von Torsten Schwanke
EINLEITUNG
LOB DER PHILOSOPHIA
Torsten:
Mein lieber Quentin, ich habe heute Morgen von dir geträumt.
Quentin:
War es etwa einer deiner prophetischen Morgenträume?
Torsten:
Das weiß Gott allein. Du kamst in mein Studierzimmer und suchtest dir ein Buch aus meiner kleinen Bibliothek aus. Dann betrachtetest du mein Gemälde, das die göttliche Weisheit darstellte, und sagtest: Ich will weise werden.
Quentin:
Lohnt es sich, ein Leben ganz der Weisheit zu widmen?
Torsten:
Ich denke schon. Denn Jugendkraft vergeht sehr schnell, darum bewaffne sich der Jüngling früh mit der Weisheit. Denn wenn du aufrichtig nach Bildung strebst, kannst du im Alter weise werden.
Quentin:
Ist denn die Philosophie so viel wert wie eine Ehefrau?
Torsten:
Das will ich meinen. Denn Frauen bringen viel Mühe und Arbeit, man wird sich zerstreuen in den kleinlichen Nöten des Alltags. Gar nicht zu reden von dem schrecklichen Kummer, den unerwiderte Liebe bringt. Dagegen die Philosophie sagt: Ich liebe, die mich lieben. Und mit der Philosophie Umgang zu haben, bringt nicht Kummer, sondern stille geistige Freuden, und du wirst ihrer nicht überdrüssig, denn sie ist eine unerschöpfliche Quelle.
VISION DER GÖTTLICHEN SOPHIA
Quentin:
Ist denn die Philosophie etwa eine himmlische Frau oder eine Göttin oder ähnliches? Hast du sie etwa schon gesehen?
Torsten:
Sie ist mir erschienen, als ich in dem tiefsten Abgrund der Verzweiflung war und am Leben verzweifelte und nur noch daran dachte, wie ich meinem Leben ein Ende setze. Da ist sie mir erschienen und hat mich wahrhaftig vor dem Totenreich errettet. Die Philosophie allein ist meine Retterin.
Quentin:
Hatte sie denn ein Aussehen, eine sichtbare Gestalt, die du mir beschreiben könntest?
Torsten:
Nun, sie stand auf dem Mond, der Halbmond war ihr Thron, auf dem sie stand, wie die Venus auf der Muschel. Ihre ganze Gestalt war von überaus hellen goldenen Sonnenstrahlen umgeben. Sie trug einen langen blauen Mantel, der bis zu ihren bloßen Füßen reichte, und auf dem Mantel waren Sternen-Konstellationen zu sehen. Sie faltete die Hände vor der Brust. Auf ihrem Haupt trug sie einen Schleier. Ihr Kopf war leicht geneigt, sie schaute wie eine milde gnädige Mutter auf mich herab.
Quentin:
Und ihr Angesicht? Hast du ihr Angesicht gesehen?
Torsten:
Sie hatte lange schwarze Haare, glatt und in der Mitte gescheitelt. Ihre Stirn strahlte hohe Gedanken aus. Ihre Augenbrauen waren ganz fein und schwarz und schön gewölbt. Ihre Augenlider sanken halb hernieder. Aus ihren großen, mandelförmigen und braunen Augen sah ich das Licht ihrer himmlischen Sseele schimmern. Ja, je tiefer ich mich in ihre Augen versenkte, desto mehr erkannte ich, dass ich selbst, wie ich vor ihr kniete, mich in ihren Augen spiegelte. Der Blick war sehr warmherzig und barmherzig, sie schaute mich voller Liebe an. Ihre Nase war schlank und nicht sehr groß, es war eine ausgesprochen feminine Nase. Ihre Wangen waren weiß und leicht gerötet, denn sie war frisch und blühend wie ein vierzehnjähriges Mädchen. Ihre Lippen waren voll und weich geschwungen, ihr Mund halb geöffnet, so als wolle sie etwas sagen, ja, als wolle sie küssen. Ihre Lippen umschwebte ein zauberhaftes Lächeln, mit dem sie mich für immer gefangen nahm.
Quentin:
Und hat sie etwas zu dir gesagt?
Torsten:
Sie flüsterte: Ich bin Sophia, ich war und ich bin und ich werde sein. Ich bin das Alpha und das Omega. Gib mir dein Herz, mein Sohn.
ÜBER DIE LIEBE ZUR WEISHEIT
Quentin:
Also hat die Philosophie nicht nur was mit abstrakten Theorien und vernünftigem Nachdenken zu tun, sondern mit einer Art von Liebe?
Torsten:
Ja, denn Philo-sophie heißt ja: Liebe zur Weisheit. Die Hebräer haben zum Beispiel nur ein einziges Wort, mit dem sie sowohl das Denken als auch die Liebesvereinigung bezeichnen, und dieses Wort heißt: Erkenntnis. Denn nur, was wir lieben, können wir erkennen, und nur, was wir erkennen, können wir lieben.
Quentin:
Ist das nicht eine sehr einseitige Liebe, wenn ich die Liebesfähigkeit meines Lebens ganz allein der Philosophie widme?
Torsten:
Ganz im Gegenteil! Ein berühmtes Wort der Philosophie, das sie Salomo anvertraut hat, lautet: Ich liebe, die mich lieben. Ja, mehr noch, wenn in dir der scheue Wunsch aufkommt, dein Leben lang der Weisheit zu dienen, dann darum, weil Sie dich ruft, weil Sie dich auserwählt. Denn sie geht auf Eerden umher und sucht nach Menschen, die ihrer würdig sind.
Quentin:
Aber diese Liebe ist doch wohl anders als die Liebe zu einer Ehefrau und zu eigenen Kindern?
Torsten:
Die Philosophie ist tatsächlich wie eine Ehefrau, aber nicht eine Frau mit einem sterblichen Leib, sondern die Philosophie ist eine himmlische Person mit einem rein geistigen Lichtleib.
Quentin:
Und keine Kinder?
Torsten:
Der Lateiner sagt: Wer keine Kinder zeugt, der schreibt Bücher. Aber es kommt auch oft vor, dass Sophia einen ihrer Geliebten sendet, als Pädagoge oder Hauslehrer oder Hausfreund fremde Kinder zu erziehen.
Quentin:
Und du meinst, diese unsichtbare, rein geistige Ehe mit der himmlischen Weisheit sei ganz erfüllend?
Torsten:
Du wirst ihr ewig auf Knien danken, dass sie dich auserwählt hat, denn ihre bedingungslose und grenzenlose Liebe ist mit der Zuneigung irdischer Frauen nicht im geringsten zu vergleichen. Wahrlich, wahrlich, es gibt keine bessere Ehefrau als Sophia.
ERSTER TEIL
DIE ORIENTALISCHE PHILOSOPHIE
ÜBER DIE HEBRÄER
Quentin:
Du hast Salomo zitiert. Er war Jude, nicht wahr?
Torsten:
Ja, er wird in den hebräischen Schriften für seine Weisheit gerühmt.
Quentin:
Haben die Juden denn auch eine Philosophie?
Torsten:
Sie haben eine herrliche Weisheitsliteratur, teils auf hebräisch, teils auf griechisch geschrieben.
Quentin:
Welche Bücher sind das, worum geht es in ihnen, sollte ich sie lesen?
Torsten:
Das kann ich dir nur empfehlen. Das hebräische Buch Hiob ist eine ausführliche Diskussion über die Frage, wie das Leiden des unschuldigen Gerechten zu verstehen ist. Das Hohe Lied Salomos ist eine mystische Schrift über die Ehe zwischen Salomo und Sophia. Man sollte sie erst lesen, wenn man das Alter von vierzig erreicht hat. Die Sprichwörter Salomos stellen in neun Kapiteln die Gestalt der Frau Weisheit dar und geben in zwanzig weiteren Kapiteln Lebensweisheit, was weise und was töricht ist. Die griechischen Schriften sind diese: das Buch des Propheten Baruch spricht über die schwer zu findende Weisheit Gottes. Das Buch Jesus Sirach lehrt, das die Weisheit aus dem Munde Gottes kommt und auf Erden Verehrer sucht, sowie von vielen Lebensregeln, wie man als Weiser zu leben hat. Das Buch der Weisheit schildert im sechsten bis zehnten Kapitel in höchster mystischer Spekulation über die Weisheit Gottes und die Ehe mit ihr.
ÜBER DIE ÄGYPTER
Quentin:
Die alten Ägypter werden doch so oft als Quelle geheimnisvoller Weisheit genannt. Was lehren denn sie?
Torsten:
Die Ägypter waren fasziniert vom Geheimnis des Todes. In einer umfangreichen Literatur schrieben sie über das Totenreich und welche Gebete eine ins Totenreich eingehende Seele sprechen muss. Daneben gibt es eine Menge Götterhymnen, vor allem an ihren Hauptgott Ra, den Sonnengott, aber auch an ihre Mondgöttin Isis. Diese Göttin Isis wurde auch als Göttin der Weisheit verehrt. Der dritte Teil der Schriften sind praktische Lebensweisheiten, Lehren von weisen Männern an ihre Söhne übergeben. Während die Totengebete und die Götterhymnen oft allzu phantastisch sind, zeugen die Weisheitsschriften von einer vernünftigen Einsicht in ein gutes, frommes und gerechtes Leben.
ÜBER DIE BABYLONIER
Quentin:
Was denkst du denn über die Astrologie? Ist das eine kosmische Weisheit? Kommt sie nicht aus Babylon? Was ist denn die babylonische Weisheit?
Torsten:
Die Astrologie ist unwissenschaftlich. Die Babylonier hielten die Sterne für Sitze der Götter oder selbst für Götter. Sie haben ihre Mythologie in herrlichen Epen entfaltet. Das berühmteste Epos ist das Gilgamesch-Epos, das älteste Heldenepos der Welt und heute noch erfreulich zu lesen. Im Grunde geht es darin um die Frage, wie man dem Tod entkommen und unsterblich werden kann.
Quentin:
Gibt das Epos eine Antwort darauf?
Torsten:
Das Epos endet in Resignation: der Tod ist unvermeidlich, das Geheimnis der Unsterblichkeit ist verloren gegangen. Übrigens erwähnt das Gilgamesch-Epos auch die Sintflut, von der die Hebräer auch berichteten. Du hast vielleicht von Noah und der Arche gehört.
Quentin:
Gibt es noch andere Schriften der Babylonier, die erhalten sind?
Torsten:
Ja, die nach dem Gilgamesch-Epos wohl wichtigste Mythologie ist der Mythos von der Schöpfung der Welt durch Gott.
Quentin:
Auch wie bei den Hebräern?
Torsten:
Ja, auch die Hebräer berichten in der Sprache des Mythos von der Weltschöpfung. Sie haben einiges bei den Babyloniern abgeschrieben, nur dass es bei ihnen nicht viele Götter gibt, sondern nur Einen.
ÜBER DIE INDER
Quentin:
Wir dringen immer weiter vor in den Fernen Osten. Heute rühmen doch viele die Inder und ihre Weisheit. Vor allem ist viel von dem Yoga die Rede. Was gibt es zu sagen über die Wweisheit der Inder?
Torsten:
Yoga ist nicht wie im Westen eine Körpergymnastik oder eine Übung zur Erlangung von körperlichem und seelischem Wohlbefinden. Yoga ist eine sehr strenge, asketische Meditation, die die innere Leere herstellen soll und die Seele bereit machen soll für die blitzhafte Einsicht: Mein Geist und der Weltgeist sind eins.
Quentin:
Was sind denn die Hauptschriften der Inder, die ich studieren sollte, um ihre Weisheit zu erforschen? Was ist denn die älteste Schrift?
Torsten:
Die älteste Schrift ist der Veda. Veda heißt Wissen. Der Veda besteht aus vier Veden, die den Indern als Offenbarung der Götter gelten. Der wichtigste Veda ist der Rig-Veda. Das ist eine Sammlung von Hymnen an die Götter der Arier. Die meisten dieser Hymnen besingen den Hauptgott der Arier, den Donnergott Indra. Daneben ist noch gut zu lesen ein zweiter Veda, der eine Sammlung von magischen Zauberformeln in Versform ist.
Quentin:
Aber das klingt nicht gerade nach Philosophie.
Torsten:
Für die Philosophie sind wichtiger die Texte der Upanishaden, das heißt, der Vedanta-Philosophie. Darin geht es vor allem um das Verhältnis von Ich und Du, von Ich und Welt, von Ich und Gott. Ich bin die Welt. Die Welt ist Gott. Gott und Ich sind eins. Das zu erkennen, ist Erlösung.
Quentin:
Was kam danach?
Torsten:
Unendliche Helden-Epen in Versen, besonders das Mahabaratha und das Ramayana. Das ist überschäumende Poesie in gigantischer Maßlosigkeit. Im Deutschen gibt es nur kurz gefasste Nacherzählungen in Prosa.
Quentin:
Ist darin ein Gewinn für den, der wissen will?
Torsten:
Nun, die Poesie ist die Wahrheit hinter dem Schleier der Schönheit. Wer für Poesie keinen Sinn hat, ist eine halb verkrüppelte Seele. Aber besonders im Helden-Epos Mahabaratha findet sich ein eigenständiges Werk eingebaut, das ist die berühmte Bhagavad-Gita.
Quentin:
Ich meine, den Namen schon einmal gehört zu haben.
Torsten:
Europäische Gelehrte nannten es das größte philosophische Lehrgedicht aller Zeiten.
Quentin:
Was ist seine Philosophie?
Torsten:
Der Gott Krishna, Avatar von Gott Vishnu, erklärt dem Krieger Arjuna seine göttliche Philosophie. Zuerst erklärt er ihm, dass der Mensch nur unsterbliche Seele ist, die in verschiedenen Leben verschiedene Körper anlegt. Dann erklärt er ihm verschiedene Formen des Yoga zur Erlösung. Er stellt neben einander den Yoga der Meditation und den Yoga des aktiven Lebens. Der Höhepunkt ist dann der Weg der Bakthi, der Gottesliebe, als vollkommenster Weg zur Erlösung.
ÜBER DIE CHINESEN
Quentin:
Man spricht heute auch überall von Yin und Yang. Was lehren denn die alten Chinesen, und was sind da die wichtigsten Bücher?
Torsten:
Das älteste überlieferte Weisheitsbuch der Chinesen ist das I Ging. Es enthält verschiedene Schichten aus verschiedenen Zeiten. Die Orakelsprüche sind die ältesten, sie stammen von den Schildkrötenpanzer-Orakeln des ältesten Altertums. Diese Orakel wurden später erläutert. Zuletzt kommentierte Konfuzius alles ausführlich.
Quentin:
Ich bin nicht abergläubisch und halte nichts von Orakeln.
Torsten:
Man muss das I Ging nicht als Orakelbuch benutzen, man kann es lesen als ein Weisheitsbuch, das voll ist von sehr vernünftiger Einsicht in Mensch und Natur.
Quentin:
Was ist denn das Tao?
Torsten:
Tao ist eigentlich unergründlich, auch schwer zu übersetzen. Man übersetzt es mit Gott, Weg, Sinn, Führerin des Weltalls oder lässt es unübersetzt. Man könnte Tao auch die göttliche Weisheit nennen oder die göttliche Vernunft. Tao regelt alles, im Himmel und auf Erden, im Kosmos, in der Natur, im Staat, in der Familie und im Menschen. Und dem Tao zu folgen, heißt ein wahrer Mensch zu werden, ein Edler, ein Weiser, ein Heiliger.
Quentin:
Ist das eine spezielle Philosophie des Tao-Te-King von Lao Tse?
Torsten:
Nein, das Tao ist der Grundbegriff der chinesischen Philosophie überhaupt, nicht nur der Taoisten, sondern auch der Konfuzianer und Mohisten. Aber kommen wir erst noch einmal auf die ältesten Bücher zurück. Neben dem I Ging gilt als kanonisches Buch das Buch der Lieder oder das Buch der dreihundert Oden.
Quentin:
Also Gedichte? Etwa Liebeslieder?
Torsten:
Es ist eine Sammlung der ältesten chinesischen Volkspoesie, es enthält Liebeslieder, politische Gedichte und religiöse Hymnen. Allerdings wird alles von Konfuzius und seinen Jüngern philosophisch und mystisch interpretiert. Von daher zählt es eben auch zum Kanon der Weisheit.
Quentin:
Nun hast du Konfuzius erwähnt. Wer war er und was war seine Lehre?
Torsten:
Konfuzius war ein Wanderprediger, der eine Schar von Jüngern um sich scharte. Diese schrieben seine Worte in den „Gesprächen des Konfuzius“ auf. Konfuzius bewunderte die Weisheit des Altertums und wollte sie in seiner dekadenten Gegenwart wieder etablieren. So versuchte er sich als Erzieher an einem Fürstenhof, ist damit aber gescheitert. Er kommentierte das I Ging und stellte das Buch der Lieder, Shi Ging, zusammen. Er sah eine universelle Harmonie, das Tao, das in allem herrschte und alles in Ordnung bringt. Der Himmel ist Vater (über Gott spekulierte er nicht) und der Kaiser ist der Sohn des Himmels. Das Reich ist eine Familie im Großen. Die Familie im Kleinen wird durch klare Strukturen geordnet. Oberhaupt der Familie ist der Vater. Den Kindern obliegt es, Pietät oder Kindesliebe gegenüber den Eltern zu üben. Der ältere Bruder soll sich um den jüngeren Bruder wie ein Vater um den Sohn kümmern, und der jüngere Bruder soll den älteren Bruder ehrfürchtig lieben. So kommt vom Himmel über das Reich bis zur Familie alles in Ordnung. Die Verehrung der Familientradition wird ins Religiöse erhoben, wenn im häuslichen Ahnenkult den Ahnen der Familie Weihrauch geopfert wird, so dass die Ahnen (im Gedenken der Familie) unsterblich werden.
Quentin:
Das ist ja sehr patriarchalisch. Ist das bei den Taoisten auch so?
Torsten:
Lao Tse nennt Tao die Mutter der zehntausend Dinge. Er spricht vom Geheimnis des Ewig-Weiblichen. Er sagt: Wen der Himmel retten will, den rettet er durch Liebe. Der Mensch folge der Natur, die Natur folgt dem Himmel, der Himmel folgt Tao, und Tao folgt sich selbst. Der Mensch soll nur Tao geschehen lassen, nichts eigenwillig oder zwanghaft herbeiführen. Gesetze kommen erst da auf, wo die Liebe erloschen ist. Der Mensch soll lieben, nicht nur seine Freunde, sondern auch seine Feinde. Kein Reich soll Krieg beginnen gegen seine Nachbarn. Die Christen nennen Lao Tse einen Propheten.
Quentin:
Ich ahne, was Tao sein könnte. Kann man vielleicht Weltgeist sagen? Aber was ist nun mit Yin und Yang?
Torsten:
Erst muss ich noch auf den zweiten großen taoistischen Philosophen kommen, auf Tschuang Tse und sein Buch vom wahren südlichen Blütenland.
Quentin:
Spricht er auch vom Tao?
Torsten:
Ja, und auch bei ihm bleibt Tao ein unergründliches Mysterium, das mit bloßem Verstand nicht begriffen werden kann. Bei ihm wird die taoistische Philosophie wirklich zur visionären Mystik, die ihn mit den Upanishaden und den christlichen Mystikern in Berührung bringt.
Quentin:
Nun hast du Konfuzius und die Taoisten erklärt. Du nanntest aber noch eine dritte Schule.
Torsten:
Ja, die Mohisten. Sie berufen sich auf den Philosophen Mo Di. Er war der einzige, der ausdrücklich von Gott sprach. Ernannte ihn Shang Di, etwa: Kaiser des Himmels. Dieser Name ist in die protestantischen chinesischen Bibeln eingegangen: Gott der Herr ist Shang Di. Bei Mo Di ist Shang Di der Gott der Götter, der unter sich einen Hofstaat von göttlichen Geistern hat. Das Reich, das Shang Di auf Erden begründen will, ist das Reich der allgemeinen Menschenliebe. Kein chinesischer Philosoph hat den Begriff der Liebe so allumfassend gemacht wie Mo Di. Im übrigen war er auch Pazifist.
Quentin:
Wirklich, heute reden alle von Yin und Yang. Aber bei deiner Darstellung der chinesischen Philosophie kamen Yin und Yang bis jetzt noch gar nicht vor.
Torsten:
Zur Yin-und-Yang-Lehre kam die Lehre der fünf Elemente. Zu der Zeit entwickelte sich der Taoismus von einer Philosophie zu einer phantastisch-abergläubischen Religion. In jener Zeit liegen auch die Ursprünge der Alchemie, die von den alten Chinesen erfunden wurde, man suchte ein Elixier, das unsterblich macht. Viele sind an falschen Drogen gestorben, wie ein Dichter sagte.
Quentin:
Ist Yin und Yang die einheit von Gut und Böse, von Liebe und Hass?
Torsten:
So dumm waren die Chinesen nicht. Das ist esoterische Torheit.
Quentin:
Sondern?
Torsten:
Yang ist erst einmal die Sonnenseite des Berges und Yin die Schattenseite. Die Chinesen sahen im Kosmos eine Doppelstruktur: Vater Himmel und Mutter Erde, Tag und Nacht, Sonne und Mond, Licht und Dunkelheit, Meere und Berge, Mann und Frau, Aktivität und Passivität, Zeugen und Empfangen. Diese Dinge stehen komplementär zu einander, sie ergänzen einander. Sie sind die Grundstruktur des Lebendigen. Mann und Frau ergänzen einander. Allerdings ist im Mann auch etwas Weibliches, und in der Frau ist auch etwas Männliches. Und zusammen ergänzen sie sich zum Tao, zum Einen.
Quentin:
Was ist die Summe der Tao-Philosophie?
Torsten:
Ich zitiere Lao Tse: Die Menschen alle sind lustig, als ginge es zum Frühlingsfest, ich allein bin traurig und einsam, aber ich ehre die nährende Mutter. Die Welt hat eine Mutter. Wer sein Kindsein entdeckt hat, ist unsterblich.
ZWEITER TEIL
DIE VORSOKRATIKER DER GRIECHEN
HOMER UND HESIOD
Quentin:
Wir haben über die Weisheit des Orients gesprochen. Was aber ist die Weisheit des Abendlandes?
Torsten:
Das sind die Griechen. Tausend Jahre, von Homer bis Plotin, griechische Weisheit, und dann 1500 Jahre christliche Weisheit, das ist das Gespräch von Jesus von Nazareth erst mit Platon in der Zeit der Kirchenväter, dann mit Aristoteles im Mittelalter und dann mit Plotin in der Renaissance. Aber vor dem ersten Philosophen Thales müssen wir mit den Dichter-Theologen beginnen, mit Homer und Hesiod im neunten und Orpheus im sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt.
Quentin:
Wieso nennst du Homer einen Theologen? Hat er nicht nur Abenteuer von Helden gedichtet?
Torsten:
Homer hat die Ilias und die Odyssee geschrieben. Man kann die Ilias lesen als ein Heldenepos, da trojanische und griechische Krieger gegen einander kämpfen. Aber es ist auch in der Ilias enthalten die homerische Theologie über Zeus und die Götter und Göttinnen des Olymp. Die Odyssee behandelt die Irrfahrten des Odysseus, man kann es lesen wie einen Reiseroman, aber man kann auch sehen, wie der kluge Odysseus von Athene, der Göttin der Weisheit, auf einem Pilgerweg in seine wahre Heimat geführt wird, durch alle Gefahren hindurch ans Ziel des Lebens.
Quentin:
Den Namen Homer hat ja wohl jeder schon mal gehört, sein Ruhm währt schon dreitausend Jahre. Aber wer ist Hesiod?
Torsten:
Hesiod war ein Zeitgenosse von Homer. Er hat seine Theologie nicht in solche spannenden Heldengeschichten eingepackt, sondern redet mehr als Theologe und Philosoph. Seine beiden Hauptwerke sind die Theogonie und Werke und Tage. In der Theogonie besingt er die Schöpfung, allerdings nicht wie Moses die Schöpfung von Himmel und Erde und Mensch, sondern die Entstehung der Götter. In den Werken und Tagen besingt er wie eine göttliche Person die Gerechtigkeit. Wie Salomo die Weisheit als eine himmlische Frau besingt, so Hesiod die Gerechtigkeit.
ORPHEUS
Quentin:
Du hast noch von einem dritten Dichter-Theologen gesprochen, von Orpheus. Ist das der berühmte Orpheus in der Unterwelt? Ist das nicht nur eine mythische Sagengestalt? Oder ist er eine historische Person? Und ist etwas über seine Lehre bekannt?
Torsten:
Orpheus scheint es tatsächlich gegeben zu haben. Ihm zugeschrieben werden die Orphischen Hymnen, das sind Hymnen an die Götter und Göttinnen Griechenlands. Damit ist er sozusagen das Abendrot der Dichtertheologen der mythischen Gottheiten. Aber er ist auch gewissermaßen das Morgenrot der Dichter-Philosophen. Denn er gründete eine philosophisch-theologische Schule, die nach ihm Orphiker genannt werden.
Quentin:
Trennte Orpheus schon die Philosophie von der Theologie?
Torsten:
Nein. Und das ist auch eine sehr moderne Erfindung. Wir haben imOrient gesehen, wie Theologie Gottes oder der Gottheiten und die Weisheitslehren innig vereint gingen, Hand in Hand. In der entstehenden griechischen Philosophie ist die Theologie ein Teilgebiet der Philosophie: Da der Philosoph über alles nachdenkt, denkt er eben auch über das Göttliche nach. In der europäisch-christlichen Philosophie wird dann die Philosophie die Magd der Theologie genannt.
Quentin:
Weiß man denn in etwa, was die Orphiker gelehrt haben?
Torsten:
Sie haben über die Schöpfung gesprochen, über die Seele und über die richtige Eernährung. Am Anfang war das Chaos. Oder: Am Anfang war die Nacht, die Göttin der Nacht, und sie tanzte, und der Wind, in Gestalt einer Schlange, tanzte mit ihr und begattete sie, und sie wurde schwanger und gebar das Welt-Ei, aus dem sich der ganze Kosmos entwickelte. In dem Welt-Ei saß der Gott Eros, der Gott der Liebe, der das Welt-Ei zum Kosmos entfaltete.
Quentin:
Also wie im Urknall. Aber was ist die Seele?
Torsten:
Die Orphiker lehrten, dass die Seele himmlischen Ursprungs und unsterblich ist und sich nur leicht mit dem irdischen, sterblichen Körper verbinde, und von Körper zu Körper wandere, das nennt man Metempsychose oder Seelenwanderung, auch Reinkarnation und Wiedergeburt. Diesen Gedanken hegen viele nicht-jüdische Völker, den Juden dagegen ist er fremd.
Quentin:
Du sprachst auch von der Ernährung?
Torsten:
Ja, die Orphiker aßen kein Fleisch von Tieren, sondern nur pflanzliche Kost. Sie dachten, ein Tier könne eine wiedergeborene Seele sein. Ob sie aber Fisch aßen, ist nicht gewiss.
Quentin:
Das gefällt mir. Ich sage: ein Mensch mit Herz isst nichts, was Augen hat.
Torsten:
Alle Religionen außer dem Christentum haben ihre Speisevorschriften.
THALES
Quentin:
Du nanntest nun die Dichter-Theologen, und auch Orpheus scheint noch zu den Theologen mythischer Götter zu gehören. Wann aber begann die eigentliche Philosophie der Griechen? Auch die Orientalen waren ja mehr religiös als nüchtern denkend, abgesehen vielleicht von den Chinesen.
Torsten:
Den ersten Philosophen des Abendlandes nennt man Thales von Milet. Er begann, über den Ursprung der Welt nachzudenken. Einen Schöpfergott wie die Juden kannten die Griechen nicht. Die Philosophen begannen nun, ohne mythische Naturgötter zu bemühen, einen Anfang der Welt zu ergrübeln. Sie suchten das Ur-Element, aus dem alles hervorging, sozusagen die Ur-Materie oder prima materia. Thales nahm an, es sei das Wasser, da ohne Wasser kein biologisches Leben möglich.
Quentin:
Also suchte er den Anfang der Welt nicht religiös-göttlich, sondern naturwissenschaftlich zu erklären. Wie modern ist doch Thales damit. Hat er denn nun Philosophie oder Naturwissenschaft betrieben?
Torsten:
Beides. Allgemein kann man sagen: In der antike kreiste die Philosophie um die Natur, im Mittelalter um Gott, und in der Neuzeit um den Menschen.
Quentin:
Wie betrachtete er denn wissenschaftlich die Natur?
Toorsten:
Man erzählt, dass der erste Philosoph spazierte und dabei in den Himmel guckte und dabei die Pfütze zu seinen Füßen übersah und in das Schlammloch fiel. Eine ganz gewöhnliche Magd lachte ihn deshalb tüchtig aus.
Quentin:
So werden von gewöhnlichen Menschen die Denker oft als Verrückte verspottet.
Torsten:
Ja, das ist so. Aber die Legende hat einen wahren Kern. Thales stieg nämlich in einen trockenen Brunnen hinab, um durch die Röhre des Brunnens die Optik auf das Firmament zu verbessern. Er interessierte sich für Astronomie – nicht für babylonische Astrologie. Und er kannte sich im Firmament gut aus, so dass er eine Sonnenfinsternis exakt voraussagte. Das Datum dieser Sonnenfinsternis wird auch genannt: der Geburtstag der abendländischen Philosophie.
Quentin:
Wwann hat denn die Philosophie Geburtstag?
Torsten:
Sie ist geboren am 28. 5. 585 vor Christi Geburt. Da könnten wir eigentlich ihren Geburtstag feiern, eine Art Weihnachten für Philosophen.
PYTHAGORAS
Quentin:
Thales war also der erste Philosoph.
Torsten:
Ja, und Pythagoras war der Erste, der sich Philosoph nannte. Philo heißt Freund und Soph ist Sophia, Weisheit. Die Bibel redet von den Weisen, aber Pythagoras sagte: Wer bin ich, dass ich mich einen Weisen nennen könnte, nein, ich bin nur ein Freund der Weisheit.
Quentin:
Pythagoras ist mir aus der Mathematik bekannt.
Torsten:
Ja, später wird Plato sagen: Niemand kommt in den Tempel der Philosophie, der nicht durch das Tor der Mathematik gegangen ist.
Quentin:
Das gefällt mir. Wo kann man so gut logisches Denken lernen wie in der Mathematik? Vielleicht noch in der Informatik.
Torsten:
Scheint so. Den Gesetzen der Informatik ist die Logik des Aristoteles verwandt.
Quentin:
Aber was lehrte Pythagoras außer mathematischen Lehrsätzen?
Torsten:
Er untersuchte auch auf wissenschaftliche Art die Musik. Und die selben Gesetze, die in der Musik herrschen, die Gesetze der Harmonie, sagte er, herrschen auch am Firmament. Er sprach von der großen Sphären-Harmonie, und man behauptet auch, er habe einmal Töne der Sphären-Harmonie vernommen.
Quentin:
Was sagte er über die Seele?
Torsten:
Wie alle Griechen: der Mensch sei allein die Seele und nicht der Leib, die Seele sei unsterblich und wandere von Körper zu Körper. Darum aßen die Pythagoräer auch keine Bohnen...
Quentin:
Wie bitte?
Torsten:
Ja, die Bohnen könnten Wohnorte wiedergeborener Ahnen sein.
EMPEDOKLES
Quentin:
Haben die Griechen weiter über den Anfang der Welt nachgedacht?
Torsten:
Die Griechen sagten, es gäbe vier Elemente, Feuer, Luft, Wasser und Erde. Nun wählte sich jeder sein Lieblingselement aus. Der eine sah das Wasser als Ur-Element, der andere die Luft, der dritte das Feuer. Empedokles aber alle vier.
Quentin:
Ws bewegt denn die vier Elemente?
Torssten
Nach Empedokles gibt es zwei Mächte, die die Elemente bewegen. Die Liebe bewegt die Elemente, sich zu vereinigen, und der Streit bewegte sie, sich von einander zu trennen.
Quentin:
Was für eine Liebe?
Torsten
Im Griechischen gibt es vier Begriffe für Liebe. Sorge ist die Elternliebe zu den Kindern, Eros ist die Liebe zwischen Mann und Frau, Philia ist die Freundschaft unter Männern. Die Christen führten noch den Begriff der Agape ein, das ist die selbstlos schenkende Liebe Gottes.
Quentin:
An welche Liebe dachte Empedokles?
Torsten:
An die Philia, die geschlechtslose Freundschaftsliebe, die er besonders schätzte, weil sie rein geistig ist. Aber er nannte sie auch Aphrodite, die Göttin der Liebe.
Quentin:
Aphrodite ist es also, die die Welt im Innersten zusammenhält?
Torsten:
Empedokles dichtete eine Hymne an Aphrodite, und nannte sie die einzige Gottheit des vergangenen goldenen Zeitalters, da die Menschen der Gottheit opferten, aber nicht Menschenopfer, auch keine Tiere schlachteten, sondern Blumen, Honig und Weihrauch opferten.
Quentin:
Dieser Kult ist mir sympathisch. Was aber ist mit dem Tod und der Seele?
Torsten:
Empedokles war Sizilianer. Er bestieg den Ätna, ließ auf dem Gipfel des Kraters seine Schuhe zurück und stürzte sich in den Lava-Kelch des Vulkans.
Quentin:
Warum?
Torsten:
Er wollte wohl im Tode ganz eins werden mit der Seele der göttlichen Natur. Es gibt eine Tragödie über den Tod des Empedokles.
HERAKLIT
Quentin:
Die Welt der Elemente wird also regiert von Liebe und Hass?
Torsten:
Alles vereinigt sich in der Liebe und scheidet sich im Hass. Heraklit sagte darum: Der Krieg ist der Vater der Dinge.
Quentin:
Wie traurig.
Torsten:
Alles ist im Werden und Vergehen, ein ewiger Kreislauf von Leben und Tod. Alles fließt, Panta rhei, und in den selben Fluss, in den du gestern stiegst, steigst du heute nicht noch einmal, denn es ist neues Wasser.
Quentin:
Was aber bleibt?
Torsten:
Heraklit suchte auch in dem ewigen Werden und Vergehen ein Bleibendes. Er ahnte es auch und nannte es Logos.
Quentin:
Logik?
Torsten:
Es gibt im Griechischen zwei Begriff für Wort. Mythos ist das erzählende Wort, und Logos ist das Wort, das einen vernünftigen Gedanken zum Ausdruck bringt. Logos kann man übersetzen mit Wort oder Sinn oder Vernunft.
Quentin:
Und dieser Logos ist das Ewige in all dem Werden und Vergehen?
Torsten:
Dieser Logos ist auch der göttliche Kern im Inneren der menschlichen Seele. Man muss den weg nach innen gehen, um den ewigen Logos in der eigenen Seele zu finden.
Quentin:
Und woher kommt all dies Werden und Vergehen, was ist sein Ursprung?
Torsten:
Den Ursprung nannte Heraklit das geistige Feuer. Er sprach von dem Zentralfeuer des Universums.
Quentin:
Und was bleibt von Heraklit?
Torsten:
Sein Begriff vom Logos ist zum Zentralbegriff des Christentums geworden, das lehrt, dieser Logos als das Wort Gottes sei ein Mensch in der Geschichte geworden, nämlich Jesus von Nazareth.
PARMENIDES
Quentin:
Dass alles ein Werden und Vergehen ist in der Natur, das ist ja offenbar.
Torsten:
Nun, Parmenides sah das anders, er beachtete nicht das Werden und Vergehen, er sah nur ein ewiges, unwandelbares Sein.
Quentin:
Wie kam er dazu?
Torsten:
Durch eine Vision, die er in einem schönen Gedicht überliefert hat. Er fuhr mit den Nymphen, den Töchtern der Nacht, durch die Nacht und kam zum Tor der Gerechtigkeit. Die göttliche Gerechtigkeit ließ ihn ein in den Himmelspalast, und dort sah er die Göttin Wahrheit in ihrer Schönheit. Und die Göttin Wahrheit offenbarte ihm: das Einzige, was wirklich ist, das ist das eine, ewige und absolute Sein.
Quentin:
Also gibt es kein Nichts?
Torsten:
Nein, das Nichts ist nicht, es ist nur das Sein. Nur die Göttin Wahrheit hat ein ewiges Sein, der Vater der Lüge hat kein ewiges Wesen und wird ins Nichts zerfallen.
Quentin:
Das Sein ist also göttlich?
Torsten:
So sagt Parmenides. So sagen auch die Juden übrigens. Ihr Gott nennt sich selbst: Ich bin, der ich bin. In der griechischen Übersetzung der heiligen Schrift der Juden nennt sich ihr Gott: der Seiende oder das Seiende. Und dieser Seiende ist absolut, ewig und eins.