmeckte Juri die Brocculi-Suppe, die Maite für ihn kochte.
Auch war Juri ein großer Liebhaber von Milchreis mit Zimt und
Zucker. Dazu hatte Maite immer Apfelschorle für ihn. Sie machte
unendlich viele Fotos vom kleinen Juri. Juri war auch wirklich eine
Schönheit. Karine und ich verglichen ihn mit dem griechischen
Sonnengott Apoll, dem Ideal klassischer Jünglingsschönheit. Juri
eiferte auch seinem Namenspatron, dem heiligen Georg nach, und war
ein gewaltiger Ritter und Drachentöter. Ich sagte zu Karine: „Juri
hat so eine schöne Sprache, er redet wie ein Gedicht von
Eichendorf.“ Als er vier Jahre alt war, verliebte er sich in die
„Primavera“ von Sandro Botticelli…
*
Im
Vorfrühling 2003 sagte Karine mir: „Toto, ich bin wieder
schwanger.“ Sie hatte sie wirklich sehr nach einem zweiten Kind
gesehnt! „Aber werden wir noch ein weiteres Kind so lieben können
wie Juri?“ Gewisse dämonische Geister drängten zur Abtreibung. Es
waren Zwillinge in Karines Bauch. „Toto, wirst du mir helfen, die
Kinder großzuziehen?“ - „Ja, mon filou...“ Karine war bei der
Schwangerschaftsberatung, ich saß vor dem Gesundheitsamt mit Juri,
er spielte auf der Wiese, ich betete den Rosenkranz für die
lebend-Geburt der Zwillinge. Die Zwillinge sind Marienkinder. Karine
gebar sie mit Kaiserschnitt im Krankenhaus, ich besuchte sie, sie
legte mir Milan und Simon nacheinander in die Arme. Ich kam dann
täglich, die Babys mittags zu wiegen und zu stillen (mit dem
Fläschchen – wie gerne hätte ich Mutterbrüste gehabt!...), wenn
Karine ihren Mittagsschlaf hielt.
*
Ich
hatte ein Foto zuhause, da stand Karine und hielt in ihren Armen das
Juribaby, das malte ich ab: Karine als Muttergottes mit dem
Jesusbaby, und unten am Rand des Bildes zwei kleine Kinder-Engel, das
waren die Seelen der ungeborenen Zwillinge. Das Bild schenkte ich
Karine. Ich sagte ihr: „Das Leben ist uns heilig“… Sie stimmte
mir zu. Sie sagte: „Nun haben wir zwei Akkadanus...“
*
Karine
war nun eine Zeit lang alleinerziehende Mutter von drei kleinen
Kindern. Wenn sie einmal mit ihren Freundinnen feiern wollte, brachte
sie Juri zu mir und die Zwillinge Milan und Simon zu Maite. Ich
musste immer weinen vor Rührung über Juri, wenn Karine ihn am
nächsten Tag abholte. Da hörte ich immer „Circus left town“ von
Eric Clapton: „Little man with his heart so pure...“
*
Später,
als der Erzeuger wieder gekommen war, blieb Juri, wenn Karine
ausgehen wollte, bei seinem Erzeuger, Karine brachte dann Milan und
Simon zu mir.
*
Dann
brach bei Karine der Brustkrebs aus. Nun lernte ich auch Karines
Vater Konrad kennen. Öfter kam er und wohnte dann bei Maite. Dann
waren wir alle beisammen: Karine, Maite, Konrad, Juri, Milan, Simon
und ich. Die Erwachsenen redeten Französisch miteinander, die Kinder
spielten miteinander und ich, als das große Kind, gesellte mich zu
den Kindern.
*
Maite
hatte nach ihrer Scheidung von Konrad nie wieder geheiratet. Sie
pflegte weiter den Kontakt zu ihm, verstand sich aber auch gut mit
Konrads zweiter Frau Christel. Aber irgendwie war Konrad doch der
Mann ihres Lebens. Aber sie zankten auch oft miteinander.
*
Karine
wollte nach Berlin, um chinesische Atem-Meditation zu lernen. Da nahm
sie mich und Milan mit. Milan nannte mich Mama, er war zwei Jahre
alt. Karine meditierte und ich schob Milan im Kinderwagen zum
Ententeich, zu Schafen, Pferden, Schweinen und Hunden. Juri und Simon
blieben in dieser Zeit bei Maite.
*
Maite
fragte mich: „Würdest du mit Konrad und mir und den Kindern einen
Urlaub in Rügen machen? Dann könnte Karine sich zuhause erholen.“
Ich sagte: „Nein, ich komme nur mit, wenn Karine mitkommt.“ Ich
wollte nämlich nicht allein mit Maite und Konrad sein, wenn sie sich
wieder zankten. Karine kam auch wirklich mit. Milan und Simon waren
drei Jahre alt, Juri fünf. Sie wohnten alle zusammen in einer
Ferienwohnung, ich draußen im Wohnwagen. Einmal schlief Juri bei
mir. Nachts gabs ein Gewitter und Wettersturm und Regen, da sahen
Juri und ich die „Waffen Gottes“ und wie ein Blitz den Himmel
aufriss und wir konnten sehen bis zum weißen Thron Gottes. Konrad
dominierte die Gespräche. Maite war meistens still. Sie mache das
Essen. Ich nannte Simon Chou-Chou und Milan Mignon, aber das gefiel
Maite nicht.
*
Ein
Jahr später fuhr Karine allein zu einer Kur nach Sylt. Maite hatte
ihr ihr Fahrrad mitgegeben. Sie machte sich sorgen, ob alles klappt.
Ich sagte: „Vertraue auf die Vorsehung Gottes (providence).“
Maite sagte: „Ich glaube nicht an die Providence.“ Ich besuchte
dann Karine zuerst allein mit Juri, und zwei Wochen später fuhr ich
mit Konrad und Milan und Simon zu Karine.
*
Als
wir auf Rügen waren, fuhren wir alle im Auto zum Kap Arkona, da war
ein großer Leuchtturm und ein großer Saal, wo traditionell
Hochzeiten gefeiert wurden. Karine sagte da zu mir: „Totolino,
wollen wir hier heiraten?“ - Ich sagte: „Mon bijoux, du weißt
doch, ich lebe im Zölibat.“ Aber abends trat ich vor der
Ferienwohnung zu ihr und sagte: „Oder wollen wir doch heiraten? Ich
möchte so gerne der Papa deiner Kinder sein.“ Da lächelte Karine
mich an, nahm meine Hände und sagte: „Ich liebe dich wie einen
Bruder – und noch mehr. Aber lass uns das doch lieber lassen. Denn
du liebst doch auch Evi.“
*
Als
ich mit Konrad, Milan und Simon Karine auf Sylt besuchte, blieb Juri
bei Maite. Als Karine nach Hause kam, sagte Maite über Juri: „Ils
est adorable!“ (Er ist anbetungswürdig!)
*
Einmal
trafen wir uns alle mit Konrad bei Maite. Konrad hatte einen Truthahn
mitgebracht und Maite bereitete ein Festmahl zu: Truthahnbraten mit
Bratensauce, Gemüse und Salzkartoffeln, dazu Wein für die
Erwachsenen und Apfelschorle für die Kinder, und zum Nachtisch
Baguette und Käse und anschließend Vanille-Eis. Dann kam der
Kaffee. Wie immer fluchte sie in der Küche beim Kochen vor sich hin.
Aber es war ein leckeres Festmahl.
*
Karine
fuhr in eine Kur zu den Anthroposophen. Maite und ich passten auf die
Kinder auf im schönen Haus Karines im schönen Garten Karines im
schönen Hasenweg. Maite machte das Essen. Juri fuhr allein zur
Schule. Ich brachte Milan und Simon im Fahrradanhänger zum
Kindergarten und ging anschließend einkaufen. Abends brachte Maite
die Zwillinge ins Bett, mit Vorlesen und Händchenhalten, und ich
brachte in Karines Bett Juri zum Schlafen, mit Vorlesen und Plaudern.
Die Zwillinge kamen zu Juri und mir herüber und wollten auch von mir
ins Bett gebracht werden. Ich legte sie in ihr Bett und sagte: „Zwei
Engel zu euren Köpfen, zwei Engel zu euren Füßen, zwei Engel zu
eurer Rechten, zwei Engel zu eurer Linken, und zwei Engel über euch,
die zeigen euch den Weg ins Paradies.“ Dann sang ich noch: „Maria,
breite den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus, lass
uns darunter sicher stehn, bis alle Stürme vorübergehn. O Mutter
voller Güte, uns allezeit behüte!“ Dann schliefen alle ein. Maite
und ich hörten den französischen Liedermacher Jaques Brel. Die
Nachbarin sagte zu mir: „Da du und Maite da sind, sind die Kinder
viel ruhiger und ausgeglichener als sonst.“ Maite ging schon am
Krückstock, sie hatte wirklich all ihre Kraft gegeben. Jeden Abend
rief Karine an und telefonierte mit Maite. Ich saß vorm Haus, trank
Wein und rauchte, betete und dichtete Gedichte über die Mutterliebe
Gottes, die ich später Maite schenkte.
*
Das
Telefon bei mir klingelt. „Ja?“ - „Hallo Toto, ich bins,
Karine. Dein Liebling Milan will dich sehen.“ - „Ich komme!“
*
In
den letzten Monaten vor ihrem Tod dachte Karine immer wieder an ihre
Kindheit, wie sie sich allein gelassen gefühlt hatte, von Konrad
sowieso, aber auch von Maite.
*
Maite
war bis zum Ende bei Karine. Karine machte sich sehr, sehr große
Sorgen um die Zukunft von Milan und Simon. Juris Erzeuger war bereit,
sich als ein Vater um Juri zu kümmern. Ich sprach mit meinem
Beichtvater, ob ich die Zwillinge aufnehmen solle. Er sagte: „Nur
Mut zur Courage!“ Ich sprach mit Maite. Sie wollte mit mir zusammen
ziehen, und dann würden wir Milan und Simon aufnehmen. Das sagte ich
Karine im Krankenhaus. Da sagte sie: „Außer meine Kinder liebe ich
nur noch meine Mutter und dich – wegen der Zwillinge.“ Am Tag vor
ihrem Tod rief Karine mich noch an: „Kannst du die Kleinen zusammen
mit Evi aufnehmen?“ Denn Maite war doch schon sehr gebrechlich und
hätte sich nicht wirklich kümmern können, und ich war versunken in
entsetzlichen Depressionen, ich hatte zehn Jahre lang jede Nacht Rotz
und Wasser geheult. Und Evi und ich nahmen „die Kleinen“, wie
Karine und ich sie immer nannten, tatsächlich für drei Monate auf.
Aber, was Karine auf Erden nicht gewusst hatte, am Tag ihrer
Beerdigung meldete sich ein Verwandter von Karine mit seiner Frau,
B.B., sie würden die Zwillinge für immer bei sich aufnehmen.
*
Am
letzten Tag, da ich Karine sah, es war drei Tage vor ihrem Tod, es
war der Valentinstag 2010, kam ich gerade aus dem Gottesdienst. Jesus
sagte: „Selig sind die Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich.“
Das sagte ich Karine. Da sagte sie: „Bin ich auch selig?“ -
„Ja,mein Schatz“, sagte ich, und sie lächelte glücklich. Da kam
die Nonne des Krankenhauses und brachte der Bettnachbarin die Hostie
(den Leib Christi), und Karine sagte: „Toto, zünde die
Marien-Kerze an, ich möchte auch den Leib Christi empfangen.“ Und
so ist sie in den Himmel gekommen.
*
#Ich
hatte mit Milan und Simon am Leichnam Karines gestanden, ihr mit
Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet, war mit Milan und
Simon in die Kapelle gegangen vor das Bild der Gottesmutter, zündete
eine Kerzen für Karine an und betete: O Maria, führe Karine ins
Paradies, und sei du nun die Mutter von Milan und Simon. - Vor dem
Krankenhaus stand Maite. Sie sagte zu einer Verwandten: „Das ist
Torsten. Er stand den Kindern noch näher als ich, ja, noch näher
als ihre Mutter.“
*
Als
Milan und Simon drei Monate bei Evi wohnten, war ich jeden Tag bei
ihnen. Ich brachte sie abends mit Evis Sohn Tom ins Bett. Nach dem
Segen ging ich, um nach Hause zu fahren, da sagte Milan noch: „Pass
auf dich auf, Toto.“ Maite und Konrad kamen auch manchmal zu Evi,
um bei den Zwillingen zu sein.
*
Konrad
gab Evi Karines Auto, wollte aber noch vierhundert Euro dafür haben.
Maite bezahlte die vierhundert Euro und schenkte Evi Karines Auto.
*
Nach
Karines Tod und dem für mich sehr schmerzlichen Verlust der Kinder
kam ich mit einem Nervenzusammenbruch in die Psychiatrie. Maite hätte
mich gerne besucht, war aber zu gebrechlich für den weiten Weg. Als
ich aus der Psychiatrie kam, schenkte sie mir zum Trost das „Buch
der Lieder“, die gesammelten Liebesgedichte von Heinrich Heine, des
deutschen Dichters, der die Französinnen so sehr geliebt hat.
*
Maite
träumte sehr viel von Karine. Sie hörte nachts Karines Stimme, wie
sie „Mamutschka“ zu ihr sagte, denn so hatte Karine Maite
genannt, wenn sie sie besonders lieb hatte.
*
Ich
ging manchmal mit Maite auf den Friedhof an Karines Grab. Einmal
setzte ich mich dort auf eine Bank und betete: „O Gott, ich will
schon so lange tot sein, und du lässt mich nicht sterben, und Karine
hat so gerne gelebt, und sie musste sterben. Das ist eine himmlische
Ungerechtigkeit! Wäre ich doch an ihrer Stelle gestorben!“ Das
erzählte ich Maite, sie wollte mich trösten: „Aber es geht dir
doch gut.“ Maite hat nie verstanden, wie krank meine Seele war, wie
sehr ich am Leben litt.
*
Einmal
besuchte ich Maite, es war im heißen Hochsommer. Wir tranken auf der
Terrasse Kaffee, aßen Kuchen und rauchten zusammen. Dann ging ich
für sie einkaufen. Als ich wiederkam, saß Maite halb schwindelig,
halb ohnmächtig in ihrem Sessel. Ich rief den Notarzt und blieb bei
ihr, bis der Arzt kam. Da sagte sie mit schwacher Stimme: „Ach, es
wäre mir lieber, wenn du mein Schwiegersohn wärst.“
*
Zweimal
fuhr ich mit Maite und Juri nach Hamburg zu Konrad und seiner Frau
Christel. Mit Christel hatten Juri und ich die schönsten Stunden im
Serengeti-Park. Konrad suchte immer Streit mit mir und griff meinen
Glauben sehr aggressiv an. Ich saß meistens draußen auf der
Terrasse und rauchte, Juri war bei mir und wir redeten miteinander.
Da trat Maite abends aus der Haustür und sagte: „Kommt nun rein,
Konrad will euch sehen! Das ist unverschämt!“ Dann ging sie wieder
rein. Juri sagte: „Und jetzt reden sie wieder französisch
miteinander.“
*
Juri
sagte mir auch, dass er nicht so gerne Maite besuche, weil sie immer
so viel von ihrem Tod rede. Maite beklagte sich bei mir, dass sie
Juri nicht so oft sehen könne, wie sie wollte. Juri war schon ein
Jugendlicher. Zu mir hatte er einmal gesagt: „Ich bin jetzt in
einem Alter, wo man sich nicht mehr für Erwachsene interessiert.“
Ich versuchte, Maites Verständnis dafür zu wecken, dass ein
Jugendlicher am liebsten mit seinen Freunden das Leben genießt und
nicht so gerne mit Alten über den Tod spricht.
*
Maite
versuchte mehrmals, mich und Juri in ihrer Wohnung zusammen zu
bringen. Vielleicht dreimal traf ich auch Juri bei Maite. Er gefiel
mir außerordentlich gut mit seiner ordentlichen Seele. Maite hörte
aber immer schlechter und verstand nicht immer, was geredet wurde.
*
Manchmal
kamen zu Maite alle drei Enkel. Die drei Enkel redeten dann schnell
und begeistert und verspotteten ihre Lehrer, und Maite verstand nur
die Hälfte, aber sie war glücklich, alle ihre drei Engel bei sich
zu haben.
*
Weihnachten
lud Maite immer Juri und seinen Vater zum Essen ein. Aber mit
zunehmender Altersgebrechlichkeit mochte sie nicht mehr gerne kochen.
*
Einmal
luden Konrad und Christel Maite, Juri und mich nach Hamburg ein. Ich
war aber von den Medikamenten gegen meine Depressionen fast
bettlägrig und sagte ab. Juri sagte: „Wenn Torsten nicht mitkommt,
komme ich auch nicht.“ Maite war beleidigt: „Sind ich und Konrad
denn nichts?“
*
Einmal
kam ich mit Maite vom Friedhof. Ich sagte: „Karine ist nun im
Himmel.“ Sie sagte: „Glaubst du an den Himmel? Dass nach dem Tod
alles schön wird?“ - „Ja.“ - „Und was ist mit Hitler? Ist
der auch im Himmel?“ - „Für solche Leute gibt es wohl eher die
Hölle.“ - „Ich möchte nach dem Tod eine Blume werden...“
*
Maite
erinnerte sich an ihre Jugend in Paris, damals hatte sie gerne Jazz
gehört. Swing. Ich schenkte ihr einige Jazz-Aufnahmen.
*
Maite
konnte wegen ihrer fehlenden Sehkraft nicht mehr lesen. Ich erzählte
von Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Sie sagte,
sie hätte einmal das erste Buch davon gelesen, die Erinnerungen an
die Großmutter… Das wäre sehr schön gewesen.
*
Einmal
habe ich ihr Schiller geschenkt, die Jungfrau von Orleans, und einen
eigenen Text über Jeanne d‘Arc. Sie ehrte Jeanne d‘Arc. Ich
erzählte ihr auch, als ich Voltaires Epos über Jeanne d‘Arc
übersetzte.
*
Eine
Zeit lang hörte Maite dann Hörbücher. Ich schenkte ihr ein
französisches Hörbuch von Balzac, aber sie kam nicht mehr dazu, das
zu hören. Ich schenkte ihr aber auch ein Hörbuch mit Gedichten von
Francois Villon auf deutsch. Sie hörte es und schenkte es ihrer
Freundin Jeanine, einer Französin, die Villon verehrte.
*
Zu
Maites 80. Geburtstag war ich mit ihr und Jeanine im Restaurant
essen. Anschließend tranken wir auf Maites Terrasse Kaffee. Wir
sprachen über Villon, Rimbaud, Verlaine, Baudelaire, Racine
(Athalja) und den tragischen Tod von Moliere. Wegen Karine hatte ich
eine besondere Liebe zu Frankreich, zur französischen Sprache, zu
den französischen Dichtern, zu den französischen Liedermachern.
Wenn ich meinen Engel Karine hören wollte, hörte ich französisches
Radio.
*
Zu
einem Geburtstag rief ich sie an und sagte: „Je vous salut,
Marie-Therese! - „Sie sagte: „Nein, das heißt: Je vous salut,
Marie! Du musst sagen: Bon anniversaire, Maite!“
*
Ihre
langjährige beste Freundin, die Spanierin Maria, die ein Bild der
Jungfrau Maria in ihrem Schlafzimmer hatte, verließ im hohen Alter
nach dem Tod ihres Mannes Deutschland und kehrte in ihre spanische
Heimat zurück. Sie war immer sehr lieb zu Maites Enkeln gewesen.
*
Maite
wollte klassische Musik hören. Ich schenkte ihr die vier
Jahreszeiten von Vivaldi, die Zauberflöte von Mozart und die neunte
Symphonie von Beethoven.
*
Ich
schenkte Maite ein Hörbuch von Leo Tolstoi. Der war Karines
Lieblingsschriftsteller. Als Studentin der Slawistik schrieb sie eine
Arbeit über die Lebensphilosophie von Tolstoi. Als ich noch mit
Karine zusammen war, las sie Tolstois Roman Auferstehung, kam aus
ihrem Zimmer und sagte: „Ich muss mein Leben ändern!“ Nach
Karines Tod las ich ihre Ausgabe des Romans Anna Karenina.
*
Manchmal
besuchte ich mit meinem kleinen Freund Tom, Evis Sohn, Maite. Ich
dachte, mein kleiner Erzengel könnte sie ein wenig trösten, denn
sie war sehr traurig, dass sie ihre Enkel so selten sah.
*
Dann
starb die Pflegemutter von Milan und Simon. Maite war verzweifelt.
Dann starb auch ihr ehemaliger Ehemann Konrad. Maite wollte danach
noch einmal in sein Haus, „um noch einmal Konrads Geruch zu
riechen“. Aber da sie kaum noch gehen konnte, fast gar nichts mehr
sah, musste sie darauf verzichten.
*
Es
freute sie, dass Milan und Simon Maites baskische Heimat besuchten.
*
In
einem Schwindelanfall, da sie gefallen war, hatte sie zu Juri gesagt:
„Du bist nicht mehr mein Enkel!“ Das hatte Juri zutiefst
verletzt. Maite bat mich, zu vermitteln, sie liebe ihn doch genauso
wie Milan und Simon. Aber sie war auch wohl zu stolz, sich zu
entschuldigen. Aber sie dachte bis zum Schluss in Liebe an Juri.
*
Dann
begann ein langer Kreuzweg durch Krankenhäuser und Pflegeheime, eine
Odyssee der Leiden. Da sie telefonisch oft nur für Verwandte
erreichbar war, stellte ich mich als der „Verlobte ihrer Tochter“,
ihr „Schwiegersohn“, ihr „Sohn“ vor, sie stellte sich als
meine „Tante“ vor.
*
Ihre
Verwandte (Großnichte ihres ehemaligen Mannes) Kathi, und Evi, die
Busenfreundin ihrer Tochter, kümmerten sich rührend um sie bis zum
letzten Atemzug. Maite hatte ein kindlich-dankbares Leuchten in den
Augen, wenn sie ein wenig Zärtlichkeit erfuhr.
*
Drei
Tage vor ihrem Tod war ich mit Evi im Krankenhaus, sah Maite aber
nicht, weil sie gerade in Behandlung war.
*
Am
Tag vor ihrem Tod, als sie, aufgequollen von Wasser, im Tiefschlaf
lag, waren nicht nur Kathi und Evi da, sondern auch ihre Enkel Milan,
Simon und Juri. Wenn sie auch schlief, ihre Seele nahm von allen
Abschied, und da alle drei Enkel von ihr Abschied genommen hatten,
konnte sie in Frieden entschlafen.
*
In
der Nacht ihres Todes betete ich für einen Heimgang in der Gnade
Gottes. Spät in der Nacht kam ein Maikäfer in mein Zimmer, umflog
das Licht und verschwand wieder. So nahm Maites Seele Abschied von
mir.
*
Am
Morgen nach Maites Tod feierte ich eine Heilige Messe für sie. Jesus
sagte im Evangelium: „Ich gehe euch voraus in den Himmel, um euch
dort eine Wohnung zu bauen, und dann werde ich kommen, und euch zu
mir holen.“ Und der Priester sagte: „Ich war fünfzehn Jahre alt,
als meine Großmutter starb, und ich wählte dieses Gotteswort für
die Beerdigung meiner Großmutter.“