VON TORSTEN SCHWANKE
Rätsel im Negligé…
Sie war schön, reich, aufreizend –
Und die berühmteste Hure Deutschlands.
Vor 50 Jahren wurde Rosemarie Nitribitt ermordet.
Bis heute ist ihr Tod ungeklärt.
Und bis heute hält es niemand für nötig,
Den Schädel der Toten zu begraben:
Er wird in einem Museum ausgestellt.
Graziös sitzt sie in der Badewanne.
Sie flirtet, strahlt den Betrachter verspielt an,
Die Arme sind über der Brust verschränkt,
Schaum bedeckt sittsam ihre nackte Haut.
Es ist ein hübsches Bild, ein heiteres.
Es zeigt Rosemarie Nitribitt aus Frankfurt.
Nicht lange nach den großspurigen Planschfotos
Wird die junge Frau brutal ermordet.
Ihr Mörder wird nie gefasst.
Die Fahndung nach Deutschlands
Berühmtester Prostituierter
Wird paradoxerweise erst nach ihrem Tod beginnen –
Mit einer Furie, wie sie die junge Bundesrepublik
Noch nie erlebt hat. Es scheint,
Als wolle alle Welt sich der geheimnisvoll
Schönen Rosemarie immer wieder bemächtigen –
Ohne dass sie etwas dazu sagen könne.
Jahrzehntelang, bis in die Gegenwart,
Bis jetzt wird man versuchen,
Die Geheimnisse von Rosemarie Nitribitt
Ans Licht zu zerren. Es wird nicht gelingen.
Sex mit Männern und Frauen...
Die Nitribitt. Das Mädchen Rosemarie.
Was für eine Geschichte!
Eine Frau aus einfachsten Verhältnissen,
Misshandelt, weggesperrt, misshandelt,
Aber immer rebellisch und aggressiv,
Kämpft in den geordneten Verhältnissen
Der paranoiden, blitzsauberen Adenauerrepublik –
Die für „eine wie sie“ nicht vorgesehen ist –
Um ihren Platz in der Gesellschaft.
Sie wird Konventionen trotzen,
Selbstbewusst leben,
Sich frech nehmen, was sie will,
Zu Geld kommen, das sie liebt – viel Geld.
Sie wird es zur Schau stellen und horten.
Sie wird Sex verkaufen
Und sich großzügig und gierig verschenken –
An Zufallsbekanntschaften, Männer und Frauen.
Sie wird ehrgeizig an ihrem Image arbeiten –
Das große Geld,
Die guten Kunden gibt es nur ganz oben,
Und jemand von ganz unten
Bekommt nur bei intakter Fassade
Zugang zu den erlauchten Kreisen.
Sie wird die Dame mit Elementen
Der Dekadenz spielen –
Mercedes-Coupé, weißer Pudel
Und Diamantring am Finger.
Und sie wird scharf auf Quickies bleiben,
Bei denen sie sich unter Wert verkauft.
Auch kleine Dinge summieren sich.
Hart und zärtlich...
Bekannte, Weggefährten und Zeitzeugen
Werden sie als charmant, vulgär, verspielt,
Hart, mädchenhaft, kokett, knallhart,
Geizig, verschwenderisch, einsam
Und voller Ängste, frech
Und dominant beschreiben.
Ihre Kunden werden sie als zärtliche
Geliebte loben
Und in begeisterten Briefen
Nach ihrer Nähe seufzen.
Die unterwürfige Kundschaft wird schätzen,
Wie herrisch sie die Peitsche zu schwingen weiß.
50 Jahre nach ihrer Ermordung scheint es,
Als ob das Höchste, dem man nahe kommen kann,
Die Figur der Rosemarie Nitribitt ist.
Die Person Rosemarie Nitribitt bleibt ein Rätsel.
Als die Polizisten der Streife Frank 40
Am Nachmittag des 1. November 1957
Rosemarie Nitribitts gediegene Wohnung
In der Stiftstraße 36 in Frankfurt betreten,
Stank es fürchterlich. Verwesungsgeruch.
Es ist stickig und warm,
Die ausgeklügelte Fußbodenheizung
Läuft seit Tagen auf Hochtouren.
Im Schlafzimmer kläfft Nitribitts Pudel,
Der seit der Ankunft des Mörders
Dort eingesperrt war. Im Wohnzimmer
Liegt die Leiche der berühmten
Prostituierten der Stadt.
Nichts erinnert mehr an die fröhliche,
Schöne Frau, die in der Badewanne sitzend
Ihrem Geliebten zulächelte.
Fliegenlarven in den Nasenlöchern...
Rosemarie Nitribitt wurde erst
Der Schädel eingeschlagen,
Dann wurde sie erwürgt.
Sie liegt vor der Couch,
Ihr rechtes Bein ruht angewinkelt auf dem Möbel.
Ihr Gesicht ist blutüberströmt
Und grotesk geschwollen,
Ein grauenhafter Anblick.
Die Verwesung hat eingesetzt.
In ihren Nasenlöchern
Wurden Fliegenlarven gefunden.
Wer hat Rosemarie Nitribitt ermordet?
Wer hat in einer perversen
Fürsorgehandlung ein rosa Frotteehandtuch
Unter den Kopf der Sterbenden gelegt –
Und ist dann abgehauen?
Wer hat das Bargeld gestohlen,
Das sie in der blauen Geldkassette
Im Wohnzimmerschrank aufbewahrte?
Die Fragen sind sinnlos.
Es gibt keine Antworten.
In einer neuen Biografie beschreibt
Der Autor, wie skandalös schlampig
Die Frankfurter Polizei
Bei den Ermittlungen im Fall
Nitribitt vorgegangen ist.
Zu den Kunden der glamourösen
Prostituierten zählten die besten
Der Gesellschaft, darunter auch Sprösslinge
Der Industriellenclans Quandt
Sowie Bohlen und Halbach –
Die Liebesbriefe, die Harald
Von Bohlen und Halbach an sein „Fohlen“ schrieb,
Wurden Jahrzehnte nach dem Mord veröffentlicht.
Während diese möglichen Tatverdächtigen
Nach Gutdünken behandelt wurden –
Etwa mit Geheimverhören,
Um Reporter nicht zu verschrecken –
Wurde anderen Spuren gar nicht nachgegangen,
Wurden Beweismittel nicht gesichert
Und Hinweise von Zeugen ignoriert.
Polizei und Justiz, so scheint es,
Wollten gar nicht so recht wissen,
Wer Rosemarie Nitribitt ermordet hatte.
Mit elf Jahren vergewaltigt,,,
Rosemarie Nitribitt, Taufname
MARIA ROSALIA,
Stammte aus der Eifel,
War die älteste von drei Töchtern,
Die ohne Vater aufwuchsen –
Jedes der Mädchen hatte einen anderen Vater.
1937 kam sie „wegen Verwahrlosung“
In ein Heim. Maria Rosalia kam
In eine Pflegefamilie und wurde
Mit elf Jahren
Von einem 18-Jährigen vergewaltigt.
Schon wenige Jahre später hatte sie
Wechselnde Liebhaber und schlief
Für Geld und Ware
Mit französischen Soldaten.
Mit 14 ließ sie abtreiben
Und galt als unergründlich.
Eine Odyssee durch immer drakonischere
Besserungs- und Untersuchungshaftanstalten
Begann, immer gelang ihr die Flucht.
Man geht davon aus, dass in diesen Jahren
Ihr Traum geboren wurde:
Geld verdienen, ein besseres Leben führen.
Als Model hatte sie keinen Erfolg,
Ihre Umgangsformen waren zu derb,
Ihr Eifeler Dialekt zu breit.
Sie arbeitete als Prostituierte –
Selbstbestimmt, einen Zuhälter hatte sie nie.
Innerhalb von nur vier Jahren
Etablierte sie sich als Top-Prostituierte
In Frankfurt, ging mit ihrem legendären
Schwarzen Mercedes 190-SL
Auf Kundenjagd. Sie lebte
In einem hypermodernen Mehrfamilienhaus
In der Stiftstraße – wer ihren Codenamen
„Rebecca“ aus der Sprechanlage kannte,
Konnte die Tür öffnen.
Sie machte ein Vermögen.
„Nur einige der Männer, die sie besuchten,
Verdienten mehr als Rosemarie Nitribitt",
Schrieb ihr Biograf. Die 24-jährige Rosemarie
Hinterließ ihrer Mutter 120.000 Mark.
In ihrer Geldgier ging sie zu weit:
Sie erpresste Kunden, drohte ihnen
Mit der Preisgabe ihrer Identität
Und gab sogar vor, schwanger zu sein.
Auch Bosheit gehörte zu ihrem Wesen.
Sie schikanierte ihre Putzfrau
Und stahl homosexuellen Freunden
„Nur zum Spaß“ Liebhaber.
„Eines Tages wird mir jemand
Den Schädel einschlagen“,
Sagte Nitribitt zu einem Bekannten.
Pompöse Fantasien...
Nach ihrem Tod begann die Übernahme
Von Nitribitt, Zeitungen, Zeitschriften
Und Filmproduzenten verdienten viel Geld.
Der Hauptverdächtige im Mordfall,
Nitribitts Freund Heinz Christian Pohlmann,
Wurde von „Quick“
Für eine mehrteilige Enthüllung engagiert.
Das laute Boulevardmagazin bot sogar
50.000 Mark für die Ergreifung
Von Nitribitts Mörder.
Pohlmann sollte Hauptdarsteller
In einem Nitribitt-Film werden.
Den Deal verhinderte nur die Tatsache,
Dass der Mordprozess zu diesem Zeitpunkt
Noch anhängig war. 1960 wurde Pohlmann
Aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Der Fall Nitribitt nährte in der verklemmten
Jungen Bundesrepublik pompöse Fantasien.
Die Schauspielerin Nadja Tiller,
Deren Karriere damals gerade durchgestartet war,
Traute sich an die Rolle des „Mädchens Rosemarie“.
Die Dreharbeiten begannen im April 1958,
Nur ein halbes Jahr nach Nitribitts Tod.
„Ich wurde gewarnt, die Rolle nicht anzunehmen“,
Erzählt Nadja Tiller.
„Ein Verleger aus Österreich
Und jemand aus der Führungsspitze
Des Springer-Verlags riefen mich an und sagten:
Bist du verrückt? Damit ruinierst du dich noch.“
Zu einer Zeit, als die göttliche Romy Schneider
Im Kino die keusche Kaiserin Sissy spielte,
Sagte Nadja Tiller Drehbuchzeilen wie
„Ich habe 18.000 Mark bekommen -
Ausnahmsweise für ein Mal.“
Die Dreharbeiten in Frankfurt
Waren ein Irrenhaus.
Die "Mercedes"-Filiale in der Kaiserstraße,
In der Nitribitt Kundin war,
Weigerte sich, in einem Film
Über die Prostituierte gezeigt zu werden:
„Wir drehten dort heimlich,
Im Morgengrauen,
Die Kamera stand in einem Bus
Mit schwarzen Vorhängen“, sagt Nadja Tiller.
„Alle sprangen auf dem Platz herum,
Sie waren total hysterisch.“
Der Schädel der Toten
Ist heute Ausstellungsstück.
Nadja Tiller wurde nicht beauftragt,
Nitribitts Persönlichkeit zu untersuchen.
„Die Geschichte dieser Frau war nicht die,
Die der Film erzählen wollte“, sagt sie heute.
„Autor Erich Kuby
Und Regisseur Rolf Thiele wollten
Die Doppelmoral im aufstrebenden,
Erfolgreichen Deutschland entlarven,
Der Film hatte kabarettistische Elemente.“
„Das Mädchen Rosemarie“
Wird ein Welterfolg,
Seine Hauptdarstellerin zum Star.
„Besonders die Italiener waren verrückt“,
Sagt Nadja Tiller. „Sie haben mir jahrelang
La Ragazza Rosemarie! hinterhergerufen.“
Die Neugier ist ungebrochen.
Das grauenvollste Beweisstück:
Der Schädel des Mordopfers,
Der ursprünglich für weitere Beweise
In Polizeigewahrsam gehalten wurde,
Ist heute das Highlight
Einer Dauerausstellung
Über die berühmteste aller deutschen Huren.
Rosemarie Nitribitt wurde ohne Kopf begraben.
Bis heute scheint es niemand für nötig zu halten,
Wenigstens den Schädel nachträglich
Mit ins Grab zu legen.