DIE GÖTTLICHE KARITAS


VON TORSTEN SCHWANKE


IN MEMORIAM PONTIFEX BENEDICTUS XVI.


31.12. 2022 A.D.




Gott ist die Karitas, 

Und wer in der Karitas bleibt, 

Bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm. 

In diesen Worten aus dem Ersten Johannesbrief 

Ist die Mitte des christlichen Glaubens, 

Das christliche Gottesbild 

Und auch das daraus folgende Bild 

Des Menschen und seines Weges 

In einzigartiger Klarheit ausgesprochen. 

Außerdem gibt uns Johannes in demselben Vers 

Auch sozusagen eine Formel 

Der christlichen Existenz: 

Wir haben die Karitas erkannt, 

Die Gott zu uns hat, und ihr geglaubt.


Wir haben der Karitas geglaubt: 

So kann der Christ den Grundentscheid 

Seines Lebens ausdrücken. 

Am Anfang des Christseins steht 

Nicht ein ethischer Entschluss 

Oder eine große Idee, 

Sondern die Begegnung mit einem Ereignis, 

Mit einer Person, die unserem Leben 

Einen neuen Horizont und damit 

Seine entscheidende Richtung gibt. 

In seinem Evangelium hatte Johannes 

Dieses Ereignis mit den folgenden Worten ausgedrückt: 

So sehr hat Gott die Welt geliebt, 

Dass er seinen einzigen Sohn hingab, 

Damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben hat. 

Mit der Zentralität der Karitas 

Hat der christliche Glaube aufgenommen, 

Was innere Mitte von Israels Glauben war, 

Und dieser Mitte zugleich 

Eine neue Tiefe und Weite gegeben. 

Denn der gläubige Israelit betet jeden Tag 

Die Worte aus dem Buch Deuteronomium, 

In denen er das Zentrum 

Seiner Existenz zusammengefasst weiß: 

Höre, Israel! Jehova, unser Gott, Jehova ist einzig. 

Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, 

Lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele 

Und mit ganzer Kraft. 

Jesus hat dieses Gebot der Gottes-Karitas 

Mit demjenigen der Nächsten-Karitas 

Aus dem Buch Levitikus zusammengeschlossen: 

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. 

Die Karitas ist nun dadurch, 

Dass Gott uns zuerst geliebt hat, 

Nicht mehr nur ein Gebot, 

Sondern Antwort auf das Geschenk des Geliebtseins, 

Mit dem Gott uns entgegengeht.


In einer Welt, in der mit dem Namen Gottes 

Bisweilen die Rache 

Oder gar die Pflicht zu Hass 

Und Gewalt verbunden wird, 

Ist dies eine Botschaft von hoher Aktualität 

Und von ganz praktischer Bedeutung. 

Deswegen möchte ich von der Karitas sprechen, 

Mit der Gott uns beschenkt 

Und die von uns weitergegeben werden soll. 

Ich beabsichtige, einige wesentliche Punkte 

Über die Karitas, die Gott dem Menschen 

In geheimnisvoller Weise 

Und völlig frei von Vorleistung anbietet, 

Zu klären und zugleich die innere Verbindung 

Zwischen dieser Karitas Gottes 

Und der Realität der menschlichen Karitas aufzuzeigen. 

Mein Wunsch ist es, auf einige grundlegende 

Elemente nachdrücklich einzugehen, 

Um so in der Welt eine neue Lebendigkeit wachzurufen 

In der praktischen Antwort der Menschen 

Auf die Göttliche Karitas.


Die Karitas Gottes zu uns 

Ist eine Grundfrage des Lebens 

Und wirft entscheidende Fragen danach auf, 

Wer Gott ist 

Und wer wir selber sind. 

Zunächst aber steht uns diesbezüglich 

Ein sprachliches Problem im Weg. 

Das Wort ,,Liebe“ ist heute 

Zu einem der meist gebrauchten 

Und auch missbrauchten Wörter geworden, 

Mit dem wir völlig verschiedene 

Bedeutungen verbinden. 

Auch wenn das Thema dieses Textes

Sich auf die Frage nach dem Verständnis 

Und der Praxis der Karitas 

Gemäß der Heiligen Schrift 

Und der Überlieferung der Kirche konzentriert, 

Können wir doch nicht einfach von dem absehen, 

Was das Wort Liebe 

In den verschiedenen Kulturen 

Und im gegenwärtigen Sprachgebrauch aussagt.


Erinnern wir uns zunächst 

An die Bedeutungsvielfalt des Wortes ,,Liebe’’: 

Wir sprechen von Vaterlandsliebe, 

Von Liebe zum Beruf, 

Von Liebe unter Freunden, 

Von der Liebe zur Arbeit, 

Von der Liebe zwischen den Eltern 

Und ihren Kindern, 

Zwischen Geschwistern und Verwandten, 

Von der Karitas zum Nächsten 

Und von der Karitas zu Gott. 

In dieser ganzen Bedeutungsvielfalt 

Erscheint aber doch der Eros zwischen Mann und Frau, 

In der Leib und Seele untrennbar zusammenspielen 

Und dem Menschen eine Verheißung 

Des Glücks aufgeht, die unwiderstehlich scheint, 

Als der Urtypus von Karitas schlechthin, 

Neben dem auf den ersten Blick 

Alle anderen Arten von Karitas verblassen. 

Da steht die Frage auf: 

Gehören alle diese Formen von Karitas 

Doch letztlich in irgendeiner Weise zusammen, 

Uund ist Karitas doch — 

In aller Verschiedenheit ihrer Erscheinungen — 

Eigentlich eins, 

Oder aber gebrauchen wir nur ein und dasselbe Wort 

Für ganz verschiedene Wirklichkeiten?


Dem Eros zwischen Mann und Frau, 

Der nicht aus Denken und Wollen kommt, 

Sondern den Menschen gleichsam überwältigt, 

Haben die Griechen den Namen Gott Eros gegeben. 

Nehmen wir hier schon vorweg, 

Dass das Alte Testament das Wort Eros 

Nur zweimal gebraucht, 

Während es im Neuen Testament 

Überhaupt nicht vorkommt: 

Von den drei griechischen Wörtern für Liebe — 

Eros, Philia und Agape — 

Bevorzugen die neutestamentlichen Schriften 

Das letztere, das im griechischen Sprachgebrauch 

Nur am Rande gestanden hatte. 

Der Begriff der Freundschaft (Philia) 

Wird dann im Johannesevangelium aufgegriffen 

Und in seiner Bedeutung vertieft, 

Um das Verhältnis zwischen Jesus 

Und seinen Jüngern auszudrücken. 

Dieses sprachliche Beiseiteschieben von Eros 

Und die neue Sicht der Karitas, 

Die sich in dem Wort Agape ausdrückt, 

Zeigt zweifellos etwas Wesentliches 

Von der Neuheit des Christentums 

Gerade im Verstehen der Karitas an. 

In der Kritik am Christentum, 

Die sich seit der Aufklärung 

Immer radikaler entfaltet hat, 

Ist dieses Neue durchaus negativ gewertet worden. 

Das Christentum — meinte Friedrich Nietzsche — 

Habe dem Eros Gift zu trinken gegeben; 

Er sei zwar nicht daran gestorben, 

Aber zum Laster entartet.

Damit drückte der Philosoph 

Ein weit verbreitetes Empfinden aus: 

Vergällt uns die Kirche 

Mit ihren Geboten und Verboten 

Nicht das Schönste im Leben? 

Stellt sie nicht gerade da Verbotstafeln auf, 

Wo uns die vom Schöpfer zugedachte Freude 

Ein Glück anbietet, das uns etwas 

Vom Geschmack des Göttlichen spüren lässt?


Aber ist es denn wirklich so? 

Hat das Christentum tatsächlich den Eros zerstört? 

Sehen wir in die vorchristliche Welt. 

Die Griechen — durchaus verwandt 

Mit anderen Kulturen — haben im Eros 

Zunächst den Rausch, 

Die Überwältigung der Vernunft 

Durch eine göttliche Raserei gesehen, 

Die den Menschen aus der Enge 

Seines Daseins herausreißt und ihn 

In diesem Überwältigt-werden 

Durch eine göttliche Macht 

Die höchste Seligkeit erfahren lässt. 

Alle anderen Gewalten 

Zwischen Himmel und Erde 

Erscheinen so als zweiten Ranges: 

Omnia vincit Amor’, sagt Vergil in den Bucolica. 

Und er fügt hinzu: 

,,Et nos cedamus amori’’ — 

,,Weichen auch wir dem Eros’’.

In den Religionen hat sich diese Haltung 

In der Form der Fruchtbarkeitskulte niedergeschlagen, 

Zu denen die heilige Hurerei gehört, 

Die in vielen Tempeln blühte. 

Eros wurde so als göttliche Macht gefeiert, 

Als Vereinigung mit dem Göttlichen.


Das Alte Testament hat sich dieser Art von Religion, 

Die als übermächtige Versuchung 

Dem Glauben an den einen Gott entgegenstand, 

Mit aller Härte widersetzt, 

Sie als Perversion des Religiösen bekämpft. 

Es hat damit aber gerade nicht 

Dem Eros als solchem 

Eine Absage erteilt, sondern 

Seiner zerstörerischen Entstellung 

Den Kampf angesagt. 

Denn die falsche Vergöttlichung des Eros, 

Die hier geschieht, beraubt ihn seiner Würde, 

Entmenschlicht ihn. 

Die Huren im Tempel, 

Die den Rausch der Göttin schenken müssen, 

Werden nämlich nicht als Menschen 

Und Personen behandelt, 

Sondern dienen nur als Objekte, 

Um den göttlichen Wahnsinn herbeizuführen: 

Tatsächlich sind sie nicht Göttinnen, 

Sondern missbrauchte Frauen. 

Deshalb ist der trunkene, zuchtlose Eros 

Nicht Aufstieg, Ekstase zum Göttlichen hin, 

Sondern Absturz des Menschen. 

So wird sichtbar, dass Eros 

Der Zucht, der Reinigung bedarf, 

Um dem Menschen nicht den Genuss 

Eines Augenblicks, sondern 

Einen gewissen Vorgeschmack 

Der Höhe der Existenz zu schenken — 

Jener Seligkeit, auf die unser ganzes Sein wartet.


Zweierlei ist bei diesem kurzen Blick 

Auf das Bild des Eros 

In Geschichte und Gegenwart deutlich geworden. 

Zum einen, dass Karitas irgendwie 

Mit dem Göttlichen zu tun hat: 

Sie verheißt Unendlichkeit, Ewigkeit — 

Das Größere und ganz Andere 

Gegenüber dem Alltag unseres Daseins. 

Zugleich aber hat sich gezeigt, dass der Weg dahin 

Nicht einfach in der Überwältigung 

Durch den Trieb gefunden werden kann. 

Reinigungen und Reifungen sind nötig, 

Die auch über die Straße des Verzichts führen. 

Das ist nicht Absage an den Eros, 

Nicht seine Vergiftung, 

Sondern seine Heilung 

Zu seiner wirklichen Größe hin.


Dies liegt zunächst an der Verfassung

Des Wesens Mensch, 

Das aus Leib und Seele gefügt ist. 

Der Mensch wird dann ganz er selbst, 

Wenn Leib und Seele zu innerer Einheit finden; 

Die Herausforderung durch den Eros 

Ist dann bestanden, 

Wenn diese Einung gelungen ist. 

Wenn der Mensch nur Geist sein will 

Und den Leib sozusagen 

Als bloß animalisches Erbe abtun möchte, 

Verlieren Geist und Leib ihre Würde. 

Und wenn er den Geist leugnet 

Und so die Materie, den Körper, 

Als alleinige Wirklichkeit ansieht, 

Verliert er wiederum seine Größe. 

Der Epikureer Gassendi redete scherzend 

Descartes mit O Geist an. 

Und Descartes replizierte mit O Leib!

Aber es lieben nicht Geist oder Leib — 

Der Mensch, die Person, liebt 

Als ein einziges und einiges Geschöpf, 

Zu dem beides gehört. 

Nur in der wirklichen Einswerdung von beidem 

Wird der Mensch ganz er selbst. 

Nur so kann Karitas — Eros — 

Zu ihrer wahren Größe reifen.


Heute wird dem Christentum der Vergangenheit 

Vielfach Leibfeindlichkeit vorgeworfen, 

Und Tendenzen in dieser Richtung 

Hat es auch immer gegeben. 

Aber die Art von Verherrlichung des Leibes, 

Die wir heute erleben, ist trügerisch. 

Der zum Sex degradierte Eros 

Wird zur Ware, zur bloßen Sache; 

Man kann ihn kaufen und verkaufen, 

Ja, der Mensch selbst wird dabei zur Ware. 

In Wirklichkeit ist dies gerade nicht 

Das große Ja des Menschen zu seinem Leib. 

Im Gegenteil: Er betrachtet nun den Leib 

Und die Geschlechtlichkeit 

Als das bloß Materielle an sich, 

Das er kalkulierend einsetzt und ausnützt. 

Es erscheint nicht als Bereich seiner Freiheit, 

Sondern als ein Etwas, 

Das er auf seine Weise zugleich genussvoll 

Und unschädlich zu machen versucht. 

In Wirklichkeit stehen wir dabei 

Vor einer Entwürdigung des menschlichen Leibes, 

Dr nicht mehr ins Ganze der Freiheit 

Unserer Existenz integriert, 

Nicht mehr lebendiger Ausdruck 

Der Ganzheit unseres Seins ist, 

Sondern ins bloß Biologische 

Zurückgestoßen wird. 

Die scheinbare Verherrlichung des Leibes 

Kann ganz schnell in Hass 

Auf die Leiblichkeit umschlagen. 

Demgegenüber hat der christliche Glaube 

Immer den Menschen als das zwei-einige 

Wesen angesehen, in dem Geist 

Und Materie ineinandergreifen 

Und beide gerade so einen neuen Adel erfahren. 

Ja, Eros will uns zum Göttlichen hinreißen, 

Uns über uns selbst hinausführen, 

Aber gerade darum verlangt er 

Einen Weg des Aufstiegs, 

Der Verzichte, der Reinigungen 

Und Heilungen.


Wie sollen wir uns diesen Weg des Aufstiegs 

Und der Reinigungen praktisch vorstellen? 

Wie muss Karitas gelebt werden, 

Dmit sich ihre menschliche 

Und göttliche Verheißung erfüllt? 

Einen ersten wichtigen Hinweis 

Können wir im Hohelied finden, 

Einem der Bücher des Alten Testamentes, 

Das den Mystikern wohlbekannt ist. 

Nach der gegenwärtig überwiegenden Auffassung 

Sind die Gedichte, aus denen dieses Buch besteht, 

Ursprünglich Liebeslieder, 

Die vielleicht konkret einer israelitischen 

Hochzeitsfeier zugedacht waren, 

Bei der sie die eheliche Liebe 

Verherrlichen sollten. 

Dabei ist sehr lehrreich, dass im Aufbau des Buches 

Zwei verschiedene Wörter für Karitas stehen. 

Da ist zunächst das Wort dodim — 

Ein Plural, der die noch unsichere, 

Unbestimmt suchende Karitas meint. 

Dieses Wort wird dann durch ahaba abgelöst, 

Das in der griechischen Übersetzung 

Des Alten Testaments mit dem ähnlich klingenden 

Wort Agape übersetzt ist und — wie wir sahen — 

Zum eigentlichen Kennwort 

Für das biblische Verständnis von Karitas wurde. 

Im Gegensatz zu der noch suchenden 

Und unbestimmten Karitas 

Ist darin die Erfahrung von Karitas ausgedrückt, 

Die nun wirklich Entdeckung des anderen ist 

Und so den egoistischen Zug überwindet, 

Der vorher noch deutlich waltete. 

Karitas wird nun Sorge um den anderen 

Und für den anderen. 

Sie will nicht mehr sich selbst — 

Das Versinken in der Trunkenheit des Glücks –

Sie will das Gute für den Geliebten: 

Sie wird Verzicht, sie wird bereit zum Opfer, 

Ja, sie will es.


Zu den Aufstiegen der Karitas 

Und ihren inneren Reinigungen gehört es, 

Dass Karitas nun Endgültigkeit will, 

Und zwar in doppeltem Sinn: 

Im Sinn der Ausschließlichkeit — 

,,Nur dieser eine Mensch’’ — 

Und im Sinn des ,,für immer und ewig’’. 

Sie umfasst das Ganze der Existenz 

In allen ihren Dimensionen, 

Auch in derjenigen der Zeit. 

Das kann nicht anders sein, 

Weil ihre Verheißung auf das Endgültige zielt: 

Karitas zielt auf Ewigkeit. 

Ja, Karitas ist Ekstase, 

Aber Ekstase nicht im Sinn 

Des rauschhaften Augenblicks, 

Sondern Ekstase als ständiger Weg 

Aus dem in sich verschlossenen Ich 

Zur Freigabe des Ich, zur Hingabe 

Und so gerade zur Selbstfindung, 

Ja, zum Finden Gottes: 

,,Wer sein Leben zu bewahren sucht, 

Wird es verlieren; 

Wr es dagegen verliert, 

Wird es gewinnen’’, sagt Jesus.

Jesus beschreibt damit seinen eigenen Weg, 

Der durch das Kreuz zur Auferstehung führt — 

Den Weg des Weizenkorns, 

Das in die Erde fällt und stirbt 

Und so reiche Frucht trägt; 

Aber er beschreibt darin auch 

Das Wesen der Karitas 

Und der menschlichen Existenz überhaupt 

Von der Mitte seines eigenen Opfers 

Und seiner darin sich vollendenden Karitas her.


Meine zunächst mehr philosophischen Überlegungen 

Über das Wesen von Karitas 

Haben mich nun von selbst 

Zum biblischen Glauben hinübergeführt. 

Am Anfang stand die Frage, 

Ob denn die unterschiedenen, 

Ja gegensätzlichen Bedeutungen des Wortes Liebe 

Auf irgendeine innere Einheit hinweisen 

Oder ob sie unverbunden nebeneinander 

Stehenbleiben müssen, besonders aber die Frage, 

Ob die uns von der Bibel 

Und der Überlieferung der Kirche 

Verkündete Botschaft über die Karitas 

Mit der allgemein menschlichen 

Liebeserfahrung etwas zu tun habe 

Oder ihr vielleicht gar entgegengesetzt sei. 

Dabei begegneten uns die beiden Grundwörter 

Eros als Darstellung der weltlichen Liebe

Und Agape als Ausdruck für die 

Im Glauben gründende 

Und von ihm geformte Karitas. 

Beide werden häufig auch 

Als ,,aufsteigende’’ und ,,absteigende’’ Liebe

Einander entgegengestellt; 

Verwandt damit sind andere Einteilungen 

Wie etwa die Unterscheidung in begehrende 

Und schenkende Liebe

(Amor concupiscentiae — 

Amor benevolentiae), 

Der dann manchmal auch noch die 

Auf den Nutzen bedachte Liebe hinzugefügt wird.


In der philosophischen 

Und theologischen Diskussion 

Sind diese Unterscheidungen oft 

Zu Gegensätzen gesteigert worden: 

Christlich sei die absteigende, 

Schenkende Karitas, die Agape; 

Die nichtchristliche, griechische Kultur 

Sei dagegen von der aufsteigenden, 

Begehrenden Liebe, dem Eros geprägt. 

Wenn man diesen Gegensatz radikal durchführte, 

Würde das Eigentliche des Christentums 

Aus den grundlegenden Lebenszusammenhängen 

Des Menschseins ausgegliedert 

Und zu einer Sonderwelt, die man dann 

Für bewundernswert ansehen mag, 

Die aber doch vom Ganzen 

Der menschlichen Existenz abgeschnitten würde. 

In Wirklichkeit lassen sich Eros und Agape — 

Aufsteigende und absteigende Liebe — 

Niemals ganz voneinander trennen. 

Je mehr beide in unterschiedlichen Dimensionen 

In der einen Wirklichkeit Karitas 

In die rechte Einheit miteinander treten, 

Desto mehr verwirklicht sich 

Das wahre Wesen von Karitas überhaupt. 

Wenn Eros zunächst vor allem verlangend, 

Aufsteigend ist — Faszination 

Durch die große Verheißung des Glücks — 

So wird er im Zugehen auf den anderen 

Imer weniger nach sich selber fragen, 

Immer mehr das Glück des anderen wollen, 

Immer mehr sich um ihn sorgen, 

Sich schenken, für ihn da sein wollen. 

Das Moment der Agape tritt in ihn ein, 

Andernfalls verfällt er 

Und verliert auch sein eigenes Wesen. 

Umgekehrt ist es aber auch dem Menschen unmöglich, 

Einzig in der schenkenden, absteigenden Karitas zu leben. 

Er kann nicht immer nur geben, 

Er muss auch empfangen. 

Wer Karitas schenken will, 

Muss selbst mit ihr beschenkt werden. 

Gewiss, der Mensch kann — wie der Herr uns sagt — 

Zur Quelle werden, von der Ströme 

Lebendigen Wassers kommen. 

Aber damit er eine solche Quelle wird, 

Muss er selbst immer wieder aus der ersten, 

Der ursprünglichen Quelle trinken — 

Bei Jesus Christus, aus dessen Herzen 

Die Karitas Gottes selber strömt.


Die Väter haben diesen unlöslichen Zusammenhang 

Von Aufstieg und Abstieg, 

Vn gottsuchendem Eros 

Und von weiterschenkender Agape 

Auf vielfältige Weise in der Erzählung 

Von der Jakobsleiter symbolisiert gesehen. 

In diesem biblischen Text wird berichtet, 

Dass der Patriarch Jakob im Traum über dem Stein, 

Der ihm als Kissen diente, eine Leiter sah, 

Die bis in den Himmel reichte 

Und auf der Engel auf- und niederstiegen.

Besonders eindrücklich ist die Auslegung 

Dieses Traumbildes, die Papst Gregor der Große 

In seiner Pastoralregel gibt. Der rechte Hirte, 

So sagt er uns, muss in der Kontemplation verankert sein. 

Denn nur so ist ihm möglich, die Nöte 

Der Anderen in sein Innerstes aufzunehmen, 

So dass sie die seinen werden.

Gregor verweist dabei auf Paulus, 

Der sich hinauf reißen lässt 

Zu den größten Geheimnissen Gottes 

Und gerade so absteigend allen alles wird. 

Dazu führt er noch das Beispiel des Mose an, 

Der immer wieder das heilige Zelt betritt 

Und mit Gott Zwiesprache hält, 

Um von Gott her für sein Volk da sein zu können. 

Inwendig im Zelt wird er durch die Anschauung 

Nach oben gerissen, 

Auswendig außerhalb des Zeltes läßt er sich 

Von der Last der Leidenden bedrängen.


Damit haben wir eine erste, 

Noch recht allgemeine Antwort 

Auf die beiden oben genannten Fragen gefunden: 

Im letzten ist Karitas eine einzige Wirklichkeit, 

Aber sie hat verschiedene Dimensionen — 

Es kann jeweils die eine 

Oder andere Seite stärker hervortreten. 

Wo die beiden Seiten aber ganz auseinanderfallen, 

Entsteht eine Karikatur oder jedenfalls 

Eine verkümmerte Form von Karitas. 

Und wir haben auch schon grundsätzlich gesehen, 

Dass der biblische Glaube 

Nicht eine Nebenwelt oder Gegenwelt 

Gegenüber dem menschlichen Phänomen Karitas aufbaut, 

Sondern den ganzen Menschen annimmt, 

In seine Suche nach Karitas reinigend eingreift 

Und ihm dabei neue Dimensionen eröffnet. 

Dieses Neue des biblischen Glaubens 

Zeigt sich vor allem in zwei Punkten, 

Die verdienen, hervorgehoben zu werden: 

Im Gottesbild und im Menschenbild.


Da ist zunächst das neue Gottesbild. 

In den Kulturen, die die Welt der Bibel umgeben, 

Bleibt das Bild von Gott und den Göttern 

Letztlich undeutlich und widersprüchlich. 

Im Weg des biblischen Glaubens 

Wird hingegen immer klarer und eindeutiger, 

Was das Grundgebet Israels, 

Das Sch‘ma in die Worte faßt: 

Höre, Israel, Jehova, unser Gott, Jehova ist nur einer. 

Es gibt nur einen Gott, 

Der der Schöpfer des Himmels und der Erde 

Und darum auch der Gott aller Menschen ist. 

Zweierlei ist an dieser Präzision einzigartig: 

Dass wirklich alle anderen Götter nicht Gott sind 

Und dass die ganze Wirklichkeit, in der wir leben, 

Auf Gott zurückgeht, von ihm geschaffen ist. 

Natürlich gibt es den Schöpfungsgedanken 

Auch anderswo, aber nur hier wird ganz klar, 

Dass nicht irgendein Gott, sondern der einzige, 

Wahre Gott selbst der Urheber 

Der ganzen Wirklichkeit ist, 

Dass sie aus der Macht 

Seines schöpferischen Wortes stammt. 

Das bedeutet, dass ihm dieses sein Gebilde lieb ist, 

Weil es ja von ihm selbst gewollt, 

Von ihm gemacht ist. 

Damit tritt nun das zweite 

Wichtige Element in Erscheinung: 

Dieser Gott liebt den Menschen. 

Die göttliche Macht, die Aristoteles 

Auf dem Höhepunkt der griechischen Philosophie 

Denkend zu erfassen suchte, 

Ist zwar für alles Seiende Gegenstand 

Des Begehrens und der Karitas — 

Als Geliebtes bewegt diese Gottheit die Welt — 

Aber sie selbst liebt nicht, sie wird nur geliebt. 

Der eine Gott, dem Israel glaubt, liebt selbst. 

Seine Karitas ist noch dazu eine wählende Karitas: 

Aus allen Völkern wählt er Israel und liebt es — 

Freilich mit dem Ziel, gerade so 

Die ganze Menschheit zu heilen. 

Er liebt, und diese seine Karitas 

Kann man durchaus als Eros bezeichnen, 

Der freilich zugleich ganz Agape ist.


Vor allem die Propheten Hosea und Ezechiel 

Haben diese Leidenschaft Gottes für sein Volk 

Mit kühnen erotischen Bildern beschrieben. 

Das Verhältnis Gottes zu Israel 

Wird unter den Bildern der Brautschaft 

Und der Ehe dargestellt; 

Der Götzendienst ist daher Ehebruch und Hurerei. 

Damit werden konkret, wie wir sahen, 

Die Fruchtbarkeitskulte mit ihrem Missbrauch 

Des Eros angesprochen, 

Aber damit wird nun auch das Treueverhältnis 

Zwischen Israel und seinem Gott beschrieben. 

Die Liebesgeschichte Gottes mit Israel 

Besteht im tiefsten darin, dass er ihm die Thora gibt, 

Das heißt, ihm die Augen auftut 

Für das wahre Wesen des Menschen 

Und ihm den Weg des rechten Menschseins zeigt; 

Diese Geschichte besteht darin, 

Das der Mensch so in der Treue 

Zu dem einen Gott lebend 

Sich als Geliebten Gottes erfährt 

Und die Freude an der Wahrheit, an der Gerechtigkeit — 

Die Freude an Gott findet, 

Die sein eigentliches Glück wird: 

Was habe ich im Himmel außer dir? 

Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde. 

Ich aber — Gott nahe zu sein ist mein Glück.


Der Eros Gottes für den Menschen ist 

Zugleich ganz und gar Agape. 

Nicht nur weil er ganz frei 

Und ohne vorgängiges Verdienst geschenkt wird, 

Sondern auch weil er verzeihende Karitas ist. 

Vor allem Hosea zeigt uns 

Die Agape-Dimension der Karitas Gottes zum Menschen. 

Israel hat die Ehe gebrochen — den Bund; 

Gott müsste es eigentlich richten, verwerfen. 

Aber gerade nun zeigt sich, dass Gott Gott ist 

Und nicht ein Mensch: 

Wie könnte ich dich preisgeben, Ephraim, 

Wie dich aufgeben, Israel? 

Mein Herz wendet sich gegen mich, 

Mein Mitleid lodert auf. 

Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken 

Und Ephraim nicht noch einmal vernichten. 

Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, 

Der Heilige in deiner Mitte. 

Die leidenschaftliche Karitas Gottes zu seinem Volk — 

Zum Menschen — ist zugleich vergebende Karitas. 

Sie ist so groß, dass sie Gott gegen sich selbst wendet, 

Seine Karitas gegen seine Gerechtigkeit. 

Der Christ sieht darin schon verborgen sich anzeigend 

Das Geheimnis des Kreuzes: 

Gott liebt den Menschen so, 

Dass er selbst Mensch wird, 

Ihm nachgeht bis in den Tod hinein 

Und auf diese Weise Gerechtigkeit und Karitas versöhnt.


Das philosophisch und religionsgeschichtlich 

Bemerkenswerte an dieser Sicht der Bibel 

Besteht darin, dass wir einerseits sozusagen 

Ein streng metaphysisches Gottesbild vor uns haben: 

Gott ist die Urquelle allen Seins überhaupt; 

Aber dieser schöpferische Ursprung aller Dinge — 

Der Logos, die Vernunft — 

Ist zugleich ein Liebender 

Mit der ganzen Leidenschaft wirklicher Liebe. 

Damit ist der Eros aufs Höchste geadelt, 

Aber zugleich so gereinigt, 

Dass er mit der Agape verschmilzt. 

Von da aus können wir verstehen, 

Dass die Aufnahme des Hoheliedes 

In den Kanon der Heiligen Schriften 

Sehr früh dahingehend gedeutet wurde, 

Dass diese Liebeslieder im letzten 

Das Verhältnis Gottes zum Menschen 

Und des Menschen zu Gott schildern. 

Auf diese Weise ist das Hohelied 

In der jüdischen wie in der christlichen Literatur 

Zu einer Quelle mystischer Erkenntnis 

Und Erfahrung geworden, 

In der sich das Wesen 

Des biblischen Glaubens ausdrückt: 

Ja, es gibt Vereinigung des Menschen mit Gott — 

Der Ur-Traum des Menschen – 

Aber diese Vereinigung ist nicht Verschmelzen, 

Untergehen im namenlosen Ozean des Göttlichen, 

Sondern ist Einheit, die die Liebe schafft, 

In der beide — Gott und der Mensch — 

Sie selbst bleiben und doch ganz eins werden: 

Wer dem Herrn anhängt, wird ein Geist mit ihm, 

Sagt der heilige Paulus.


Die erste Neuheit des biblischen Glaubens 

Liegt im Gottesbild; die zweite, 

Damit von innen zusammenhängende, 

Finden wir im Menschenbild. 

Der Schöpfungsbericht der Bibel 

Spricht von der Einsamkeit des ersten Menschen, 

Adam, dem Gott eine Hilfe zur Seite geben will. 

Keines von allen Geschöpfen 

Kann dem Menschen diese ihm nötige Hilfe sein, 

Obgleich er alle Tiere des Feldes 

Und alle Vögel benennt 

Und so in seinen Lebenszusammenhang einbezieht. 

Da bildet Gott aus einer Rippe 

Des Mannes heraus die Frau. 

Nun findet Adam die Hilfe, deren er bedarf: 

Das ist endlich Bein von meinem Bein 

Und Fleisch von meinem Fleisch. 

Dahinter mag man Vorstellungen sehen, 

We sie etwa in dem von Platon berichteten Mythos 

Zum Vorschein kommen, der Mensch 

Sei ursprünglich wie eine Kugel gestaltet, 

Das heißt ganz in sich selbst 

Und sich selbst genügend gewesen, 

Aber von Zeus zur Strafe 

Für seinen Hochmut halbiert worden, 

So dass er sich nun immerfort 

Nach der anderen Hälfte seiner selbst sehnt, 

Nach ihr unterwegs ist, 

Um wieder zur Ganzheit zu finden.

Im biblischen Bericht ist von Strafe nicht die Rede, 

Aber der Gedanke ist doch da, 

Dass der Mensch gleichsam unvollständig ist — 

Von seinem Sein her auf dem Weg, 

Im Anderen zu seiner Ganzheit zu finden; 

Dass er nur im Miteinander von Mann 

Und Frau ganz wird. 

So schließt denn auch der biblische Bericht 

Mit einer Prophezeiung über Adam: 

Darum verlässt der Mann Vater und Mutter 

Und bindet sich an seine Frau 

Und sie werden Ein Fleisch.


Der Eros ist gleichsam wesensmäßig 

Im Menschen selbst verankert; 

Adam ist auf der Suche 

Und verlässt Vater und Mutter, 

Um die Frau zu finden; 

Erst gemeinsam stellen beide 

Die Ganzheit des Menschseins dar, 

Werden Ein Fleisch miteinander. 

Der Eros verweist von der Schöpfung her 

Den Menschen auf die Ehe, auf eine Bindung, 

Zu der Einzigkeit und Endgültigkeit gehören. 

So, nur so erfüllt sich seine innere Weisung. 

Dem monotheistischen Gottesbild 

Entspricht die monogame Ehe. 

Die auf einer ausschließlichen und endgültigen Karitas 

Beruhende Ehe wird zur Darstellung 

Des Verhältnisses Gottes zu seinem Volk, 

Und umgekehrt: die Art, wie Gott liebt, 

Wird zum Maßstab menschlicher Karitas. 

Diese feste Verknüpfung von Eros und Ehe in der Bibel 

Findet kaum Parallelen in der außerbiblischen Literatur.


Haben wir bisher überwiegend 

Vom Alten Testament gesprochen, 

So ist doch immer schon die innere Durchdringung 

Der beiden Testamente als der Einen Schrift 

Des christlichen Glaubens sichtbar geworden. 

Das eigentlich Neue des Neuen Testaments 

Sind nicht neue Ideen, 

Sondern die Gestalt Christi selber, 

Der den Gedanken Fleisch und Blut, 

Einen unerhörten Realismus gibt. 

Schon im Alten Testament besteht das biblisch Neue 

Nicht einfach in Gedanken, 

Sondern in dem unerwarteten 

Und in gewisser Hinsicht unerhörten Handeln Gottes. 

Dieses Handeln Gottes nimmt seine dramatische Form 

Nun darin an, dass Gott in Jesus Christus 

Selbst dem verlorenen Schaf, 

Der leidenden und verlorenen Menschheit, nachgeht. 

Wenn Jesus in seinen Gleichnissen 

Von dem Hirten spricht, 

Der dem verlorenen Schaf nachgeht, 

Von der Frau, die die Drachme sucht, 

Von dem Vater, der auf den verlorenen Sohn 

Zugeht und ihn umarmt, dann sind dies alles 

Nicht nur Worte, sondern Auslegungen 

Seines eigenen Seins und Tuns. 

In seinem Tod am Kreuz vollzieht sich 

Jene Wende Gottes gegen sich selbst, 

In der er sich verschenkt, um den Menschen 

Wieder aufzuheben und zu retten — 

Karitas in ihrer radikalsten Form. 

Der Blick auf die durchbohrte Seite Jesu, 

Von dem Johannes spricht, begreift, 

Was Ausgangspunkt dieser Hymne war: 

Gott ist Karitas. 

Dort kann diese Wahrheit angeschaut werden.


Und von dort her ist nun zu definieren, 

Was Karitas ist. Von diesem Blick her 

Findet der Christ den Weg seines Lebens 

und Liebens. Diesem Akt der Hingabe 

Hat Jesus bleibende Gegenwart verliehen 

Durch die Einsetzung der Eucharistie 

Während des Letzten Abendmahles. 

Er antizipiert seinen Tod und seine Auferstehung, 

Indem er schon in jener Stunde den Jüngern 

In Brot und Wein sich selbst gibt, 

Seinen Leib und sein Blut als das neue Manna. 

Wenn die antike Welt davon geträumt hatte, 

Dass letztlich die eigentliche Nahrung des Menschen — 

Das, wovon er als Mensch lebt — 

Der Logos, die ewige Vernunft sei: 

Nun ist dieser Logos wirklich Speise für uns geworden — 

Als Karitas. 

Die Eucharistie zieht uns in den Hingabeakt Jesu hinein. 

Wir empfangen nicht nur statisch den inkarnierten Logos, 

Sondern werden in die Dynamik 

Seiner Hingabe hineingenommen. 

Das Bild von der Ehe zwischen Gott und Israel 

Wird in einer zuvor nicht auszudenkenden Weise 

Wirklichkeit: Aus dem Gegenüber zu Gott 

Wird durch die Gemeinschaft mit der Hingabe Jesu 

Gemeinschaft mit seinem Leib und Blut, 

Wird Vereinigung: Die Mystik des Sakraments, 

Die auf dem Abstieg Gottes zu uns beruht, 

Reicht weiter und führt höher, 

Als jede mystische Aufstiegsbegegnung 

Des Menschen reichen könnte.


Die Mystik des Sakraments hat sozialen Charakter. 

Denn in der Kommunion werde ich 

Mit dem Herrn vereint wie alle anderen Kommunikanten: 

Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib, 

Denn wir alle haben teil an dem einen Brot, 

Sagt der heilige Paulus. 

Die Vereinigung mit Christus ist zugleich 

Eine Vereinigung mit allen anderen, 

Denen er sich schenkt. 

Ich kann Christus nicht allein für mich haben, 

Ich kann ihm zugehören nur in der Gemeinschaft 

Mit allen, die die Seinigen geworden sind 

Oder werden sollen. 

Die Kommunion zieht mich aus mir heraus 

Zu ihm hin und damit zugleich 

In die Einheit mit allen Christen. 

Wir werden Ein Leib, 

Eine ineinander verschmolzene Existenz. 

Gottes-Karitas und Nächsten-Karitas 

Sind nun wirklich vereint: 

Der fleischgewordene Gott zieht uns alle an sich. 

Von da versteht es sich, dass Karitas 

Nun auch eine Bezeichnung der Eucharistie wird: 

In ihr kommt die Karitas Gottes leibhaftig zu uns, 

Um in uns und durch uns weiterzuwirken. 

Nur von dieser christologisch-sakramentalen Grundlage her 

Kann man die Lehre Jesu von der Karitas recht verstehen. 

Seine Führung von Gesetz und Propheten 

Auf das Doppelgebot der Gottes-Karitas 

Und der Nächsten-Karitas hin, 

Die Zentrierung der ganzen gläubigen Existenz 

Von diesem Auftrag her, ist nicht bloße Moral, 

Die dann selbständig neben dem Glauben an Christus 

Und neben seiner Vergegenwärtigung 

Im Sakrament stünde: Glaube, Kult und Ethos 

Greifen ineinander als eine einzige Realität, 

Die in der Begegnung mit Gottes Karitas sich bildet. 

Die übliche Entgegensetzung von Kult und Ethos 

Fällt hier einfach dahin: Im Kult selber, 

In der eucharistischen Gemeinschaft 

Ist das Geliebt-werden und Weiter-lieben enthalten. 

Eucharistie, die nicht praktisches Karitas-Handeln wird, 

Ist in sich selbst fragmentiert, 

Und umgekehrt wird das Gebot der Karitas 

Überhaupt nur möglich, weil es nicht bloß Forderung ist: 

Karitas kann geboten werden, weil sie zuerst geschenkt wird.


Von da aus sind auch die großen Gleichnisse 

Jesu zu verstehen. Der reiche Prasser

Fleht vom Ort der Verdammung aus darum, 

Dass seinen Brüdern verkündet werde, wie es dem ergeht, 

Der den notleidenden Armen einfach übersehen hat. 

Jesus greift sozusagen den Notschrei auf 

Und bringt ihn zu uns, um uns zu warnen, 

Um uns auf den rechten Weg zu bringen. 

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter

Bringt vor allem zwei wichtige Klärungen. 

Während der Begriff ,,Nächster’’ bisher 

Wesentlich auf den Volksgenossen 

Und den im Land Israel ansässig gewordenen Fremden, 

Also auf die Solidargemeinschaft 

Eines Landes und Volkes bezogen war, 

Wird diese Grenze nun weggenommen: 

Jeder, der mich braucht und dem ich helfen kann, 

Ist mein Nächster. Der Begriff ,,Nächster’’ 

Wird universalisiert und bleibt doch konkret. 

Er wird trotz der Ausweitung auf alle Menschen 

Nicht zum Ausdruck einer unverbindlichen Fernsten-Karitas,

Sondern verlangt meinen praktischen Einsatz hier und jetzt. 

Es bleibt Aufgabe der Kirche, diese Verbindung 

Von Weite und Nähe immer wieder 

Ins praktische Leben ihrer Glieder hinein auszulegen. 

Schließlich ist hier im besonderen noch 

Das große Gleichnis vom letzten Gericht zu erwähnen, 

In dem die Karitas zum Maßstab 

Für den endgültigen Entscheid 

Über Wert oder Unwert eines Menschenlebens wird. 

Jesus identifiziert sich mit den Notleidenden: 

Den Hungernden, den Dürstenden, 

Den Fremden, den Nackten, den Kranken, 

Denen im Gefängnis. 

Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, 

Das habt ihr mir getan. Gottes- und Nächsten-Karitas

Verschmelzen: Im Geringsten begegnen wir 

Jesus selbst, und in Jesus begegnen wir Gott.


Nach all diesen Überlegungen über das Wesen der Karitas 

Und ihre Deutung im biblischen Glauben 

Bleibt eine zweifache Frage in Bezug auf unser Verhalten: 

Können wir Gott überhaupt lieben, 

Den wir doch nicht sehen? 

Und: kann man Karitas gebieten? 

Gegen das Doppelgebot der Karitas 

Gibt es den in diesen Fragen anklingenden 

Doppelten Einwand. Keiner hat Gott gesehen — 

Wie sollten wir ihn lieben? 

Und des weiteren: Karitas kann man nicht befehlen, 

Sie ist doch ein Gefühl, das da ist oder nicht da ist, 

Aber nicht vom Willen geschaffen werden kann. 

Die Schrift scheint den ersten Einwand zu bestätigen, 

Wenn da steht: ,Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, 

Aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. 

Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, 

Kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. 

Aber dieser Text schließt keineswegs die Gottes-Karitas 

Als etwas Unmögliches aus — im Gegenteil, 

Sie wird im Zusammenhang desErsten Johannesbriefes

Ausdrücklich verlangt. Unterstrichen wird 

Die unlösliche Verschränkung 

Von Gottes- und Nächsten-Karitas. 

Beide gehören so zusammen, dass die Behauptung 

Der Gottes-Karitas zur Lüge wird, 

Wenn der Mensch sich dem Nächsten verschließt 

Oder gar ihn hasst. 

Man muss diesen johanneischen Vers dahin auslegen, 

Dass die Nächsten-Karitas ein Weg ist, 

Auch Gott zu begegnen, und dass die Abwendung 

Vom Nächsten auch für Gott blind macht.


Wahrlich! Niemand hat Gott gesehen, so wie er in sich ist. 

Und trotzdem ist Gott uns nicht gänzlich unsichtbar, 

Nicht einfach unzugänglich geblieben. 

Gott hat uns zuerst geliebt, sagt der Johannesbrief, 

Und diese Karitas Gottes ist unter uns erschienen, 

Sichtbar geworden dadurch, dass er 

Seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, 

Damit wir durch ihn leben. 

Gott hat sich sichtbar gemacht: 

In Jesus können wir den Vater anschauen. 

In der Tat gibt es eine vielfältige Sichtbarkeit Gottes. 

In der Geschichte der Karitas, die uns die Bibel erzählt, 

Geht er uns entgegen, wirbt um uns — 

Bis hin zum Letzten Abendmahl, bis hin 

Zu dem am Kreuz durchbohrten Herzen, 

Bis hin zu den Erscheinungen des Auferstandenen 

Und seinen Großtaten, mit denen er 

Durch das Wirken der Apostel die entstehende Kirche 

Auf ihrem Weg geführt hat. 

Und in der weiteren Geschichte der Kirche 

Ist der Herr nicht abwesend geblieben: 

Immer neu geht er auf uns zu — durch Menschen, 

In denen er durchscheint; 

Durch sein Wort, in den Sakramenten, 

Besonders in der Eucharistie. 

In der Liturgie der Kirche, in ihrem Beten, 

In der lebendigen Gemeinschaft der Gläubigen 

Erfahren wir die Karitas Gottes, 

Nehmen wir sie wahr und lernen so auch, 

Ihre Gegenwart in unserem Alltag zu erkennen. 

Er hat uns zuerst geliebt und liebt uns zuerst; 

Deswegen können auch wir mit Karitas antworten. 

Gott schreibt uns nicht ein Gefühl vor, 

Das wir nicht herbeirufen können. 

Er liebt uns, lässt uns seine Karitas sehen und spüren, 

Und aus diesem Zuerst Gottes kann als Antwort 

Auch in uns die Karitas aufkeimen.


Darüber hinaus wird in diesem Prozess der Begegnung 

Auch klar, dass Karitas nicht bloß Gefühl ist. 

Gefühle kommen und gehen. 

Das Gefühl kann eine großartige Initialzündung sein, 

Aber das Ganze der Karitas ist es nicht. 

Wir haben von dem Prozess der Reinigungen 

Und Reifungen gesprochen, durch die Eros 

Ganz er selbst, Karitas im Vollsinn des Wortes wird. 

Zur Reife der Karitas gehört es, 

Dass sie alle Kräfte des Menschseins einbezieht, 

Den Menschen in seiner Ganzheit integriert. 

Die Begegnung mit den sichtbaren Erscheinungen 

Der Karitas Gottes kann in uns 

Das Gefühl der Freude wecken, 

Das aus der Erfahrung des Geliebtseins kommt. 

Aber sie ruft auch unseren Willen 

Und unseren Verstand auf den Plan. 

Die Erkenntnis des lebendigen Gottes 

Ist Weg zur Karitas, 

Und das Ja unseres Willens zu seinem Willen 

Einigt Verstand, Wille und Gefühl 

Zum ganzheitlichen Akt der Karitas. 

Dies ist freilich ein Vorgang, der fortwährend 

Unterwegs bleibt: Karitas ist niemals fertig und vollendet; 

Sie wandelt sich im Lauf des Lebens, reift 

Und bleibt sich gerade dadurch treu. 

Idem velle atque idem nolle — 

Dasselbe wollen und dasselbe abweisen — 

Das haben die Alten als eigentlichen Inhalt 

Der Karitas definiert: 

Das Einander-ähnlich-Werden, 

Das zur Gemeinsamkeit des Wollens und des Denkens führt. 

Die Karitassgeschichte zwischen Gott und Mensch 

Besteht eben darin, dass diese Willensgemeinschaft 

In der Gemeinschaft des Denkens und Fühlens wächst 

Und so unser Wollen und Gottes Wille 

Immer mehr ineinander fallen: 

Der Wille Gottes nicht mehr ein Fremdwille ist für mich, 

Den mir Gebote von außen auferlegen, 

Sondern mein eigener Wille aus der Erfahrung heraus, 

Dass Gott mir innerlicher ist als ich mir selbst.

Dann wächst Hingabe an Gott. 

Dann wird Gott unser Glück.


So wird Nächsten-Karitas in dem von der Bibel, 

Von Jesus verkündigten Sinn möglich. 

Sie besteht ja darin, dass ich auch den Mitmenschen, 

Den ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, 

Von Gott her mit Karitas liebe. 

Das ist nur möglich aus der inneren Begegnung 

Mit Gott heraus, die Willensgemeinschaft geworden ist 

Und bis ins Gefühl hineinreicht. 

Dann lerne ich, diesen anderen nicht mehr bloß 

Mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen, 

Sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus. 

Sein Freund ist mein Freund. 

Ich sehe durch das Äußere hindurch sein inneres Warten 

Auf einen Gestus der Karitas — auf Zuwendung, 

Die ich nicht nur über die Organisationen umleite 

Und vielleicht als politische Notwendigkeit bejahe. 

Ich sehe mit Christus 

Und kann dem anderen mehr geben 

Als die äußerlich notwendigen Dinge: 

Den Blick der Karitas, den er braucht. 

Hier zeigt sich die notwendige Wechselwirkung 

Zwischen Gottes- und Nächsten-Karitas, 

Von der der Erste Johannesbrief spricht. 

Wenn die Berührung mit Gott 

In meinem Leben ganz fehlt, 

Dann kann ich im anderen immer nur 

Den anderen sehen und kann 

Das göttliche Bild in ihm nicht erkennen. 

Wenn ich aber die Zuwendung zum Nächsten 

Aus meinem Leben ganz weglasse 

Und nur ,,fromm’’ sein möchte, 

Nur meine ,,religiösen Pflichten’’ tun, 

Dann verdorrt auch die Gottesbeziehung. 

Dann ist sie nur noch ,,korrekt’’, 

Aber ohne Karitas. Nur meine Bereitschaft, 

Auf den Nächsten zuzugehen, ihm Karitas zu erweisen, 

Macht mich auch empfindsam Gott gegenüber. 

Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, 

Was Gott für mich tut und wie er mich liebt. 

Die Heiligen — denken wir zum Beispiel 

An Mutter Theresa von Kalkutta — 

Haben ihre Karitas-Fähigkeit dem Nächsten gegenüber 

Immer neu aus ihrer Begegnung 

Mit dem eucharistischen Herrn geschöpft, 

Und umgekehrt hat diese Begegnung ihren Realismus 

Und ihre Tiefe eben von ihrem Dienst 

An den Nächsten her gewonnen. 

Gottes- und Nächsten-Karitas sind untrennbar: 

Es ist nur Ein Gebot. Beides aber 

Lebt von der uns zuvorkommenden Karitas Gottes, 

Die uns zuerst geliebt hat. 

So ist es nicht mehr ,,Gebot’’ von außen her, 

Das uns Unmögliches vorschreibt, 

Sondern geschenkte Erfahrung 

Der Karitas von innen her, 

Die ihrem Wesen nach sich weiter mitteilen muss. 

Karitas wächst durch Karitas. 

Sie ist ,,göttlich’’, weil sie von Gott kommt 

Und uns mit Gott eint, 

Uns in diesem Einungsprozess zu einem Wir macht, 

Das unsere Trennungen überwindet 

Und uns eins werden lässt, 

So dass am Ende 

Gott ist Alles in allem.