TRAGÖDIE VON TORSTEN SCHWANKE
Ort und Zeit der Handlung: Deutschland, 80er Jahre des 20. Jahrhunderts
Personen
Eberhard Schwanke, Bankangestellter
Seine Söhne:
Thorstein, Kommunist
Stephan, Bankangestellter
Anna, Thorsteins Geliebte
Kommunisten:
Volker
Erich
Thomas
Werner
Sonja
Hedda
Karin
Piet
Detlef, Bastard
Johann, Hausfreund Eberhards
Pastor Wolfgang
Pater Bernhard
Polizisten
ERSTER AKT
ERSTE SZENE
(Vater Eberhard, erstgeborener Sohn Stephan im Wohnzimmer des Elternhauses in Hage, Ostfriesland.)
EBERHARD
Nun, liebster Stephan, Ebenbild meines Herzens, hast du gute Nachrichten für mich?
STEPHAN
Je nachdem, Papa. Es ist ein Brief von Thorstein gekommen, deinem Sohn.
EBERHARD
Er ist wohl mehr der Enkel seiner Großmutter, als mein Sohn. Ich muss mir immer große Sorgen um ihn machen. Studiert er fleißig an der Universität von Oldenburg?
STEPHAN
Das weiß ich nicht, Papa. Es ist auch nicht ein Brief von Thorstein gekommen, sondern von einem seiner Freunde, der dir über deinen verlorenen Sohn berichtet.
EBERHARD
Das hast du richtig gesagt, er ist der verlorene Sohn, und da soll ich wohl den barmherzigen Vater spielen? Aber lies mir den Brief vor. Meine Augen sind etwas schwach geworden. Und viele Menschen schreiben in einer unleserlichen Klaue. Ich dagegen wurde in meiner Jugend gelobt für meine saubere Handschrift.
STEPHAN
Ja, Papa, das ist eine Klaue! Aber ich werde dir den Brief vorlesen.
(Er holt einen Brief aus seiner Jackentasche und liest ihn vor.)
„Sehr geehrter Herr Schwanke! Ich möchte Ihnen über Ihren Sohn Thorstein berichten, denn ich bin als sein Freund in Sorge um ihn. Sie denken sicher, dass er Ihre finanzielle Unterstützung gut nutzt, indem er fleißig an der Universität in Oldenburg Geschichte studiert? Nun, er hat am Anfang ein Seminar über die Französische und ein Seminar über die Russische Revolution gehört. Dann waren ihm die Professoren zu bürgerlich und kritisch, und er ging nicht mehr zum Studium, las aber dennoch viele Bücher über die Geschichte, allein nur Bücher aus sowjetischer Produktion. Mehr aber noch als die Geschichte haben ihn die Studentinnen interessiert. Er ist natürlich nicht an einer Ehe interessiert. Er sagt, die Ehe sei nur ein ökonomischer Vertrag zur gegenseitigen Nutzung der Geschlechtsorgane. Verzeihen Sie, dass ich diesen heiklen Punkt berühre. Aber ich muss Ihnen berichten, dass Ihr Sohn das weibliche Geschlechtsorgan auch ohne Pfaffensegen nutzt. So hat er die Tochter eines Lehrers entjungfert, aber er uns seine Beischläferin waren über die Frucht ihrer Vermischung so entsetzt, dass die junge Frau ihre Leibesfrucht abgetrieben hat. Sie müssen wissen, dass Thorstein das Haschischrauchen nicht lassen kann, dass er sein Geld für das Marihuana ausgibt. So ist es kein Wunder, dass er sein Konto bei der Sparkasse um 5000 Mark in den Saldo gebracht hat. Und das ist auch der Grund, dass ich Ihnen schreibe. Ich appelliere an Ihr Vaterherz, um nicht zu sagen, an Ihr Portemonnaie, Ihrem Sohn noch einmal zu helfen und sein Konto auszugleichen. Ich verspreche Ihnen, dass ich mich bemühen werde, auf Thorstein als guter Freund mit guten Ratschlägen einzuwirken, dass er von seiner lasterhaften Lebensweise Abstand nimmt und sich wieder ernsthaft dem Studium zuwendet. Damit verbleibe ich mit freundlichen Grüßen, Marcus Jahn, Thorsteins Freund.“
EBERHARD
Ah! Das bricht mir das Herz!
STEPHAN
Papa, werde nicht traurig! Ich würde es verstehen, wenn du zornig würdest.
EBERHARD
Ich muss dem Thorstein schreiben.
STEPHAN
Willst du ihm sein Konto ausgleichen?
EBERHARD
Um ihn noch tiefer in die Drogensucht zu treiben? Das unterstütze ich nicht. Ich habe mein Geld als zuverlässiger Bankangestellter und geschickter Aktionär nicht verdient, um es türkischen Drogendealern in den Rachen zu werfen.
Nein, ich muss ihn bekehren! #und wenn er auf gute Worte nicht hören will, dann muss er eben die väterliche Rute spüren!
STEPHAN
Womit willst du ihn züchtigen?
EBERHARD
Ich schreibe ihm, dass ich ihn enterbe, wenn eer seine Lebensweise nicht bessert!
STEPHAN
Das ist Liebe, Papa! Wen der Vater liebt, den züchtigt er! Aber icch fürchte, wenn du ihm in deiner Verbitterung schreibst, dann könntes es geschehen, dass deine Worte allzu hart sind, und dass du Thorstein entmutigen oder noch rebellischer machen würdest, und so dass Ziel deiner ökonomischen Pädagogik verfehlen.
EBERHARD
Das könnte geschehen. Ich will ihn ja nicht richten, ich will ihn retten!
STEPHAN
Lass mich den Brief verfassen an mein Bruderherz. Du weißt, ich liebe ihn, wie ein Bruder nur lieben kann. Ich werde ihm von der Enterbung so schonend berichten, dass er deines Vaterherzens Sorge einsieht und voll Reue umkehrt und sich zu einem anständigen Leben bekehrt.
EBERHARD
Das tu, mein Liebling. Ich bin nun doch müde geworden. Ich hoffe, einige Stunden Schlaf werden mein besorgtes Vaterherz wieder ermutigen. Bleibst du noch auf?
STEPHAN
Ja, Papa, ich trinke noch ein Glas Wasser und schreibe gleich den Brief. Sei ohne Sorge. Schlaf gut und träum was Süßes.
(Eberhard ab)
Und nun zu dir, süßes Bruderherz. Du hasst unsern Papa und sein Geld, und nimmst es mit vollen Händen. Und du hasst auch mich, deinen älteren Bruder. Nun gut, du wolltest den Segen nicht, so ziehe denn den Fluch an wie ein Hemd aus Brenn-Nesseln! Ja, ich werde dir von der Enterbung berichten, dass dir schwach wird in den Knien, aber ich werde dir auch berichten die letzten Worte deines Vaters: Geh zum Teufel, mein Sohn! Fahr zur Hölle, Thorstein!
ZWEITE SZENE
(Oldenburg, in der Kommunisten-Kneipe „Benno“, Thorstein und sein Genosse Volker.)
VOLKER
Bis die Genossen kommen, wollen wir den Puschkin genießen!
THORSTEIN
Ja, würdiger Ruhm eines Dichters, seinen Namen einem guten Wodka zu leihen.
VOLKER
Apropos Puschkin, ich habe Platon gelesen. In der vollkommenen Republik herrscht der reinste Sexualkommunismus! Alle Frauen leben in öffentlichen Frauenhäusern, die Männer besuchen sie nur zum Zeugungsakt, die Kinder wachsen dann in den Frauenhäusern auf.
THORSTEIN
Es lebe der Sexualkommunismus.
(Auftritt Erich mit langem roten Bart.)
Sei gegrüßt, mein Kaiser Barbarossa! Du hast tausend Jahre geschlafen im Kyffhäuser, aber es ward prophezeit, wenn es Deutschland am schlechtesten ginge, dann kämest du wieder. Und nun bist du da, Rotbart!
ERICH
Nichts vom Kaiser oder Zaren! Ich las gerade heute die Hausarbeit einer Studentin über die Weltanschauung Tolstois und Bakunins.
(Auftritt Werner)
VOLKER
Werner, echter Arbeitersohn! Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
WERNER
Mir auch einen Puschkin!
(Auftritt Thomas)
ERICH
Der alte Nazi!
THOMAS
Erinnert mich nicht daran! Ich liebe eben das preußische Militär, einst die Wehrmacht, nun die Nationale Volksarmee. Aber was anderes, Thorstein, dein Freund Marcus Jahn hat mir einen Brief von deinem Vater für dich mitgegeben.
(Er reicht ihm den Brief.)
THORSTEIN
Mal sehn, was der Alte von sich gibt. Hat eh nicht Hand und Fuß, was er redet.
(Thorstein liest den Brief, wird blass, lässt den Brief auf den Boden fallen und verlässt schweigend die Kneipe.)
VOLKER
Was schreibt sein Alter?
(Er hebt den Brief auf und liest.)
Enterbt… Fahr zur Hölle, mein Sohn!…
(Thorstein kommt wieder.)
THORSTEIN
Genossen! Brüder!
VOLKER
Was sagst du zu dem Brief?
THORSTEIN
Ic scheiß auf das Geld meines Vaters, ich scheiß auf das Geld an sich, ich scheiß auf den Kapitalismus!
WERNER
Aber dein Vater?
THORSTEIN
Fluch allen Vätern! Fluch meinem Vater! Fluch dem Vater Staat! Fluch dem Heiligen Vater in Rom! Fluch dem Vater im Himmel!
THOMAS
Wir treten dem Patriarchat in den Hintern!
VOLKER
Genossen, wir gründen heute eine Revolutionäre Zelle! Wie soll sie heißen?
ERICH
Revolutionäre Zelle Alexandra Kollontai!
THOMAS
Wer wird unser großer Vorsitzender?
WERNER UND ERICH
Thorstein! Wie sollen wir dich nennen?
THORSTEIN
Nennt mich einfach Bruder Nummer Eins.
VOLKER
So taufe ich dich mit echtem Puschkin auf den Namen Bruder Nummer eins.
(beiseite)
Ich wäre der bessere große Vorsitzende! Schließlich habe nur ich Lenins Konzepte zu Hegels Dialektik studiert.
THOMAS
Lang lebe die immerwährende Weltrevolution!
WERNER
Es lebe die Internationale Sowjet-Weltrepublik!
(Sie trinken.)
DRITTE SZENE
(Hage, im Haus Schwanke, Stephan und Thorsteins Jugendgeliebte Anna.)
STEPHAN
Ich habe hier einen Glücklichmacher für dich. Hundert Mark für dich. Kauf dir was Schönes.
ANNA
Ich will dein Geld nicht.
STEPHAN
(singt)
Valentines can‘t buy her…
ANNA
Was willst du von mir?
STEPHAN
Anna, ich will – dich! Ich will deine Liebe, deinen Leib!
ANNA
Ich liebe dich nicht!
STEPHAN
Liebst du immer noch den Thorstein? Ich will dir nur die Wahrheit über ihn sagen: Der Thorstein liebt Frauen nur im Alter von vierzehn bis zweiundzwanzig. Werden sie älter, schießt er sie in den Wind. Wenn ich aber mal eine Ehefrau habe, dann lieb ich sie auch noch, wenn sie fünfzig ist, wenn sie fett geworden wie ein Weinfass, wenn ihre Brüste welk und schlaff geworden sind, wenn ihre Beine blau vor Krampfadern, wenn ihr ein Bart auf der Oberlippe wächst!
ANNA
Bleib mir vom Leib mit deinen Krankenpfleger-Phantasien. Ich weiß, Thorstein träumt noch von meinem jungen Leib, den ich ihm hingab.
STEPHAN
Ich will dir sagen, wovon Thorstein träumt: Von Weibern, Weibern, Weibern, von Nadeshda Krupskaja, von Inès Amand, von Alexandra Kollontai, von Ruth Fischer, von Clara Zetkin und von der Leiche Rosa Luxemburgs!
ANNA
Das mag wohl sein.
STEPHAN
Ich habe gestern Nacht von dir geträumt, du hast deine großen schönen Brüste für mich entblößt.
ANNA
Lass mich bloß in Ruhe mit deinen nächtlichen Samenergüssen, das befleckt nur meinen Astralkörper!
STEPHAN
Du denkst, der Thorstein träumt von deinem appetitlichen Körper? Ich sage dir, das russisch-orthodoxe Silberkreuz am Silberkettchen, das du ihm zum Abschied und als Pfand deiner Liebe geschenkt hast, das hat er einer russischen Prostituierten im Aphrodite-Center geschenkt!
ANNA
Woher willst du das wissen?
STEPHAN
Ich weiß es eben. Und seine Genossen, mit denen er Wodka säuft und Haschisch raucht, die feiern ihren heiligen Brüderbund, indem sie gemeinsam in den Eros-Club gehen. Da hast du deine Treue!
ANNA
Das lügst du!
STEPHAN
Wie du willst! Aber Thorstein hat die Tochter eines Lehrers entjungfert, er ist Vater, nun hat er eine eigene Familie.
ANNA
Vater der Lüge du!
STEPHAN
Ich gebe dir hundert Mark und du nennst mich Satan?
ANNA
Ja, wenn Satan ein Mensch ist, dann bist du der Satan!
(Anna ab.)
STEPHAN
Warte nur, Flittchen Schneewittchen! Das soll mir der Hurenbock büßen! Nimmt mir das süße Fleisch weg, das ich doch allein vernaschen wollte! Warte nur, du Hurensohn – verzeih mir, Mama – du Hurensohn, ich werde mich an dir rächen, als wäre ich Achilles oder der Graf von Monte Christo!
ZWEITER AKT
ERSTE SZENE
(Stephan allein, später der Bastard Detlef.)
STEPHAN
Der Eberhard ist nun der Pater familiaris, aber ich, der Erstgeborene, bin sein geistiger und materieller Erbe. Ich will aber mein Erbe nicht später, denn wer weiß, wann ich krepiere, nein, ich will mein Erbe jetzt. Jetzt und hier zu leben ist der Weisheit Gipfel. Die Vergangenheit ist tot und vergessen, die Zukunft ist ungewiss. So lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot, sagt meine Klugheit. Carpe diem! Aber wie komm ich an das Erbe? Ein Testament wird erst eröffnet beim Tod des Menschen. Nun, man muss dem Schicksal nachhelfen. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Summa Summarum: Eberhard und Thorstein müssen sterben. Dazu brauch ich aber Hilfe. Da denke ich an das niedrige Subjekt, den Bastard Detlef, den Eberhard mit der Bauerndirne Gisela im Ehebruch gezeugt hat. Das ist ein Schweinehund, ein bekennender Jünger des Antichrist, der den Teufel lieber hat als den lieben Gott, gerade so einen Lumpenhund brauch ich. Gleich wird er kommen. Ich ekel mich vor ihm, denn er stinkt immer nach Schweiß, aber er kann mir nützlich sein.
(Es klingelt an der Tür.)
Malt man den Teufel an die Wand, kommt er auch gleich angerannt.
(Er öffnet die Tür, der schmierige Detlef tritt ein.)
DETLEF
Bruder, du hast mich eingeladen, hier bin ich. Ich denke, du willst mir sicher Geld geben. Denn wenn ich kein Geld bekomme, will ich keinen Menschen sehen.
STEPHAN
Das mit dem Geld können wir regeln, aber du musst auch etwas dafür tun. Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht leben. Vor den Preis haben die Götter den Schweiß gestellt.
DETLEF
Was tun, wie Lenin sagt?
STEPHAN
Wie steht es mit der Sohnespflicht?
DETLEF
Mein Vater liebt mich nicht. Er hat nur mal eben seine Feder in das Tintenfass meiner Mutter Gisela gesteckt. Dann hat er sie eine stadtbekannte Hure und Dorfmatratze genannt und allein gelassen mit ihrem Blagen, dem Bastard, mir, dem Hund!
STEPHAN
Wie steht es mit der Bruderliebe?
DETLEF
Nun, heiliger Stephan von Ungarn, dich lieb ich von Herzen, denn du bist böse wie ich. Aber den Thorstein hass ich von Herzen!
STEPHAN
Warum?
DETLEF
Ich weiß vom Teufel, dass Thorstein der Liebling Gottes ist. Und da ich Gott hasse, hasse ich auch seinen Liebling.
STEPHAN
Dein Herz ist voller Hass, du Hund. Aber das ist gut. Liebhaben ist was für Schwächlinge, wer die Welt neu gestalten will, brauch in seinem Herzen einen gewaltbereiten Hass. Wie hältst du es mit der Gewalt?
DETLEF
Ohne Gewalt gibts keine bessere Welt. Der Teufel, mein Herr und Meister, ist ja ein Mörder von Anfang an. Denke nur an Kain und Abel – ich bin Kain. Ich liebe es, wenn Kinder im Mutterschoß ermordet werden. Mir gefällt es, wenn ein aufgeheizter Pöbel die anständigen Leute an die Laternen hängt. Mir gefällt es, wenn Terroristen mit einem gezielten Kopfschuss einen Regierungspräsidenten hinrichtet.
STEPHAN
Das gefällt mir. Du bist ein echter Mann nach dem Herzen Satans! Mir wäre daran gelegen, und ich wollte es dir lohnen sozusagen mit dreißig Silberlingen, wenn du Eberhard und Thorstein aus dem Wege schaffen würdest.
DETLEF
Mir geschehe nach deinem Wort, du Satan, ich bin dein Knecht.
STEPHAN
Erst einmal quälen wir unsern Papa, indem du ihm einen Brief überbringst, indem geschrieben steht, dass Thorstein tot ist – am besten Selbstmord.
DETLEF
Selbstmord ist gut, die Freiheit eines freien Mannes.
STEPHAN
Wenn du meinen teuflischen Plan pünktlich erfüllst, geb ich dir das Wonneweib Anna ins Bett.
DETLEF
Anna im Bett, ha, gut, wenns nur keine Blagen bringt.
STEPHAN
Hier hast du hundert Mark, das sind dreißig Silberlinge nach israelitischer Währung, nun geh, bis bald.
(Detlef nimmt das Geld, ab.)
Ich werde diesem Lumpenhund natürlich die Anna nicht geben, ich begehre ja ihr süßes Fleisch selbst! Ach, ich wollte mich in ihrem Schoß ins Paradies vögeln!
ZWEITE SZENE
(Vater Eberhard, der Bastard Detlef, als Student unkenntlich verkleidet.)
EBERHARD
Du kennst also meinen verlorenen Sohn Thorstein von der Universität?
DETLEF
Er studiert aber nicht, sondern folgt fleißig dem Sex, dem Rock‘n‘Roll und den Drugs.
EBERHARD
So geht er also zugrunde?
DETLEF
Ganz und gar zugrunde!
EBERHARD
Wie?
DETLEF
Er hat vom vielen Drogenkonsum eine Paranoia bekommen, sah überall ihn verfolgende Nazis und – schnitt sich die Pulsadern auf.
EBERHARD
Was! - Tot?
DETLEF
Klappe zu – Affe tot.
EBERHARD
Wehe, wehe, wehe!
DETLEF
Sterbend hat er noch seinen Vater verflucht.
EBERHARD
Ich bin verflucht! Ich bin schuld an seinem Selbstmord! Das ist die Macht des väterlichen Fluches!
DETLEF
Ich muss nun gehen.
(Detlef ab. Auftritt Anna.)
ANNA
Vater Eberhard, wie finde ich dich? Du bist ja ganz bleich! Was ist geschehen?
EBERHARD
Thorstein ist tot!
ANNA
Nein!
EBERHARD
Doch, sein Freund hat es berichtet, er hat sich selbst ermordet und sterbend seinen Vater verflucht!
ANNA
Ich fühle immer mit Thorstein. Ich fühle seinen Kummer und seinen wilden rebellischen Geist. Aber wenn er gestorben wäre, so hätte ich es geträumt. Er wäre mir sicher als blutüberströmter Geist erschienen. Nein, ich ahne, ich ahne, er lebt und leidet noch.
EBERHARD
Vergeblicher Trost. - Ah!
(Er schreit auf. Auftritt Stephan.)
STEPHAN
Was schreist du, Papa?
EBERHARD
Dein Bruder ist tot! Selbstmord! Er hat sterbend seinen Vater verflucht!
STEPHAN
Du hast ihn ja zuerst verstoßen und verflucht! Dein Vaterfluch hat ihn in den Selbstmord getrieben.
EBERHARD
Wehe uns! Sein Blut komme auf mein Haupt!
STEPHAN
Das traurigste ist, dass Selbstmörder in die Hölle kommen, in die ewige Verdammnis, die ewige Qual!
EBERHARD
Ohne Hoffnung?
STEPHAN
Keine Hoffnung! Du hast deinen Sohn in die ewige Hölle geschickt! Du hast das Werk Satans getan!
EBERHARD
Ah weh mir!
(Eberhard sinkt um, ohnmächtig, wie tot.)
ANNA
Wie kannst du nur so reden, Stephan?
(Anna ab.)
STEPHAN
Nun ist der alte Vater tot! Ich, ich bin nun der Herr des Hauses! Thorstein ist enterbt! Ich bin der einzige Erbe! Ich werde Aktien kaufen, ich werde spekulieren, ich werde zum Spieler an der Börse, ich werde ein erfolgreicher Banker, denn das Geld, das Geld, das ist das Evangelium meiner Familie, das Geld ist unser Heiland und Seligmacher!
DRITTE SZENE
(Friesland, auf den weiten Wiesen sammeln sich um Zelte die Kommunisten, Thorstein, Volker und andere.)
VOLKER
Ich habe neue Genossen für den Kampf gefunden.
THORSTEIN
Echte Männer?
VOLKER
Nein, Männinnen, echte revolutionäre Flintenweiber!
THORSTEIN
Barbusig wie die Göttin Marianne der französischen Revolution?
VOLKER
Kämpferinnen für die freie Liebe, für den Sexualkommunismus, wie Alexandra Kollontai. Sie studieren in einer Frauengruppe namens ABRAXAS die Schriften von Wilhelm Reich und Simone de Beauvoir.
THORSTEIN
Wo sind sie?
VOLKER
(ruft)
Genossinnen!
(Drei Frauen kommen, jung und attraktiv.)
SONJA
Ich bin die Tochter eines Gastwirts. Ich liebe die russische Seele, vor allem den Wodka.
KARIN
Ich kämpfe gegen den Paragraphen 218, für die Legalisierung der Abtreibung.
HEDDA
Ich komme, weil mir der Thorstein so gut gefällt.
THORSTEIN
Du gefällst mir auch...
VOLKER
Wir müssen nun den Großen Vorsitzenden und Bruder Nummer Eins wählen.
ALLE
Thorstein, Thorstein, Thorstein!
VOLKER
(beiseite)
Ich wollte eigentlich der Generalsekretär sein.
THORSTEIN
Genossen und Genossinnen! Ich danke euch für eure Liebe! Auf, beim revolutionären Klassenhass und der roten Fahne! Bei uns soll es keine bürgerliche Ehe geben, sondern nur den Sexualkommunismus der freien Liebe!
VOLKER
Wie geht es dem Genossen Erich?
THORSTEIN
Er steckte im Dorf Nenndorf im Gefängnis. Ich und einige terroristisch aktive Genossen haben ihn befreit.
VOLKER
Was ward aus Nenndorf?
THORSTEIN
Wir haben es niedergebrannt. 72 Bauern starben, Männer, Weiber und Kinder.
VOLKER
Wo gehobelt wird, fallen Späne.
(Man hört das Heulen von Polizeisirenen. Bewaffnete Polizisten umzingeln den Haufen der Kommunisten.)
POLIZIST
(durch ein Megaphon)
Sie sind umzingelt. Legen Sie Ihre Waffen nieder und ergeben Sie sich!
ALLE KOMMUNISTEN
(lachen dröhnend)
Nie!
(Ein Mann, der an seiner Kleidung als katholischer Priester kenntlich ist, löst sich aus den Scharen der Polizisten und nähert sich den Kommunisten.)
VOLKER
Halt, absurder Pfaffe! Was willst du von uns? Ich kenne deine Phrasen vom lieben Gott auswendig, denn meine dumme Mutter ist Katholikin.
PFARRER BERNHARD
(ankommend)
Ihr jungen Männer und Frauen, ich bin der Pfarrer Bernhard von Sankt Georg und komme mit einem Friedensvorschlag.
THORSTEIN
Lass hören deine Litanei und leire deinen Rosenkranz vor uns ab.
PFARRER BERNHARD
Die Polizei ist bereit, Sie alle frei und ungestraft ziehen zu lassen, wenn Sie bereit sind, Ihren Anführer Herrn Thorstein Schwanke an die Justiz auszuliefern.
ALLE
(brüllend)
Niemals!
THORSTEIN
Genossen! An mir ist nichts gelegen. Der Einzelne ist nichts, die Partei ist alles. Übergebt mich nur, denn wenn ihr frei seid, könnt ihr von dieser Kuhwiese aus die Weltrevolution beginnen und die Welt aus den Angeln heben!
HEDDA
Leever doot as Slaav!
(aus der Schar der Kommunisten fällt ein Schuss. Die Polizisten antworten mit Schüssen. Scharmützel.)
DRITTER AKT
ERSTE SZENE
(Anna im Garten des Hauses Schwanke. Abenddämmerung. Sie singt zur Gitarre einen Blues-Song.)
ANNA
Ich wachte eines Morgens auf
Und fand mich selber tot!
Ich wachte eines Morgens auf
Und fand mich selber tot!
Oh Baby, Baby, du bist fort,
Geliebter, du bist tot!
(Sie weint.)
Wer kommt da und stört mich in meiner Trauer um den verewigten Toten?
(Auftritt Stephan.)
STEPHAN
Anna, du Wonneweib, hör auf zu wimmern! Du bist fürs Glück geboren! Du bist für die Lust geschaffen! Komm schon!
ANNA
Du ekelst mich an. Du hast ein Herz so kalt wie ein Geldstück. Du hast den Namen, dass du lebst, aber du bist tot! Thorstein, sagt man, ist tot, aber er wird mir erscheinen als mein guter oder böser Engel.
STEPHAN
Gib dich nicht mit Gespenstern ab. Er würde wie ein Vampyr dir das Blut aus der Halsschlagader saugen. Nein, komm zu mir, werde mein Weib! Sei am Tag meine Putzfrau und Köchin und in der Nacht meine Hure!
ANNA
Danke für diese schönen Aussichten.
STEPHAN
Ich werde dich gut bezahlen.
ANNA
Was muss ich tun?
STEPHAN
Mit mir zum Standesamt gehen und eine bürgerliche Ehe schließen. Ich vermache dir dann meine Lebensversicherung. Wenn ich sterbe, werde ich dir nicht als Vampyr begegnen, sondern dir meine Rente auszahlen lassen.
ANNA
Was für eine schöne Liebeserklärung!
STEPHAN
Ich bin kein Poet. Aber ich rasple kein Süßholz, sondern biete Bares.
ANNA
Ich liebe dich nicht.
STEPHAN
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt! Siehst du, ich kenne auch den Goethe. Ich kenne sogar Nietzsche: Und gehst du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht!
ANNA
Ich gehe!
STEPHAN
Ich schleife dich an den Haaren zum Standesamt und dann besteige ich als Mann dein jungfräuliches Bett!
ANNA
Du Biest!
STEPHAN
Du wirst schon sehen!
(Stephan zornig ab.)
ANNA
Hunde! Wollt ihr ewig leben? - Aber kaum ist der Satan fort, kommt schon der Beelzebub!
(Auftritt Detlef.)
DETLEF
Was machst du hier?
ANNA
Ich beweine meinen blauen Toten.
DETLEF
Den Thorstein und den Eberhard?
ANNA
Ja, ich bin untröstlich wegen Thorsteins Tod.
DETLEF
Alles Lüge! Eberhard lebt! Thorstein lebt!
ANNA
Lügst du mich an, du Vater der Lüge?
DETLEF
Ich schwöre bei den Tatzen meiner Katze: Thorstein und Eberhard leben.
ANNA
(freudig)
Thorstein lebt! Mein Geliebter lebt! Ich werde ihn wiedersehen! Ich werde ihn betten an meinen Brüsten! Nur in seiner Liebe findet meine Seele Frieden.
DETLEF
Wäre er doch tot, der Scheißkerl.
ANNA
Was kümmert es den Mond, wenn der Hund ihn anbellt? Was kümmert es die deutsche Eiche, wenn die sau sich an ihr reibt?
(Anna nach rechts und Detlef nach links ab.)
ZWEITE SZENE
(Ostfriesische Dorfkneipe. Thorstein und seine Genossen zechen Wodka. Piet.)
THORSTEIN
Auf Mütterchen Russland mit ihrem fetten Arsch und den Wodka!
ERICH
Auf Maria und Johanna und das Marihuana!
(Auftritt Piet.)
PIET
Seid ihr die marxistische Zelle?
THORSTEIN
Ja.
PIET
Ich will bei euch mitmachen.
THORSTEIN
Du willst Kommunist werden und für die Weltrevolution kämpfen? Bist du bereit, den schrecklichen Bund mit Blut zu unterzeichnen?
PIET
Der große russisch-orthodoxe Kirchenvater Josef Stalin sagte: Mit uns ist der Teufel! Der Teufel ist ein Kommunist!
THORSTEIN
Bei Prometheus, wir werden Gottvater das himmlische Feuer rauben und neue Menschen schaffen nach unserem Ebenbild!
PIET
Ich unterzeichne den Pakt mit dem revolutionären Luzifer mit meinem Blut!
THORSTEIN
Keinen Bund mit Gott?
PIET
Ich will lieber dem Teufel begegnen als Gott! Ich will lieber in die Hölle kommen als in den Himmel!
THORSTEIN
Warum, Genosse?
PIET
In der Hölle gibt es Rockmusik und Glücksspiel.
THORSTEIN
Wie bist du zur Einsicht gekommen, dass der historische und dialektische Materialismus die einzig wahre wissenschaftliche Weltanschauung ist?
PIET
Ich ward in meiner Kindheit gefüttert mit Opium, mit evangelischem Christentum. Ich habe im ersten Abendmahl einen großen Kelch mit Mohnmilch geleert. Aber ich wollte dann gleich darauf nichts mehr wissen von der Religion meiner Großmutter und Mutter, ich wollte vor allem frei sein von meinem Vater, vom Vater Staat, vom Vaterland und vom Vatergott. Ich ward Anarchist und schwärmte für die Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg. Aber ein Freund machte mich mit den Lehren Trotzkis bekannt, mit Kriegskommunismus und Rotem Terror. Ich las „die Mutter“ von Maxim Gori und begann, für die russischen Kommunisten zu schwärmen. Statt der süßlichen christlichen Liebe wählte ich den revolutionären Hass des Proletariats!
THORSTEIN
Auch wir sind für die Liebe!
PIET
Ja, auch ich liebte ein Mädchen, denn auch des Kommunisten Herz schlägt links! Aber meine Geliebte, die schlanke, knabenhafte Anna Bella, war eine Christin und wollte keinen kommunistischen Liebhaber. Da wandte ich mich einer neuen Geliebten zu, der Wodkaflasche.
THORSTEIN
Wenn wir erst die Macht ergriffen haben, gibt es keine Christinnen mehr, dann gibt es nur kommunistische Weiber, die allen gehören.
PIET
Liebst du auch ein Weib?
THORSTEIN
Ich denke immer öfter wieder an meine Jugendgeliebte Anna. Ja, ich denke an meine Jugend, an meine Kindheit zurück, als meine Großmutter noch lebte. Sie sagte zu mir: Bist du einer von Jesus? Ich sagte: Nein, Oma, ich bin ein Kommunist. Da sagte sie: Pfui, mein Junge. Aber ich habe sie geliebt, und sie hat mich geliebt. Ich habe zwar in manchen Weibes Bett gelegen, aber geliebt hat mich nur meine Anna.
PIET
Meine Geliebte heißt Anna Bella und deine heißt Anna.
THORSTEIN
Genossen! Ich muss zurück in meine Heimat. Ich will meine Anna wiederhaben!
ERICH
Wohin du gehst, dahin gehen auch wir!
VOLKER
Und deine Geliebte ist auch unsere Geliebte!
PIET
Und dein Dämon ist auch unser Dämon!
(Sie brechen alle zusammen auf.)
VIERTER AKT
ERSTE SZENE
(Thomas und Thorstein vor dem Hause Schwanke in Hage, Thorstein als Berliner Student verkleidet.)
THOMAS
Du willst nun heim ins Vaterhaus?
THORSTEIN
Geh du als Bote vor mir her.
THOMAS
Was soll ich sagen? Ich bin ganz leer im Kopf. Gib du mir die Worte ein.
THORSTEIN
Künde einen Berliner Studenten an. Wir Berliner Studenten waren schon immer die Speerspitze und Avantgarde der Revolution. Ich sage nur: Dutschke.
THOMAS
Ich bereite dir den Weg heim ins Vaterhaus.
(Thomas ab.)
THORSTEIN
O Heimat! Das einzig Schöne an dir ist das freie Meer und der freie offene Himmel. Ansonsten herrscht in dir die grenzenlose Dummheit! Unter dem prallen Euter der Kühe wuchs ich groß. Friesland! Du platte Flunder, verheiratet mit einem Hering! Blonde Mutter! Ach, ich denke an meine Großmutter. Mein Vater hat ihr die Heizung herunter gestellt, um Geld zu sparen, meine Großmutter musste frieren. Ich hasse ihn bis zum Jüngsten Gericht der Weltrevolution! Aber auch gegen meine Großmutter hab ich rebelliert, denn als sie mit Gift das Ungeziefer bekämpfte, hab ich protestiert und gekämpft für das Lebensrecht des Ungeziefers! Ich spielte Robin Hood und Klaus Störtebecker. Meine Kindheit war ein Kerker. Vater und Mutter unterdrückten mich. Ich hasse meine Kindheit, ich hasse die Welt, ich hasse Deutschland, ich hasse mein Leben, ich hasse das Schicksal, das mich verflucht hat, das mich ins Leben gesandt hat, um mich zu quälen! Und ich hasse mich selbst wegen meiner grenzenlosen Selbstqual! Wer ist der schlimmste Feind des Menschen? Der innere Schweinehund! Mein innerer Schweinehund ist eine kleinbürgerliche Sau, eine bourgoise Schlampe! Wie soll ich meinem Vater anders gegenüber treten als mit der gezückten Pistole in der Hand? Genosse Mauser, wie Majakowski dichtet! Die Revolution kommt aus den Gewehren! Ich komme, zu stürzen das Patriarchat, ich stürze meinen Vater, das Schwein, ich stürze das deutsche Vaterland, das Land der Richter und Henker, ich stürze Vater Staat, den bösen Leviathan, und ich stürze Gott Vater, den Weltpräsidenten! Nein, ich diene nicht! Der Mensch soll sich setzen auf Gottes Thron! Uns aus dem Elend zu erlösen, brauchen wir keinen Gott und Messias, das müssen wir schon selber tun! Verdammte dieser Erde, auferstanden aus Ruinen! Unserer Götter sind Luzifer und Prometheus, die Revolutionäre! Unser Christus ist Lenin! Unserer Kirche ist die Kommunistische Partei! Unsere Nächstenliebe ist der Revolutionäre Hass! Mich ekelt die Welt an! Ich werfe die Welt in den Abfalleimer des Universums! Gift und Galle, Kot und Kotze, Tod und Teufel! In Norden ist noch keiner was geworden, da kann man sich nur selbst ermorden! Zum Henker mit meiner Seele! Zum Teufel mit meiner Familie!
(Thorstein betritt das Vaterhaus.)
ZWEITE SZENE
(Im Hause Schwanke. Der verkleidete Thorstein und Anna.)
ANNA
Willkommen! Du bist ein Freund Thorsteins? Wie ist dein Name?
THORSTEIN
Ich bin Andreas, Student aus Berlin.
ANNA
Willst du Thorsteins Vater kennen lernen?
THORSTEIN
Ich ehre Thorstein, und ich möchte alles über seine Geschichte wissen.
ANNA
Dann komm, ich führe dich in die Ahnengalerie.
(Sie treten in einen Flur mit alten Photographien und Gemälden an den Wänden.)
THORSTEIN
Das sind Thorsteins Ahnen?
ANNA
Ja, hier auf der rechten Seite siehst du die mütterlichen Vorfahren. Hier ist seine Mutter Doris, die an Krebs gestorben, als Thorstein sechs war. Hier ist seine geliebte Großmutter Anna, die ihn eigentlich erzogen hat. Hier siehst du seine Urgroßmutter Petheda, sie war eine Bäckerin auf Baltrum. Hier siehst du seinen Ur-Urgroßvater Ulrich Ulrichs, der ein Seemann war.
THORSTEIN
Bis wohin ist er gekommen?
ANNA
Bis nach Sumatra.
THORSTEIN
Und hier auf der linken Seite die Väter?
ANNA
Da siehst du ein Jugendbildnis seines Vaters Eberhard, hier kommt dessen Vater Erich Willi, der ein westpreußischer Leutnant war, im zweiten Weltkrieg als Soldat gefallen. Hier Thorsteins Urgroßvater Karl-Heinz, er stammte aus Königsberg. Und hier der Patriarch Sergej, er stammte aus Moskau.
THORSTEIN
Der mythische Urvater ein Russe! Darum liebt Thorstein wohl die Bolschewiki und den Wodka so sehr?
ANNA
Und daher seine Schwermut.
(Auftritt Stephan.)
STEPHAN
Wer bist denn du?
ANNA
Das ist Andreas, ein Student aus Berlin, ein Freund Thorsteins.
STEPHAN
Ich bin Stephan, Thorsteins älterer Bruder.
THORSTEIN
Ich habe schon viel von dir gehört. Aber leider habe ich keine Zeit, mich länger mit dir zu unterhalten, denn es erwarten mich Freunde im Café.
(Thorstein und Anna ab.)
STEPHAN
Andreas, ein Student aus Berlin? Aha! Doch mir kann man kein X für ein U vormachen. Nein, nein, ich durchschaue deine Maske, Thorstein! Du tust immer so, als ob du das Geld und die Bank verachtest, aber du bist in Wahrheit genauso geldsüchtig und habgierig wie ich! Du alter Erbschleicher! Nein, da weiß ich einen Riegel vorzuschieben.
(Auftritt Johann.)
JOHANN
Hallo Thor… äh… Stephan!
STEPHAN
Alter Johann! Papas Skatbruder! Du kommst gerade recht.
JOHANN
Was will denn mein Erzengel von mir?
SEPHAN
Treuer Freund des Hauses und Blutsbruder Eberhards, es ist der verlorene Sohn zurück, der sein Erbe mit französischen Huren in Paris verschwendet. Nun ist er hier, die Sau, und will des Vaters Herz brechen!
JOHANN
Da sei Gott vor!
STEPHAN
Gott? Ja, ja, du hast ja in Gottes Skatrunde gesessen. Selbst ist der Mann, Johann!
JOHANN
Was soll ich tun?
STEPHAN
Vergifte Thorstein!
JOHANN
Ich nenne mich einen Christen! Ich bin ein reformiert Getaufter und gehe alle Weihnachten in die Kirche. Aber mit dem Tod ist alles aus! Dann kommt das Nichts! Aber nein, mit einem Mord will und kann ich mein Gewissen nicht beflecken. Denk dir was Besseres aus.
(Johann ab.)
STEPHAN
Wie sind mir diese Frömmler zuwider!
DRITTE SZENE
(Johann und Thorstein im Garten vor dem Hause Schwanke.)
JOHANN
Junger Mann, wer bist du?
THORSTEIN
Ich bin die Flamme der Weltrevolution!
JOHANN
Lass dich näher ansehen.
THORSTEIN
Ich bin der Andreas, ein Berliner Student.
JOHANN
Aber diese Narbe am linken Puls… Du bist doch Thorstein!
THORSTEIN
Du weißt alles, Johann. Ja, ich bins.
JOHANN
Was suchst du hier in Ostfriesland?
THORSTEIN
Meine Wurzeln. Ich bin wie das aufgewühlte Meer! Ich finde keinen Frieden!
JOHANN
Im Vaterhause ists gefährlich.
THORSTEIN
Warum?
JOHANN
Der Stephan will dich ermorden!
THORSTEIN
Will er das? Hat er kein Bruderherz?
JOHANN
Er hat das Bruderherz gegen einen Tresor eingetauscht. Geh lieber fort von hier wie Abraham aus Ur in Chaldäa.
THORSTEIN
Ich weiß nicht, wen du meinst. Aber gut, ich gehe. Aber bevor ich gehe, gibt es nur noch einen einzigen Wunsch.
JOHANN
Was wünschst du dir, mein Prinz Karneval?
THORSTEIN
Ich will, ich muss Anna noch einmal sehen! Sie ist mein besseres Selbst, mein irdischer Schutzgeist. Ich, ich bin der Tod! Aber Anna ist das pure Leben! Ich bin die Revolution des Hasses der Verdammten dieser Erde! Aber Anna ist die Revolution der Zärtlichkeit der himmlischen Frauen! Ich, ich bin die Hölle! Aber Anna ist das Paradies!
JOHANN
Getrost, mein zorniger Erzengel, du wirst die Geliebte wiedersehen…
(Johann ab)
VIERTE SZENE
(Auftritt Anna, sie tritt zu Thorstein im Garten des Hauses Schwanke)
ANNA
Hallo Andreas!
THORSTEIN
Hallo schöne Frau!
ANNA
Wirst du Thorstein in Oldenburg bald besuchen?
THORSTEIN
Ich? Ist es etwa ein Geschenk, wenn ich jemanden besuche?
ANNA
Wieso?
THORSTEIN
Ich bin ein Wurm, kein Mensch!
ANNA
Gott hat dich nicht als Wurm geschaffen!
THORSTEIN
Ich habe gesoffen und alle Drogen probiert, ich habe gelogen und gestohlen, ich habe Frauen geliebt und sie wieder verlassen, ich habe die Ehe gebrochen, ich habe geflucht und Gott gelästert. Ich bin ein Stück Scheiße!
ANNA
Gibt es nicht eine Frau, die dich liebt?
THORSTEIN
Doch, es gibt eine Frau, die mich liebt, und die ich liebe, aber sie ist weit weg, sie lebt in Tübingen.
ANNA
Wie heißt sie?
THORSTEIN
Eva, wie die Frau aus dem Paradies!
ANNA
Warum gehst du nicht zu ihr?
THORSTEIN
Ich bin ihrer nicht würdig.
ANNA
Aber Eva liebt dich!
THORSTEIN
Nein, nein, eine Frau, die so niedrig gesinnt ist, dass sie mich Stück Scheiße liebt, ist meiner nicht würdig!
ANNA
Das ist ein unglückseliger Gedanke!
THORSTEIN
Und du, schöne Frau, liebst du?
ANNA
Ich liebe! Ich liebe Gott und Thorstein!
THORSTEIN
Den Revolutionär? Du, als Gläubige?
ANNA
Wenn du ihn so kennen würdest, wie ich ihn kenne! Er hat ein zutiefst getauftes Herz! Er liebt die Armen! Und nicht mit schönen Worten nur, sondern er macht sich auch die Hände schmutzig! Er liebt den Frieden und die Gerechtigkeit, und er weiß, es gibt keinen Völkerfrieden ohne Gerechtigkeit! Er hat hohe Ideale! Er liebt die Philosophie! Und er hat etwas, nun, ich weiß nicht was, ich muss ihn einfach lieben!
THORSTEIN
Mögest du ewig glücklich sei mit ihm! Ich aber bin verdammt!
(Thorstein ab)
FÜNFTE SZENE
(Zeltlager der Kommunisten. Volker und Erich und die andern.)
VOLKER
Der Thorstein bleibt lange weg. Er ist wohl bei seiner christlichen Geliebten. Er ist wohl umgekehrt ins Lager der klerikalen Reaktion!
ERICH
Thorstein ist treu.
VOLKER
Er hat Lenins Konzepte zu Hegels Dialektik studiert und Brechts Mo-Tti, aber die Philosophen haben die Welt nur erklärt, es kommt darauf an, sie zu verändern! Ich, ich habe die Politische Ökonomie studiert.
ERICH
Du wärst der bessere Vorsitzende, meinst du?
VOLKER
Ja! Thorstein ist ein Rechtsabweichler! Du weißt, was Genosse Stalin mit Sinowjew und Bucharin getan?
ERICH
Er hat sie erschossen.
VOLKER
Und du weiß, was Väterchen Stalin mit dem Irrlehrer Trotzki, dem Juden, getan?
ERICH
Er hat ihn mit einem Eispickel erschlagen.
VOLKER
Und nun weißt du auch, was ich mit dem Rechtsabweichler Thorstein tue, der unsere Sache an die klerikale Reaktion verrät!
ERICH
Wenn du meinen Freund Thorstein anrührst, rührst du meinen Augapfel an! Denn ich bin Erich, ich bin Er und Ich!
(Erich zieht ein Solinger Messer und ersticht Volker)
VOLKER
(sterbend)
Ah! verflucht!
ERICH
Der brennt schon!
(Auftritt Thorstein)
THORSTEIN
Erich! Genossen! Was ist hier los?
ERICH
Der Judas hat sich selbst ermordet!
THORSTEIN
Auf den Einzelnen kommt es nicht an, es kommt nur auf die Partei an!
THOMAS
(singt)
Die Partei, die Partei hat immer recht!
WERNER
Thorstein, du bisst unser Großer Vorsitzender, du bist Unser Bruder Nummer Eins! Was ist nun unsere Strategie?
THORSTEIN
Ich habe den Strategieplan in meinem Kopf!
THOMAS
Wo andere Stroh haben, Thorstein, im Kopf, da ist bei dir die Antwort auf Lenins Frage: Was tun?
THORSTEIN
Geht erst einmal schlafen, Genossen! Erst zur Wodkaflasche und dann zur Genossin! Ab in die Zelte! Wenn das Morgenrot der Revolution im Osten erscheint, dann entfalte ich euch mein neustes Strategiepapier, den neuen Fünf-Jahres-Plan!
(Genossen und Genossinnen verschwinden in den Zelten. Thorstein allein, er greift zur Gitarre und singt.)
Der Cäsar war ein Kaiser
Und war ein Vater auch,
Es stach sein Sohn, der Brutus,
Den Dolch ihm in den Bauch.
Der Brutus nahm dem Cäsar
Den stolzen Kaiserthron,
Und sterbend sprach der Vater:
Auch du, mein lieber Sohn?
Ja, ja, du sollst deinen Vater lieben, spricht der himmlische Welttyrann! Aber Jesus von Nazareth, der Sozialrevoluttionär, der Freud der Huren und der Armen, sprach: Wer nicht Vater und Mutter hasst, kann nicht mein Genosse sein! So steht es bei Ernst Bloch geschrieben. Und ich hasse meinen Vater mit revolutionärem Klassenhass, denn er ist der Klassenfeind! Er ist der Knecht des Mammon! Hab ich ihn eigentlich schon ermordet, oder hab ich das nur geträumt? Was für Mordsgelüste in meinem Herzen! Mein Herz ist eine Mördergrube? Und wer ist mein allerschlimmster Feind? Das ist mein innerer Schweinehund, das ist die bourgoise Sau in mir, die kleinbürgerliche Schlampe! Die Genossen und Genossinnen von der Roten-Armee-Fraktion haben sich doch auch selbst ermordet! Der Selbstmord als letzte Waffe im politischen Kampf! So haben sie die revolutionären Massen inspiriert! Seneca hat sich selbst ermordet! Lieber ermorde ich mich selbst, als dass meine Freunde mich ermorden! Mein bester Freund – Judas! Mit einem kommunistischen Bruderkuss begrüßt er mich und bohrt mir das Messer ins Herz! Nein! Ehe ich sterbe von der Hand der Linksabweichler, bring ich mich selber um, dass nicht die Töchter der Kirche frohlocken! Der Selbstmord als höchster Akt der menschlichen Freiheit! Und trete ich dann als Toter vor meinen Schöpfer, gebe ich Gott-Vater eine Ohrfeige und sage: Hier hast du dein verschissenes Leben zurück! Ich habe dich nie gebeten, mich zu schaffen!
SECHSTE SZENE
(Der maskierte Thorstein, sein Genosse Werner, und der Bastard Detlef vor dem Hause Schwanke.)
DETLEF
Was wollt ihr?
THORSTEIN
Dieser mein Genosse bleibt hier. Ich will ins Haus Schwanke.
DETLEF
Wer bist du?
THORSTEIN
Ich bin die Gerechtigkeit! Was hast du da im Korb?
DETLEF
Einige Brötchen und eine Flasche Wasser für meinen Zeuger. Ich liebe ihn nicht, aber ich will ihn auch nicht krepieren lassen im Keller.
THORSTEIN
Im Keller? Kann ich ihn sehen?
DETLEF
Komm mit!
(Thorstein und Detlef treten ins Haus ein und begeben sich in den Keller.)
THORSTEIN
Hast du den Schlüssel für den Keller?
DETLEF
Wuff-wuff! Ich habe den Schlüssel des Todes und der Hölle, denn ich bin der Engel Apollyon!
THORSTEIN
Schließe die Hölle auf!
(Sie treten ein, Eberhard hockt angekettet am Boden.)
EBERHARD
Detlef, mein Bastard! Was bringst du?
DETLEF
Trocken Brot und Wasser.
EBERHARD
Gut, mein verfluchtes Leben im Sein zu erhalten! Wer ist der Fremde bei dir?
THORSTEIN
Ich bin die Gerechtigkeit! Kennst du mich nicht?
EBERHARD
Ich kenne dich nicht.
DETLEF
Wie kommt es, dass du hier im Keller als Gefangener hockst?
EBERHARD
Das hat Stephan getan! Er ist doch das Bild seines Vaters! Geld geht über Liebe! So hab ich es ihn gelehrt, und er ist ganz mein Fleisch und Blut! Dagegen der Thorstein – den muss mir seine Mutter untergeschoben haben.
(Thorstein stürmt aus dem Haus und trifft vor der Tür auf Werner.)
THORSTEIN
Feuer und Schwert für diesen Staat! Die Welt ist aus den Angeln! Weh mir, dass ich allein berufen bin, sie wieder einzurichten! Ich komme, ein Feuer auf die Erde zu werfen, und wie wollte ich, dass es schon brenne!
WERNER
Du redest irres Zeug! Bist du verrückt geworden?
THORSTEIN
Das hat der Stephan getan! Ja, wenn der Stephan seinen Vater hasst, dann nur, weil er nur an seinem Geld interessiert ist! Es kommt nicht auf die Tat, es kommt auf das Motiv an! Wenn ich meinen Vater und alle Väter hasse, dann rede ich im gerechten Zorn des Weltgerichts, das die Weltgeschichte ist!
WERNER
Was tun?
THORSTEIN
Rache! Ich will sein der Gott der Rache, und du, du sollst mein Rache-Engel sein!
WERNER
Ich bin nur ein Prolet, du bist der Hegelianer. Sag mir, was ich tun soll.
THORSTEIN
Bring mir den Scheißkerl Stephan, aber lebend! Mein Vater, nun gut, so ist das in der dialektischen Materie, ich stamme aus seinem Samen, aber mein Bruder – soll ich meines Bruders Hüter sein?
WERNER
Ich bring ihn dir lebend, oder ich selbst komme nicht lebend zurück.
(Werner ab.)
THORSTEIN
Nichts von Versöhnung! Nichts von Vergebung! Ich bin das Feuer der Rache und das Schwert der strafenden Gerechtigkeit!
(Thorstein ab.)
FÜNFTER AKT
ERSTE SZENE
(Im Hause Schwanke. Morgengrauen. Stephan allein.)
STEPHAN
Was hab ich geträumt? Ich bin noch erschüttert. Dunkel erinnere ich mich. Es war ein bedeutender Traum. Ich will nachsinnen, ob ich ihn noch erhaschen kann. Ja, das war doch… ja, das wars…
(Auftritt Johann)
JOHANN
Stephan, du bist ja so bleich.
STEPHAN
Höre meinen Traum, Alter, und du wirst verstehen, warum ich so bleich bin.
JOHANN
Erzähle nur, ich bin gut im Zuhören.
STEPHAN
Also, meine Seele verließ den Körper, der im Bett liegen blieb. Meine Seele schwebte in die Nacht des Weltalls hinaus. Ich schwebte wie ein schwarzer Schatten immer weiter aufwärts, bis ich an die Himmelstür kam. Die öffnete sich einen Spalt, dahinter war ein gleißendes Licht, und in dem Licht sah ich das Antlitz des gekreuzigten Jesus. Der sprach zu mir: Ich kenne dich nicht, hinweg von mir, du Übertreter des Gesetzes, hinweg mit dir in das höllische Feuer, wo Heulen und Zähneknirschen ist! Da sah ich einen Abgrund, voller Feuer, und in den Flammen sah ich Menschen wie glühende Kohlen, die von Dämonen gequält wurden, welche wie hässliche Monster aussahen, ich roch einen Gestank von Schwefel und hörte entsetzliche Schmerzensschreie.
JOHANN
Das war nur ein Alptraum. Wahrscheinlich hattest du Magendrücken. Du bist aber unschuldig wie ein fünfjähriger Knabe.
STEPHAN
Ah, du quälst mich. Ich glaube zwar nicht an all den kirchlichen Käse und das Pfaffengeschwätz, aber bitte rufe Pastor Wolfgang, ich will ihn doch fragen, was mein Traum bedeutet. Ich meine zu wissen, dass er sich mit der Kunst der Traumdeutung wissenschaftlich beschäftigt hat.
(Johann greift zum Telefon und ruft den Pastor Wolfgang an. Kleine Pause mit Zwölf-Ton-Musik. Auftritt Pastor Wolfgang.)
PASTOR WOLFGANG
Was begehrst du, mein Sohn, von der Kirche?
STEPHAN
Ich brauche den Trost der Kirche.
PASTOR WOLFGANG
Wie, Geld?
STEPHAN
Nein, sondern eine Traumdeutung. Ich träumte nämlich, dass Jesus mich in die Hölle verdammte.
PASTOR WOLFGANG
Aber es gibt keine Hölle. Alle Menschen gehen durch einen Tunnel ins Licht, sehen ihr ganzes Leben vor ihrem geistigen Auge, und dann gehen sie alle, alle ins Licht Gottes ein.
STEPHAN
Eigentlich glaub ich ja nicht an den Kirchen-Käse, ich glaube nicht an die Unbefleckte Empfängnis…
PASTOR WOLFGANG
Nun, die Bibel nennt ja auch Josef den Vater Jesu…
STEPHAN
Es gibt also keine Verdammnis? Was ist denn mit der Todsünde?
PASTOR WOLFGANG
Es gibt keine Hölle, nur Hitler ist darin. Und Todsünden sind nur Vatermord und Brudermord. Also sei getrost, du kommst gewiss in den Himmel.
STEPHAN
Vatermord! Brudermord!
PASTOR WOLFGANG
Da dein Vater schon tot ist und dein Bruder Thorstein auch, kannst du keiner Todsünde mehr schuldig werden. Sage dir nur immer: Ich bin getauft! Ich bin unsterblich! Und damit gebe ich dir meinen Segen.
(Pastor Wolfgang ab.)
STEPHAN
Was ist das für ein Lärm draußen?
(Vor dem Haus brüllen die Kommunisten, schießen mit Pistolen und werfen Molotow-Cocktails durch die Fenster.)
KOMMUNISTEN
Tod den Schweinen! Hängt die Kapitalisten an den Straßenlaternen auf! Nieder mit der Herrschaft des Geldes! Feuer und Flamme für das Haus Schwanke!
WERNER
Genossen! Spart mir den Stephan Schwanke auf! Ich will ihn lebendig! Ich habs dem Großen Vorsitzenden gelobt!
STEPHAN
Johann! Bevor ich Thorsteins Räubern in die Hände falle, bring du mich um!
JOHANN
Aber Stephan, das verbietet mir mein christliches Gewissen! Ich geh und rufe die Polizei.
(Johann ab.)
STEPHAN
Ich will beten: Wie heißt es doch gleich? Vaterunser… wie geht es weiter? Ich glaube an keinen Vaterunser… Oder: Ave Maria? Nein, es heißt: Ave Cäsar, die Todgeweihten grüßen dich! Ist nichts mit dem Gebet. Sie sollen mich nicht kriegen! Ich häng mich auf, wie Judas!
(Stephan knüpft eine Schlinge, legt sie um seinen Hals.)
Ich verfluche meine unsterbliche Seele! Klappe zu, Affe tot!
(Stefan erhängt sich. Die Kommunisten stürmen das Haus.)
WERNER
Wie, Stephan tot? Und ich hab Thorstein versprochen, den Bruder lebend zu fangen. Bei Mao, ich hab mein Gesicht verloren. Ich schieß mir ins Herz, das links schlägt, ich schieß mir ins Zentralorgan. Lang lebe die Arbeiterklasse und ihre Vorhut, die Partei!
(Werner erschießt sich.)
ZWEITE SZENE
(Im Hause Schwanke. Eberhard und der maskierte Thorstein.)
EBERHARD
Ach Stephan tot, ach mein Sohn, mein Sohn Stephan, mein Stephan ist tot!
THORSTEIN
Und dein anderer Sohn?
EBERHARD
Tot!
THORSTEIN
Aber ich lebe, Vater! Ich bin‘s, Thorstein, dein Sohn!
EBERHARD
Ach Stephan, mein Fleisch und Blut, mein Ebenbild! Was machst du hier Thorstein? Was hast du mit den Kommunisten zu tun?
THORSTEIN
Ich bin der Große Vorsitzende Bruder Nummer Eins! Ich bin der Führer der internationalen Weltrevolution!
EBERHARD
Ah, ich sterbe! Mein Herz! Stephan, ich komme zu dir ins Nichts! Sei verflucht, Thorstein!
(Eberhard stirbt am Herzschlag. Auftritt der Kommunisten mit Anna.)
ERICH
Genosse Lenin! Hier bringen wir deine Geliebte, die heilige Anna! Wir haben sie im Zeltlager geschnappt.
THORSTEIN
Anna…
ANNA
Thorstein, ich vergebe dir alle deine Sünden und ich segne deine Seele!
THORSTEIN
Ich brauch keine Vergebung, ich habe immer alles für die Revolution und das Paradies auf Erden gegeben.
ANNA
Ich will wieder mit dir zusammen sein! Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben!
THORSTEIN
Das geht nicht! Ich kann kein privates Glück gebrauchen! Will keine bürgerliche Ehe! Will keinen Klotz am Bein von Weib und Kindern! Ich habe bei den Gebeinen Lenins geschworen, mit meinem ganzen Leben einzig und allein für die Weltrevolution zu leben! So wahr der Satan lebt!
ANNA
Pfui, Thorstein! Nein, dann will ich lieber sterben, als ohne dich weiterzuleben! Du mein Leben, du meine Seele, du mein Atem!
ERICH
Genosse, ich bringe sie um!
THORSTEIN
Rühr meine Anna nicht an! Wenn sie einer umbringt, bin ich das!
(Er greift nach einem Messer und bohrt es Anna ins Herz.)
ANNA
Ich sehe den Himmel offen und Maria zur rechten Seite Jesu! Jesus, verzeih Thorstein alle seine Sünden! Maria…
(Anna tot.)
THORSTEIN
Ja, fahre gen Himmel, ich werde in die Hölle fahren! Bitte für mich, Sankt Anna!
ERICH
Was tun, Genosse Lenin?
THORSTEIN
(greift zum Telefon)
Heinz Schmecker, der Schlosser?… Ja, ich bin Thorstein Schwanke, ja, der von der Polizei Gesuchte. Für Hinweise auf meinen Aufenthalt gibt es eine Belohnung von zehntausend Mark. Sie haben zwölf Kinder. Rufen Sie bei der Polizei an, sagen Sie, Thorstein Schwanke sitzt in Hage im Rotkehlchenweg. Ich werde warten. Das Geld ist für Sie. Ich bin verloren. Das ist das Letzte, was ich noch für die Arbeiterklasse tun kann.
(Er legt den Hörer auf.)
ERICH
Komm, trinken wir ein Wasserglas voll Wodka.
THORSTEIN
Das ist das Ende von allem.