MEMOIREN

VON TORSTEN SCHWANKE


Weh mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast!“

(Jeremia, Bibel)



ERSTER TEIL

VITA



ERSTES KAPITEL


Ich bin am siebenten November 1965 geboren. Der siebente November ist der Geburtstag und Todestag Platons, des größten Philosophen aller Zeiten, der siebente November ist der Todestag des heiligen Willibrord, des Apostels der Friesen, und der siebente November ist leider auch der Tag der kommunistischen Revolution im heiligen Russland. Das Jahr 1965 ist das Jahr des Zweiten Vatikanischen Konzils der heiligen, apostolischen, katholischen Kirche, da die heilige Mutter Kirche sich reformierte und die Fenster zu säkularisierten Welt weit auftat, um allen Menschen das ewige Evangelium Christi zu verkünden. Die Kirche öffnete die Fenster weit zu allen christlichen Konfessionen und zu allen Brüdern und Schwestern der nichtchristlichen Religionen, in denen die Kirche auch Spuren der Wahrheit der göttlichen Offenbarung verborgen gegenwärtig sah. Die Kirche sprach, dass es für unsere Zeit einen neuen christlichen Humanismus bräuchte und dass alle eingeladen seien, an der Schaffung eines Neuen Humanismus mitzuwirken, die dem Wahren, Guten und Schönen verpflichtet seien. Die Kirche rief alle Kulturschaffenden auf, neue humanistische Kulturwerke zu schaffen, wobei es keinen katholischen Stil in der Kunst gebe, sondern alle Stile der Kunst der Verherrlichung der katholischen Religion dienen können. Die Kirche stellte allen Christgläubigen die Jungfrau Maria als Urbild der Kirche, als Jungfrau-Mutter der Kirche vor, die dem pilgernden Gottesvolk als Vorbild vorleuchte auf dem Weg in die ewige Herrlichkeit Gottes.


Ich aber ward zu dieser Zeit in dem Flecken Hage in Ostfriesland nahe der Nordseeküste geboren und am sechzehnten Januar 1966 getauft. Meine Großmutter und meine Mutter waren evangelisch-lutherischer Konfession, und so wurde ich in der evangelisch-lutherischen Kirche Sankt Ansgari getauft. In diesem Sakrament der Taufe auf den Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, goß mir der lebendige Gott die heiligmachende Gnade ein. Meine Taufpaten waren ein Verwandter meines Vaters aus Hannover und eine Freundin meiner Mutter von der ostfriesischen Insel Baltrum. Mein Vater nämlich stammte aus Hannover, war von westpreußischer Herkunft, und meine Mutter stammte von der ostfriesischen Insel Baltrum, eine Tochter friesischer Mütter. Später sah ich, dass auf dem Altar der Sankt-Ansgari-Kirche, in der ich das Sakrament der Taufe empfing, auf dem steinernen Altartisch der Name MARIA eingeschrieben war. Das Sakrament der Taufe wird ja auch als Bad der Wiedergeburt bezeichnet, da der Mensch wiedergeboren wird durch Wasser und Heiligen Geist zu einem Kinde Gottes. Nikodemus fragte ja den Lehrer Jesus, wie ein Mensch denn neugeboren werden könne, wie er denn wieder in den Mutterschoß komme. Der Mensch wird ja wiedergeboren im Schoß der Mutter Kirche zu einem Kinde Gottes. Da Maria aber Urbild und Mutter der Kirche ist, kann man auch sagen, dass so wie Maria vom Heiligen Geist den Sohn Gottes empfangen hat und ihn geboren hat als jungfräuliche Mutter, so empfängt Maria auch vom Heiligen Geist die Kinder Gottes und gebiert sie als Kinder Gottes. So wie also am siebenten November 1965 meine Mutter mich als Mutter nach der Natur geboren hat für die Erde und zum Tode, so hat mich am sechzehnten Januar 1977 meine himmlische Mutter Maria, meine Mutter nach der Ordnung der Gnade, wiedergeboren zu einem Kinde Gottes ins ewige Leben.

Die wichtigste Person meiner Kindheit war meine Großmutter, eine Witwe. Sie lebte mit in unserer Familie und gab mir von Anfang an die bedingungslose Liebe, die jedem Menschen in der Kindheit einen Geschmack der göttlichen Liebe gibt. Es war, wie im Buche Ruth, da Ruth den Sohn auf dem Schoße ihrer Schwiegermutter Noomi gebar, wodurch Noomi den Obed als ihren Sohn und Erben annahm. Von dem wichtigsten Erbe meiner Oma will ich später erzählen, nämlich wie sie durch ihren Heimgang mir den Glauben an Christus vermittelte. Aber vielleicht nicht weniger wichtig oder vielleicht sogar noch wichtiger ist, dass sie mir durch ihre süße Liebe in der Kindheit ein Bild eingegossen hat von der bedingungslosen Mutterliebe Gottes, was denn auch mein besonderes Gottesbild bleiben sollte. Meine Großmutter hatte ein kleines Häuschen direkt neben meinem Elternhaus und ich verbrachte meine Kindheit gewissermaßen in ihrem Schoß, oder an dem Rockzipfel meiner Großmutter. Ich vergesse nicht, wie ihre Liebe schmeckte, wie ihre friesischen Mehl- und Milchspeisen süß schmeckten wie die Liebe selbst. Sie gab nicht irdische Speise statt Liebe, sondern sie gab irdische Speise zum Ausdruck ihrer mütterlichen Liebe. Ich gab ihr jeden Abend einen Gute-Nachtkuß und wünschte ihr einen schönen Schlaf und süße Träume. Ihre Wange war so weich und zart wie die Wange eines Pfirsichs der Unsterblichkeit aus dem Paradiesgarten der Königinmutter des Westgebirges, Hsi Wang Mu. Beeindruckend waren die winterlichen Feste, vor allem das Weihnachtsfest, aber auch das Sylvesterfest. Zu Sylvester gingen meine Eltern aus, um mit Freunden zu feiern, aber ich und mein Bruder blieben bei meiner Großmutter, wir schliefen in ihrem Haus und um Mitternacht aufgeweckt, begrüßten wir mit ihr das Neue Jahr unter dem Feuerregen der chinesischen Raketen. In der Weihnachtszeit war es mein Ehrenamt, den kleinen Tannenbaum meiner Großmutter mit Kerzen, Lametta und Goldkugeln zu schmücken. Am Heiligen Abend speiste die ganze Familie zu Abend bei meiner Großmutter, die das traditionelle Weihnachtsgericht der Friesen von Baltrum bereitete, nämlich Heringssalat mit Roter Beete und Salzkartoffeln. Diesen Salat machte meine Großmutter selbst, wie sie auch die Weihnachtsbäckerei beherrschte und vor allem ihre Neujahrswaffeln und ihre Pfeffernüsse unvergesslich köstlich schmeckten. Ich half ihr stets bei der Weihnachtsbäckerei. In der Abendröte der Adventszeit ging in unserem Hause der Spruch um: Abendrot – die Englein backen Brot!


Am sechsten Dezember wurde von den Friesen der Heilige Nikolaus gefeiert. Dieses Fest stammte noch aus der Zeit, da Friesland katholisch war. Klaus Störtebecker, der friesische Seeräuber, rief als Seemann immer Sankt Niklas als seinen Schutzpatron an. Sankt Nikolaus wird von den Friesen besonders als Schutzpatron der Seefahrt verehrt. So ist die kleine katholische Kirche auf Baltrum Sankt Nikolaus geweiht, dort diente ich später einmal am Altar. In Hage aber stellten wir Kinder am Vorabend von Sankt Nikolaus einen roten Stiefel vor die Tür und einen Teller mit Schwarzbrot. Das Schwarzbrot war für das Pferd des Heiligen Nikolaus, der rote Stiefel aber, dass der Heilige Nikolaus seine Geschenke hineinlege. Denn der heilige Bischof von Myra in Kleinasien war ein großer Freund der Kinder. Er hörte von einem armen Vater, der Witwer war, und drei verwaiste kleine Kinder hatte. So schlich sich der Heilige heimlich auf das Dach des Hauses und warf durch den Schornstein Beutel mit Gold, die fielen aber gerade in die Kinderschuhe, die vor dem Kamin zum Trocknen aufgestellt waren. Daher stammt der Brauch, dass die armen Kinder ihre Stiefel hinausstellen, dass der Heilige Nikolaus auch ihnen ein Geschenk mache. Am Abend von Sankt Nikolaus ritt der Heilige Nikolaus in seinem Bischofsmantel auf einem Schimmel durch den Flecken Hage, auf seinem Rücken einen großen Sack mit Süßigkeiten für die Kinder. Er warf Hände voll Süßigkeiten unter die Scharen der Kinder. Er wurde aber auch begleitet vom Knecht Ruprecht, einem Mohren, der der Knecht des Heiligen Nikolaus war. Dieser trug aber keinen Sack mit Süßigkeiten, sondern eine Rute. Denn es war den Kindern angedroht, wenn sie nicht lieb gewesen, dann käme der schwarze Knecht Ruprecht mit der Rute und züchtige die ungehorsamen Kinder. Ich fürchtete mich aber nicht vor dem Knecht Ruprecht, aber freute mich sehr über den Heiligen Nikolaus, den alten Mann mit seinem langen schneeweißen Haupthaar und schneeweißen langem Vollbart, der aussah wie Gottvater auf den Bildern der Maler.

Zu Weihnachten gingen meine Großmutter mit meiner Mutter und mir in den Mitternachtsgottesdienst. Diese Weihnachtsgottesdienste sind mir unvergesslich. Die Sankt-Ansgari-Kirche ist eine romanische Kirche, also ursprünglich eine katholische Kirche, die auf einem kleinen Hügel erbaut ist. Sie war früher ein Zufluchtsort und eine Schutzburg, wohin die Friesen flüchten konnten, wenn eine Sturmflut der Nordsee ihr Land bedrohte. Das Kirchenschiff, da der Raum der Gemeinde ist, wird vom Raum des Altares abgetrennt, indem unter der Decke die Szene der Kreuzigung Christi dargestellt wird. Christus hängt am Kreuz, und unter dem Kreuz stehen Maria, die Mutter Jesu, und der Jünger, den Jesus lieb hatte. Dies prägte mir ohne Worte, allein durchs Bild die Szene ein, da der Erlöser zu seiner Mutter spricht: Frau, siehe deinen Sohn! Und wie der Erlöser dann zu dem Jünger, den er lieb hatte, sprach: Sohn, siehe deine Mutter! In der Weihnachtsfeier wurde nun immer auch die Krippenszene in großen Figuren dargestellt. Dieser Brauch stammt ebenfalls aus der katholischen Kirche, da es der heilige Franziskus war, der zuerst eine Krippenszene darstellte und so Weihnachten feierte. Das Bild des jungen Mädchens Maria, das sich über die Krippe mit dem göttlichen Kinde anbetend neigt, ist mir unvergesslich. Sie war so liebenswürdig und schön, so anmutig und holdselig, so sanft und mild und gütig, dass ich sie lieb hatte. Ich kannte sie ja auch aus den Weihnachtsliedern, die ich in der Vorweihnachtszeit viel mit meiner Mutter gesungen. Meine Mutter hat eine schöne Stimme. Sie hat als junges Mädchen in der Baltrumer Gitarrengruppe gesungen, später in ihrem Alter sang sie in großen Chören das Weihnachtsoratorium von Bach und das Requiem von Mozart. Sie sang mit ihrer schönen Stimme mir die Weihnachtslieder vor, die einzige Art der Marienverehrung in der evangelischen Kirche. Da war von der Rose die Rede, und die Rose, die ich meine, ist die Magd Maria, die Reine. Da war von Josef und Maria die Rede, dem trauten, hochheiligen Paar, und dem Knaben im lockigen Haar. Da hieß es: Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all, zu Krippe in Bethlehems Stall. Diese evangelischen Weihnachtslieder, die ja zugleich tief vom katholischen Geist durchtränkt waren, verkündeten mir das Evangelium von der Menschwerdung Gottes aus der Jungfrau in meiner Kindheit mit einer solchen süßen Predigt, solch einer süßen Stimme, da es die Mutterstimme selbst war, die mir von Maria und dem Jesusknaben die erste Lehre gab.

An dieser Stelle fällt mir auch ein, dass die Gottesdienste meiner Kindheit mich auch haben das Wort Gottes in der Heiligen Schrift haben hören lassen in der gewaltigen romanischen Kirche, da es feierlich verkündet wurde. Es wurde die Heilige Schrift vorgetragen in der deutschen Übersetzung von Martin Luther. Ich habe das Wort Gottes in der Muttersprache des Lutherdeutsch wie die Muttermilch aufgesogen. Als ich später als Erwachsener mich zu Christus bekehrte, war meine erste Handlung, eine Bibel zu kaufen, es war eine Lutherbibel, die mir in den schrecklichsten Stunden meines Lebens Trost einflößte wie die Milch des Trostes der Mutterliebe Gottes. Man sagt, die Christen werden genährt an den beiden Mutterbrüsten des Alten und des Neuen Testaments. In der Zeit der Reformation polemisierten die Katholiken, die Deutschen hätten sich von den gebenedeiten Mutterbrüsten Mariens abgewandt und sich der stiefmütterlichen Mannesbrust Luthers zugewandt. Als ich in die Schule der Evangelikalen ging, fand ich viel Kritik an der angeblich veralteten Lutherbibel. Auch in meiner Konversion zur katholischen Kirche versuchte ich mich in katholischen Bibelübersetzungen. Aber es war in allen anderen Bibelübersetzungen, ob sie sich nun als modern oder als wissenschaftlich oder als rechtgläubig ausgaben, immer ein falscher Ton, es war nicht die Muttersprache. Die Muttersprache, mit der die Liebe Gottes zu mir spricht, ist das Lutherdeutsch. Nicht allein, dass sie allein dem Dichter wahren Genuss an der deutschen Sprache gewährt, wie schon Klopstock und Hölderlin bezeugten, diese Meister der deutschen Sprache. Ich denke auch an Heinrich Heine, der die Bibel mit einer Großmutter verglich, die dem geliebten Enkel vom lieben Gotte erzählt. Wie das Sprichwort sagt: Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans nimmermehr; so kann man auch umgekehrt sagen: Was das Hänschen gelernt, das verlernt der Hans nimmermehr. So ist es, gleich welcher christlichen Konfession ich auch anhing, immer das Lutherdeutsch gewesen, in dem ich die Worte Gottes nur vernehmen konnte.

In meinen ersten Kindheitsjahren war ich oft mit meinem Bruder allein auf der Insel Baltrum. Dorther stammt meine Großmutter, meine Urgroßmutter, meine Ururgroßmutter und mein Ururgroßvater, der Seemann. Stellvertretend für dieses Geschlecht der mütterlichen Ahnen lebte noch meine Tante auf Baltrum und unterhielt dort eine Teestube. Dort waren mein Bruder und ich oft zum Urlaub. Dort lernte ich auch den Häuptling der Apatschen kennen, dessen Abenteuer mich in meiner Kindheit episch breit begleiteten. Die Insel Baltrum ist allerliebst, sie wird genannt das Dornröschen der Nordsee, der Südlichen Nordsee, weil sie so verschlafen ist und überwachsen mit Heckenrosen. Dort feierten wir oft das germanische Osterfest mit den bunt bemalten Eiern. Ostern wird überhaupt von den Kindern ganz und gar als heidnisches Fruchtbarkeitsfest gefeiert, und ich bekam keine Unterweisung über die Auferstehung Christi. Alles, was Ostern bedeutete, war das Frühlingsfest der germanischen Göttin Ostera, die Wiederkehr des Lichts wurde mit dem Osterfeuer gefeiert, und die wiederkehrende Fruchtbarkeit der Naturgöttin mit dem Hasen, der Ostera heilig, und den bunten Eiern gefeiert. Man suchte christliche Umdeutungen dieser Symbole. Der Hase war der Stellvertreter des christlich-jüdischen Osterlammes. Das Osterfeuer symbolisierte das Licht, das durch die Auferstehung Christi der Menschheit aufgegangen. Das bunt bemalte Ei soll der Legende nach schon die Apostelin Maria Magdalena dem römischen Kaiser präsentiert haben, da so, wie das Küken aus dem Ei schlüpft, Christus aus dem Grabe auferstanden ist! Wir feierten also auf der friesischen Insel Baltrum ein friesisches Osterfest mit Scharen von Kaninchen und Körben voll von Eiern. Ich fühlte mich auf Baltrum so wohl, dass es mir zu einer Art besonderen Seelenheimat meiner Kindheitstage wurde. Später sehnte ich mich oft in dunklen Stunden nach diesem österlichen Baltrum zurück. Ich besuchte auch mehrmals mit Freundinnen und ihren kleinen Kindern diese meine Lieblingsinsel, und es war mir eine besondere Freude, den kleinen von mir herzlich geliebten Kindern diese kleine Insel der Seligen zu zeigen.

Neben dem Flecken Hage befand sich die Ortschaft Lütetsburg, in der sich ein Wasserschloss befand, eine Schlossburg der friesischen Häuptlinge aus dem vierzehnten Jahrhundert, auf dem Wasser schwebend, nur über eine Fähre zu erreichen. Hinter dem Wasserschloß befand sich ein großer Park, der nach englisch-chinesischer Art gestaltet war, mit vielen Bäumen, vor allem Eichen und Buchen, mit vielen Büschen wie Rhododendren und Bambus, mit vielen Kanälen durchzogen, die wieder von Brücken überquert wurden, und mit kleinen Pavillons, wie dem goldenen Pavillon der Freundschaft, und einem anderen Pavillon, da Hochzeiten gefeiert werden konnten. Auf den Kanälen lief ich im Winter mit meinen Freunden gerne Schlittschuh. Meines Wissens der einzige Dichter, der das Schlittschuhlaufen poetisch verherrlicht, ist der Vater Klopstock. Aber in der Osterzeit machten wir den Osterspaziergang als Familie durch den Lütetsburger Park, da denn auch kleine Schokoladeneier von den Blutbuchen fielen. Mein Vater zitierte das Gedicht von Fausts Osterspaziergang, das er in der Volksschule auswendig hatte gelernt. Zu Christi Himmelfahrt fand aber alljährlich ein großer evangelischer Festgottesdienst im Lütetsburger Park statt, an dem meine Großmutter regelmäßig teilnahm.

Zu Christi Himmelfahrt legten wir friesischen Kinder auch immer den Brautpfad. Es wurde traditionell gern zu Christi Himmelfahrt geheiratet, auch mein Bruder heiratete später zu Christi Himmelfahrt (bei dieser Gelegenheit sagte meine Großmutter mir kurz vor ihrem seligen Heimgang: „Torsten, heirate nie!“). Aber in der Kindheit war es Tradition, auf den Tag Christi Himmelfahrt an dem Straßenrand kleine Bilder zu gestalten auf der Fläche von weißem Sand, gerahmt von grünem Moos und ausgeschmückt mit den verschiedenfarbigen Blüten. Dabei wurde dann der beste Künstler mit einem Lorbeerkranz durch den Bürgermeister gekrönt. Traditionelle Motive waren beliebt, vor allem das aus der Seefahrt stammende Motiv von den drei göttlichen Tugenden des Christentums, einem Kreuz für den Glauben, einem Herz für die Liebe und einem Anker für die Hoffnung. Der Anker ist natürlich ein Motiv der Fischer und Seemänner, aber es heißt auch im Neuen Testament, dass Christus als unser Hohepriester ins himmlische Heiligtum Gottes eingegangen ist, dass wir nun den Anker unserer Hoffnung auf den Himmel in ihm festmachen sollen.

Im nahen Norden befindet sich der Schwanenteich, da wir oft spazieren gingen. Das ist ein besonderer Ort, fast möchte ich sagen, ein magischer Ort. Das Zentrum von Norden befindet sich an der Ludgeri-Kirche. Zu Sankt Willibrord, dem Apostel der Friesen, trat schon Sankt Ansgar, der Apostel von Bremen bis Skandinavien, nun kommt Sankt Ludger, der mit seinem heiligen Schwan nach Helgoland fuhr, das früher Forsetesland hieß nach dem friesischen Gott Forsete, denn Forsetesland war das Hauptheiligtum der heidnischen Friesen. Später komme ich noch auf Sankt Wiho, einen Friesenmissionar. Hier aber in Norden wird Sankt Ludger verehrt in der Hauptkirche, heute evangelisch-lutherisch, und etwas abseits in der katholischen Ludgerkirche. Der Ludgerdom von Norden aber steht an dem heiligen Hügel, da sich auch der Warzenstein befindet, der eine Mulde an seiner Spitze hat, darin sich Wasser sammelt, das Warzen heilen kann. Die Mulde entstand, als ein Gottesmann solange auf dem Stein zum Gebet kniete, bis die eindringenden Feinde besiegt waren. Dieser Hügel ist der Heilige Hügel, das Heiligtum der Heiden, da dann später die Kirche gebaut wurde. Der Heilige Hain der Heiden aber war der Schwanenteich, da die friesischen Priester aus den Bewegungen der Schwäne wahrsagten. Der Schwanenteich ist ein kleiner Teich mit einem Rundgang. Auf dem Schwanenteich lebte ein Paar weißer Höckerschwäne und ein Paar schwarzer Trauerschwäne. Auch halten sich dort des weiteren Gänse, Enten, Möwen, Wellensittiche, Pfauen, Rebhühner, Seehunde und Ziegen auf. Es ist also ein kleines Paradies für Kinder. Hier stand ich mit drei Jahren mit dem kleinen Mädchen Marita und fütterte die Schwäne. Später habe ich als Wahnsinniger wieder in der Nähe des Schwanenteichs gelebt und mit den Schwänen kommuniziert. Davon will ich, wenn ich es nicht vergesse, später erzählen. Der Schwan ist nicht nur der Namensgeber für unsern Familiennamen, sondern ein mythologisch bedeutsames Tier. Die Walkyren bei den Germanen hießen Schwanenmädchen. In vielen Märchen gibt es Schwanenjungfraun. Der Schwan war der Venus wegen seiner majestätischen Schönheit heilig, es heißt, Schwäne zogen den Wagen der Venus. Der Schwan war die Gestalt, die Zeus annahm, um Leda zu begatten, die daraufhin die schöne Helena gebar, die schönste Frau der Antike. Der Schwan war auch dem Apollo heilig als ein Vogel der Weissagung, da Apollo nicht allein der Gott der Dichter, sondern auch (wenn es nicht das gleiche ist) der Gott der Seher. Platon lässt Sokrates vor seinem Tode erzählen, dass die Singschwäne vor ihrem nahenden Tode singen, weil sie sich auf die Unsterblichkeit der Seele und das himmlische Elysium freuen. Auch im Orient ist der Schwan heilig, bei den Chinesen heißt er: Himmlische Gans, weil er ein Himmelsvogel ist. Bei den Indern reitet der Gott Brahma, der Schöpfergott, auf dem Königshansa, dem Schwan. Der Schwan ist auch der Göttin der Weisheit heilig, der indischen Göttin Saraswati, denn der Schwan gilt als Symbol der spirituellen Reinheit der Seele. Im Indischen ist Schwan gleichbedeutend mit Seele. Ich wüsste allerdings nicht, dass der Schwan in der Bibel vorkäme. Aber wie schon erwähnt wurde Sankt Ludger von einem heiligen Schwan begleitet.

Aber um wieder zum Elternhaus und zum Haus meiner Großmutter zurückzukehren, will ich unseren Garten beschreiben. Dieser Garten an sich war nicht groß, meine Großmutter zog hier ihre Bohnen. Das kann ich nicht vergessen und muß jedes Mal daran denken, wenn ich höre von Pythagoras, denn die Lehre der Pythagoräer von der Seelenwanderung oder Reinkarnation besagte, dass die Seelen der Toten sich in den Bohnen wiederverkörperten, weshalb die Pythagoräer keine Bohnen aßen. Aber mein Vater pflegte auch Stachelbeeren und Erdbeeren und Rote und Schwarze Johannesbeeren. Aber an den kleinen Garten schloß sich ein großer Garten an, der einer alten Dame gehörte, den wir aber nutzen durften. Wir pflegten den Garten und durften dafür seine Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen ernten. Dieser Garten heiß Lenz-Park. Es stand darin eine kleine Gärtnerhütte, darin noch Gartengeräte sich befanden. In früheren Zeiten waren darin Bienenstöcke für die Bienenzucht. Das vergesse ich nicht und denke stets daran, wenn ich einmal in Vergils Lehrgedicht vom Landbau den Lobgesang auf den Bienenstaat den Bienenkönigin lese, darin er die matriarchale Bienenkönigin mit dem römischen Augustus vergleicht. Hier wurde manchmal heimlich Tabak geraucht. Neben den schon erwähnten Obstbäumen standen da gewaltige Blutbuchen von erhabenem Alter und majestätischer Würde. Im Frühling war der ganze Garten mit weißen, gelben und violetten Krokusblüten übersät, ein wahres keusches Kleid der keuschen Ostergöttin. In dem gewaltigen Kastanienbaum aber, der vor meinem Fenster stand, saßen immer die Tauben. Ihr Gurren ist mir zum Inbegriff von mütterlichen Lauten geworden, ihr mütterliches Taubengurren ist mir zum Inbegriff eines mütterlich tröstenden Zuredens geworden. Vermischt mit dem Klang der Kirchenglocken ist es der musikalische Klang meiner Kindheit. Auch hatten wir im Sommer immer Lämmer im Garten, die das Gras abweideten. Mit diesen Lämmern gab es manche komische Geschichte. Manchmal kam ich zu spät zur Schule, weil ich ein Schaf noch einfangen musste. Aber ein Schaf, das ich Petra genannt hatte, war ein schwarzes Schaf und war leider elendig an einem Bandwurm krepiert. Schafe und Lämmer waren mir sowieso gut vertraut, da wir oft auf dem Deich an der Nordseeküste spazieren gingen, da wir denn mitten zwischen den Schafen wandelten, die auf dem Deich weideten. Das sollte mir die Schafswelt des Alten Testaments und die Lammeswelt des Neuen Testaments lebendiger machen. Ich empfand es immer gewissermaßen als eine Lästerung oder zumindest als menschlichen Hochmut, diese Bilderwelt der Bibel abzulehnen mit dem Hinweis auf die Stupidität der Schafe und Lämmer. Vielmehr empfand ich den Vergleich gut gewählt, da mir die Schafe sowohl die Unschuld und Reinheit Christi, als auch seine Sanftmut und Demut gut zum Ausdruck zu bringen schienen. Aber den stolzen Menschen gefiele ein Löwe eben besser oder ein Adler. Andere aber noch bevorzugen Steppenwölfe oder listige Füchse oder gar sinnliche Schlangen.


Von meinem Elternhaus nur durch den Lenz-Park geschieden befand sich die kleine katholische Kapelle Sankt Wiho. Wir sprachen über die Katholiken immer wie über Menschen fremder Sprache, fremder Rasse, unverständlicher Kultur. Alles in Friesland war von evangelischer Kultur geprägt, lutherisch oder reformiert. Die Katholiken waren wie Fremdkörper. Es war wie in China, wo man das Christentum lange Zeit die „Religion der fremden Teufel“ nannte. Wir wunderten uns oft über die seltsam gekleideten Knaben und Mädchen, die Ministranten, wenn sie vor der Messe sich hinter der Kapelle im Garten versammelten, wir wunderten uns über ihre Minsitrantengewänder. Einen unangenehmen Hauch von Absonderlichkeit hatten auch die katholischen Pfadfinder. Dennoch sollte ich später drei Mal mit den katholischen Pfadfindern ins Zeltlager reisen. Aber entscheidend ist doch, dass sich in meiner Kindheit Garten die Klänge der lutherischen Kirchenglocke mit den Klängen der katholischen Kirchenglocke zu einem einzigen harmonischen Laut der Mutter Kirche vereinten. Sie waren wie zwei Schwestern, die evangelische Schwester war blond, die katholische Schwester war schwarzhaarig, die evangelische Schwester war allseits beliebt und jung, die katholische Schwester war die Außenseiterin der Gesellschaft und wurde als sonderbar schief angesehen. Aber sie beide lächelten in meinen Garten. Und kurz nach meiner Bekehrung zu Christus besuchte ich zum ersten Mal die kleine katholische Sankt-Wiho-Kapelle und verliebte mich unsterblich in Unsere Liebe Frau von Hage, eine wunderschöne junge Madonna, die Apokalyptische Frau, der Schlange das Haupt zertretend. Sie ist einfach unglaublich schön!


Wir haben als Familie von Vater und Mutter und Kindern manche Reise nach Skandinavien unternommen. Hier erweitert sich mein Heimatbegriff. Ich habe mich nie heimatlich identisch gefühlt mit dem politischen Deutschland. Wo liegt auch Deutschland? Heimat, soweit sie auf Erden in der Kindheit gefühlt wurde, ist persönliche Erfahrung. Meine engere Heimat ist Friesland, meine weitere Heimat Germanien. Ich folge hier den Spuren des heiligen Ansgar, in dessen Kirche ich getauft ward. Er missionierte Dänemark und Schweden. Skandinavien war eine Zeit katholisch, später wurde es absolut lutherisch. Wir waren zuerst in Dänemark auf dem Festland. Ich sah Kopenhagen, ich sah auch die Statue der Kleinen Meerjungfrau, der nordischen Venus. Wir wohnten am Meer und ich vergesse nicht die Feuerquallen in der Ostsee, vergesse nicht die salzige Butter und die Himbeermarmelade und die saure Dickmilch. Wir fuhren dann zur dänischen Insel Langeland, die übersät war mit purpurroten Mohnblumen. Hier trafen wir die Familie einer Jugendfreundin meiner Mutter, deren beide Töchter in dem Alter meines Bruders und in meinem Alter waren, schöne Mädchen. Die Mütter verglichen ihre Brüste und fragten mich um mein Urteil, ob der kleinere oder der größere Busen der Schönere sei? Ich weiß nicht mehr, wie ich mich aus der Affäre zog. Dann reisten wir zur Insel Öland. Dort lernten wir eine schwedische Familie kennen, die wir oftmals besuchten. Öland ist gewissermaßen die große Schwester der kleinen Baltrum. Wie Baltrum die Perle meiner friesischen Heimat, so ist Öland die Perle meiner germanischen Heimat. Wir betrachteten alle die vielen Windmühlen, die ein Don Quichotte wohl für verzauberte Riesen und Trolle gehalten hätte. Wir sahen die Sommerresidenz der Königin von Schweden, die deutscher Abstammung war. Die Kinder der schwedischen Familie versuchten mir, die schwedische Sprache nahezubringen. Am Meeresstrand fand ich Ton und formte daraus Schlangen, die ich dann zu einer Vase modellierte, diese ließ ich in der Sonne trocknen und schenkte sie zuhause meiner geliebten Großmutter, die eine künstliche Rose hineinstellte. Mein Vater fuhr allein mit einem kleinen Segelboot auf die Ostsee und erlitt einen Unfall. Wir bangten lange, ob der Vater verschollen sei? Auch liebte ich es, in der Ferienwohnung Romane zu verschlingen. Dann reisten wir auf das schwedische Festland und sahen Stockholm, das Schloss der Königin. Uppsala, der Geburtsort der heiligen Brigitta von Schweden, war in heidnischer Zeit das Hauptheiligtum der Germanen. Dort trat ich in den Dom von Uppsala, der lutherisch geworden war. Wir durchfuhren in einem Wohnwagen das schwedische Land und kamen nach Norwegen, wo wir in der Stadt Bergen Lachs speisten, den Lachs der Weisheit, eine sakramentale Speise der Druiden, denn der Lachs schwimmt zur Quelle zurück, gegen den Strom zurück zur Quelle, um dort zu laichen und zu sterben, darum ist er ein Symbol der Weisheit. Ich fand die Fjorde beeindruckend, diese wildschäumenden Wasser in zerklüfteter Felslandschaft. Wir reisten noch durch Finnland und Lappland. Dort sah ich die Mitternachtssonne, da um Mitternacht ein rosiger Sonnenschimmer über den schneebedeckten Bergen lag, ein unglaublich poetisches Bild. Wir speisten finnische Grütze und übernachteten im Land der tausend Seen auf einer grünen Weide im Zelt, da mein Bruder und ich morgens von einem Rentier geweckt wurden, das neugierig vor unserm Zelte stand. Die Rentiere sind wunderschöne Tiere und leben zahm und zugleich frei gesellig in großen Herden droben im Land der tausend Seen. Wir sahen auch die Lappländer in ihren Eingeborenentrachten, Holzfäller, die die unzähligen Birken nutzten. Hier bekam ich ein Rentiergeweih und ein Messer mit einem Griff aus Rentierhorn geschenkt. Zuletzt begaben wir uns an den nördlichsten Punkt Europas, an das Nordkap. Dort stand ich nun am äußersten Norden der Königin Europa und schaute in das unendliche Nordmeer herab. Und wenn ich nun lyrisch werden wollte, so schien mir, ich war an der Grenze zur Welt der germanischen Götter, die Tore Walhallas taten sich auf, die Schwanenmädchen kamen, die Schwanenmädchen trugen mich nach Folkwang in die Arme Unserer Lieben Frouwa!

Ich sollte noch mein Horoskop erstellen, um auch der Poesie des Aberglaubens zu frönen. Der Dichterfürst Goethe regte mich dazu an, und ich denke an die Lehre des Dichterpapstes Dante, der selbst seines Zeichens Zwilling war und auf den engelgleichen Lehrer Thomas von Aquin hinwies, der nämlich behauptete einen gewissen Einfluß der Sterne auf die niedere Natur der Seele, wobei die höhere Natur der Seele natürlich die vollen Freiheit behalte, sich für Gott oder gegen Gott zu entscheiden, allezeit zu wählen zwischen Gutem und Bösem. Der Einfluss der kosmischen Ordnung gibt der Seele eine gewisse individuelle Prägung, aus diesem Material der freie Menschengeist denn Gutes oder Bösen fruchten lassen kann. Soweit zur Rechtfertigung meiner Darlegung. Wissenschaftlich kann dieses Horoskop nicht sein, aber ich will doch sagen, dass ich unter dem Sternbild des Skorpion geboren bin mit dem Aszendenten Waage. Die Waage steht nun für Sanftmut, Harmonie, Ruhe. Der Skorpion aber steht unter dem Einfluss des Mars, der für die Aggression steht, und des Pluto, der für den Tod steht. Dem Skorpion sind am Menschen die Geschlechtsorgane zugeordnet. Der Skorpion, wie mir immer vor Augen stand, ist eine geheimnisvolle Mischung aus Sexus und Tod, dabei neigt der Skorpiongeborene besonders zum Geheimnisvollen, zum Mysterium. Es ist skorpionmäßig, die Verbindung von Tod und Sexualität zu betrachten, den Tod als eine Hochzeit, wie Antigone es tat, die beim Todesurteil die Hochzeit mit dem Hades erwartete. Dieses Mysterium erscheint auch im Wort Gottes, da der Tod oder vielmehr das ewige Leben als eine himmlische Hochzeit betrachtet wird. Der so geprägte Mensch wird offen sein können für das Mysterium von Eros und Kreuz. Worte wie das der heiligen Katharina von Siena, sie sei vermählt mit Christus im Brautbett des Kreuzes, sind dem Skorpiongeborenen intuitiv zugänglich. Das selbe Verhältnis meines Horoskops, das die Chaldäer das Verhältnis von Skorpion und Waage nennen, drückt sich in der chinesischen Astrologie durch das Verhältnis von Schlange und Hase aus. Ich bin geboren im Jahr der Schlange, in der Stunde des Hasen. Der Skorpion der Chaldäer ist die Schlange der Chinesen, die Waage der Chaldäer ist der Hase der Chinesen. Die Schlange steht ebenso für das Mysterium der Einheit von Tod und Sexualität, der Hase steht ebenso für die Sanftmut und den Frieden. Über das Symbol der Schlange habe ich lange nachdenken müssen, es hat mich immer fasziniert. Üblicherweise steht in der Betrachtung der Bibel die Schlange für Satan, für das Böse, für den Zerstörer, den Tod. Aber der Heilige Geist lenkt meinen geistigen Augenmerk auf die Eherne Schlange, die Moses an einer Stange errichten ließ. Als nämlich die Kinder Israel von giftigen Brandschlangen (Seraphim) angefallen und gebissen wurden und starben, da errichtete Moses auf Gottes Geheiß hin die Eherne Schlange, das kupferne Bild einer Schlange an einer Stange aufgerichtet, damit die Kinder Israel, die Eherne Schlange anschauend, von den tödlichen Bissen der giftigen Brandschlangen geheilt würden und am Leben blieben. Dieses Kultbild der Ehernen Schlange wird von Salomo im Buch der Weisheit erwähnt, da Salomo sagt, die Menschen wurden nicht von diesem Kultbild geheilt, sondern, dieses Kultbild anschauend, von Gott geheilt. König Hiskia entfernte das Kultbild der Ehernen Schlange aus dem Tempel von Jerusalem, da die Israeliten damit Götzendienst trieben. Aber unser Herr Jesus Christus griff auf dieses Kultbild zurück, das den Namen Nehuschtan trug, und sagte: So wie Mose die Eherne Schlange an der Stange errichtete, damit alle, die auf die Eherne Schlange blicken, vom Tode erlöst werden und Leben haben, so muß auch der Menschensohn am Kreuz erhöht werden, damit alle, die auf den Gekreuzigten schauen, das ewige Leben haben. Mit einem Wort: Christus ist die Eherne Schlange! Das wird nie gepredigt, aber die sakrale Kunst hat es in einem Fall begriffen, dass nämlich in der katholischen Kirche Sankt Marien zu Oldenburg in Oldenburg die Eherne Schlange am Kreuz als Altarbild dargestellt ist. Ist die Schlange ein Symbol des Todes, so ist es wahr, wie der Dichter Vergil schrieb in der Aenäis: Dein Tod ist mein Leben! Der Kreuzestod Christi ist mein ewiges Leben, der Tod der Ehernen Schlange ist mein ewiges Leben. Die Schlange ist aber nicht allein ein Symbol für den Tod, sondern auch ein Symbol für die Weisheit und für die Ewigkeit, des weiteren ist die Schlange ein phallisches Symbol für die Sexualität. Es ist ein nahezu unausschöpfliches Symbol. In der Geschichte des Sündenfalls reicht die Schlange als das listigste aller Tiere die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Aber Jesus verweist darauf, seine Jünger sollen wahrhaftig und ohne Falsch sein wie die Taube und klug wie die Schlange. Die Schlange wird sowohl von Moses als listig, als von Jesus als klug bezeichnet. In alten matriarchalen Kulturen gilt die Schlange als Symbol der Weisheit. Beim Zeichen der Heilkunst, dem Äskulapstab, finden wir wieder die Schlange oder zwei Schlangen erhoben an einem Stab. Dieses Symbol soll Gesundheit und Heil verkörpern. Es ist dem Symbol der Ehernen Schlange an der Stange wesensmäßig verwandt, es ist das Zeichen des Heils, des Heilands. Die Schlange wird zu einem Symbol des ewigen Lebens, da sie zum einen sich häutet, also aus ihrer leiblichen Haut schlüpft und mit der Unsterblichkeit der Seele fortlebt. Zum anderen aber auch war im Altertum weitverbreitet das Symbol der zum Kreis geschlossenen Schlange, die ihren Schwanz ins Maul nimmt und so den absoluten Kreis der Totalität oder Ewigkeit darstellt. Der Matriarchatsforscher und Tiefenpsychologe Erich Neumann bezeichnete dieses Zeichen der Schlange, das man Uroboros nannte, als ein phallisches Symbol des Urväterlichen, des numinösen Vaters der Ewigkeit. Das die Schlange als ein Symbol für den Phallus gesehen wurde, ist evident. In der indischen Philosophie des Tantrismus gilt die Schlange geradezu als die leibliche Energie, die durch sexuelle Übungen aktiviert und durch geistige Meditation sublimiert wird, so dass ein Zustand der Erleuchtung eintreten könne. Das die Sexualität ausgedrückt wird durch die Schlange wird auch deutlich in der Bildsprache, da die Schlange mit der nackten Frau Eva in Verbindung steht und ihr die Frucht schenkt, die sowohl als Apfel als auch als Feige dargestellt wird. Die Schlange ist dabei der Archetyp der männlichen Sexualität und die Feige oder der Apfel der Archetyp der weiblichen Sexualität. Das es dabei auch noch um verbotene Erkenntnis ging, weist darauf hin, dass der Sündenfall als ein gotteswidriger Erkenntnis- oder Geschlechtsakt dargestellt wird. In der Mythologie des Judentums existiert auch noch die Gestalt der Lilith, die die erste Frau Adams genannt wird, und ich sah ein Bild, da eine erotische Frau, ganz wie eine Venus dargestellt, von einer kraftvollen Schlange spiralförmig umschlungen wird, ein kraftvolles Bild der Lilith, die von der jüdischen Mystik der Kabbala als die Verführerin in Person dargestellt wird. Was lernen wir daraus? Die Schlange als Symbol der Weisheit, als Symbol des Eros, als Symbol von Tod und Ewigkeit, von Kreuz und ewigem Leben ist ein Symbol für Christus, denn Christus ist Gottes Weisheit, Christus ist Gottes Eros, Christus ist der Gekreuzigte und Auferstandene, Christus ist die Auferstehung und das ewige Leben. Aber um den Hasen nicht zu vergessen, der in der chinesischen Astrologie der Schlange zugesellt ist als zweite Astralkraft, die die niedere Natur meiner Seele beeinflusst, will ich nur darauf hinweisen, dass der Hase in den germanischen Ländern zu einem stellvertretenden Symboltier für das Osterlamm geworden ist. Es ist die Sanftmut und Friedfertigkeit, die sowohl das biblische Lamm als auch den traditionellen Hasen auszeichnen. In meiner Kindheit hing immer an der Bilderwand unseres Hauses der Hase von Albrecht Dürer. Der Hase ist Christus, das Lamm Gottes, der Hase ist Jesus, der sanftmütig und von Herzen demütig ist, der Hase ist Christus, der wahre Friedefürst.

Der Don Juan ist mir angeboren. Mozart lässt ihn zur Hölle fahren, Byron schreibt seine unendliche Geschichte, Max Frisch bekehrt Don Juan zur Geometrie, ich mache ihn zum Marienverehrer, zum Eremiten des Berges Karmel namens San Juan. An meinem Kinderwagen stand meine erste Liebe, Anonyma ihr Name, mit Marita fütterte ich dreijährig die weißen Schwäne am Schwanenteich, mit Dörte segelte ich auf dem Großen Meer und spielte Ping-Pong im Garten, mit Karin der Schwarzhaarigen spielte ich Indianerprinzessin und Bleichgesicht, die sich lieben, mit Karin der Blonden tanzte ich den Walzer, mit Sonja fing ich Schmetterlinge vom Schmetterlingsflieder und spürte meine Pubertät in ihrem Schlafzimmer und mit Angela spielte ich Küssen.

Meine Freunde Klaus und Udo waren mir bald fremd geworden, da sie sich nur für Werkzeugarbeiten und Automobile interessierten. Mit meinen Freunden Heiko und Andreas spielte ich Indianer im Wald. Andreas traf ich später wieder bei der Heiligen Messe in der Sankt-Wiho-Kapelle von Hage zu Füßen der Apokalyptischen Frau. Wir verwechselten David und Goliath und spielten auf dem kleinen Hügel im Wald, den wir Goliathhügel nannten, weil er so klein war. Es war doch der kleine Junge Goliath unser Held, der gegen den hochgerüsteten Riesen David nur mit der Steinschleuder bewaffnet siegte! So habe ich später auch die Söhne meiner Seele zu Davidssöhnen gemacht.

Ich bin dreimal mit den katholischen Pfadfindern ins Zeltlager gefahren. Wir lernten Pfadfindertugenden, uns im Wald zu orientieren. Die Katholiken mussten bei Tisch immer beten, aber wir Evangelischen, zwar eingeladen mitzubeten, mussten nicht beten. Mein Betreuer trug mich durch den Bayrischen Wald und erzählte mir die Legende von Sankt Christopherus, der nur dem Mächtigsten dienen wollte, er fand dann, der Mächtigste sei das Jesuskind. Das erzählte mir der fromme Mann, als er mich auf seinen Schultern trug, er hatte in der Hand einen langen Wanderstab. Und so geschah es, dass mich Sankt Christopherus auf den Schultern trug und ich war das Jesuskind. Später konvertierte ich in der Sankt-Christopherus-Kapelle zur Katholischen Kirche. Heimlich las ich im Tagebuch meines Betreuers, er beschrieb mich als vernünftig.

Mit meinen Freunden beim Indianerspielen im Wald gab es einmal eine Auseinandersetzung, da ich als zu vernünftig angesehen wurde, zu wenig abenteuerlustig. Man sagte mir, ich solle nicht predigen: Du predigst wieder mal das Wort zum Sonntag. Ja, ich habe später wiedergefunden meine Neigung zum Predigen. Mancher Frau bin ich damit schon lästig geworden. Ich wollte gar einmal evangelischer Pfarrer werden. Aber der evangelische Pfarrer riet mir davon ab.

In der Grundschule hatten wir zum Religionsunterricht eine Kinderbibel bekommen. Ich erinnere mich noch gut, dass mich die Geschichte von der Berufung des Knaben Samuel im Tempel so lebendig ansprach, als spräche Gott nicht zu Samuel, sondern zu mir: Torsten, Torsten! – Rede, Herr, dein Knecht hört! – Die zweite Szene aus der Kinderbibel war das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Ja, das Hören auf Gott, der Glaubensgehorsam, muß sich auswirken in der Nächstenliebe.

Als ich zwölf Jahre zählte, nahm mich meine Kindheitsfreundin Dörte mit in die Freie Evangelische Gemeinde, eine protestantische Freikirche calvinistischer Prägung. Dort nahm ich an der Kinderbibelstunde teil. Das Fräulein Marie gab uns den Unterricht. Ich erinnere mich an das Baby Moses und seine Schwester Mirjam. Als ich als Erwachsener die Bibel wieder fand und gläubig wurde an Christus, las ich zuerst die fünf Bücher Moses und liebte darin vor allem Mirjam. Damit begann meine Marienverehrung, mit der Verehrung der Schwester Moses, Mirjam. Dann erinnere ich mich an die Geschichte von Josef im Brunnen. Ich liebte vor allem Benjamin, weil er seinen Bruder Josef nicht verraten und verkauft hatte. Josef war ja eine Jesus-Gestalt, und ich wollte gern der Benjamin-Bruder des Josef-Jesus sein. So, als ich in der englischen Sprache unterrichtet wurde, nannte ich mich Benjamin. Daran erinnerte ich mich wieder, als ich den großen englischen Renaissance-Poeten Benjamin Jonson so außerordentlich liebte, den Musenpriester seiner Göttin Charis. Schließlich erinnere ich mich an den jungen David im Kampf mit dem Riesen Goliath. Unvergesslich war mir David, so dass ich später, als ich wahnsinnig geworden war, das erste Buch Samuel nachdichtete in Versmaß und Reim, so heilte mich David von meinem Wahnsinn.

Ich las die germanischen Götter- und Heldensagen und war begeistert von Siegfried. Aber Kriemhilds blutige Rache war mir ganz zuwider, ich verabscheute den Krieg. Dagegen Gudrun, die irische Prinzessin, von einem friesischen Häuptling gefreit, von einem Burgunder entführt, von Friesen und Dänen befreit, sie war mir sehr lieb.

Meine musikalische Mutter hatte für meine musikalische Erziehung gesorgt. Zuerst lernte ich Volkslieder auf der Flöte zu spielen, dann nahm ich Klavierunterricht und spielte am liebsten das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, schließlich brachte ich mir selber das Gitarrespielen bei. In meiner Jugend sollte dann die Gitarre mit den „blue notes“ der afroamerikanischen Klageliebeslieder meine Begleiterin sein.

Ich war ungefähr dreizehn Jahre alt, als ich mich eines Abends in der romantischen Dämmerung vor einem weißen Heft niedersetzte und es mit meinem ersten poetischen Erguss voll schrieb. Ich zeigte es meinen Eltern, fand aber kein Echo. So soll es mir wohl mein Leben lang ergehen, dass der Geist mich inspiriert, ich dichte, aber es kommt aus der Welt kein Echo auf meine Dichtkunst zurück.

Mit fünfzehn Jahren ward ich schließlich konfirmiert. Mein Vater hatte mir gesagt, ich bekäme auch Geschenke, wenn ich nicht zur Konfirmation ginge, ich bräuchte nicht wegen des Geldes zur Konfirmation gehen. Meine Großmutter vertraute mir ihre Bibel an, die sie zur Hochzeit vom evangelischen Pfarrer von Baltrum bekommen hatte. Nach dem Tode meiner Großmutter ging die Bibel ganz in meinen Besitz über, sie ist nun Bestandteil meines Hausaltares. Ich bekam ein evangelisches Gesangbuch. Noch heute lese ich gerne diese reformatorische Poesie. Im Konfirmationsunterricht diskutierten wir über Liebe und Freundschaft und meditierten über die hungernden Kinder von Afrika. Ich lernte das Vaterunser auswendig. Bei der Konfirmationsfeier nahm ich das erste Mal an einem evangelischen Abendmahl teil. Als der Pfarrer mir den Kelch mit dem Wein reichte, kniete ich vor dem Kelch und bekam Nasenbluten. Christi Blut – mein Blut!



ZWEITES KAPITEL



1


Ich kann es nicht erklären, aber als ich eines Morgens in meiner Jugendzeit erwachte, stand ich ohne allen Glauben da. Es war, als hätte ich nie von Christus gehört. Nun musste ich mich also nach einer Weltanschauung umschauen, die mir als sinnstiftender Leitfaden durchs Lebenschaos dienen könnte. Wo die Wahrheit fehlt, da tritt die Ideologie an die Stelle. Christus ist die Wahrheit, aber die Ideologie ist der Antichristus. Es war die Zeit, da das kommunistische Russland und das kapitalistische Amerika in einem Wettstreit sich befanden, wer mehr Atombomben besäße. Sie brachten die Welt an den Rand eines Dritten Weltkriegs, eines Atomaren Winters. Dagegen erhob sich in den westlichen Demokratien die Friedensbewegung, die dagegen im Staatssozialismus Osteuropas keine Meinungsfreiheit fand. Die Fahne der Friedensbewegung war eine blaue Fahne mit der weißen Taube des Friedens, ihre Protestform waren Ostermärsche und andere friedliche Demonstrationen. Es sammelte sich ein Haufen von liberalen Christen, Demokraten, Naturfreunden und Sozialisten und waren sich einig im Gegensatz zur konservativen Regierung Westdeutschlands, die sich an die Seite Amerikas stellte. In dem bunten Haufen der Friedensbewegung begegnete ich den Marxisten, die mich zur kommunistischen Ideologie verführten.

Ich las das Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels und eine Schrift von Lenin über den Imperialismus. Die angeblich wissenschaftliche Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die zuletzt in das irdische Paradies des Kommunismus münden sollte, faszinierte mich. Ich ward Kommunist und schloß mich der Kommunistischen Partei Westdeutschlands an, einer Marionette der Kommunistischen Partei Russlands. Hier wurde denn planmäßig ein Jugendlicher in seiner Unwissenheit zum leninistischen Ideologen ausgebildet. Ich studierte den dialektischen Materialismus, die kommunistische Philosophie, entsprechend meinem Fassungsvermögen, von der kommunistischen Ökonomie verstand ich nichts. Was mich und meine Jugendfreunde aber vor allem faszinierte, das war die Revolutionsromantik. Das ist verständlich. Ich hörte einmal den Spruch: Wer in seiner Jugend kein Kommunist gewesen, der ist herzlos, und wer im Alter immer noch ein Kommunist ist, der ist ein Narr.

Die Revolutionsromantik verklärte die russische Revolution von 1917 als eine welthistorische Wende, eingeleitet von dem großen Menschheitsbefreier Lenin, der mit seiner kleinen Schar Revolutionäre die zaristische Tyrannei zertrümmerte, die Weltrevolution einleitete, die den allgemeinen Weltfrieden und das irdische Paradies herbeiführen wird. Im Gegensatz zur Philosophie des Kommunismus, da die Geschichte von Produktivkräften und Klassen bewegt wird, stellte sich in dem realen Kommunismus ein historischer Personenkult her, der pseudoreligiöse Züge trug. Dieser Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, war der Pseudo-Messias, eigentlich der Anti-Christus. Seine Kirche war die Partei. Seine Bekehrung des Herzens war die Revolution, seine Waffe nicht die barmherzige Liebe, sondern der revolutionäre Haß, sein Ziel nicht das Himmlische Paradies in Gemeinschaft mit Gott, sondern das irdische Paradies ohne Gott. Aber das durchschaute ich nicht, sondern ich war blind vor Bewunderung für dieses Idol. Er war mein Götze.


Niemand hatte mir von Fatima in Portugal berichtet, wo die Mutter Christi erschien vor drei armen Hirtenkindern und bat, für die Bekehrung Russlands zu beten, Russland dem Unbefleckten Herzen Mariens zu weihen, da sonst die Kommunisten Russlands ihre Irrlehre über die ganze Welt verbreiten würden und es nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Zweiten Weltkrieg kommen würde. Aber am Ende wird sich Russland zu Christus bekehren, dann wird Mariens Herz triumphieren, dann wird Russland das Volk sein, in dem Gott am höchsten verherrlicht werden wird.

Zur Zeit der politischen Friedensbewegung in Europa und Amerika, erschien in der Herzegowina die Mutter Christi als Königin des Friedens und der Versöhnung und rief die Welt zum Gebet auf: Tut Buße, betet, betet, betet, denn der Friede kommt nicht von den Staatsmännern, sondern der Friede beginnt, wo das Herz Frieden schließt mit Gott. Empfangt den Frieden von Gott in eurem Herzen und dann tragt den Frieden Christi in die Welt. Die Welt braucht Frieden, darum betet!


Aber davon machte mir keiner Mitteilung, und ich weiß auch nicht, ob ich es hätte hören wollen. In mir war wenig Sinn für Innerlichkeit, Gebet, sondern alles in meiner Jugendkraft drängte zur Aktion, zum Kampf. Aber ich interessierte mich auch für die Philosophie. Ich hörte vom utopischen Sozialismus aus Frankreich, von Utopien wie dem Utopia von Thomas Morus und dem Staat Platons. Aber ich meinte in meiner Kurzsichtigkeit, die Wahrheit hätte erst mit Karl Marx begonnen. Dabei war Karl Marx ein schlechter Philosoph, der seine schlechte Philosophie mit politischen Parolen übertünchte. Ich interessierte mich für Lenins Gedanken über die Dialektik Hegels. Da war ja bei Hegel die Welt in einen klappernden Dreiklang geteilt, da auf die These die Antithese folgte, und aus These und Antithese ergibt sich die Synthese, kurz, der Urkommunismus der historischen Vorzeit als These wurde abgelöst von der Antithese der Klassengesellschaften, das heißt, der Sklaverei, dem Feudalismus und dem Kapitalismus, und zuletzt ergibt sich aus historischer Gesetzmäßigkeit und gemäß der dialektischen Gerechtigkeit die Synthese des Kommunismus, da der Urkommunismus auf einem höheren Niveau wieder erscheint. Allerdings, obwohl diese historische Gesetzmäßigkeit die Notwendige Heilsgeschichte des Kommunismus zwangsläufig einleitet, muß sich dieses Gesetz doch gewaltsam in der Revolution Bahn brechen. Und mit dem historischen Ziel des irdischen Paradieses ist der ganze Rote Terror historisch gerechtfertigt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.

Zuletzt, als das goldene Haus der kommunistischen Ideologie wegen seiner offenbaren Fehlerhaftigkeit schon kurz vorm Einstürzen war, erschien noch einmal der Neomarxist, der Philosoph Ernst Bloch mit seinem Utopischen Marxismus und begeisterte noch einmal mein junges Herz mit einer Zukunfts- und Hoffnungsphilosophie, die poetisch ausgedrückt, doch auch im irdischen Paradies des Kommunismus die letztendliche Erfüllung aller Sehnsüchte und Träume des ganzen Menschheitsgeschlechts sah.


Wie aber ist es in der Weltrevolution dem Don Juan und dem Ewigweiblichen ergangen? Meine Jugendliebe begann mit Hedda, deren Mutter Lenin verwarf und treu zum Zaren hielt. Da musste ich mich abwenden, so wendete ich mich Ursula zu, der Schwester des Marxisten, der mir das Kommunistische Manifest gegeben hatte. Aber als ich in die Kommunistische Partei eingeführt worden, begegnete mir die Kommunistin Sonja, die ich einen Winter liebte, bis sie an meinen Genossen überging. Ich heulte wie ein sibirischer Wolf den Mond an. In der Friedensbewegung lernte ich dann Kathi kennen, eine Feministin, die mir als Antigone erschien, die Frau, die dem Vater Staat trotzte und sich auf das Urgesetz der Gerechtigkeit berief, das Naturrecht, das als Recht der Mütter erschien. Asche auf mein Haupt! In Sack und Asche tu ich Buße! Ich demonstrierte für das Recht der Frauen, ihre eigene Leibesfrucht im gesegneten Mutterschoß zu töten! Aber als der Kommunismus zusammenbrach, erschien mir der Engel Annegret, mein Gretchen aus Faust, der Tragödie Erstem Teil, die eine Christin war, für sie schrieb ich die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium um, da nicht Christus der Herr geboren war, sondern Gretchen die Frau! So hatte mich das Ewigweibliche begleitet vom Zaren zu Lenin, von Lenin zu den Müttern, von den Müttern zu Christus!


Meine kommunistischen Freunde Volker, Werner und Thomas trafen sich regelmäßig mit mir, um Propagandatexte zu schreiben. All mein poetisches Talent, das sich vor Hedda noch in Liebesgedichten ergossen, verschwendete sich nun an politische Pamphlete. Aber mit meinem Freund Erich kehrte langsam die Poesie zurück. Er übersetzte Liebeslieder der Afroamerikaner, er machte langsam eine Wandlung von der Anbetung der Ikone des Antlitzes Che Guevaras, des kubanischen Revolutionärs, zu einem Lesen der Heiligen Schrift. Er las mir eines Tages die Apokalypse des Johannes vor, ich konnte es nicht ertragen, denn es galten all die Gerichte mir! Dennoch war nun eine Bibel in meinem Haus, und so nahm ich nicht mehr Lenins Propaganda zum literarischen Vorbild, sondern Lukas, den Minnesänger der Madonna. Bis sich aber der Madonnen-Minnesang durchsetzte, war es noch ein langer Weg.


Ich hatte ja nicht allein Lenin zum literarischen Vorbild, sondern drei Große der Kommunistischen Literatur, ich studierte die Gesammelten Werke von Wladimir Majakowski, Berthold Brecht und Pablo Neruda. Majakowski wäre ein großer Dichter geworden, wenn er Lilja und seinem Herzen gefolgt wäre, aber so ist er zu einem großen Schreihals und leninistischen Phrasendrescher geworden. Berthold Brecht hat in seiner Jugend Schweinereien gedichtet und sich dann einer unpoetischen Agitation mit erschreckend unmenschlichen Zügen zugewendet. Pablo Neruda hat mich am längsten fasziniert, er hat ein ungeheures poetisches Talent. Aber all der Reichtum seiner sprachlichen Bilderwelt überdeckt doch nur die innere Leere eines irdischen Materialismus, der ohne Hoffnung ist. Zuletzt bewegte mich die Poetische Konfession von Johannes R. Becher, der mir meine Berufung zum Poeten bewusst machte. Er versuchte, eine kommunistische Klassik zu schaffen. Klassik kann aber nur aus dem christlichen Abendland entstehen, aus dem Gott Israels, der in Christus Mensch geworden ist, verherrlicht mit der Kunst der griechischen Schönheit. Die kommunistische Poesie ist Poesie ohne Gott, Poesie ohne den Ewigen, darum auch keine ewige Poesie. Die wahre Poesie an ihrem Ursprung war Gottesdienst, Gebet! Des Künstlers edelste Eigenschaft heißt Gott. Gott ist das Wort, und ohne das Wort Gottes sind alle menschlichen Worte hohl und bedeutungslos. Der wiederkehrende Christus wird alle diese Machwerke mit dem Hauch seines Mundes wegbrennen!

Ich war einige Male im kommunistischen Ostdeutschland. Aber wirklich beeindruckend war der Urlaub in Grünheide bei Berlin, da ich mit den Parteiveteranen in einem Waldhaus wohnte. Es war im Herbst, da der Wald überall nach Pilzen roch. Schwäne sah ich auf dem Waldteich und Rehe im Wald. Ich zog mich oft in mein Zimmer zurück und las Bücher aus der öffentlichen Bücherei. Das Besondere war nun, dass ich einen Band mit Gedichten von Hölderlin gefunden und eine typographisch schöne Ausgabe des Hohenliedes Salomos. Nie vergesse ich den Vers von Hölderlin: Ich habe unwandelbare Liebe dir geschworen, Genius der Wahrheit! Hier bin ich der wahren Poesie begegnet, der Poesie, die mehr als Kunst, die Prophetie ist. Hier fand ich einen neuen Zugang zur Bibel, über die Poesie, denn die Schönheit des biblischen Liebesliedes überzeugte mich absolut. So wollte ich dichten.

Vom humanistischen Gymnasium aus unternahm ich auch zwei Reisen ins schöne Prag. Mich beeindruckte schwer die Theyn-Kirche und das Goldene Gässchen, der Hradschin und die Aposteluhr. Prag ist so schön, dass ich nicht sagen kann, ob ich Prag schöner fand oder Venedig! Ich bin einige Tage in Paris gewesen, aber Paris ist eine gewaltige Weltstadt, Venedig ein Zaubermärchen, aber Prag ist Mystik. Ich sah auf der Karlsbrücke den Heiligen Nepomuk, den Zeugen des Beichtgeheimnisses.

Mit meinen Eltern und meinem Bruder fuhr ich nach Marokko. Ich war wirklich in Afrika! Stimmt es, dass Afrika der Kontinent ist, da die Menschheit geschaffen worden ist? Ich badete im Atlantik und ich war in der Wüste, ich sah die Berber, die Nomaden und das Atlas-Gebirge. Ich sah die Verehrung für den König von Marokko überall gegenwärtig und hörte den Gebetsruf von den Moscheen. Ich sah die Bettelkinder mit Rosenblüten Rosenmosaiken legen. Ich trank den Pfefferminztee von Marokko, rauchte das Haschisch von Marokko und wies einen Schuhputzer zurück, der mir seine junge Schwester als Hure anbot. Ich war allein in die Stadt Tarudant gereist und traf dort im Teehaus einen jungen Studenten, der von mir den Schnee beschrieben haben wollte und der die europäische Philosophie studierte. Die schönen Eindrücke der freundlichen Marokkaner bewahrte mich vielleicht später vor einer vorurteilsmäßigen Verurteilung des Islam. Ich sah hier eine humane islamische Kultur.

Aber nun will ich das Jahr 1989 beschreiben. Es war in mancher Hinsicht ein bedeutsames Jahr. Es begann mit einem unvergessenen Traum. Ich steig eine Wendeltreppe hinan in einen Raum, der von bunten Schleiern durchwoben war. Ich fand aber keinen Ausgang. Plötzlich tat sich ein Loch im Boden auf und ich glitt hinab in einen tunnelartigen Schlauch, der nahezu endlos schien, aber schließlich kam ich heraus und landete in einer Schaukel, die an einem großen Baum hing, der stand in einem lichtgrünen Garten. Da erschien eine Weiße Dame, eine Lichtgestalt, eine schlanke Licht-Jungfrau. Ich weiß nicht, ob es die Jungfrau Maria war oder meine Schutzengelin oder meine Muse oder meine Psyche? Sie las mir aus einer Buchrolle harmonische Gesänge vor. Dann führte sie mich in ein Haus mit labyrinthischen Irrgängen. Es war dort ein Gedränge von Menschen, vor allem von Männern, aber die Weiße Dame führte mich lächelnd hindurch bis in ein Schulzimmer, da sie meine Lehrerin ward und mich unterrichtete. Sie war wie eine Hirtin und ich folgte ihr wie ein demütiges Lamm.

Dann lernte ich ein Mädchen namens Marion kennen. Es war nach der Aufführung des Laientheaters vom Gymnasium, da die Lysistrata des Aristophanes gespielt wurde. Ich sah Marions Augen und war unsterblich in ihre Seele verliebt. Wir lernten einander kennen und fingen an, mit Maskenspielen und poetischen Texten gegen die Hybris der modernen Menschen anzukämpfen, die künstlich den Menschen schaffen will, den Mutanten. Wir verbreiteten auf Flugblättern Texte aus der Johannes-Apokalypse.

Einmal saß ich auf dem Balkon meiner Wohnung und las das Gedicht Friedensfeier von Hölderlin, da Christus gefeiert wird als der letzte und größte der griechischen Götter. Da schien mir aus der goldenen Sonne am lichtblauen Himmel sich eine weiße Hand zu mir herabzuneigen und mich zu segnen, ein himmlischer Friede erfüllte mich. Die folgenden Jahre studierte ich die Gesammelten Werke von Hölderlin, immer erinnerte er mich an den himmlischen Christus.

Ich las auch den Heinrich Ofterdingen von Novalis, und was ihm die Blaue Blume und Mathilde (Sophie) gewesen, das war mir Marion. Sie erschloss mir das Geheimnis der Poesie. Zu der romantischen Sophiologie von Novalis trat die russische Sophiologie von Alexander Blok. Als ich im Frankenland auf einem Kulturfestival war, las ich die Verse an die Schöne Dame. Dort feiert Blok seine Muse und Dame als die Ikone der Jungfrau Maria, als die russische Venus, leidenschaftslos und rein, als Himmelskönigin, als die Hagia Sophia von Russland. Die Bilder der Diotima von Hölderlin, der Mathilde von Novalis und der Schönen Dame von Blok flossen zu einer neuen Person zusammen. Nun beschloss ich, als Dichter zu leben. Von erster Rilke-Lektüre beeinflusst, begann ich, meine ersten Sonette zu schreiben.

Aber auch die Weltgeschichte unternahm einen Schritt. Der Kommunismus in Russland und Osteuropa brach zusammen. Das deutsche Volk im kommunistischen Ostdeutschland forderte die Freiheit und bald auch die deutsche Einheit. Auch in Ostfriesland erschienen Flüchtlinge aus dem sozialistischen Ostdeutschland. Sie kamen mit der Philosophie Nietzsches vom Willen zur Macht, vom Übermenschen. Sie genossen nun die Freiheit des Westens, Drogen kaufen zu können. Der hungrige Materialismus des Kommunismus wurde durch den satteren Materialismus des Kapitalismus ersetzt.

Ich aber war in einem poetischen Traum der Liebe. Ich las vom Matriarchat auf Kreta und vom Kult der Großen Göttin. Mir begegnete zum ersten Mal Virgil. Ich las Goethes Diwan und so verschmolz Marion auch mit der westöstlichen Suleika. Ich las die Liebespoesie des jungen Klopstock und die ersten drei Gesänge des Messias! Poesie, nicht von einem Menschen gedichtet, Poesie, von einem Seraph gesungen! Ich las zum ersten Mal das Tao Te King des Lao Tse und war für mein Leben begeistert von dieser unsterblichen Weisheit. Dann schlug ich die Bibel auf und las von dem Ruf des Herrn an Hesekiel: Prophezeie, Prophet, und sprich zum Odem: Komm, Odem, hauche die Getöteten an, dass sie auferstehen in der Auferstehung des Fleisches! Und siehe, es kam der Odem, der Geist Gottes, und blies die Toten an, und ich sah, und siehe, was ich sah, das war die Auferstehung des Fleisches!



2


Ich zog nach Oldenburg in Oldenburg und begann, in der Universitätsbibliothek autodidaktisch antike Literatur zu studieren. Ich las die griechischen Lyriker, am liebsten Sappho, aber auch Alcäus, Alkmann, dann mit Begeisterung Pindars Hymnen in der Übersetzung Hölderlins, Theokrits Idyllen, Daphnis und Chloe, den Roman, las ich mit Genuß, las die drei großen Tragiker, ich wandte mich der Odyssee zu, die ich mit gläubigem Sinn las, denn die Tochter Zeus’ Athene verehrte ich wie eine lebendige Göttin der Weisheit, die mir den Weg des Lebens weisen könne, ich fühlte mich durch Homer prophetisch angesprochen, aber auch die Aphrodite-Kypris der Sappho ehrte ich mit gläubigem Sinn. Die Mediceeische Venus von Botticelli schmückte mein Zimmer und ich verehrte sie wie eine Ikone der göttlichen Schönheit. Ich las die Theogonie und die Werke und Tage von Hesiod, die Ilias, und wendete mich dann den Römern zu, Vergils Hirtengedichten, Georgica und Äneäis, Lukrez’ Lehrgedicht, Horaz’ Oden und Satiren, Catulls Liebesgedichten, Ovids Metamorphosen und Liebeslyrik. Ich ahmte die antiken Versmaße nach, vor allem den Hexameter und die Odenstrophen. Ich begann dann, den Orient zu entdecken und altägyptische Hymnen zu lesen und das Gilgamesch-Epos. Dabei verehrte ich die Isis als eine Göttin der Mysterienreligion und begehrte die Ishtar als eine Göttin der Lust und Liebe. Es hatte sich das Christentum in mir noch nicht durchgesetzt, und ich ahnte das Göttliche in Gestalt eines ewigweiblichen Schönheit, Liebe und Weisheit. Ich suchte die Große Göttin des Heidentums und studierte den heidnischen Feminismus mit seiner Theorie vom goldenen Zeitalters des Matriarchats. Im Tiefsten war dies Studium Ausdruck meiner Sehnsucht nach der Mutterliebe Gottes, nach der göttlichen Gestalt der Hagia Sophia, doch das erkannte ich noch nicht, ich liebte zu sehr die Mythen von der Liebesgöttin, ja, ich betete sogar einmal ein Gebet zur Göttin Venus. Aber unmerklich wurde ich auch zum Sohn-Geliebten der Großen Göttin geführt, und wer ist das in der Theorie des neuheidnischen Feminismus? Es ist in Wahrheit der gehörnte Bock, der da ist Luzifer und Satan.

In den drei Jahren meines neuheidnischen Götzendienstes lebte ich intensiv vom Studium zweier großer Dichter, nämlich Hölderlins und Rilkes. Hölderlin studierte ich bis in die Entwürfe und Manuskripte, sein Schwanken zwischen Dionysos und Christus brachte auch meine Suche zum Ausdruck, denn ich liebte die Antike, ich liebte die griechischen Götter, aber es war in mir auch ein Gedenken an Christus immer lebendig, wenn auch nicht gläubig, aber doch von Kindheit an vertraut war mir der Name und die Liebe Christi. So musste ich mich eines Tages entscheiden, ob ich die Göttin Isis oder dem Gottmenschen Jesus Christus nachfolgen wollte. Auch Rilkes makellos-schöne Lyrik hielt mir den Gedanken an die Engel, die Jungfrau Maria, die Propheten und Heiligen, Jesus Christus und den lieben Gott im Herzen und Geiste wach. Hölderlin und Rilke waren für mich mehr als nur außerordentliche Meister der deutschen Muttersprache, sie waren für mich spirituelle Führer auf dem spirituellen Weg eines Gottsuchers.

Meine Liebe zu den griechischen Göttern wurde auch schön befriedigt durch die Renaissance-Poesie, vor allem der Brite Ben Jonson und Ariostos Rasender Roland führten mich ein in die Kunst der Renaissance. Ben Jonson stellte mir nun einerseits die Götterwelt der Antike vor, aber eben durchdrungen und geläutert von einem wahrhaft gläubigen christlichen Geist. Die reine Venus von Ben Jonson ist eben nicht die Ishtar der Heiden, sondern es ist gewissermaßen eine christliche Liebesgöttin. Der Orlando Furioso aber führte mich in die Ritterwelt und den Minnedienst des Mittelalters ein, hier geisterten in einem zauberhaften Märchenwald die alten Götter gemeinsam mit den Heiligen und der Jungfrau Maria des katholischen Glaubens. Ich war eben nicht Christ, aber ich war auch nicht reiner Heide, sondern ich feierte fröhlich den Synkretismus, die Mischung aus Christus und Dionysos, die Mischung aus Maria und Venus, die Mischung aus den Engeln und den Göttern.

Tiefer führte mich dem wahren Christus aber die Lektüre Dostojewskis entgegen, vor allem der Idiot von Dostojewski, der reine Tor, Fürst Myschkin, malte mir den russischen Christus, den Christus der Erniedrigten und Beleidigten, den schönen Menschen vor die Augen der Seele. Dostojewski schenkte mir herzliche Liebe zu Christus wieder, die nicht über die Theorie vermittelt wurde, sondern durch die Sprache des Herzens, des Mitgefühls und der wahren Liebe.

Ich suchte eigentlich Führung von oben, von den Himmlischen, von den Geistern, von den Engeln. Ich suchte prophetische Orakel in Pindars Weissagungen, ich suchte Texte der Wahrsagung, ich suchte divinatorische Mittel. So meditierte ich das Schafgarbeorakel des I Ging, indem ich fünfzig Schafgarbestengel nach einer gewissen Gesetzmäßigkeit von einer Hand in die andere ablas. Dabei stand ich am Ende meiner stillen Zeit vor zwei Menschen, vor Adam und vor Jesus. Ohne jemals von der Theologie gehört zu haben, die Jesus den Neuen Adam, den Letzten Adam nennt, habe ich es in meiner Stille erkannt, ich meine, mit Hilfe der Gnade, die mir in der Taufe eingegossen worden. Aber ich suchte dann auch die Tarot-Karten-Wahrsagung auf, und kam nur in eine innere Unruhe, in keine Gewissheit, keinen inneren Frieden. Immer häufiger musste ich die Karten befragen und bekam nur ungewisse Antworten. Dazu die Auslegung der Karten von verschiedensten Ideologien begleitet wurde. Schließlich bekannte der Ausleger der Tarot-Karten, die ich verwandte, dass er aus dem Geheimnis des Antichristen sei und die Zahl 666 auf ihn anzuwenden sei. Christus erlöse uns alle aus der Gewalt des Satans!

Ich suchte dann Erkenntnis höherer Welten, geistiger Wesenheiten, die ich nach den poetischen Worten Hölderlins die Himmlischen nannte. Ich studierte den Okkultismus der Anthroposophie, den neuheidnischen Synkretismus. Hier wurde behauptet, dass das sogenannte Christus-Mysterium dasselbe sei wie das Isis-Mysterium. Christus sei Osiris und Maria sei Isis. Es fand in dieser Pseudo-Theosophie eine unglaubliche Religionsvermischung statt. Was hat aber Christus mit Belial gemein? Ich wollte aber nun wissen, was das Christus-Mysterium sei. Wer war Jesus und wer war Christus? War Christus der Christus-Sonnengeist? Gab es wirklich zwei Jesusknaben, von denen der eine die Reinkarnation Buddhas, der andere die Reinkarnation Zarathustras war? Wer war Jesus? Ist Christus gekreuzigt worden oder hat der Christus den Jesus vor der Kreuzigung verlassen? Warum hat Jesus sein Blut vergossen? Hat Jesus sein Blut in die Aura der Erde gegossen, um die Erde wieder mit der Sonne zu verschmelzen? Und Jahwe! (Heilig, heilig, heilig ist der Herr!) War Jahwe ein Mondgott mit sieben Elohim-Göttern? Da legte ich mir die Bibel zu und begann, im Neuen Testament zu lesen. Aber meine Stunde war noch nicht gekommen.

In Oldenburg lernte ich eine Gruppe von Frauen kennen, die sich alle aus Berlin kannten und aufs Land ziehen wollten. Ich kam aus Ostfriesland und wollte in die Stadt, sie kamen aus Berlin und wollten aufs Land, so trafen wir uns in Oldenburg. Evi, als ich sie das erste Mal sah, schien mir die Inkarnation der Göttin der Mysterien und der Weisheit, ich kniete vor ihr und betete sie an. Don Juan lebte in einem Harem unter der Obhut des Ewigweiblichen.

Wenn ich an meine damaligen Reisen zurückdenke, erscheint es mir, ich war eine Zeit lang in Mohammeds Paradies, wie es der Prophet denen verheißt, die sich bedingungslos dem Allbarmherzigen und Allweisen unterwerfen. Die Provence, die Weinberge am Ufer der Ardeche, schienen mir ein Garten der Venus, da Prozessionen des Dionysos hindurchzogen. Die schöpferische Fruchtbarkeit der Natur, die Herrlichkeit des Sternenhimmels, der Segen der Himmlischen, die Fülle von weißem Brot und rotem Wein, die Süßigkeit von Milch und Honig, die Gesänge von Sappho, Ben Jonson und Hölderlin und ein Wonneweib im Bett, das war der irdische Paradiesaufenthalt. Dann auf den Bergen des Herzens ausgesetzt zu sein und doch nicht allein, sondern unter dem hundertjährigen Hirten und seiner Herde zu wandeln, in der Hirtenhütte von Brot und Wein zu leben unter der Aufsicht der Madonna, auf den Spitzen der Gipfel zur Gottheit zu beten, zur Erhabenen Taube der Schönen Liebe, das war das irdische Paradies, da der Himmel liebevoll die Erde berührte in einer heiligen Hochzeit! In Polens freien Wäldern zu zelten, an dem Ufer der San an der Grenze zur Ukraine unter der Aufsicht des Adlers zu leben und die Geliebte und Schönheit in Person in einem Zelt zu meiner Seiten liegen zu sehen, das war der Himmel der Huris! Da sah ich Evi am Feuer sitzen in einem weißen Kleid, eine weiße Dame, eine Madonna!

Ich war inzwischen zum Geisterseher geworden. In einer ländlichen Hütte im ostfriesischen Emden las ich ein Buch über die Große Mutter, eine Freundin studierte das Alte Testament, ich trat in der Nacht vor die Hütte, da sah ich an einem kleinen Kanal, den ich Lethe nannte, den Schatten Hölderlins. Er stand dort im schwarzen Anzug und lüftete den Hut und grüßte mich freundlich. Auf dem Gipfel der Pyrenäen in der Hirtenhütte sah ich am oberen Ende der Treppe Sappho stehen, die trug ein langes weißes Kleid mit einem goldenen Gürtel und hielt in den Händen eine goldene Harfe. Auf dem baskischen Friedhof zu Füßen der Pyrenäen sah ich meinen Schutzengel, der mit den Haupt bis in die Wolken reichte. An einem verborgenen Waldteich in Oldenburg saß mir gegenüber auf der anderen Seite des Teiches Marina Zwetajewa in einem rot- und blau-purpurnen Gewand und schaute mich liebevoll an. Auf dem Jüdischen Friedhof von Oldenburg vor der Weißen Kapelle sah ich in der Sylvesternacht des Jahres 1991 die Madonna in einem blauen Mantel und einem roten Kleid, sie segnete mich.

Es reißt mich eben hin, etwas über die ernste Musik zu sagen. In meiner Kindheit liebte ich über alles den Weihnachtschoral: Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem! Als ich dem freiwilligen Tode entgegenschritt, sang ich dieses Lied! Ich sagte schon, dass ich bei meinem Klavierspiel besonders das Notenbüchlein an Anna Magdalena Bach liebte, vor allem das Air. Ich habe mit meinen kommunistischen Jugendfreunden auf unseren kleinen ostfriesischen Parteitagen immer die Vier Jahreszeiten von Vivaldi gehört, es war so ganz das Jauchzen der Jugendvitalität. Ich hörte in meiner Jugend gerne die Mondscheinsonate und die Appassionata von Beethoven und die Neunte Symphonie mit der Ode an die Freude, dies hörte ich zur Wiedervereinigung Deutschlands. Als ich in poetischer Minne in Marion verliebt war, hörte ich die Winterreise von Schubert, diese stille Melancholie war mir sehr gemäß. Noch schwermütiger ergriff mich die Symphonie von Gustav Mahler, genannt das Lied von der Erde, nach Texten von Li Tai-Bo, dem Größten aller chinesischen Dichter. Es war dies die Trunkenheit der Schwermut, die nur genießen kann, wer dieses herben Wein bis auf den Grund getrunken hat. In innerer Zerrissenheit zwischen zwei Frauen, einer rein ideelen und einer sinnlichen Liebe, hörte ich die Klaviermusik von Schumann. Als meine Oma gestorben war, konnte ich eine Zeit lang nur noch Johann Sebastian Bach hören. Meine erste bewusste christliche Weihnacht nach meiner Bekehrung feierte ich mit dem Weihnachtsoratorium: Jauchzet, frohlocket! Die holdselige Baptistin Inka erfüllte mich mit einer süßen Schwärmerei, die ganz dem Ton der Zauberflöte Mozarts entsprach. Und als einmal die Fröhlichkeit einer neuen heiteren Minne unter den günstigen Bedingungen einer treuen Freundschaft über mich kam, in Evis Frühling, da jubelte ich Schuberts Lieder an die Schöne Müllerin! Aber über allem schwebt Schuberts Ave Maria! (Der evangelische Theologe Karl Barth sagte: Die Engel musizieren zur Ehre Gottes Johann Sebastian Bach und zur Freude der Engel Mozart, aber ich möchte hinzufügen, die Engel musizieren zur Wonne der Jungfrau Maria Franz Schubert.) Aber das war nur eine Abschweifung.

Puschkins Gedichte habe ich erst sehr viel später in einer guten deutschen Nachdichtung erfasst, aber ich war tief beeindruckt von einer prosaischen Übersetzung des Eugen Onegin, denn seine Muse Tatjana war ganz das Ebenbild und die Schwester meiner Muse. Ich las mit meiner Freundin den Doktor Schiwago und liebte die unerreichbare Lara. Ich liebte die Orakel von Marina Zwetajewa und legte allerlei unter, sie inspirierte mich immer zu einer rein geistigen Liebe. Anna Achmatowas Poem ohne Held, dieses mystische Geraune einer Seherin, sprach mir wie die Stimme Gottes ins Gewissen. Alles pries die rein geistige Liebe, die Abwendung von der Sinnlichkeit, den Idealismus und die Hohe Minne.


Ich sah meine eigene Seele, meine Psyche oder Anima, in diesen poetischen Werken und identifizierte sie mit einem Mädchen, wie sie in meiner Erinnerung sich immer mehr verklärte. Ja, sie verklärte sich letztlich so sehr, dass sie dem Original in keiner Hinsicht mehr ähnlich sah und sich zuletzt in die Jungfrau Maria auflöste. Psychologen nennen das Anima-Projektion, da der Mann sein eigenes Unbewusstes in weiblicher Gestalt verkörpert sieht in Träumen, in Märchen und Gedichten, und diese weibliche Psyche auf eine lebendige Frau wie auf eine Leinwand projiziert. Darum ist es auch so tragisch, wenn diese Frau dann die Liebe nicht erwidert, es ist dann nämlich, als ob der Mann seine Seele verschenkt habe und diese ihm nicht zurückgeschenkt werde in der Gegenliebe, und dem Mann so die eigene Seele und damit der Sinn seines Lebens verloren gegangen ist. Solch ein Liebesunglück kann dann zum Selbstmord führen.


In meinen Träumen träumte ich von meiner Psyche, meiner inneren Weiblichkeit, die die Psychologen die Anima des Mannes nennen. Sie sah einem Mädchen ähnlich, aber sie wandelte auch wie eine himmlische Göttin Diana oder die Jungfrau Maria durch meine Seele, die war Donna Laura und Donna Beatrice aus Florenz, sie war eine Frühlingsgöttin, eine Weiße Dame und eine Fee Morgana, sie war eine jungfräuliche Lichtgestalt und sah aus, als wenn eine strahlende Sonne sich in einer reinen weißen Schneelandschaft widerspiegelt. Und diese Anima rief mich, sie rief mich hinan (Das Ewigweibliche zieht uns hinan!), hinan in einen Spiegelraum, hinan in ein Gartenparadies, hinan zu Gott! Es war die Anima, das Ewigweibliche in mir, die mich in inneren Träumen hinanzog zu Gott. Aber vielleicht kann man auch sagen: Es war die Himmelskönigin Maria, die mir in inneren Visionen begegnete und mich zu Christus und dem lebendigen Gott führte. Ich allerdings gab der inneren Frau damals nicht den Namen Maria, sondern hielt sie für ein ostfriesisches Mädchen.


Nun begann die Agonie meiner geliebten Großmutter. Im Sommer 1992 hörte ich sie mich eines Nachts rufen, ich dichtete ihr in jener Nacht eine Seligsprechung. Im September 1992 besuchte ich sie für sieben Tage allein in ihrem Haus. Wir waren ganz allein und sie erzählte mir von ihrer Kindheit auf Baltrum. Ich dichtete in den Nächten in ihrer Wohnung die große „Elegie um meine Muse“ von Ben Jonson nach, die Seligsprechung der Muse, Dame und keuschen Geliebten des großen christlichen Dichters, in der er ihren Eingang in die himmlische Welt Christi besang. Meine Großmutter kündete mir ihren nahe bevorstehenden Heimgang an. Mit Liebe entließ sie mich wieder in das Leben. Zu Sylvester 1992 sah ich sie noch einmal für einen Augenblick, aber ich war mir meiner tiefen Sündhaftigkeit so bewusst, dass ich die Nähe dieser meiner wahren Mutter kaum ertragen konnte in dem Augenblick, da sie schon an die Pforte des Himmels anklopfte. Ich war erbärmlich und wie vernichtet. Im Januar 1993 hörte ich vor einer pietistischen Gemeinde eine alte Dame sagen: Ich denke in letzter Zeit so oft an den Tod! In jener Nacht sah ich in Oldenburg den Mond so riesengroß und so nah an der Erde, als ob ich den Himmel offen sähe, im gleichen Augenblick hörte ich den Todesruf eines Uhus, prophetischer Vogel! Daraufhin fuhr ich wieder nach Hage in Ostfriesland, musste aber auf dem Weg umkehren. In Oldenburg wieder angekommen erreichte mich die Nachricht von der Erlösung meiner Großmutter. Sie hatte kurz vor ihrem Sterben gesagt: „Ist das Torsten, der da singt?“ In meiner jähen Verzweiflung schlug ich das Neue Testament auf und las: „Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen. Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt in die Luft, dem Herrn entgegen; und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit. So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.“ (Paulus’ Erster Brief an die Thessalonicher 5, 16-18)



DRITTES KAPITEL


In der Nacht vor dem Begräbnis meiner Großmutter saß ich in ihrer Wohnung und trauerte um sie. Ich fand in ihrem Bücherschrank ein Heft über eine evangelische Diakonin namens Mutter Eva. Darin erzählte Mutter Eva, dass sie in allen Trübsalen ihres Lebens immer Trost gefunden habe in der Wendung der Psalmen: „Aber du, Herr!“ Als ich das las, da betete ich auch: Aber du, Herr! Plötzlich spürte ich eine geistige Gegenwart in dem Zimmer, ich wunderte mich noch, dass ein so heiliger und reiner Geist es nicht verschmähte, in diesen von Rauch erfüllten Raum zu kommen, da wusste ich plötzlich, dass Christus vor mir stand! Ich kann es nicht erklären, wie, ich sah ihn nicht, ich hörte ihn nicht, aber ich wusste mit Gewissheit, dass Christus vor mir stand! Da fiel ich auf mein Angesicht zu Boden und betete Gott an, und es war, als zöge in mich der Heilige Geist ein und betete in mir Gott an, den Gott der Allmacht, den Gott der Weisheit, den Gott der Liebe! Ich erhob mich von meinem Gebet und war Christ! Ich glaubte an den lebendigen Christus, ich wusste, dass Jesus lebt, ich glaubte an den lebendigen Gott, den allmächtigen und allwissenden Gott, der mich liebt!

Auf der Begräbnisfeier meiner Großmutter sprach der Pfarrer, meine Oma hätte sich bei ihm das Tedeum gewünscht. Als wir nun sangen: Großer Gott, wir loben dich! Da war es mir, als sänge meine Großmutter mit und als sänge sie es mir vor, damit ich ihr geistiges Testament verstünde und empfange, ich solle fortan rein zum Lobe Gottes leben!

Das war am fünfundzwanzigsten Januar Neunzehnhundertdreiundneunzig.

Gott nahm mich nun in die Zucht des Gesetzes. Ich vertiefte mich in die fünf Bücher Moses und erkannte den wunderbaren Arm des rettenden Gottes, ja, es war auch mein Exodus, ich zog aus Ägypten aus, aus dem Ägypten der Katzengöttin Isis und des hundeköpfigen Totengottes, ich zog aus der Sklaverei der Sünde aus und ließ mich von Gott führen zum Berg Gottes, dass der Herr mir dort sein Gesetz offenbare, damit ich lebe nach den Weisungen Gottes und so dass ewige Leben erbe. In meiner subjektiven Wahrnehmung der Mosesbücher spielte die Prophetin Mirjam eine herausragende Rolle. Nicht allein, dass sie als Schwester des kleinen Moses seine Rettung durch die ägyptische Prinzessin beobachtete, sondern sie sorgte auch dafür, dass Moses eine Amme fände und gestillt würde. Nicht allein Aaron war Moses zugesellt als Prophet, sondern auch Mirjam war eine Prophetin, zu der Gott in Träumen und Visionen sprach. Sie war Mirjam Prophetissa. Sie war auch die Paukenschlägerin, die das Lied des Moses mit den Töchtern Israels sang, die große Siegeshymne der Befreiung! Als Gott Mirjam mit Aussatz schlug, wartete das ganze Volk der Kinder Israel sieben Tage, bis Mirjam wieder aufgenommen wurde, denn ohne Mirjam zogen die Kinder Israel nicht weiter. Ich begleitete Mirjam auch noch zu dem Berg ihres Heimgangs in die Versammlung der Ahnen. Mirjam war Maria, deren Liebe ich in den Büchern Moses von Gott empfing.

Ostern beging ich in Köln, noch mit meinen heidnischen Freundinnen, aber dort verließ ich sie auch und begab mich in die absolute Einsamkeit, ich wandte mich von allem ab, was irdisch, weltlich und fleischlich war, um Gott allein zu lieben, Gott in seinem Wort zu suchen. In Köln am Rhein erfuhr ich in mir die Auferstehung Christi, ich phantasierte von drei Meermädchen auf dem Vater Rhein, das waren die drei Marien, die zum Grabe Christi eilten wie in einem mittelalterlichen Mysterienspiel, und sahen, dass das Grab Christi leer war, denn er ist nicht bei den Toten, sondern er ist wahrhaftig auferstanden! Da goß der Heilige Geist mir die Liebe zu Maria Magdalena ein. Ich stand im ersten Ostern meines bewussten Christseins vor dem Dom von Köln.

Zu Corpus Christi des Jahres suchte ich meine Jugendliebe auf, die inzwischen im Teuteburger Wald lebte, nahe dem Marienwallfahrtsort Herford in einem kleinen Dorf namens Heiligenkirchen zu Füßen des Denkmals Hermanns des Cheruskers, in der Nähe der Kultstätte der Externsteine. Ich wollte noch einmal in ihre Augen schauen. Es war, als unternähme ich eine Wallfahrt zur Madonna, zur heiligen Maria vom Walde. Ich ließ mich führen von den Orakeln Goethes in seinem Zweiten Faust. Ich las die großen Hymnen an die Mater Gloriosa, und ich meinte, nun in Marion die leibhaftige Mater Gloriosa zu schauen. Als ich in der Nacht in Heiligenkirchen ankam, kam mir Marion entgegen, stand vor mir in der dunklen Nacht im Teuteburger Walde in einem langen weißen Seidenkleid, die langen kastanienbraunen Locken fielen ihr auf die Schulter, mit großen Augen wie Doppelmonden schaute sie mich an und nahm mich in die Arme. Ich übernachtete in einem Zelt auf einer Waldlichtung und wurde am Morgen von den Röhren eines Hirsches geweckt, und da ich die Augen auftat, sah ich zwei Rehzwillinge, Kitze einer Hindin, neben mir stehen. Über mir rauschte die weiße Taube der Liebe auf. Ich traf mich mit Marion und wir fuhren zu den Externsteinen. Diese waren in heidnisch-germanischer Zeit eine Kultstelle der Sonnenanbetung, heute treffen sich auch linke und rechte Neuheiden wieder an dieser Kultstätte. Aber in christlicher Zeit wurde die Kultstätte zu einem Passionsmysterium umgestaltet, da die Kreuzabnahme Christi durch Maria Magdalena und Josef von Arimathia dargestellt war und die Grabeshöhle Christi gezeigt wurde. Maria Magdalena und Josef von Arimathia, die Jesus vom Kreuz abnahmen, das waren Josef und Maria, das war das keusche Paar einer christlichen Minne, die sich liebten im Zeichen Christi. Dann kehrte ich wieder in meine Oldenburger Einsiedelei zurück, voller Liebe, Glaube und Hoffnung.

Aber inzwischen hatte mich auch die evangelische Armut erfasst, und ich hatte kein Geld mehr und nichts zu essen. Ich las gerade eine Lebensbeschreibung der seligen Agnes von Böhmen, einer Nonne aus dem Orden der heiligen Klara, der mystischen Weggenossin des heiligen Franziskus. Die selige Agnes sprach von dem Lob der evangelischen Armut und von dem Vertrauen, alles von der Vorsehung Gottes zu erwarten. Mein Vater hatte mir einen kostbaren Lammfellmantel geschenkt mit goldenen Knöpfen, aber ich fühlte mich nicht würdig, ein weißes Lammfell zu tragen. Ich verschenkte den kostbaren Mantel an die Caritas und legte mir einen gebrauchten braunen Ledermantel zu, das war meine Kutte der evangelischen Armut. Dann ging ich zur Universität und bettelte vor den Studenten um etwas Geld für ein Mittagsessen. Drei Monate war ich ohne Einkommen und die Vorsehung Gottes versorgte mich mit allem Notwendigen, ja, sogar mit dem Unnützen wie dem von mir so geliebten Tabak.

Alle meine poetischen Schriften häufte ich auf einer Wiese auf und entzündete ein Feuer, ich verbrannte alles, was ich zur Ehre der falschen Götter geschrieben, alles, was die freie Liebe verherrlicht. Ich wollte ganz neu beginnen, als Dichter zu Christi Ruhm zu schreiben.

Nun begann ich das Studium christlicher Literatur. Es scheint zufällig, was ich als erstes las, und doch ist es Führung durch Gottes Geist gewesen. Zuerst studierte ich die Göttliche Komödie von Dante. Dantes Lehrstuhl lehrte mich, der Weg des Menschen sei ein Weg durch die Hölle, durch das Reinigungsfeuer bis ins Paradies zur Schau der dreifaltigen Liebe. Dabei wird der Mann von der Frau Weisheit geführt. Zur letzten Schau Gottes geführt zu werden, braucht der Mann die Fürsprache der Jungfrau Maria, die dem Thron Gottes am nächsten steht. Dann las ich den ganzen Messias von Klopstock, der das Evangelium des gekreuzigten und auferstandenen Christus in seraphischer Poesie verherrlicht. Nun las ich die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, die nicht nur voll sind von Buße über Sünde und Götzendienst, sondern auch voll der Erkenntnis des wahren Gottes, des Herrn. Dann las ich das Leben unseres armen Herrn und Heilandes Jesus Christus von Anna Katharina Emmerich. Diese katholische Selige hatte Visionen vom Leben Jesu, die von Clemens Brentano aufgezeichnet worden sind. Es war die Weihnachtszeit, da ich die Visionen von der lichtvollen Geburt des göttlichen Kindes aus der reinen Jungfrau las und gewissermaßen schaute. Dann begann ich das Buch Von der Gnadenwahl von Jakob Böhme zu lesen, das mit einer Entfaltung der Lehre der Dreieinigkeit Gottes beginnt. Es war mir diese mystische Theosophie aber zu hoch, ich konnte sie noch nicht begreifen. Ich warte noch heute auf die Stunde der Erleuchtung, dass ich Jakob Böhme erfassen kann. Dann las ich frühchristliche Apokryphen und begann nun selbst christlich zu dichten. Als erstes dichtete ich ein Poem vom Heimgang der seligen Jungfrau Maria nach einem apokryphen Text, der einem Jünger des Apostels Johannes zugeschrieben wird. Dann dichtete ich die apokryphe Erzählung über Thekla nach. Diese frühchristliche Heilige lebte in Ikonium und hörte die Predigt des Apostels Paulus und entschloß sich, jungfräulich als Braut Christi zu leben, wofür sie mit dem Leben bezahlte als Märtyrerin der Jungfräulichkeit.


Die Jungfräulichkeit und Keuschheit war mein Ideal. Ich wusste inzwischen durch die Lektüre der Paulusbriefe, dass ich nicht zur Unzucht der freien Liebe bestimmt sein konnte, ich suchte die Keuschheit, ich ehrte die Jungfräulichkeit als Lebensweise der Ganzhingabe an den Bräutigam Christus, aber ich wusste nicht, dass ich zur Jungfräulichkeit berufen sei.

Inzwischen verwirrte sich mein Geist. Durch den Verlust meiner Großmutter in dem mütterlich-liebenden Fundament meines Lebens erschüttert, als sei die Wurzel meines Lebens ausgerissen, flüchtete ich mich vor den Schmerzen in eine Phantasie- und Traumwelt. Der okkulte Hellsehergeist ließ mich nicht, und ich begann, Stimmen zu hören, die mir absonderliche Befehle gaben. Was war die Ursache meines eintretenden Wahnsinns? War mein Wahnsinn eine Flucht vor der Totentrauer? War es eine Erschütterung durch die Begegnung mit dem allerheiligsten Gott? War es ein Werk Satans, aus dessen Fesseln ich befreit worden, aber der sein Opfer nicht lassen wollte? Ich weiß es nicht.

Ich las in der Bibel, dass eine Stimme, die Stimme eines Engels, hinter mir ertönen werde, die mich lenken würde, den Weg nach rechts oder nach links einzuschlagen. Ich ging eines Tages in der Weihnachtszeit in die Innenstadt von Oldenburg und hörte nun eine gebietende Stimme, die ich für die Stimme eines Engels hielt, die gebot mir, rechts herum zu gehen, dann wieder links herum. So kam es, dass ich im Frost des Winters um einen Laternenpfahl immer im Kreis ging, einige Male rechts herum, wobei ich bei jedem Schritt betete: Gott Israels! Dann einige Male links herum, wobei ich betete: Herr Zebaoth! Das nahm aber kein Ende, ich kreiste so den ganzen Tag und die ganze Nacht um den Laternenpfahl herum. Am nächsten Morgen waren alle meine Gliedmaßen steifgefroren, ich humpelte zum Café im Bahnhofsgebäude und trank einen Tee und aß ein Brot. Dabei gebot mir die Stimme, das Brot zu teilen, wie eine Hostie, und das Geteilte wieder zu teilen, bis ich schließlich nur noch Krümel auf dem Teller liegen hatte. Dabei hörte ich Chöre von Engeln in meinem Hirn Halleluja und Hosianna singen.

Dann trat eines Nachts mein Vermieter, ein Okkultist, in mein Zimmer, bestreute mich mit Tabakasche, lästerte Christus als Abgott und Schwächling, und jagte seinen schwarzen Hund auf mich, der den Namen eines indischen Götzen trug. Er warf mich aus meiner Wohnung. So verlor ich über Nacht all meinen Besitz, alles, was ich mitnehmen konnte, war das Neue Testament. Ich wanderte durch die Nacht, bis ich am Morgen meinen Bruder aufsuchte. Seine Frau wickelte gerade ihr erstgeborenes Kind in Windeln. Es war mein Auszug die Flucht der heiligen Familie nach Ägypten gewesen. Es war die Szene im Haus meines Bruders eine lebendige Krippenszene. Meine Eltern nahmen mich vorübergehend auf, bis ich im neuen Jahr eine Wohnung im ostfriesischen Norden am Schwanenteich beziehen konnte. Dort verlebte ich den blühenden Wahnsinn meiner Psychose.

In der Osterzeit fand ich in meiner Bibel die Texte der Weisheit, da mir besonders liebenswürdig die Gestalt der göttlichen Weisheit im vierundzwanzigsten Kapitel des Buches Jesus Sirach entgegen schwebte wie eine christliche Göttin aus dem Munde des Allerhöchsten vom Himmel herabkommend! Nun wusste ich nicht von der Theologie der Hagia Sophia, aber mir schien diese Frau Weisheit die Jungfrau Maria zu sein, und so besang ich die Maria-Sophia des Jesus Sirach wie eine christkatholische Göttin.

Ich ging oft am Schwanenteich spazieren, da ich die schwarzen Trauerschwäne vor allem liebte. In meiner Schwermut, ja geistigen Umnachtung, zog es mich nicht so sehr hin zu dem strahlenden Weiß der Höckerschwäne, als vielmehr zu dem elegischen Schwarz der Trauerschwäne. Sie schienen mir auch ein Symbol meines Seelenzustandes. In der Tiefenpsychologie wird auch die Natur von der Seele des Menschen beseelt und so wird die Natur selbst zu einem Ausdruck und Spiegel der menschlichen Seele. Meine Seele sah einem schwarzen Trauerschwan gleich.

Zu Ostern besuchte ich noch einmal meine Jugendliebe in Heiligenkirchen. Ich hatte wie der Richter Gideon gebetet zu Gott, der Sonne zu befehlen, still zu stehen über dem Tal Ajalon. Aber Gott erhörte meine Gebete ganz anders in seinem unergründlichen Ratschluss. Denn auf dem Weg kam ich in stürzende Regengüsse und wurde umzückt von flammenden Blitzen, da ich zum Messias schrie um Rettung vor dem Blitzstrahl, ich übernachtete in einer Hütte unter strömendem Regen und kam am Morgen auch noch in einen Hagelschlag von harten weißen Körnern des Gerichts. Da trat Marion aus dem Haus und sagte mir mit gnadenlos-bösen Worten, sie wolle mich nie wieder sehen! Ich pilgerte voller Schmerzverzweiflung zu den Externsteinen, zum Kreuz Christi, zum Heiligen Grab, und schrie: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Dann begab ich mich wieder in meine ostfriesische Einsiedelei, wobei auf dem Heimweg das schönste Frühlingswetter war und eine heitere Sonne am Himmel mich liebkoste. So macht Gott das Wetter zum Zeichen.

Nachdem ich meine Großmutter verloren hatte und nun auch noch meine Jugendliebe verloren hatte, war ich absolut einsam auf der Erde und ohne Liebe. Ich hatte meine Seele ganz hingegeben und verströmt, aber sie war mir nicht zurückgeschenkt worden, sondern böse Minnefeindschaft hatte mich zerschmettert. Da stieg in mir der Gedanke an den Selbstmord auf. Ich dachte, wenn ich mich selbst erlösen würde durch einen freiwilligen Tod, selbst erlösen würde von diesen Lebensschmerzen, die mir unerträglich erschienen, so gäbe Gott mir wohl Gelegenheit, im Fegefeuer die Sünde des Selbstmords zu büßen. Da kaufte ich mir ein Messer, um mir selbst das Leben zu nehmen. Aber ich sah immer Menschen auf der Straße mit verbundenen Armen, und in meinem Innern klang der Reim: Gefunden und verbunden! Gefunden und verbunden! So dass ich dachte, ich würde nicht sterben, sondern gerettet werden. Das schien mir aber ein unerträgliches Unglück zu sein. Diesen Reim nutzte der Satan, der Menschenmörder von Anfang, später aus, indem er mir die Bibel aufschlug.

Ich dachte nie darüber nach, ob ich evangelisch oder katholisch sei, es existierte dieser Unterschied für mich gar nicht, er trat nicht im geringsten in mein Bewusstsein. Es gab für mich nur die Urgemeinde des Evangeliums. Eines Tages kam ich an der katholischen Ludger-Kirche vorüber, da gerade die Messe begann, so nahm ich daran teil und feierte meine erste Heilige Messe und meine heilige Erstkommunion. Der Priester erhob die Hostie und sprach zur Gemeinde: Kostet und seht, wie freundlich der Herr ist! Da schmeckte ich die Liebe des Herrn. Und als ich aus der Kirche trat, war mir zumute, als schwebte ich einen Meter über dem Boden, ich war so verzückt von der himmlischen Speise, dass ich mich selbst verwandelt fühlte in ein überirdisches Wesen. Ich habe diese Verzückung meiner Erstkommunion nie vergessen. Desgleichen habe ich später nie, weder bei einem lutherischen noch bei einem calvinistischen Abendmahl gespürt, so dass mir die Hostie der Eucharistiefeier im Innern immer heilig blieb.

Am fünften Mai geschah es mir, dass ich mein Bewusstsein verlor und, während mein Körper auf dem Sofa liegen blieb, im Geist eine Reise in den Himmel antrat. Da kam ich durch Scharen von Seligen und himmlischen Geister, die alle wie wohltätige Schatten im Himmel sich bewegten. Ich wusste aber nicht den Weg zum höchsten Ziel, da trat unsichtbar mein Schutzengel zu mir und sagte mir seinen Namen, Mahanajim, und sprach zu mir: Halte dich nur immer am Namen des Messias fest! Dann führte mein Schutzengel Mahanajim mich zur Himmelstür, die dunkel und verschlossen war, aber als ich eben davor stand, öffnete sich die Himmelstür, und ich sah durch einen Spalt das unzugängliche Licht, in dem Gott wohnt. Die Tür öffnete sich weiter und ich sah in dem unzugänglichen Licht, in dem Gott wohnt, das Antlitz Christi, das Heilige Antlitz des gekreuzigten Christus! Dann kehrte ich, wie aus dem Weltall der Erde wieder entgegen schwebend, in meinen Körper zurück.

Als ich wieder mich auf der Erde in meinem Körper befand, war mein Schutzengel bei mir in meiner Wohnung. Es war aber eher eine Schutzengelin, die ich wie meine himmlische Schwester liebte, meine Himmelsschwester Mahanajim. Sie erschien mir in der Größe eines Menschen, mit langen goldenen Locken, einem lieblich-schönen, feminin-zärtlich lächelnden Antlitz voller Güte, ein langes weißes Lichtgewand tragend, das wie weiße Seide aus Licht an ihr hinunterfloss, an Stelle der Arme rauschte es wie große weiße Flügel, unter denen sich doch Hände befanden, die einmal ein goldenes Schwert in der Hand hielten, ein anderes Mal schwörend die Hand auf die Heilige Schrift legte. Um die Lenden war sie gegürtet wie mit einem Hauch seraphischer Glut. Als sie mich verließ, hörte ich in meinem Innern die milde Stimme meiner himmlischen Schwester: Wir sehen uns im Himmel wieder! Von da an wandte ich meine Liebe meiner Himmelsschwester, meiner Schutzengelin Mahanjim zu.

Ich fühlte mich aber plötzlich ganz sonderbar wie ein Chinese. Ich tauchte mit meiner Phantasie ganz in das China der Literatur ein. Ich las den Jugendroman namens Der Traum der Roten Kammer, ich las die Lyrik des Buches der Lieder aus den Jahr Tausend vor Christus, ich las die Lyrik der Tang-Dynastie, vor allem Du Fu und Li Tai-Bo, ich las das Tao Te King (Wen der Himmel retten will, den rettet er durch Liebe!), ich las das Wahre Buch vom Südlichen Blütenland von Dschuang Dse und die Gespräche des Konfuzius. In den Wolken sah ich die Zeichen des I Ging und versuchte die Sprache der Wolken mit Hilfe des I Ging zu deutschen. In meiner Poesie versetzte ich mich auch nach China und verpflanzte das von mir so überaus geliebte erste Buch Samuels von der bedrängten Jugend Davids mit poetischer Phantasie nach China. Mit einer überschäumenden Phantasie verwandelte ich mein ganzes Leben in das Leben eines Chinesen zur Blütenzeit der Poesie.

Aber ich las auch gerne die englischen Dichter. Lord Byron gab mir vor allem den Lebensgenuss, in seinem Childe Harold sah ich zum ersten Mal die Schönheit der Huris, in die ich mich unsterblich verliebte. In seinem Don Juan kam ich gar mit Don Juan selbst in solch einen islamischen Harems-Himmel. John Milton allerdings entrückte mich in den Garten Eden, da ich die göttliche Schönheit der Eva sah! Edmund Spenser entführte mich mit seiner Fairy Queene aber dagegen in die Hölle, da ich die Dame Luzifera sah! Ich lebte immer weniger auf der Erde, die Erde war nur ein Blütentraum von China vor zweitausend Jahren. Ich lebte mit einem Bein in Paradiesvisionen und mit dem andern Bein in der Hölle. Ich war wirklich ausgespannt auf dem Kreuz der Erde, auseinander gerissen zwischen Himmel und Hölle!

Ich las noch einmal in den Bekenntnissen des heiligen Augustinus, vor allem den Schluß, da er die Schöpfungsgeschichte der Genesis geistlich deutete auf das Himmelreich Christi. Da erkannte ich und diese Erkenntnis sollte mich nicht mehr verlassen, dass der Schöpfungsbericht nicht naturwissenschaftlich zu deuten ist, sondern geistlich interpretiert werden will auf Christus hin.


Es fügte sich auch, dass mir die Vita des Seligen Heinrich Seuse in die Hände kam, die ich aus dem Mittelhochdeutschen streckenweise ins Hochdeutsche übertrug. Da sah ich ihn in einer Verzückung, da sah ich ihn hören die Texte der Ewigen Weisheit aus dem Alten Testament, so schön, dass er sich verliebte in höfischer Minne in diese göttliche Frau Weisheit. Er diente Frau Weisheit in hoher Minne, er betete sie an als seine Herrin und Gottheit! Dann erkannte er in der göttlichen Frau Weisheit plötzlich den gekreuzigten Christus und erkannte die Notwendigkeit, dem Gekreuzigten gleichgestaltet zu werden und mitgekreuzigt zu werden mit Christus. Eben diese Frömmigkeit sollte später, als ich Katholik geworden, der Haupt- und Grundzug meiner Spiritualität werden.


Mein erstes Buch über Maria beschrieb das Marienleben nach den Evangelien und den Apokryphen und kam dann zu sprechen auf die Herzverwundung der heiligen Teresa von Avila durch den Feuerpfeil eines Engels, durch den Feuerpfeil der Liebe Christi! Diese unerträglichen Schmerzen der Herzverwundung rissen Teresa aber hin zu der höchsten Verzückung! Ich ahnte, dass ich selbst in dieser Zeit etwas ähnliches erlebte, eine Herzverwundung durch den gekreuzigten Christus! Dann pries das Marienbuch die Erscheinung der Mutter des einzig-wahren Gottes und immerwährenden Jungfrau Maria vor dem Indianer Juan Diego. Es ist sehr bedeutsam, dass mit diesem Marienbuch zwei Samenkörner des Himmelreichs in mich gesät worden sind, die später mehr und mehr aufblühen sollten, nämlich die Spiritualität des Karmel-Ordens und die Verehrung der allerheiligsten Ikone der Jungfrau von Guadalupe als meiner ewigen Geliebten! Inspiriert von diesem Marienbuch schrieb ich ein Poem der Liebe zu Maria, die ich als Immaculata besang, wie ich mich später in Lourdes der Immaculata verloben sollte, und als Maria Sulamith, wie ich später als Dichter Maria immer wieder besingen würde mit den poetischen Worten des Hohenliedes Salomos, denn Maria ist die Sulamith des neuen und ewigen Bundes!


Ich nahm noch einmal an einer Heiligen Messe teil, da ich in mir die Stimme Christi hörte: Ich will dir einen neuen Namen geben! Da bildete sich in meinem Geist aus dem heidnischen Namen Torsten der Name meines Christseins Peter Torstein. Sankt Petrus war mein Patron, ich liebte ihn wie einen Vater. Der Name Torsten bedeutet ja Steinhammer des Donnergottes Thor, aber die Thor-Heiligtümer der Germanen sind in der Christianisierung Germaniens von den Aposteln auf Petrus umgeweiht worden. Torsten Namenstag ist übrigens, wie ich später erfuhr, am 22. Februar, an Petri Stuhlfeier, da Petrus Ex Cathedra das Dogma der Wahrheit verkündet. Petrus steht ja der Überlieferung nach auch am Himmelstor. Sein Name bedeutet Fels, oder auch Stein. Petrus schrieb in seinem Brief, die Christen seien lebendige Steine im Haus Christi. So bedeutete als mein neuer Name Tor-Stein das Himmelstor und den Eckstein, der Christus ist. Nun bedeutete mir das Schriftwort etwas: Du bist ja nach dem Namen des Herrn genannt.


In meinen Träumen sah ich oft die Jungfrau Maria, die mich immer unglaublich liebevoll tröstete wie eine Mutter und wie eine himmlische Freundin. Sie war wirklich die Trösterin der Betrübten, ja, mehr noch, die Trösterin der Heimgesuchten, der Desolaten! Ich träumte auch einmal, wie ich durch eine Sphäre von Feuer hindurch hinaufgerissen wurde und an der Brust der heiligen Magdalena getröstet wurde. Sankt Maria Magdalena stand mir auch bei wie eine lebendige Freundin im Himmel, wie eine Schwester in Christus. Ich pries ihr Leben in einem Poem nach der Goldenen Legende. Ich pries sie als die mystische Geliebte Christi, und ich sollte sie in meinem Leben noch oft besingen.


Vorausgreifend will ich folgendes sagen. Drei Jahre später war ich auf einer evangelischen Konferenz, da wurde die Ikone des Heiligsten Angesichts Christi des Gekreuzigten gezeigt als das wahre Antlitz des wahren Gottes, da wurde der Vers aus dem Propheten Hesekiel gepredigt: „Ich aber ging an dir vorüber und sah dich in deinem Blut liegen und sprach zu dir, als du so in deinem Blut dalagst: Du sollst leben! Ja, zu dir sprach ich, als du so in deinem Blut dalagst: Du sollst leben und heranwachsen: wie eine Lilie auf dem Felde mach ich dich!“ Das war Christi Wort an mich, über meinen damaligen Selbstmordversuch. Ein Jahr später hörte ich einen chinesischen Propheten evangelisch-charismatischer Richtung, er sprach: Und damals wollte der Feind dich ermorden! Aber der Heilige Geist beschloss, es war noch nicht die Zeit deines Todes, und der Heilige Geist führte dich heraus! Ja, und zehn Jahre später las ich ein Wort der Gottesmutter Maria an ein Seherkind von Fatima: „Du aber bleibst noch einige Zeit hier. Jesus möchte sich deiner bedienen, damit die Menschen mich erkennen und lieben.“ Dies Wort gab mir dann auch den Sinn meines Überlebens an.


Ich kam in die Psychiatrie. Der Psychiater fragte, ob ich mir noch einmal das Leben nehmen wolle. Ich sagte: Gott will, dass ich noch leben, ich will solange leben, wie Gott es will.


Meine frühere Freundin Karine erneuerte die Freundschaft, indem sie mir auf meine Bitte hin ein Bild der Sixtinischen Madonna schenkte, dass meiner Vision in jener gefährlichen Nacht glich. Von da an verehrte ich allezeit die Sixtinische Madonna, auch als Protestant.


Ein evangelischer Pastor der Sankt-Ansgari-Kirche, meiner Taufkirche, ermutigte mich, mich der Weisheit Christi auszuliefern, denn Christus habe den Ärzten Weisheit geschenkt, zu heilen. Ich verbrachte ein halbes Jahr in der Psychiatrie, in einem Dämmerzustand, und dichtete als eine Art Gebet um Heilung das erste Buch Samuel von den Leiden Davids in Strophen nach. Dieses Poem ist kein Kunstwerk, es ist der Schrei einer gequälten Seele aus der Tiefe, ein Exorzismus, ein Gebet um Heilung vom Wahnsinn. David spielte mir mit seiner Harfe vor und heilte mich von dem bösen Geist, den Gott mir zur Strafe meiner Sünden geschickt. Aber Gott schlägt uns Wunden, aber er heilt uns auch wieder. Mein Heiland heilte mich von meinem Wahnsinn! Heilig, heilig, heilig bist du, Jehowah Zebaoth!

Nach der Entlassung aus der Psychiatrie galt ich als geheilt. Die Hölle hatte sich geschlossen, aber, ach, der Himmel auch. Ich fand mich wieder auf der platten, nüchternen, öden Erde. Ich wohnte bei einer alten krebskranken Frau und ging täglich auf dem nahegelegenen Friedhof spazieren. Manchmal nahm mich mein einziger Freund Enno zu einem längeren Spaziergang an die Nordsee mit.


Ich hatte mit meinen Halluzinationen auch die Marien- und Heiligenverehrung verloren und den Glauben an das Wunder des heiligen Messopfers. Es schien mir dies alles mehr einer kranken Phantasie als einem wirklichen Himmelreich entsprungen zu sein. Nur der Verstand wollte noch Christus erkennen, der rationale Verstand eines Mannes. So nahm ich ein Jahr lang Glaubensunterricht bei einem evangelikalen Pastoren, der mir die Grundlagen des fundamentalistischen Glaubensbekenntnisses didaktisch beibrachte. Später wechselte ich aus der engen Freikirche zur liberaleren lutherischen Gemeinde über, da der evangelische Pastor mir die lutherischen Heiligen Luther und Melanchthon als Meister und Freunde vorstellte.


Meine einzige tiefere geistige Speise war ein Buch mit Texten der deutschen Mystik. Ich las Texte von Heinrich Seuse, Meister Eckard, Johannes Tauler, Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg. Und besonders die Liebespoesie der gottseligen Mechthild von Magdeburg begeisterte mich.


Sagte ich: Begeisterte mich? Ach, es war keine Begeisterung in mir, es war der Geist und die Inspiration von mir gewichen, und in gewissem Sinne das Leben selbst. Ich lebte wie im Staub ein Wurm, die nackte Existenz. Es war die Grabesruhe Christi, sie währte drei Jahre.


Kaum konnte mich Venedig erregen. In einer Reisegruppe machte ich Urlaub im Südtirol und sah einen Tag die Zauberstadt. Ja, ich saß in dem schwarzen Schwan einer Gondel und sah Maria della Miracoli, ich sah Maria della Salute und San Marco. Aber alles erfuhr ich mit einer inneren Freudlosigkeit einer verödeten Seele.

Ich war auf der kanarischen Insel La Palma, ich sah die Santa Maria von Columbus, ich sah die Kirche El Salvator von La Cruz, ich sah auf der Bergesspitze die Kapelle Unserer Lieben Frau vom Schnee und stand am Rand des Vulkans des heiligen Antonius. Und mir wäre zumute gewesen, wie Empedokles, meine Schuhe auszuziehen und mich in den Krater zu stürzen.


Ich las nun viel. Ich las auf La Palma den Don Quichote und in Venedig die Brüder Karamasow, in meiner alten Totenkammer las ich die Gesammelten Werke von Thomas Mann. Ich las den ganzen Shakespeare in der Übersetzung von Wieland. Zuletzt kam ein Herbst, der wie der Tod selbst aussah, ein kranker Nebel schlich mit kranker Schwermut und ekelhafter Bitterkeit der schwarzen Melancholie um die nackten Skelette der toten Bäume. 


Da besuchten mich meine beiden Freundinnen Evi und Karine aus Oldenburg. Ich schöpfte Hoffnung. Ich wollte nach Oldenburg ziehen. Norden, das war, wie Rilke von Paris geschrieben: Hierher also kommen die Leute um zu leben? Ich meine, es stürbe sich hier eher. Norden war der Friedhof meines Lebens. Aber Christus schenkte mir die Auferstehung und ein neues Pfingsten. Evi und Karine hatten mich wie zwei Marien in meine Auferweckung, in meine Erweckung geführt.


Ich zog also nach Oldenburg und wohnte in der Nähe von Evi und Karine, die zusammen in einem Bauernhaus in einem romantischen Paradiesgärtlein lebten. Dort lernte ich eine russische Protestantin kennen, die mich in ihre Freikirche einlud, eine charismatische Pfingstgemeinde. Ich besuchte die Gemeinde, es war eine Gemeinde von jungen Studenten und Studentinnen, die Studentinnen war blühend jung und schön, ich meinte, in dem Paradies des Propheten zu sein. So schloss ich mich der Gemeinde an.


In der Gemeinde lernte ich auch einen Chinesen kennen, Rong-Ji, der mein Freund wurde. Wir sprachen über Li Tai-Bo, er gab mir chinesische Lyrik in englischen Nachdichtungen, die ich ins Deutsche übersetzte. Dann bat er mich, ihm bei seiner Doktorarbeit in der Pädagogik zu helfen. Er referierte mir in den folgenden drei Jahren über die Vater-Sohn-Beziehung im klassischen Konfuzianismus und ihre Parallelen zum Christentum, und ich formulierte seinen Vortrag in deutscher Sprache. Ich lernte viel über Konfuzius, Menzius, das Buch der Riten und Sitten, das Shi Ging, das I Ging. Ich lernte den konfuzianischen Begriff des Tao kennen, der als ein sittliches Weltgesetz vom Himmel stammte. Ich lernte über das chinesische Altertum, über die Verehrung Shang-Di’s, des Allerhöchsten, bei Mo Ti, über die Geschichte des Christentums in China von dem nestorianischen Alopen an bis zu dem Jesuitenmissionaren Matteo Ricci und Johann Adam Schall von Bell und bis zu den protestantischen Bewegungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Ich hörte von einer stets wachsenden Untergrundgemeinde in China und von großen Kraftwirkungen des Heiligen Geistes in China, bis hin zu Totenauferweckungen!


Evi bat mich ausdrücklich, in Zukunft auch sie als ein Freund zu besuchen. Wir begannen über Gott und die Welt zu sprechen, das heißt, über Jesus und die Kunst. Sie war sehr schön, eine Paradiesfrau in ihrem blühenden Paradiesgarten.


Ich lernte auch den evangelischen Christen Mark kennen, der ein großer Liebhaber der Bibel war und mich in seinen Hauskreis einlud, gemeinsam das Evangelium zu studieren. Dort lernte ich Inka kennen, eine engelgleiche Jungfrau, die Verlobte war, Jungfrau und Braut, festhielt an der Keuschheit vor der Ehe. Sie hatte geistige Kämpfe mit Dämonen zu kämpfen und war von schweren Leiden sehr vergeistigt. Sie war sehr schön und fein und zart und transparent. Ich schwärmte für sie und schrieb ihr ein Gedicht in chinesischer Sprache, in dem ich sie Meh-Meh nannte, Schwesterchen, rein wie Schwan und Jade. Sie sprach, sie nähme meine Gedichte als Liebesgedichte Jesu an sie.


In der Pfingstgemeinde hatte ich Erwachsenentaufen erlebt, da ich die Gegenwart des intensiv angerufenen Heiligen Geistes erlebte. Ich streckte mich auch nach dem Heiligen Geist aus und wollte meine Kindstaufe erneuern in einer Wiedertaufe. Ich traf mich allmorgentlich mit Rong-Ji zur Anbetung Gottes an einem See, da wir Psalmen beteten und Anbetungslieder sangen. So bereitete ich mich auf die Wiedertaufe vor, denn ich hoffte, wie bei Jesu Taufe, würde sich auch über mir der Himmel auftun, der Heilige Geist auf mich herabkommen und Gott mich liebes Kind nennen und Gottes Wohlgefallen! Eines Morgens begann ich mitten im Gebet in einer mir unbekannten Sprache zu beten, die Zungenrede ward mir als Charisma geschenkt. In der Wiedertaufe widersagte ich dem Satan und allen seinen Werken und versprach vor der sichtbaren und unsichtbaren Welt, Jesus Christus nachzufolgen. Dann ward meine eine Taufe im Namen des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes erneuert. Die Gruppe von Freunden am See sang ein chinesisches Anbetungslied: Fels, Fels, mein Fels ist Jesus! In der Gemeindeversammlung überkam mich spontan die Gabe der Predigt.


Mit einem Freund fuhr ich im Sommer nach Süddeutschland. Wir besuchten eine christliche Familie an der Teck. Ich sah das Schloss der Hohenzollern von Süddeutschland, ich sah das Schloss Lichtenstein mit den Totenmasken von Goethe und Schiller und das Schlafgemach mit dem Gemälde der Himmelfahrt Mariens, ich war auch im Turm von Tübingen, in dem Hölderlin die zweite Hälfte seines Lebens gelebt hatte. Ich sah dort die Handschrift Hölderlins, das Gedicht Hälfte des Lebens in seiner Original-Handschrift.


Ich las die Gesammelten Gedichte von Hermann Hesse, der in seiner Jugend seine Jugendgeliebte als eine Art Beatrice verklärt, der dann die Ewige Mutter besang und im Alter Buddha und Christus zu vereinen suchte. Diese Lyrik erinnerte mich wieder an das Ewigweibliche, an die Sehnsucht nach der Ewigen Mutter. Der Protestantismus kennt ja keine metaphysische Weiblichkeit. Man spottete über den Begriff Mutter Kirche, über die Theologie als Mutter der Wissenschaften, einige Protestanten hatten Aversionen gegen die Verehrung der Mutter Christi. Gott war Vater und Sohn.

Ich schrieb Liebesgedichte an Inka, da ich zum Schluss meiner Passion eine Vision besang, da mir Jesus vom Himmel her erschien und an seiner Seite eine strahlende Jungfrau. Wer war diese Jungfrau? War sie die himmlische Jerusalem, die bräutliche Gemeinde Christi, oder war sie Inka im Himmel?


Mit Mark und Inka fuhr ich zu einem Seminar über die Apokalypse des Johannes. Der Lehrer war ein evangelikaler Fundamentalist, der die katholische Kirche als Hure Babylon bezeichnete, aber Vorsicht, sie habe noch eine Schwester, das sei die evangelische Kirche. Aber in irgendeinem Zusammenhang sprach der Lehrer von der siebenten Königin. Ich sah in Inka die siebente Königin der Apokalypse, eine apokalyptische Jungfrau, die himmlische Jerusalem, die Braut Christi, die Frau des Lammes!


In einer evangelikalen Studentengemeinde hielt ich einen Vortrag über Rudolf Steiners gnostisches Christus-Bild. Mein Freund Mark sprach von meiner Lehrbegabung.


Ich war begeistert von Gott und wollte allein zur Ehre Gottes dichten. Ich wollte nach dem Vorbild John Miltons und Klopstocks allein geistliche Dichtung dichten und begann einen Zyklus von evangelischen geistlichen Sonetten.


Inspiriert von dem Schriftwort: „Wir hörten von ihr in Ephrata...“, begann ich einen evangelischen Roman über die Jungfrau Maria zu schreiben. Zwar lehnte ich die katholischen Dogmen der Unbefleckten Empfängnis, der Himmelfahrt Mariens und der Fürsprecherin ab, ohne sie aber auch nur zu kennen, dennoch lebte in mir noch Liebe zur Jungfrau und ich sehnte mich danach, in dem für wahr gehaltenen evangelischen Glauben doch auch die Mutter Jesu lieben zu können und preisen zu dürfen. Es machte mir große Freude, von der Schönheit Mariens zu singen in poetischer Prosa. Mich inspirierte die Sixtinische Madonna, die meine Zimmerwand schmückte, aber mich inspirierte Evi, mein Abglanz der Madonna, der Madonna als der Schönen Madonna.


Ich beschäftigte mich nun mit christlicher Psychologie. Zuerst lernte ich die Lehre von den Temperamenten kennen, die alte antike Lehre von den Humoren. Ich erkannte, dass ich stark vom melancholischen Humor beeinflusst war, dass in mir ein Übermaß an schwarzer Galle war. Aber die Lehre, dass gerade dass melancholische Temperament die Voraussetzung für künstlerische und philosophische Begabung ist, war doch wieder ein Trost.


Ich lernte im Schwarzwald Mirjam kennen, die eine Katholikin war und Nonne werden wollte. Sie sang mir katholische Marienlieder vor. Ich erinnerte mich an meine Marienverehrung zu Beginn meines Christseins und fühlte eine Mutterheimat und das Herz der Geliebten Frau, und was ich verloren hatte, als ich aufhörte, Maria zu verehren. Es war das Herz des Christentums die Liebe, aber das Herz des Katholischen die Zärtlichkeit, und diese Zärtlichkeit und Süßigkeit der Mutterliebe Mariens hatte ich verloren.


Als ich aus dem Schwarzwald zurückkehrte, sah ich Evi vor mir sitzen auf einem Sessel, den dreijährigen Sohn auf dem Schoß. Evi hatte lange schwarze Haare und trug ein feines Seidenkleid, ein weißes Seidenkleid mit eingewobenen Blumenmustern. Der Sohn spielte auf ihrem Schoß mit ihrem Haar, sie neigte sich mit süßester Mutterliebe ihrem geliebten Kinde zu. Da traf mich der Blitz der Liebe, der Feuerpfeil Amors, da schlug Eros seine Fackel in meine Seele!


Ich schrieb den Marienroman zuende. Mein Herz loderte in der Liebe zu Evi. Das letzte Jahr des zweiten Jahrtausends ging zuende. Meine evangelische Maria war gepriesen. Die Welt sprach davon, ob Russland das dritten Jahrtausend mit einem Atomkrieg beginnen würde? Die Christen sprachen davon, ob Christus jetzt wiederkommen wird? Ich stand in der Flamme der Liebe, ich liebte in meiner leidenschaftlichen Besessenheit Evi mehr als Jesus! Ich liebte sie, als sähe ich in ihr die Schönheit Gottes! Ja, sie glühte und glänzte in der Glorie Gottes, dass sie mir eine himmlische Göttin der Schönheit schien, es war mir, als, indem ich vor ihr kniete in anbetender Minne, ich kniete vor dem femininen Antlitz Gottes! So begann das dritte Jahrtausend.



Das Jahr 2000 begann damit, dass ich ins Fegefeuer eintrat, ich meinte, nach Dantes Lehrstuhl, in den siebten Kreis des Fegefeuers, da die Sinnlichkeit der Minnesänger gebüßt wird. Ein katholischer Priester sagte, man könne das Fegefeuer auch schon auf Erden haben. Heinrich Seuse schrieb, die Schwermut als Gemütskrankheit sei ein Fegefeuer auf Erden, und wer auf Erden schon in dem Feuerofen der Trübsal purgiert würde, der käme nach seinem Tode schneller zu Gott. Man muß mir nicht sagen, es gäbe kein Fegefeuer, ich weiß, ich war schon darinnen und bin es noch!


Die protestantisch-charismatische Frömmigkeit half mir nicht in den großen Liebesschmerzen, in der Nacht der Trauer. Hier wurde der Auferstandene gefeiert, alle bezeugten, dass Jesus sie froh und fröhlich gemacht, es war das Kreuz und der Gekreuzigte ein Gedanke an Jesus vor zweitausend Jahren, da er gelitten, damit sie nun fröhlich sein können. Ich aber spürte etwas vom gegenwärtigen Kreuz, vom Schicksal Hiobs, des Predigers Salomo und des lamentierenden Jeremias. Ich übersetzte Koheleth und Lamentationen, sowie das Hohelied ins Deutsche. Ich suchte nach einer neuen geistlichen Heimat, nach einer Form des Christentums, die auch im Leiden trägt. Da studierte ich die christlichen Konfessionen in ihren Bekenntnissen.


Ich hörte dann eine Predigt des Papstes Johannes Pauls des Zweiten und war beeindruckt von diesem weltumspannenden katholischen Glauben, dem Gedenken an die Heiligkeit, vor allem beeindruckte mich die Verehrung der Märtyrer des zwanzigsten Jahrhunderts.


Durch Zufallsfügung fiel mir eine Schrift des katholischen Schriftstellers Reinhold Schneider in die Hände. Besonders die Aussage, dass das Leben für Christen geradezu umgekehrt schwerer sein könne als das heitere Leben der Hedonisten, da der Christ täglich sein Kreuz auf sich nähme, beeindruckte mich. Ich studierte nun die Schriften von Reinhold Schneider. Seine tiefe Schwermut, seine Schau der Tragik des Lebens, seine Vision vom Königtum Christi als einem Königtum der Schmach und Ohnmacht, seine absolute Erhöhung des Kreuzes und seine Betrachtung über die dunkle Nacht der Seele nach der Weisheit des heiligen Johannes vom Kreuz, das machte mich katholisch.


Ich besuchte wieder einmal eine Heilige Messe und nahm auch an der Kommunion teil, da ich glaubte, das lebendige Herz Jesu in der Hostie zu speisen. Ein halbes Jahr lang nahm ich sonntäglich an der Heiligen Messe teil und kommunizierte, bis ich den Priester ansprach und mich von ihm in die katholische Kirche führen ließ.


In der Weihnacht hatte ich eine Vision der Madonna, die am Himmel über mir schwebte, ähnlich der Sixtinischen Madonna. Ich las am Ende des Jahres das Buch die Ewige Frau von Gertrud von LeFort, der katholischen Schriftstellerin, die in ihrer Bestimmung des Wesens der Frau und Mariens als der Ewigen Frau von der heiligen Karmelitin Edith Stein beeinflusst war. So wie mir durch Reinhold Schneider Johannes vom Kreuz begegnete und mir das Kreuz Christi predigte, so begegnete mir durch Gertrud von LeFort die heilige Edith Stein und predigte mir Maria. Maria war Tochter, Mutter und Braut Gottes, Tochter des Vaters, Mutter des Sohnes, Braut des Heiligen Geistes, sie war der Inbegriff der Kirche, ja, Stellvertreterin der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung. Die Dichterin pries Maria auch als Muse der großen christlich-abendländischen Kunst, denn die Ewige Frau inspiriere den wahren Dichter durch die irdische Muse, die ersehnte oder geistige Braut, die wiederum Stellvertreterin der Jungfrau-Mutter Maria im Leben des schöpferischen Mannes sei.


Das Jahr 2000 schloss, als ich die Hymne an die himmlische Schönheit des anglikanischen Renaissance-Poeten Edmund Spenser übersetzte, die man auch eine Hymne an Sapientia nennen könnte. Die Sapientia war schön wie die Aphrodite Urania der Griechen, war schön und rein wie die Jungfrau Maria, sie glich der Weltseele, und war doch als Tochter Gottes der Sohn Gottes, Christus. Maria hatte mich also zur Hagia Sophia geführt. Maria, Urania, Sophia, das war der Weg den ich nun gehen wollte. Das war der Weg, den Maria mich führte, den Weg der Urania der platonischen Philosophie und, im Geist der christlichen Theosophie, der HAGIA SOPHIA.


Die Hagia Sophia lehrte mich im ersten Jahr des Dritten Jahrtausends folgende Schritte:

1. Studium der katholischen Dogmatik und der Lehrentscheide der Päpste

2. Studium der katholischen Mariologie

3. Weihe an das Unbefleckte Herz Mariens

4. Wallfahrt und Lebensbeichte

5. Mystische Verlobung mit der Jungfrau Maria

6. Firmung und Aufnahme in den Schoß der Kirche

7. Kommunion mit der eucharistischen Christus-Sophia.




ZWEITER TEIL

MEINE MUTTER



ERSTES KAPITEL

MUTTER UND DIE MUSIK


Festschrift zum 80. Geburtstag meiner treuen Mutter


1


Mehrstimmiger Schulgesang


Mama ging nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Insel Baltrum in die Volksschule. Sie erinnerte sich mit 80 Jahren noch an den Namen ihres Musiklehrers. Sie haben von ihm gelernt, zweistimmig zu singen.


2


Baltrumer Gitarrengruppe


Mit zwölf Jahren bekam Mama eine kleine Gitarre. Ihr Musiklehrer aus der Schule brachte ihr das Gitarrespielen bei. Sie spielte dann in der Baltrumer Gitarrengruppe mit. Von dieser Gruppe gab es auch eine Schallplatte, die bis zu Omas Tod bei ihr im Wohnzimmer lag. Sie sangen Lieder wie: In einen Harung jung und schlank verliebte sich, o Wunder, ne olle Flunder, oder: Dat du mien Leevsten büst, dat du wohl weest.


3a


Verweigerter Klavierwunsch


Mama hätte in ihrer Kindheit gerne ein Klavier gehabt und Unterricht im Klavierspiel. Aber ihr Vater erlaubte es nicht.


3b


Mit Papa Udo Jürgens


Als Mama Papa in Hannover kennen lernte, als sie frisch verliebt und noch nicht verheiratet waren, besuchten sie ein Konzert des deutschen Schlagersängers Udo Jürgens. Mama mochte diesen Sänger, der versucht hatte, einen deutschen Chanson zu schaffen.


4


Hannoveraner Oper


Als Mama und Papa in Hannover lebten, besuchten sie, wohl auf Mamas Wunsch hin, manchmal die Oper. Ich weiß nicht, welche Opern sie damals hörten. Aber in meinem Elternhaus gab es noch den Opernführer meiner Eltern aus jener Zeit. Und ich habe als erwachsener Mann diesen Opernführer studiert und manche Oper in gereimte Verspoeme verwandelt.


5


Tränen lügen nicht


In meiner Kindheit hörte ich viel Musik. Wir hörten Schlager- und Disco-Musik. Als ich meinen ersten Kassettenrecorder bekam, nahm ich mit dem Mikrophon Schlagerlieder auf Kassette auf und gab als Kommentar meine Glossen dazu. Ich erinnere mich, dass ich die Verszeile: Tränen lügen nicht – so kommentierte: Aber Mädchen weinen oft, um ihren Willen durchzusetzen.


6


Abba


In der Zeit meiner Kindheit war die schwedische Musikgruppe Abba populär. Wir waren in meiner Kindheit oft in Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland im Urlaub. Auch hatten mir meine Eltern ja den schwedischen Namen Torsten (Steinhammer des Donnergottes Thor) gegeben. Wir hörten viele Lieder von Abba. Und die Sängerin Agneta mit ihrer schlanken Figur und ihren langen goldblonden Haaren war das Schönheitsideal meiner Kindheit.


7


Sonntagskult Klassikradio


Wir hörten also viel populäre Musik, aber am Sonntag Vormittag, am Tag des Herrn, dem christlichen Feiertag, frühstückten wir nicht wie sonst in der Küche, sondern im Wohnzimmer, auch gab es nicht wie in der Woche Pflanzenmargarine, sondern gute Butter aufs Brot. Und zur Feier des Sonntags schaltete Mama das Klassikradio an. Die klassische Musik war ihre Kirche und ihr Gottesdienst und ihr Gebet.


8


Flötenunterricht


Mit ungefähr zehn Jahren bekam ich eine Blockflöte und bekam zwei Jahre lang in der Musikschule Unterricht im Flötenspiel. Wir spielten da Kinder- und Volkslieder wie: Summ summ summ, ein Bienchen geht herum.


9


Klavier von Omas Schwester


Mit 12 Jahren bekam ich ein Klavier. Die Schwester meiner Oma hatte am Bahnhof von Norden eine Gaststätte betrieben, und aus der stammte das Klavier. Es war aus dunkelbraunem Holz und mit Schnörkeln verziert. Die Saiten waren sehr verstimmt, so musste ein Klavierstimmer kommen und nach dem Klang einer Stimmgabel das Klavier stimmen. Ich hatte ungefähr drei Jahre lang Klavierunterricht. Als ich in die Rebellion der Pubertät kam, bat ich meinen Vaster, die Schnörkel abzuschleifen und das Klavier rot zu streichen, was er auch tat. Ich hörte dennoch mit dem Klavierspiel auf.


10


Herbert Krämer


Meine Musiklehrer am Klavier hieß Herbert Krämer, er hatte eine imposanten Schnurbart und freundlich lachende Augen. Er war selbst Jazzmusiker und spielte in der Gruppe Seaside Jazzmen Swing und Dixieland-Jazzmusik.


11


Mama nimmt Klavierstunden


Dieser Herbert Krämer gab nun auch Mama Klavierstunden. Sie konnte sich so als junge Mutter ihren Kindheitswunsch erfüllen.


12


Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach


Nach den ersten Fingerübungen und dem Erlernen der Tonleiter konnte ich nach ungefähr drei Jahren am Klavier Bach spielen. Es war Bachs Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, das ich spielen konnte. Besonders das Air bewegte mich sehr, das war mein erstes wahres Musikerlebnis. Immer wenn ich später als erwachsener Mann das Air von Bach hörte, war es wie Kinderheimat.


13


Vorspielen


Einmal sollte ich von der Musikschule aus auf einem kleinen Fest vorspielen. Mein Musikstück begann damit, dass beide Daumen auf dem C lagen. Das C merkte ich mir, da direkt unter dem C das Schlüsselloch meines Klaviers lag. Bei dem Klavier der Musikschule lag über dem Schlüsselloch das E. Ich merkte den Irrtum nicht und begann mit beiden Daumen auf dem E. Das Publikum lachte. Wie peinlich! Der Lehrer trat zu mir und korrigierte mich. Dann spielte ich fehlerfrei mein Stück, nur, wie man mir sagte, zu schnell.


14


Holzgitarre ohne Saiten


Nachdem ich zu meiner evangelisch-lutherischen Konfirmation von meinem Lieblingsvetter Achim eine Schallplatte mit Musik des Blues-Gitarristen bekommen hatte, hörte ich am Radio immer Blues Musik. Die Sendung begann mit dem Gitarrenspiel von Eric Clapton, seinem unendlich traurigen Liebeslied Layla (nach Medschnun und Layla von Nizami). Da wollte ich auch Blues-Gitarrist werden. Mein Vater sägte aus einem Brett eine Gitarre ohne Schallkörper und ohne Saiten aus, so konnte ich zumindest so tun, als sei ich ein Virtuose wie Eric Clapton.


15


Mamas Gitarre


Mama schenkte mir dann ihre akustische Gitarre, auf der sie in der Baltrumer Gitarrengruppe gespielt hatte. Sie war klein, aus hellem Holz und hatte weiche Nylon-Saiten. Ich brachte mir einige Akkorde bei und spielte amerikanische Folk-Musik und sang dazu. Allerdings sagte mein Onkel Arno, der im Männergesangverein war, ich könne nicht singen. Ich nahm dann einige Stunden bei einem Mitschüler vom Ulrichs-Gymnasium, der mir die Blues-Tonleider und überhaupt die Akkordfolge eines Bluessongs beibrachte.


15


Lässt du sie wieder weinen?


Ich stülpte mir ein Metallrohr über den Ringfinger der linken Hand und spielte Slide-Gitarre, spielte Blues. Da trat Mama in mein Zimmer, zeigte auf ihre Gitarre und sagte: Lässt du sie wieder weinen?


16


E-Gitarre zum Blues


Mein Vater kaufte mir eine elektrische Gitarre und einen kleinen Verstärker. Im Radio gab es eine Sendung, da nur die Rhytmusgruppe einen Bluessong spielte, also Schlagzeug, Bassgitarre, etwas Piano. Ich konnte dazu meine Solo-Blues-Gitarre spielen. Ich tat mich auch ein paar mal mit einer Mitschü+lerin zusammen, die Akkordeon spielte, ich dazu die E-Gitarre, wir spielten von den Beatles All you need is love.


17


Mit Erich den Blues gespielt


In meiner Gymnasialzeit war ich mit Erich befreundet, der Mundharmonika spielte und akustische Gitarre. Ich spielte wieder auf Mamas akustischer Gitarre. Ich hatte ihr schönes helles Holz mit blaumetallischer Farbe angestrichen. Ich spielte auch Mundharmonika. Erich und ich musizierten viel zusammen und spielten und sangen Folkssongs und Blues. Später bereute ich es, dass ich Mamas Gitarre mit blaumetallischem Lack angestrichen hatte und schmirgelte die Farbe wieder ab.


18


Vivaldi 4 Jahreszeiten


Mit meinen Freunden bildeten wir eine kleine kommunistische Jugendgruppe. Meine Eltern waren verreist, und wir Freunde trafen uns in meinem Elternhaus zu einer Strategiekonferenz, die am Samstag Abend in Bier und Wodka ertrank. Aber nachdem wir unsern Rausch am Sonntagmorgen ausgeschlafen hatten, gingen wir zu Mamas Schallplattensammlung und hörten Vivaldis Vier Jahreszeiten. Das war doch eine ganz andere Klarheit! Da wurde die Seele befreit von Geschwätz, Ideologie und Alkohol. Diese Musik ist wie klares Quellwasser. Mit meinem Freund Volker fuhr ich auf einem Tandem-Fahrrad mit Fahrradanhänger über die ostfriesischen Dörfer zu einer Friedensdemonstration vor einem Bundeswehrstützpunkt, da hörten wir auf der Fahrt Vivaldis Vier Jahreszeiten. Die goldenen Weizenfelder und die Kühe auf den Weiden stimmten ein in den Gesang der Schöpfung zu Ehren des Schöpfers!


19


Prag – Smetana die Moldau


Dreimal war ich in meiner Jugend in Prag. Später sah ich auch Paris, sogar Venedig! Aber Prag ist mir die Liebste. Ich ging tatsächlich auf der Karlsbrücke über die Moldau. Da lernte ich von Smetana die Moldau kennen. Das hat die Moldau selbst komponiert. Ich hörte aber auch die Vertonung des kommunistischen Komponisten Hanns Eisler von Berthold Brechts Lied der Moldau: Am Grunde der Moldau, da wandern die Steine, es liegen drei Kaiser begraben in Prag. Ja, auch Kommunisten können schöne Melodien erfinden.


20


Arnold Schönberg und Hanns Eisler


In meiner Lehrzeit als Schriftsetzer kaufte ich mir eine Schallplatte mit Musik von Arnold Schönberg und seinem Schüler Hanns Eisler. Es war moderne Zwölftonmusik, recht unmelodisch. Hanns Eisler komponierte auch Zwölftonmusik als Schüler Schönbergs, bis er dann später dazu überging, kommunistische Kampf- und Marsch-Gesänge zu komponieren. Aber vor allem war er neben Kurt Weill der Komponist, der Brecht, den Lieblingsdichter meiner kommunistischen Jugendzeit, vertonte.


21


Hanns Eisler Ernste Gesänge


Von einer heimlichen Reise in das kommunistische Deutschland brachte ich Hanns Eislers Ernste Gesänge mit, eine Musik voller Traurigkeit, geboren aus der Enttäuschung am Kommunismus nach der Offenbarung der Verbrechen Stalins, Hanns Eislers Schwanengesang, da der Oden von Friedrich Hölderlin vertonte. Zu der Zeit las ich zum ersten Mal Hölderlin. Als ich seine Christus-Hymne Friedensfeier las, sah ich eine Hand aus Sonnenlicht aus einer weißen Wolke mich segnen. Christus begann, mich an sich zu ziehen.


22


Beethoven Mondscheinsonate


Morgens früh musste ich aufstehen, um in die Fabrik zu gehen, meine proletarische Arbeit zu tun. Aber es war so warm im Bett, ich zündete eine Kerzen an, trank eine Tasse Zimttee und hörte Beethovens Mondscheinsonate. Das hat der Mond komponiert, und ich wurde selig entrückt in eine träumerische Mondscheinwelt, in der ich schwebend mich erging, bis mich das Telephon aufschreckte und die Genossen Proletarier mich erinnerten, dass ich schon wieder zu spät zur Arbeit kam.


23


Beethoven 9 Symphonien


Von meinem ersten Weihnachtsgeld meiner Lehrzeit kaufte ich mir beim Bücherbund der Gewerkschaft die neun Symphonien Beethovens. Vor allem die neunte Symphonie mit Schillers Ode an die Freude überwältigte und begeisterte mich. Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum! Zugleich kaufte ich mir einen klassischen erotischen Roman aus dem China des 16. Jahrhunderts, der in blumiger Sprache von den Freuden der Liebe sprach und mich unsterblich verliebt machte in die Muse Chinas.


24


Schubert Winterreise


Ich war in das Mädchen Marion verliebt, ich betete sie an, sie kam zu mir und legte mir die Hände auf das Haupt und segnete mich und sagte: Ich habe Visionen, ich muss nun fort, meine Visionen zu malen. Da hörte ich im Winter Franz Schuberts Winterreise. Diese Musik blieb fortan bei mir. Es war der Kuss der romantischen Poesie. Zu der Zeit schrieb ich meine ersten Sonette, einen Zyklus namens Ritter von der traurigen Gestalt, darin war von meinen Tränen die Rede, die wie roter Schnee waren.


25


Gustav Mahler das Lied von der Erde


Ich war mit meiner wunderschönen Geliebten Karine nach Südfrankreich gereist, auf die Pyrenäen, nach Bordeaux. Dort besuchten wir Karines Onkel. Er zeigte mir durch ein Teleskop die Drei Schönen des Sommerhimmels, Schwan und Lyra und Adler, und den Saturn mit seinem Ring. Unter diesem südfranzösischen Himmel, die Geliebte an meiner Seite, hörte ich Gustav Mahlers Lied von der Erde, eine ernste, traurige Musik, nach Gedichten von Li Tai-Bo, dem größten Dichter Chinas, einem der größten Dichter aller Zeiten und Völker. Auch diese Musik blieb für immer bei mir. Ich träumte von einem idealischen China des Altertums.


26


Tedeum


Beim Tod meiner Oma ist ihre Seele vor den Thron Christi getreten und hat vom Herrn für mich den Glauben erbeten, und der Herr hat sie erhört. Bei ihrer Beerdigung wurde zur Orgel das Tedeum gesungen: Großer Gott, dich loben wir! Das empfand ich als das geistige Testament und Erbe meiner Oma: Fortan werde ich leben dem Lobe Gottes.


27


Bach-Musik gegen satanische Rockmusik


Ich hatte mich von allen Freunden getrennt und ein Jahr lang in absoluter Einsamkeit mich nur dem Gebet und dem Lesen der Bibel gewidmet. Ich mochte nur noch Bach hören. Aber mein Vermieter, der im selben Haus wohnte, hörte laute satanische Rockmusik, highway to hell oder hell‘s bells. Da kämpften die Musik Christi und die Musik des Teufels miteinander.


28


Mamas Gitarre gestohlen


Der satanische Vermieter warf mich nachts aus der Wohnung und verfluchte Christus als meinen „Abgott, den Schwächling, den gottverlassenen Gott“, und behielt all meinen kleinen Besitz ein, darunter Mamas Gitarre, auf der sie auf Baltrum Volkslieder gespielt und auf der ich meine Blues-songs gespielt hatte. Gott versetzte sie an den Himmel, es ist das Sternbild Leier.


29


Weihnachtsoratorium


Mit Christus waren die Jungfrau Maria und der heilige Vater Petrus zu mir gekommen. Mein erstes Weihnachtsfest als gläubiger Christ feierte ich mit dem Weihnachtsoratorium von Bach: Jauchzet, frohlocket!


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Tochter Zion


Als ich nach dem Tod meiner Oma vorübergehend dem Wahnsinn verfiel, versuchte mich Satan, ich solle mich selbst ermorden. Ich versuchte es, sang aber dabei das Adventlied Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem. Da erschienen mir Jesus, Maria und Maria Magdalena, und Jesus sagte zu mir: Ich sah dich in deinem Blut zappeln und beschloss bei mir, du sollst leben, du sollst leben und wachsen wie eine Lilie auf dem Felde.


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Bruckner-Konzert


Zwei Jahre lang besuchte ich in Oldenburg eine charismatische evangelische Freikirche, da befreundete ich mich mit einem Christen, der ein großer Kenner und Liebhaber klassischer Musik war. Zusammen besuchten wir ein Bruckner-Konzert. Bruckner hatte auf all seine Kompositionsblätter geschrieben: Zur größeren Ehre Gottes.


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Die Zauberflöte


Ich lernte auch eine junge, sehr schöne Baptistin kennen, ein reiner Engel von Seele und Erscheinung, zart wie eine Pusteblume oder eine Schneeflocke, und ich schwärmte für sie. Ich nannte sie die siebente Königin der Apokalypse und die Jungfrau am Thron des Herrn. Da hörte ich immer Mozarts Zauberflöte. Das war die Musik für Inka. Wenn Tamino sang: Dies Bildnis ist bezaubernd schön! Dann sah ich Inkas präraffaelitisches Madonnen-Antlitz vor mir.


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Jesus-Choräle


Ich befand mich bei einer christlichen Psychotherapie im Schwarzwald und ging meist alleine im Mai spazieren und hörte die Jesus-Choräle von Bach. Eine katholische Novizin sah mich wandeln, allein, mit dem Gesangbuch in der Hand, und hielt mich für einen Mönch. Sie sang mir selbst komponierte Lieder an die Jungfrau Maria vor, da erinnerte ich mich wieder an meine Erste Liebe.


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Matthäuspassion


Ich war nun Katholik geworden, aber liebte immer noch sehr die Musik von Bach. Vor allem die Matthäuspassion. Das war wie eine griechische Tragödie, da lernte man die Ehrfurcht vor dem Gekreuzigten. Ich hatte selbst auch viele seelische Leiden zu ertragen, vor allem den zweimal sieben Jahre währenden Liebeskummer um Evi, da stand mir der leidende Gott in meinen Leiden nah.


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Schubert-Lieder


Ich kaufte mir eine Sammlung von Schubert-Liedern. Besonders, wenn Evi mir gnädig war, jauchzte ich: Dein ist mein ganzes Herz! Oder: Die geliebte Müllerin ist mein! Wenn Evi dann wieder ungnädig war, dann sang ich aus dem Schwanensang das Lied von Heinrich Heine: Ich unglückseliger Atlas, die ganze Welt der Schmerzen muss ich tragen!


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Mozart Ave Verum


Zum Tode meines Vaters suchte Mama das Ave Verum von Mozart aus. Zwar ist mein Vater als Atheist gestorben, ein Atheist hielt seine Leichenpredigt, aber Mama in ihrer Musik-Religion rief intuitiv den Leib Christi an, denn das Ave Verum ist eine Verherrlichung der Eucharistie, des Mahles des Herrn, das inzwischen zum Zentrum meines mönchischen Lebens geworden war.


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Mozart gesammelte Werke


Als meine Mutter nach eine Krebs-Operation in Kur war, besuchte ich sie dort mit meinem Bruder und schenkte ihr die Werke Mozarts auf vierzig compact-discs. Sie hörte sie sich später zuhause eine nach der anderen an.


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Schuberts Ave Maria


Meine Jugendgeliebte Karine war nun meine beste Freundin, zusammen mit ihrer Freundin Evi. Der Herr hat mir alten Patriarchen zwei Ehefrauen gegeben, natürlich rein platonisch. Ich liebte sie beide, jede auf andere Art: Evi war mein feminines Antlitz Gottes, Karine war mir die Gottesmutter, ich ihr heiliger Josef, und ihre drei kleinen Kinder jedes mein Jesuskind. Immer wenn ich mit dem Bus zu Karine fuhr und die restliche Strecke spazierte, sang ich Gebete zu Maria, entweder das deutsche Ave Maria von Schubert oder das Weihnachtslied Maria durch ein Dornwald ging.


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Zauberflöte


Karines Zwillinge gingen in die Kinderkrippe und hatten da eine Aufführung eines Marionetten-Theaters, das Mozarts Oper Zauberflöte präsentierte. Mein Liebling Milan war drei Jahre alt, er war ganz begeistert von Papageno. Ich malte ihm ein Kinderbuch über Papageno und hätte meinem kleinen lustigen Vogelfänger gerne einen Nymphensittich geschenkt. Besonders wenn Papageno sang: Ein Mädchen oder Weibchen ist ganz nach Papagenos Sinn, ja so ein liebes Täubchen! Dann küsste ich Karine auf den Mund.


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Wagner


Als Karine mit 45 Jahren im Sterben lag, ich hielt bis zuletzt ihre Hand, da befand ich mich in einer tiefen Depression, in meiner Seele war eine finstere Nacht ohne Sterne, und meine Augen waren Wasserbäche. Da schwelgte ich in der Musik von Wagner. Erst hörte ich gesanglose Ouvertüren, dann den Parzival auf italienisch und dann den Ring der Nibelungen. O süßer Tod!


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Mahlers Lied von der Erde, Schuberts Winterreise, Eislers ernste Gesänge


Nach Karines Tod und dem sehr schmerzlichen Verlust meiner Herzenskinder war ich tief depressiv und stand schon wieder mit einem Fuß im Reich des Wahnsinns. Ich konnte nur noch Mahler hören: Dunkel ist das Leben, ist der Tod! Oder Schubert: Was vermeid ich denn die Wege, wo die andern Menschen sind? Oder Essler: Nichts gibts, das würdig wäre unsrer Bemühungen, und keine Seufzer verdient die Erde, Schmerz und Langeweile sind unser Los, und Schmutz die Welt, nichts anderes! Beruhige dich!


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Bachs Kantate Ich habe genug


Zwar konnten die Psychiater mit stark betäubenden Medikamenten das Verbluten meiner Seele lindern und die innere Höllenfahrt beenden, aber ich war müde des Lebens. Ich zitierte immer wieder den alten, einsamen schizophrenen Hölderlin: April und Mai und Julius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne. Da hörte ich von Bach die Kantate: Ich habe genug! Ich freue mich auf meinen Tod! Ich hörte sie immer wieder. Ich sandte sie auch meiner Mutter, die musste weinen darüber, dass ich so elend war, dass ich mir nur noch den Tod wünschte.


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Mama singt im Chor


Mama sang im Chor, unter anderm sang sie im Weihnachtsoratorium mit. Die Chorleiterin komponierte auch Motetten, die sang Mama lieber, als Dat du min Leevsten büst. Sie sang aber auch Gospel-Lieder, christliche Kirchenmusik der afroamerikanischen Christen, voller Freude und Jubel.


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Händel Messias


Ein protestantischer Theologe sagte, die Musik im Himmel gleiche Händels Messias. Ich hörte den Messias und war innerlich bewegt und schenkte Mama den Messias, und sie hatte ihre Freude an ihm.


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Jacques Loussier plays Bach


Mamas Hausfreund Johann, ein Witwer, hörte gerne Jazz, Mama gerne Bach. So schenkte ich ihnen beiden die Bach-Interpretationen und Improvisationen des französischen Jazz-Pianisten Jacques Loussier, und sie hörten die Musik gemeinsam, eine Hochzeit von Jazz und Bach, und hatten eine gemeinsame Freude.


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Mama singt Wagner


Mehrere ostfriesische Chöre und Orchester taten sich zusammen zu einer Wagner-Aufführung. Mama sang Wagner. Sie verteilte Flugblätter mit Einladungen zu dem großen Konzert. Eine freikirchliche Christin, die einen Naturkostladen führte, wollte das Flugblatt nicht auslegen wegen Wagners antisemitischen Schriften. Die Protestanten verdrängen gerne, dass ihr einziger Heiliger Luther blasphemische Schweinereien über die Juden von sich gespieen hat. Wagner war nur neidisch auf erfolgreiche jüdische Komponisten. Antisemitismus ist vom Teufel. Aber das Hitler Wagner hörte, dafür kann doch Wagner nichts.


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Mama tanzt zu Eric Clapton


Von einem Bekannten bekam Mama ein akustisches Blues-Konzert vom alten Eric Clapton, der nun nicht mehr der elektrischen Gitarre Verzweiflungsschreie entriss, sondern der nach dem Tod seines Knaben seinen Frieden mit Gott gemacht hatte. Mama tanzte zu der Musik in ihrer Wohnung. Would you know my name, if I see you in Heaven?


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Mama weint zu Weihnachten über Udo Jürgens


Zu Weihnachten schenkte ich Mama ein Konzert des deutschen Chansonsiers Udo Jürgens aus dem Jahr 1970. Die Musik erinnerte sie an ihre erste Liebe, denn sie hatte diese Musik mit ihrem Eberhard noch vor der Ehe gehört. Sie saß im Advent bei Kerzenschein in ihrer Witwenwohnung und weinte über ihre erste Liebe.


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Mama konnte wegen Krankheit nicht die Markuspassion singen


Mama wollte im Chor Bachs Markuspassion singen, aber konnte es aufgrund einer Krankheit nicht. Ich kannte nur die Matthäuspassion, ich hatte noch nie von der Markuspassion gehört. Nun hörte ich mir die Markuspassion an und versank in dieser ernsten heiligen Schönheit. Ich schenkte Mama eine Aufnahme und sie freute sich.


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Mama weint bei der Johannespassion


Mama besuchte in der Kirche Sankt Ludgers eine Aufführung der Johannespassion, und sie weinte, erschüttert über den Tod Jesu, des schönen Gottes. Jesu letzte Worte am Kreuz waren


Zu Maria:

Frau, siehe deinen Sohn!

Und zum Jünger, den er liebte:

Sohn, siehe deine Mutter!





ZWEITES KAPITEL

MAMAS MEMOIREN


Liebe Mama,

ich weiß gar nichts über deine Kindheit und Jugend. Erinnerst du dich nicht gern daran? Da wir nicht viel zusammen sind, fände ich es schön, wenn du mir etwas darüber in Mails schreiben möchtest. Ich stelle dir Fragen und du antwortest. Was hältst du davon.


Erste Frage: Aus wem bestand deine Herkunftsfamilie und was ist deine frühste Erinnerung und wen hattest du als Kind am liebsten? Hattest du auch eine Großmutter im Haus?


Dein


Torsten


*


Tröstendes wird jetzt aber kompliziert, meine Mutti ist auf Baltrum geboren. Mein Vater in Norden war ja bei der Bahn und hat Oma auch auf dem Bahnhof kennengelernt, weil sie dort gearbeitet hat. Mutti hab ich schon mehr geliebt, Papa hat ja leider oft dem Alkohol zugesprochen und so mussten wir immer kuschen. Oma mütterlicherseits war für mich immer schon als Kind uralt, ich habe ihre Haut auf der Hand wie Papier und schrumpelig empfunden, Oma väterlicherseits wohnte ja in Norden und die besuchten wir ja nur ganz selten, wenn wir Wichtiges zu besorgen hatten (Tagesfahrt). Übrigens haben meine Großeltern neben uns gewohnt. Gruß, Mama


*


Liebe Mama, das hat mir große Freude gemacht, dass du mir geschrieben hast. Du musst nichts Tröstliches schreiben. Zwischen Oma selig und mir ist alles in bester Ordnung! Es geht mir um Dich! Bist du denn in der Villa Petheda groß geworden? Bist du zu Hause geboren oder in einer Hebammenstation? Was hat Opa denn auf Baltrum dann gearbeitet, gleich bei der Frisia-Fähre? Und war Oma ganz für dich da oder hat sie auch noch gearbeitet? Ich hoffe, bei Gelegenheit schreibst du noch mal. Danke!


Torsten


*


Hallo, am besten gleich erledigen. Bin in Villa Peteda geboren, die Schwesternstation war belegt, dort wurde meine spätere Freundin Edith geboren. Papa war Geschäftsführer der Reederei Baltrum-Linie. Mutti hatte nicht nur Zeit für mich, sie musste ja für 50 Gäste kochen und so musste Hildegard auf mich als Säugling aufpassen. Bin 8 Jahre auf Baltrum zur Schule gegangen. Gruß, Mama


*


Nach dem Ferngespräch notiert:


Mama konnte nicht auf der Schwesternstation zur Welt kommen, weil dort Tante Bertha gerade niederkam mit Edith (meiner Patin), die später Mamas Freundin wurde. Die Gemeindeschwester musste dann hin und her laufen zwischen Schwesternstation und Villa Petheda, wo Oma mit Mama niederkam. Edith ist am 23. und Mama am 24. September 1938 geboren. Die andere Freundin von Mama war ihre Cousine Ursel. Deren Vater Eberhard Meyer war Omas Bruder und hatte eine Bäckerei. Mit ihren Schwestern hat Mama nicht gespielt. Henny war 8, Thedi 12 und Hildegard 13 Jahre älter. Die mussten in Villa Peteda im Gästebetrieb mithelfen und sagten zu Mama: Geh, du kannst das nicht. Lieber war Mama bei Meyers (Bäckerei Eberhard Meyer), wo sie mit ihrer Cousine Ursel spielte. Doris, Ursel und Edith spielten mit Puppen und Völkerball und überhaupt viel draußen. An Krieg und Nazis kann Mama sich nicht erinnern, nur dass sie alle einmal in einen Strohbunker mussten. Und eines Tages mussten sie aus allen Büchern, in denen ein Hakenkreuz war, das Hakenkreuz entfernen.


*


Was ich wissen will:


Hast du gerne gesungen? Wie wars mit Instrumenten? Hast du in der Schule Gedichte auswendig gelernt, kannst du dich noch an eins erinnern? Wie hieltest du es mit der Religion in der Kindheit? Weißt du, wann du getauft bist Wart ihr in der Kirche? Hattest du in der Schule Religionsunterricht? Wann bist du in die Baltrumer Gitarrengruppe gegangen? Was war dein Lieblingslied?


Beim Chinesischen Essen erzählte Mama: Wenn Opa mittags von der Baltrum-Fähre kam und ich von der Schule, dann schnitt Opa in der Küche das Fleisch, und nach dem Essen musste ich in der Pension helfen. Oma hatte fünfzig Betten und Essen morgens und mittags und abends zu besorgen. Nach der Schule hab ich bei Opa in der Baltrum-Fähre am Fahrkartenschalter gearbeitet. Und danach bin ich zum Reisebüro nach Hannover gegangen. Und in der Kindheit, nach dem Krieg, sagten wir immer: Heil Hitler, wir haben uns geändert… Oma und Opa waren evangelisch-lutherisch, aber ich wurde in der Nazi-Zeit nicht als Säugling getauft, sondern erst mit 15 Jahren zu meiner Konfirmation.


*


Telefon-Notizen:


Oma und Opa waren evangelisch-lutherisch, aber die Religion spielte zu Hause keine Rolle, Weihnachten ging man in die Kirche. Mama ging acht Jahre zur Volksschule auf Baltrum, die hatte zwei Schulgruppen, eine Gruppe war erste bis vierte Klasse, die andere Gruppe fünfte bis achte Klasse. Danach mit 15 Jahren ging Mama ans Festland, nach Norden, zur Handelsschule und wohnte bei fremden Leuten. In der Schule war sie gut in Diktat und in Rechnen. Ob sie Gedichte auswendig gelernt habe? Ja, sicherlich, aber sie könne sich nur noch an die ersten vier Strophen von Schillers Glocke erinnern. Gitarre spielen hat sie bei einem Herrn gelernt, da war sie etwa zehn, mit zwölf kam sie in die Baltrumer Gitarrengruppe. (Früher erzählte sie einmal, dass sie als Kind gerne Klavier gespielt hätte, aber ihr Vater wollte kein Klavier im Haus haben.) In der Schule liebte sie das Singen, sie haben zweistimmig gesungen. Sie konnte sich noch an den Namen ihres Musiklehrers erinnern, den ich aber nicht verstanden habe. Hildegard war ihre älteste Schwester, dann kam Petheda, dann Henriette, dann Paula (die als Säugling oder Kleinkind gestorben ist), dann Doris. Doris heißt eigentlich Doris Paula. Ihre Mutter Paula Margarethe, geborene Meier, Tochter von Margarethe Johanna Meier.


*


In meiner Kindheit sang mir Mama oft dieses Lied vor, dass sie wohl in der Baltrumer Gitarrengruppe gesungen hat:


In einen Harung jung und stramm,

zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

der auf dem Meeresgrunde schwamm,

zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder,

verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder.


Der Harung sprach: Du bist verrückt,

zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

du bist mir viel zu plattgedrückt.

Zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

rutsch mir den Buckel ´runter, du olle Flunder!

Rutsch mir den Buckel ´runter, du olle Flunder!


Da stieß die Flunder auf den Grund,

zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

wo sie ´nen goldnen Rubel fund,

zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

ein Goldstück von zehn Rubel, o welch ein Jubel!

Ein Goldstück von zehn Rubel, o welch ein Jubel!


Da war die olle Schrulle reich,

zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

da nahm der Harung sie sogleich,

zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung,

denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung.

Und die Moral von der Geschicht?

Zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

trau einem alten Harung nicht,

zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,

es sei denn du hast Zaster, du olles Laster,

es sei denn du hast Zaster, du olles Laster.


*


Dies die erste Strophe von Schillers Glocke:


Friedrich Schiller


Das Lied von der Glocke


Fest gemauert in der Erden

Steht die Form aus Lehm gebrannt.

Heute muß die Glocke werden,

Frisch, Gesellen, seid zur Hand!

Von der Stirne heiß

Rinnen muss der Schweiß,

Soll das Werk den Meister loben;

Doch der Segen kommt von oben.


*


Telefon-Protokoll:


In der Handelsschule in Norden habe ich viel gelernt. Ich hatte Staatsbürgerkunde, aber das war nicht mein Fach, dann hatte ich Deutsch und zwei Jahre Englisch, dann kaufmännisches Rechnen und Buchführung, Stenographie-Schnellschrift und Schreibmaschine mit Zehn-Finger-System, da war ich superschnell, dazu hatte ich etwas Hauswirtschaft, musste z.B. einen Rock nähen. Du fragtest, ob ich Freundinnen in Norden hatte. Ich wohnte in Norden in der Baumstraße mit einer Freundin aus Juist zusammen, die Irma hieß. Die Dritte im Bunde war Ina Eisen, die stammte von Borkum, sie wohnte nahebei. Dann bin ich nach Norddeich gezogen und wohnte mit Irma bei Verwandten von ihr. Richtige Freizeit-Hobbys nach der Schule hatten wir nicht. Nach der Schule sind wir zum Norddeicher Bahnhof gelaufen und mit dem Zug nach Norden gefahren, dort in der Innenstadt spazieren zu gehen und Jungs anzugucken. Damals hab ich auch einen kleinen Freund zum Spazierengehen gehabt, so zwei Stunden, das war aber nichts Ernstes.


*


Johann war damals bloß ein Mitschüler, nicht mein Freund. Insgesamt war ich 2 Jahre auf der Handelsschule. Dann hab ich bei der Baltrumfähre bei Opa im Büro gearbeitet auf Baltrum. Dann hat Opa mir Arbeit vermittelt im Winter im Reisebüro in Mittenwalde an der Grenze zu Österreich oder im Reisebüro in Hannover. Du fragst nach meinen Zöpfen. Ich hatte als Kind lange blonde Zöpfe, die hab ich ungefähr mit 12 Jahren abgeschnitten, ich hatte als erstes Mädchen auf Baltrum eine Dauerwelle.


*


Dann hab ich bei Firma Stadtlander auf Baltrum im Büro gearbeitet. Das war der Haupteinkaufsladen auf Baltrum, da gab es von Fotoentwicklung bis Bollerwagen alles. Ich hab da angefangen, weil Opa bei der Baltrumfähre Ärger mit den Mitbesitzern hatte, damit wollte ich nichts zu tun haben. Die Besitzerin von Stadtlander sagte: Wenn du einmal heiratest und ein Kind bekommst, will ich Patin werden. Das war Renate Klein, die wurde dann Stefans Patin. Dann ging ich ganz ins Reisebüro in Hannover, ich wollte von Zuhause weg, weil Opa zu sehr dem Alkohol zugesprochen, ich dachte: Das mach ich nicht mehr mit! Im Reisebüro in Hannover hab ich dann Papa kennen gelernt, der kam von der Eisenbahn. Wir sind ja auch später immer gerne gereist. Papa war meine erste Liebe. Vom Reisebüro Mittenwalde aus hab ich Reisen mitgemacht nach Bozen und Meran, und im Reisebüro Hannover kam ich günstig an Flüge und bin nach Sizilien geflogen.



DRITTER TEIL

MEIN ELTERNHAUS


Ich war vielleicht vier Jahre, jedenfalls konnte ich schon Fahrrad fahren, mein erstes kleines Kinderfahrrad. Ich trug eine kurze bayrische Lederhose. Mein Haar war hellblond und kurz geschnitten. Ich fuhr, so schnell es ging, vom Blaufärberweg auf die Auto-Auffahrt, den schmalen Weg zwischen der Garage und Nachbars Bohnenbeeten vorbei, um die Ecke, über den Rasen und - fuhr direkt in den Graben, der unseren Garten von Lenz' Park trennte. Das ist eine meiner frühsten Erinnerungen.


*


Stefan war zwei Jahre älter als ich, aber von Ende August bist Anfang November war er drei Jahre älter. Kindliche Mathematik. Zwischen unserm Garten und Lenz' Park, vor Omas Küchenfenster stand ein Haselnussbaum, in den Stefan kletterte, aber herunterfiel und mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus musste. Ich bin auch einmal in einen Baum geklettert und auch heruntergefallen und zwar direkt in die Brennesseln, mit nackten Armen und Beinen. Nur die Nachbarin Frau Reimer hörte mein Wehgeschrei, kam und verarztete mich in ihrer Küche mit "Onkel Reimers gutem Schnaps".


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In Lenz' Park, vor meinem Zimmerfenster, stand ein schöner alter Kastanienbaum. Stefan und ich hatten ein blaues Schiffstau hineingehängt, so konnten wir gut in den Baum klettern. Auf dem Kastanienbaum sammelten sich die Tauben und gurrten. Hinter Lenz' Park stand die kleine Katholische Kapelle Sankt Wiho, und man sah den schiefen Kirchturm der evangelischen Kirche Sankt Ansgari, Stefans und meiner Taufkirche. So war das das Bild meiner Kindheitsheimat: Kastanienbaum, Taubengegurr und Glockenläuten. Als Papa und Mama mir später in Oldenburg eine Wohnung kaufen wollten, sah ich in einer Wohnung vorm Balkon einen Kastanienbaum, hörte von dort Taubengurren und in der Nähe Kirchenglocken (der Katholischen Kapelle Sankt Christopherus und der evangelischen Kirche Martin Luther). Da wusste ich, hier kann ich Heimat finden.


*


Am Ende unseres Gartens hatte Papa einen kleinen Obstgarten angelegt, da wuchs Rhabarber, Stachelbeeren, schwarze und rote Johannesbeeren. Von dem Rhabarber machte meine Mutter leckeren Pudding, mit warmer Vanillesauce serviert. Von den Stachelbeeren machte sie einen leckeren Kuchen, die sauren Stachelbeeren versüßte sie mit Baiser, weißem Zuckerschaum. Aus den Johannesbeeren machte sie Gelee. Wir gingen auch mit den Eltern in den Wald und sammelten wilde Brombeeren und Himbeeren. Mama machte Marmelade darauf. Oder wir gingen auf die Erdbeerplantagen und sammelten Erbeeren für Marmelade und Torte. Wenn Mama Erdbeermarmelade machte, freute ich mich immer über den Erdbeerschaum. Wenn Oma (die nebenan wohnte) Geburtstag hatte, am 2. Juni, durfte ich mir immer einen Kuchen wünschen, dann wünschte ich mir selbstgemachte Erdbeertorte mit Schlagsahne.


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In Lenz' Park, den wir pflegten und nutzen durften, stand ein alter knorriger Apfelbaum. Die Apfelsorte hieß Boskop, die waren groß und recht sauer. Aber ich liebte sie. Als ich das Lesen für mich entdeckt hatte, aß ich beim Lesen immer Boskop-Äpfel. Aber den "Griepsch", das Gehäuse, ließ ich im Zimmer liegen, worüber meine Mutter mit mir schimpfen musste. Neben dem Boskop-Baum standen da auch noch ein Birnbaum, ein Pflaumenbaum, ein Baum mit süßen Kirschen, da war ein Brombeerstrauch, weiter stand da eine fast dreihundertjährige Blutbuche, und zur Osterzeit war der Park bedeckt mit weißen, gelben und violetten Krokusblumen. Von daher kann ich sagen, dass der Krokus eigentlich meine Lieblingsblume ist, den ich später in Oldenburg im Garten meiner Freundin Evi beobachtete, wenn ich unterm Kastanienbaum auf der Wiese lag, dem Taubengurren lauschte, den Schmetterlingen zuschaute und den Hummeln, wie sie die Krokusblüten heimsuchten, das ist die Erotik der Natur.


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Aber nicht nur süßes Obst liebte ich, sondern auch das künstliche Brausepulver mit Waldmeistergeschmack. Ich feuchtete den Zeigefinger mit Speichel an, steckte ihn in die kleine Papiertüte, das Brausepulber schäumte auf und blieb am Finger haften, den ich dann ableckte. Dazu las ich einen epischen Roman von Michael Ende, indem auch chinesische Mandarinen und die Prinzessin Ping-Pong vorkamen. Auch kaufte ich mir manchmal eine Tüte mit Weingummi am Kiosk. Besonders liebte ich auch die Dänischen Lakritze, die Mama und Papa von Butterfahrten mitbrachte. Mama hatte in der Küche in einem Schrank sehr hoch oben ein großes Glas mit Bonbons, eigentlich unerreichbar und uns nur spärlich zugeteilt. Aber manchmal, wenn ich allein war, kletterte ich auf die Spüle und klaute mir einen Bonbon. Auch hatte Mama in Papas spärlich frequentierter Bar ein Packung mit Schokolade-Minze-Täfelchen, daraus ich mir manchmal den Inhalt raubte, die Packung leer zurückließ, "damit es keiner merkt". Wenn ich mir einmal Kartoffelchips kaufte, sagte mein Vater: So etwas essen nur primitive Leute. - Ich wollte zwar nie zu den primitiven Leuten gehören und war mir auch immer bewusst, nicht einer von denen zu sein, aber heimlich aß ich doch Kartoffelchips. Oma hatte in ihrem Wohnzimmerschrank eine Schale mit Bonbons, und wenn ich zu ihr kam, durfte ich mir öfter einen kleinen Bonbon nehmen.


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Die hochberühmte Nachtigall habe ich nie gehört. In unserm Garten waren vor allem die Amseln unsere täglichen Gäste, das Weibchen in braungrauer Tarnfarbe zum Schutz der Brut, das Männchen im samtschwarzen Frack und goldgelbem Schnabel. Die Amseln nahmen Schneckenhäuschen in den Stabel und zertrümmerte sie auf einem Pflasterstein, um an das leckere Innere, das weiche Fleisch der Schnecke zu kommen. Auch Meisen waren in Lenz' Park, ich glaube Blaumeisen, die schön sind wie schwebende blaue Blumen. Von meinen geliebten Tauben hab ich schon gesprochen. Ich kannte natürlich das Märchen von Aschenputtel mit seinem Ruckediguh. Später, wenn ich eine Taube vom Himmel schweben sah, dachte ich spontan, der Heilige Geist kommt auf mich herab. Aber auch Schwalben bauten ihr Nest an unserer Garage. Wenn ich später in einem alten chinesischen Gedicht übersetzte: Und wie ein Schwalbenpaar bauen wir unser Nest an des Edlen Haus, dann musste ich an die Schwalben meines Elternhauses denken.


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Vor Omas Hintertür, die zur Küche führte, waren unter den Steinplatten immer viele Ameisen. Da Oma nicht wollte, dass die in ihre Küche kamen, übergoss sie den ganzen Palast der Königin mit heißem Wasser. Ich verteidigte das Recht der Ameisen auf Leben. Auch waren in dem kleinen Beet vor unserer Terrasse immer viele Nacktschnecken, die die Nutzpflanzen zerfraßen, und gegen sie wurde gekämpft, indem man Salz auf ihre nacktes Fleisch streute. Ich selbst aber war auch grausam: Im Winter sperrte ich einen Frosch in einen Topf mit Wasser ein und ließ ihn im Eis einfrieren. Da waren auf den Steinen unserer Terrasse kleine winzige Tierchen, wie hellrote Punkte, die, wenn ich sie mit dem Finger zerdrückte, dennoch weiter leben. Auch staunte ich sehr über den Regenwurm, der, wenn ich ihn in der Mitte mit dem Messer durchschnitt, als zwei kleine Regenwürmer weiter lebte.


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Da wir nah an der Nordseeküste wohnten, bekamen wir vom Hafen in Norddeich immer guten Fisch. Mama briet auf der Terrasse den Fisch, damit nicht das ganze Haus danach roch. Besonders liebte ich die panierten Seezungen, aber auch die gebratenen Schollen und den Brathering. Aber Kult war es, wenn Mama einen Beute Krabben mitbrachte. In Ostfriesland gibt es ja Wettbewerbe, wer am schnellsten Krabben puhlen konnte. Mama und ich puhlten die Krabben, und es gab diese dann auf einem kräftigen Schwarzbrot mit Butter, manchmal noch mit einem Spiegelei. Auch kam immer Freitags der Fischwagen an den Blaufärberweg, wohl noch aus Erinnerung an alte christliche Zeiten: Freitags ist Fisch-Tag, da fasten wir und enthalten uns des Fleischgenusses, weil der Herr Jesus am Freitag für uns gekreuzigt worden ist.


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In der Adventszeit backte Mama leckere Kekse, besonders gut waren die Vanillekipferln und die Haferflockenplätzchen. Mama sagte dann: Abendrot, Abendrot, die Englein backen Brot. Zum heiligen Nikolaus stellten wir am Vorabend einen Teller mit Schwarzbrot vor die Haustür, für das Pferd des heiligen Nikolaus. Der gute Bischof ließ uns dafür ein Stiefelchen voll Schokolade da. Abend am heiligen Nikolaustag ritt dann der heilige Bischof auf seinem Pferd durch Hage, warf Bonbons unter die Kinder. Hinter ihm ritt sein schwarzer Knecht Ruprecht mit der Rute für ungezogene Kinder. In der Adventszeit sang Mama mit uns Weihnachtslieder, manchmal spielte ich flöte dazu. Mama konnte sehr schön singen. Stille Nacht, heilige Nacht, einsam wacht nur das hochheilige Paar, Knabe im blonden lockigen Haar, Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem, ihr Kinderlein, kommet, o Tannenbaum, süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit, ich steh an deiner Krippe hier, Maria und Josef, die lagen im Stroh... Mama und Papa schlossen das Wohnzimmer ab, drinnen wurden die Geschenke unter den Weihnachtsbaum gelegt, der war erleuchtet von echten Kerzen, nicht etwa von elektrischem Licht, es hieß, Kinder, der Weihnachtsmann ist gerade da. Wir gingen dann erst zu Oma rüber, da war zuerst Bescherung. Meistens bekam ich von Oma einen Schlafanzug, einen Taler und Schokolade. Oma hatte Heringssalat gemacht, das war mit Kartoffeln unser Festessen. Dan gingen wir wieder in unser Haus zur Bescherung. Das schönste Weihnachtsgeschenk war ein Fort mit Yankees, Cowboys und Indianern. Einmal bekam ich einen technischen Baukasten geschenkt, darin war ich aber nicht sehr geschickt. Mitternachts gingen Oma und Mama mit Stefan und mir in die Ansgarikirche zum Wehnachtsgottesdienst. Mama sang: Es ist ein Ros entsprungen, und ich verstand: Es ist ein Ross entsprungen. Da war die Krippe, der Stall von Bethlehem, die schöne Maria mit ihrem Josef, die heiligen drei Könige, die Hirten, das Jesusbaby. Oma hat auch in der Vorweihnachtszeit gebacken, vor allem Christstollen. Wenn sie dann zu Neujahr Neujahrskekse backte, gab sie mir den gebackenen Teig und ich rollte sie an einer hölzernen Wäscheklammer zum Röllchen.


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Sylvester Abend ging Papa mit Stefan und mir hinters Haus und entzündete Feuerwerk, aber keine Raketen, sondern Sonnenräder, die waren wir kreisende, tanzende, Funken sprühende Sonnen. Dann kamen wir Brüder zu Oma und schliefen bei Oma. Mama und Papa gingen dann feiern zu Freunden. Vor Mitternacht weckte uns Oma, wir bekamen Limonade und Salzstangen und guckten uns Sylvesterfeiern im Fernseher an. Um Mitternacht traten Oma, Stefan und ich auf dem Blaufärberweg uns das Feuerwerk über Hage an. In den kommenden Tagen knallte ich noch mit den sogenannten Laubfröschen, die ich in Spielzeugautos steckte und so die Autos in die Luft jagte.


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Sitz nicht so nah vorm Fernseher, sonst kriegst du viereckige Augen! mahnte Mama. Ich erinnere mich an die Winnetou-Filme. Old Shatterhand hätte ich gerne zum Vater gehabt. Mit meinem Freund Andreas Budde spielte ich Cowboy und Indianer, er war schwarzhaarig, also war er Winnetou, ich war blond, ich war Old Shatterhand, und Karin Kunze war schwarzhaarig und war Nscho-Tschi, die Squaw, die ich versuchte zu küssen. Aber ich erinnere mich auch noch an viele Filme mit Marilyn Monroe, die ich nicht als ein Lustobjekt betrachtete, ich war ja noch ein Kind, nein, sie war so etwas wie eine Mutter für mich. Ja, ich war das Kind von Old Shatterhand und Marilyn Monroe! Auch erinnere ich mich an die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste, eine Art Marionettentheater für Kinder. Und ich liebte die Sendung mit dem Bücherwurm, das war ein Wurm, der die besten neuen Kinderbücher vorstellte. Aber vor allem kam Musik aus dem Fernseher. Mama liebte ja die Musik. Ich bin mit der Schlagermusik der siebziger Jahre groß geworden. Wir sahen den europäischen Schlagerwettbewerb, hörten allwöchentlich die Schlagerhitparade. Vielleicht hab ich so reimen gelernt und nicht etwa von Rainer Maria Rilke. Aber den stärksten Eindruck hinterließ die schwedische Disco-Gruppe Abba, deren Musik harmonisch und fröhlich war, und die junge blonde Sängerin Agneta war keine Frau, sondern eine schwedische Göttin.


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Meine Eltern hatten sich von Freunden ein Lamm geliehen, das weidete von Frühling bis Herbst in Lenz' Park, bis es zurückgegeben wurde. Es waren mehrer Lämmer mehrere Jahre bei uns. Über ein Schaf schrieb ich ein Gedicht: Fressen, Pissen, Schlafen, so geht sein Leben hin. Einmal hatten wir ein schwarzes Lamm, das nannten wir Petra, das starb aber an einem Bandwurm. Die Schafe standen angepflockt im hohen Gras des Parkes und ersparten die Sense, der Pflock wurde immer wieder versetzt. Aber einmal, als meine Eltern im Urlaub waren und ich bei Oma wohnte, hatte der Regen den Boden aufgeweicht, das Schaf hatte den Pflock herausgezogen und war fortgelaufen. Ich eilte hinterher, es wieder zu bringen. Nachbarn hatten es gefunden und mir wieder übergeben. Ich kam deswegen zu spät zur Schule und sagte dem Lehrer entschuldigend: Ich musste erst unser Schaf einfangen. Und die ganze Klasse lachte.


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Ostern feierten wir eigentlich nicht christlich, sondern heidnisch. Mama legte Eier in Salzwasser ein, die Soleier wurden dann mit Essig, Öl, Salz und Pfeffer gefüllt gegessen. Mama färbte auch Ostereier, aber nicht mit künstlicher bunter Farbe, sondern mit Zwiebelschalen, was ein schönes Braun ergab. Mit Papa gingen Stefan und ich in den Garten und spielten Boccia mit bunten Ostereiern. Bei Oma gab es bunte Eier, Schokolade und einen Taler in einem grünen Osterhasennest. Zu Ostern kamen aber damals noch christliche Spielfilme im Fernsehen. Ich erinnere mich an einen Jesusfilm, und zwar einzig und allein an die Szene, da Petrus den Jesus dreimal verleugnet hatte, wie Jesus ihn da anschaute, und Petrus bitterlich weinte. Diesen Blick Jesu habe ich tief in der Seele empfunden. Auch sah ich den Film Quo Vadis über die römische Christenverfolgung unter Kaiser Nero. Daher kommt wohl meine große Liebe zu Petrus, der mir persönlich der liebste unter den Aposteln ist. Wenn wir auf einem Spaziergang Angler an einem Wasser sahen, sagte Mama: Petri Heil!


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Sonntags gingen wir zwar nicht in die Kirche, aber es war uns doch ein besonders feierlicher Tag. Am Sonnabend hörten wir abends im Fernseher die kurze Predigt, das Wort zum Sonntag. Meine Indianerfreunde im Wald sagten zu mir: Predige uns nicht schon wieder das Wort zum Sonntag! Am Sonntagmorgen frühstückten wir nicht wie sonst in der Küche, sondern im Wohnzimmer. Es gab statt der gewöhnlichen Margarine gute Butter. Mama machte im Radio klassische Musik an, manchmal gab es im Radio noch eine Sonntagsandacht. Oma zog am Sonntag immer ein besonders schönes Kleid an und trank den Tee aus einem besonders festlichen Geschirr.


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In der Schule hatten wir Religionsunterricht, ich bekam dazu eine bebilderte Kinderbibel. Ich erinnere mich an einen Nachmittag in der blauen Dämmerung, da las ich allein zuhause in meinem Zimmer ain der Kinderbibel. Ich las vom Knaben Samuel, der im Tempel Gottes lebte mit dem alten Priester Eli. Nachts hörte er eine Stimme ihn rufen: Samuel, Samuel! Der Knabe dachte, der alte Priester habe ihn gerufen und ging zu ihm, der aber schickte ihn wieder ins Bett. Da hörte er wieder die Stimme seinen Namen rufen. Er ging wieder zu dem Priester, und der erkannte, dass Gott den Knaben anruft und sagte: Nächstes Mal, wenn du gerufen wirst, sage: Rede, Herr, dein Knecht ruft. So tat der Knabe, als er zum dritten Mal beim Namen gerufen wurde: Rede, Herr, dein Knecht hört. - Als ich das las, sah ich die Szene lebendig vor mir, wie der Knabe Samuel von Gott zum Propheten berufen hatte. Meine erste Berufung war ja meine Taufe am 16. Januar 1966, aber diese Szene war meine zweite Berufung.


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Eines Tages hatte ich ein neues Buch: Germanische Götter und Heldensagen. Da war von Thor die Rede, dem Donnergott. Ich bin ja nach ihm benannt. Torsten heißt: der Steinhammer des Donnergottes! Da war ein prosaische Nacherzählung des Nibelungenliedes. Ich liebte die ersten siebzehn Abenteuer bis zum Tode Siegfrieds. Kriemhilds Rache und König Etzel, den Hunnen, das war mir zu grausam. Da gab es aber auch das schöne Gudrunlied, die christliche Schwester des Nibelungenliedes, das spielte in Dänemark und Friesland und Sturmland - meiner Heimat. Und wenn von Kriemhilde oder Gudrun die Rede war: Und das holde Mägdelein mit seinen langen Zöpfen schaute aus der Kemenate auf den Recken - dann dachte ich an meine blonde Nachbarin Gudrun. Dazu kamen unsere häufigen Sommerferien in Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland, bis zum Nordkap. Und so habe ich in meiner Kindheit die germanische Seele tief in mich aufgenommen. Ich war nicht ein Ostfriese aus dem Landkreis Norden, ich war ein Germane, einer vom stolzen alten Volk der Friesen! Eala freya fresena - es lebe das freie Friesland!


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Papa hatte mir verboten, Comics zu lesen. So musste ich mir meine Indianercomics heimlich kaufen. Ich legte sie in eine Schatzkiste und vergrub sie in Lenz' Park, wo ich sie heimlich im Baumschatten las. Mein Onkel Arno las Groschenhefte vom Bahnhof, Cowboygeschichten zweispaltig auf schlechtem Zeitungspapier. Er schenkte mir einige Hefte. Papa verbot mir, so etwas zu lesen. Wütend warf ich meine guten Kinderbücher aus dem Regal und rief: Dann will ich das aber auch nicht mehr lesen. Nachträglich bin ich Papa dankbar dafür. Er hat zwar selbst keine Bücher gelesen, nur sozialdemokratische illustrierte Zeitschriften wie Ster und Spiegel, aber er hatte Acht darauf, dass ich keinen Schund lese. Oma las auch Groschenhefte, Arztromane. Sie hatte in der Küche einen Kalender, auf dem jeden Tag ein neuer Weisheitsspruch stand, den lasen wir immer zusammen. Einmal fragte ich Oma, ob sie in der Schule auch Goethe gelesen. Da lachte sie und sagte: Goethe? Ach mein lieber Junge!


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Mein erstes Kartenspiel, dass ich öfter mit Stefan und Mama spielte, war das einfache Mau-Mau. Dann brachten Papa und Mama uns Rommée und Canasta bei, das spielten wir zu viert. Wenn ich allein war und mir die Zeit vertreiben wollte, legte ich mit Karten Patiencen. Papa war sehr gut im Skat. Ich hab es nie begriffen. Papa traf sich regelmäßig mit Freunden zum Skatspielen, sie saßen dann zu viert im Wohnzimmer, die Ehefrauen spielten mit Mama in der Küche ein anderes Kartenspiel. Papa gewann auch oft bei Skatwetbbewerben große Schinken. Auch spielten Stefan und ich mit Karten, da man Autos oder Schiffe oder Flugzeuge mit ihren Stärken gegeneinander antreten lässt.


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Als Stefan noch klein war, da konnte er das nuckeln nicht lassen. Er nuckelte am Daumen, er nuckelte am Zipfel der Bettdecke. Mama strich Daumen und Zipfel mit einer bitteren Flüssigkeit ein, und Stefan verlor die Lust am Nuckeln.


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Papa hatte mir in seinem Werkzeugkeller ein Gewehr aus Holz gebastelt, damit ich mit meinen Freunden im Wald Indianer spielen konnte. Einmal hat er mir auch Pfeil und Bogen gemacht, damit ich Robin Hood spielen könne. Mein Holzgewehr hat mir der Nachbarsjunge Uwe geklaut, er leugnete es zwar, aber ich sah es bei ihm. Als ich mir aber im Geschäft kleine Soldatenfiguren und kleine Panzer gekauft hatte, hat Papa mir verboten, damit zu spielen. Als ich ihm sagte: Ich bin schon seit drei Tagen im Krieg mit meinen Freunden, da sagte Papa, der zweite Weltkrieg habe sechs Jahre gedauert, da war ich doch sehr erschrocken. Später, als ich mit meiner Freundin Karine ihre Kinder erzog, hatte mein lieber Juri von seinem Zeuger auch Soldaten und Panzer geschenkt bekommen. Karine und ich sahen uns nur an und warfen gemeinsam das Kriegsspielzeug in den Mülleimer.


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Die erste Poesie, die ich kennen lernte, war die Bibel und die Kirchenlieder. Dann kamen in kindlicher Form Edda, Nibelungenlied und Gudrunlied. Dann aber hörte ich in der Vertonung einer deutschen Musikgruppe die ersten Gedichte meines Lebens, von dem deutschen Romantiker Novalis: Wenn die so singen oder küssen / mehr als die Tiefgelehrten wissen. Und: Wer Schmetterlinge lachen hört, / der weiß wie Wolken schmecken. Und eine andere deutsche Musikgruppe zitierte das Gedicht an die Göttin der Morgenröte vom französischen Genie Arthur Rimbaud.


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Die erste Geschichte, die ich schrieb, war eine Festsschrift zum Geburtstag meiner Oma, ein Fest beschreibend, da die Gäste in den Bäumen saßen und Trompeten bliesen und der Pastor kam mit der Bibel. Mit dreizehn Jahren saß ich in meinem Zimmer zur Stunde der blauen Abenddämmerung und schaute auf die Schwarzerle vorm Fenster und auf den Himmel und schrieb meine ersten Verse in ein Schulheft, zeigte es meinen Eltern, die aber nichts dazu sagten. Dann schrieb ich für meinen Vater zum Geburtstag eine Kriminalgeschichte, die von einem kriminalisierenden Pastor handelte und einer mörderischen Giftspinne. Mit meinem Freund Christian machte ich eine kleine Zeitung in einer Auflage von sieben Exemplaren, da ich ein Gedicht veröffentlichte und einen Text über ägyptische Hieroglyphen. Dann kaufte ich mir ein Blankobuch, auf dem Umschlag stand: Notizen eines verkannten Genies, und in dieses leere Buch schrieb ich meine ersten Gedichte, hauptsächlich Liebeslyrik in freien Versen für meine Pubertäts-Geliebte Hedda.


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Papas Bruder Onkel Hartmut hatte vier Töchter, einmal kam meine Cousine Petra zu Besuch, es war Sommer, wir spielten halbnackt im Garten, und Papa spritzte uns mit Wasser aus dem Wasserschlauch ab. Dann war ich mit Petra allein in meinem Zimmer. Wir spielten Wachküssen: Ich legte mich aufs Bett und tat, als ob ich schliefe, Petra kam und küsste mich wach. Das wiederholten wir so oft, bis wir uns genug geküsst hatten. Das war mein erster Kuss.


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Ich lernte in der Musikschule zwei Jahre lang Notenlesen und Flötespielen. Mama sang Weihnachtslieder und ich begleitete sie auf der Flöte. Zu Weihnachten bekam ich einmal eine chromatische Mundharmonika und ich übte O Tannebaum darauf. Dann bekam ich das alte Bahnhofsklavier von Omas Schwester. Ich hatte Herrn Krämer als Musiklehrer, der selbst Saxophon in einer Jazzband spielte. Erst musste ich Fingerübungen machen. Aber eines Tages konnte ich aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach spielen. Herr Krämer kam zu uns nach Hause, und auch Mama erfüllte sich ihren Kindheitswunsch, Klavier zu spielen. Später wollte ich dann keine Klassik mehr spielen, ich spielte stattdessen Blues und Boogie Woogie. Dann aber hörte das auf mit dem Klavierspiel. Ich bekam von Mama ihre akustische Gitarre geschenkt, mit der sie früher in der Baltrumer Gitarrengruppe gespielt hatte. Vorher bastelte Papa mir noch im Werkzeugkeller eine Gitarre ohne Saiten. Und wenn im Radio Eric Clapton von Layla sang, tat ich so, als ob ich die Gitarre spielte. Ich lernte die Blues-Tonleiter spielen. Einmal spielte ich Gitarre, da kam Mama rein und sagte: Na, lässt du sie wieder weinen? Papa kaufte mir dann eine elektrische Gitarre. Im Radio gab es eine Sendung, da wurde mit Bass und Schlagzeug der Blues-Rhythmus gespielt, und ich spielte auf der E-Gitarre mein Solo dazu. Mit einer Schulfreundin machte ich Musik, sie spielte Akkordeon und ich die E-Gitarre, wir spielten Lieder von den Beatles und Bob Dylan. Ich habe auch noch Blues-Mundharmonika gelernt, und noch lange mit Freunden musiziert. Aber eines Tages hörte alles Musizieren auf und ich liebte die Musik nur noch als Zuhörer. Als ich aber einmal meinem Onkel Arno, der in einem Männerchor sang, ein Lied zu Martini vorsang, sagte er: Du kannst nicht singen. Und er hat recht, ich bin nicht im geringsten in der Lage, mit meiner Stimme irgendeinen Ton zu treffen. Doch meine Liebe zur Musik hab ich wohl von Mama geerbt.


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Wenn Stefan und ich im selben Zimmer, ja im selben Bett einschliefen, erzählten wir uns meist schaurige Märchen vom Wolf im Walde. Natürlich kannte ich Grimms Märchen. Einmal kam Mamas Jugendfreundin und Cousine Ursel mit ihrem Mann zu Besuch. Der Mann stand abends im Badezimmer und rasierte sich nass (Papa benutze einen Rasierapparat und das Rasierwasser Tabac), der Mann setzte mir etwas Rasierschaum auf meine neugierige Nase und fragte, ob man mir auch Gutenachtgeschichten erzähle. Und dann erzählte er mir eine Gutenachtgeschichte.


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Ich war evangelisch-lutherisch getauft und konfirmiert. Ich war dreimal mit den katholischen Pfadfindern im Zeltlager. Und ich war in einer evangelikalen Freikirche zur Kinderbibelstunde. Das muss wohl die Vorsehung Gottes so eingerichtet haben, denn auch später im Erwachsenenleben als entschiedener Jünger Jesu hielt ich mich unter Katholiken und Lutheranern und Evangelikalen auf. Aber in meiner Kindheit kannte ich nur ein einziges Gebet, das ich oft wiederholte, mehr eine Art Stoßseufzer: Herr, wirf Hirn vom Himmel!


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Zu meiner Konfirmation kam mein geliebter Vetter Achim und schenkte mir eine Schallplatte von Eric Clapton. Papa hatte gesagt, ich müsse nicht wegen der Geschenke zur Konfirmation gehen, ich würde auch ohne Konfirmation Geschenke bekommen. Ich wollte aber zur Konfirmation. Oma gab mir ihre Bibel, die sie 1927 auf Baltrum vom Pastor zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatte, eine Lutherbibel in Frakturschrift (ich habe sie nach Omas Tod von Mama geerbt und hüte sie als kostbare Reliquie) und ihr Gesangbuch: Ein feste Burg ist unser Gott! Im Konfirmationsunterricht lernte ich das Vaterunser auswendig, vor Kerzen dachten wir an die armen Kinder in Afrika, dann sangen wir als Friesen noch den Shanty what shall we do with a drunken sailor! Dann war ich im schwarzen Anzug zum ersten evangelischen Abendmahl eingeladen. Als ich vor dem Kelch kniete bekam ich Nasenbluten. Es musste wohl so sein, denn ich ward berufen, nicht nur das verblutende Herz Jesu anzubeten, sondern selbst ein verblutendes Herz zu haben...


Damit beende ich meine Kindheitserinnerungen.




VIERTER TEIL

VOM HASCHISCH



Ich wohnte bei meinen Eltern und hatte Kontakt zu unserem Nachbarn Uwe, der zwei Jahre älter war als ich, und der eine große Schallplattensammlung mit Krautrock hatte. Bei ihm lernte ich Eloy und Novalis kennen. Eines Tages schenkte er mir einen kleinen Brocken Hasch. Ich wusste nicht, wie damit umgehen. Ich legte es auf einen Teelöffel und erwärmte den Teelöffel mit einem Feuerzeug, dann tat ich das Haschisch in eine Tasse Tee. Ich stellte aber keine Wirkung fest. Aber das war der Anfang.


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Mein Freund Christian hatte zuhause eine kleine selbstgebastelte Wasserpfeife, ein kleiner Pfeifenkopf von der Größe einer Zigarettenspitze, auf einem ordinären Wasserglas. Ich fragte, was das sei. Er log, das sei, um Zigarettenrauch zu kühlen. Dann aber gestand er, es sei, um Haschisch zu rauchen. Nun erlebte ich meinen ersten Rausch. Wir hörten Genesis, the Lamb lies down on Broadway. Ich saß im Sessel, er stand über mir, ließ eine Schere über meinem Oberkörper fallen, fing sie wieder auf, das wiederholte er mehrmals, ich war gequält und geängstigt, aber ich war vom Haschisch so gelähmt, dass ich micht nicht im geringsten bewegen oder wehren konnte. Dennoch hat mich das nicht abgeschreckt, sondern ich war nun süchtig geworden, vielleicht wegen dem intensiven Genuss der psychedelischen Musik.


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Ich hatte mit Christian Haschisch geraucht. Er hatte aus dem Physiklabor der Gymnasiums einen Liebigkühler geklaut und daraus eine Wasserpfeife gemacht. Da rief mich meine Geliebte Hedda bei Christian an, ihr Fahrrad sei kaputt, ob ich kommen könne, es zu reparieren. Ich dachte: Was für ein profanes Alltagsthema! Ich schwebe gerade in goldenen Wolken, auf den Flügeln der Musik, und sie will, dass ich irdische Praxis übe. Ich ging dennoch hin, benahm mich aber beim Versuch, das Fahrrad zu reparieren, dermaßen ungeschickt und weltfremd und psychisch-merkwürdig, dass Hedda fragte: Was hast du, was ist mit dir? Ich sagte ihr nichts von meinem Rausch. Dabei hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihr etwas Wesentliches vorenthielt und Geheimnisse mit ihr hatte.


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Bei meinem Freund Christian drehte sich im Leben alles nur noch ums Haschisch. Er züchtete selber Hanfpflanzen in seinem Zimmer. Er las Carlos Castaneda, was mir nie gefallen hat. Er saß mit drei andren Freaks auf dem Sofa, sie rauchten ein gewaltiges Kawumm-Pfeifenrohr, und saßen dann schweigend und apathisch zusammen. Er las Bücher über Drogen wie Tollkirsche, Stechapfel und Kokain. Ich aber hatte Gorkis Mutter gelesen und über die Friedensbewegung Kontakte zum Marxismus und Leninismus bekommen. Weder der Drogenrausch mit Christian noch die sexuellen Räusche mit Hedda befriedigten meine Seele, ich suchte mehr, die Befreiung der Menschheit, den Weltfrieden, und meinte das im Kommunismus zu finden. Auf meine Reise in den Kommunismus nahm ich aber das Haschisch mit.


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Ich hatte einen Freund kennengelernt, Michael, ein Arbeitersohn, ohne Interesse an der Ideologie, mit ihm rauchte ich Haschisch, wir hörten dann Pink Floyd, die psychedelische Musik und das Haschisch erzeugten Visionen oder Halluzinationen. Eines Abends ging ich berauscht mit Michael zu Christian. Wir kamen an einem Wald vorbei. In meiner Tasche hatte ich meine Blockflöte. Ich nahm den Flötenkopf ab, blies hinein und fächelte mit der Hand vor der Öffnung, so erzeugten Atem und Holz sehr hohe, singende Töne. Da kam aus dem Wald eine Fledermaus und umkreiste mich. Ich hörte auf zu flöten, sie verschwand. Ich flötete wieder, sie kam zurück zu mir. Das muss wohl Orpheus so gegangen sein, als er seine Klagelieder für seine tote Eurydice spielte und die ganze Natur ihm folgte.


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Mit Christian trampte ich durch Deutschland. Und in der Nähe von Frankfurt nahm uns ein Wagen voll junger Leute, Männer und Frauen, mit, die in Partylaune waren und lachten. Eine junge Frau stand aufrecht im Cabriolet. Wir hörten Genesis, lilywhithe Lilith. Der Wagenlenker war der Sohn des berühmten deutschen Schriftstellers Peter Härtling, der einen Roman über Hölderlin geschrieben hat (den ich nie gelesen habe). So kam ich in das Haus von Peter Härtling. Dort habe ich mit seinem Sohn im Wohnzimmer Haschisch geraucht. Die Wände waren voller Bücher, ich erinnere mich an die Gesamtausgabe von Marx und Engels


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Christian hatte Stechapfel gesammelt. Wir hatten uns in meinem Zimmer im elterlichen Haus verabredet, und wollten zusammen Stechapfeltee trinken. In einem Buch stand, dass ein so Berauschter über eine Straße ging, weil keine Autos dort fuhren, dachte er, es fuhren aber sehr viele Autos dort, die er nicht sah und hörte. Christian und ich bekamen plötzlich - Gott sei Dank - Angst und tranken den Stechapfeltee nicht.


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Ich hatte im Umfeld der kommunistischen und Friedens-Bewegung Friedrich und Theda kennen gelernt, die ein Paar waren. Thedas Mutter war eine stadtbekannte Feministin, die Bücher über die Große Göttin schrieb. Friedrich hatte mich zu sich aufs Land eingeladen zum Haschischrauchen. Er hatte extra für mich Brausepulver gekauft, puren Zucker mit künstlichem Fruchtgeschmack, der schäumte im Mund, wenn er sich mit dem Speichel vermischte. Auch Schokolade schmeckte im Haschischrausch süßer. Theda aber bat mich, als sie in Sommerurlaub fahren wollte, solange ihre Marihuana-Pflanzen bei mir zuhause zu pflegen. Wir hatten hinterm eigenen Garten einen verwilderten Park. Da war eine Wiese voll von Brenn-Nesseln. Mitten unter diese stellte ich die Töpfe mit Thedas Marihuana-Pflanzen. Aber wir hatten in dem Park auch ein angepflocktes Schaf, das sich eines Tages losgerissen hatte und Thedas Pflanzen alle aufgefressen. Wie nun Marihuana auf Schafe wirkt, konnte ich nicht beobachten. Theda glaubte mir die Geschichte nicht, sie dachte, ich hätte alles selbst geraucht. Denn es gab unter den Haschischsüchtigen viel Egoismus und Diebstahl und Betrug, wie ich oft erfahren.


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In der Discothek "Meta" an der Nordsee hinterm Deich tanzte ich im Vollrausch von Bier, Wodka und Haschisch auf der highway to hell, unter dem Dröhnen von hell's bells. Ich sagte: ich tanzte, aber es war nur ein ekstatisches Zucken und berauschtes Taumeln. Da sprach mich Sonja an. Wir gingen über den Deich an die Nordsee und küssten uns. Ich verbrachte drei Monate, einen ganzen Winter in ihrem Bett, im Rausch von Alkohol und Rauschgift und im sexuellen Rausch. Aber innerlich fühlte ich mich wie ein einsamer Steppenwolf in der verschneiten russischen Taiga, den kalten Mond um Erbarmen anheulend. Ich hatte die Vision, dass ich in einem Moor immer tiefer versinke, dass meine Freunde am Rande stehen wie Baumstümpfe, mir aber keiner eine helfende Hand reicht. Sonja traf ich dann eines Tages nackt auf dem Schoß meines "besten Freundes" Volker. Das waren die berühmten Orgien des Dionysos.


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In meiner ersten eigenen Wohnung, einem Zimmer im Haus einer Witwe, habe ich den Rausch mit einer Frau erlebt. Ich las Berthold Brecht: Mags, wenn Tugend einen Hintern und ein Hintern Tugend hat. Und in dieser Vereinigung in einer Nacht, berauscht von Alkohol und Hasch, hatte ich in der sexuellen Ekstase Schauungen von himmlischen Erdbeerfeldern. Eines Tages hatte ich ein kleines Stück Haschisch gekauft, und als ich es aus der Aluminiumfolie auswickelte, sah ich, dass es schimmlig geworden war. In großer Angst mich zu vergiften warf ich das Haschisch weg. Später sagte mir ein Kiffer, der Schimmel sei das Beste am Haschisch.


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Ich traf mich mit Friedrich und Theda. Friedrich hatte eine originale orientalische Wasserpfeife. Er legte schweres schwarzes Afghanisches Haschisch auf. Ich wurde davon so schwer und bleiern, ich konnte mich nicht bewegen, nicht erheben. Ich war ganz der Musik und den akustischen und optischen Halluzinationen ausgeliefert. Schließlich schaffte ich es nachts aufs Fahrrad. Mein Weg nach Hause war eine lange einsame Landstraße. Ich fuhr, schien mir, durch einen Tunnel aus Stacheldraht, der sich immer enger zusammenzog. Ich hatte große Angst. Erst als ich vor einem Haus anhielt und von einem Baum einen Apfel pflückte, erlosch der Alptraum. Das habe ich ungefähr drei Nächte nacheinander erlebt. Immer erlöste mich der Apfelbaum.


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Eines Tages stand ich in meines Vaters Werkzeugkeller. Ich war berauscht und hatte vom Haschisch rote Augen. Mein Vater packte mich mit Gewalt und schrie: Sieh mir in die Augen! Nimmst du Drogen? Ich beschimpfte ihn wütend und schlug um mich. Meine Mutter kam dazu und rief verzweifelt: Dass ist nicht mehr mein Sohn! Ich erkenne meinen Sohn nicht wieder!


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Meine schulischen Leistungen hatten natürlich stark nachgelassen aufgrund des Dauerrausches von Wodka, Bier und Haschisch. In der naturwissenschaftlichen Fächern hate ich die schlechtmöglichste Zensur. Es ging noch etwas in Englisch, da wir Shakespeares Macbeth lasen. Ich liebte den Auftritt der Hexen. Aber ich fehlte auch oft im Englischunterricht. Freude machte mir nur der Deutschunterricht. Ich war verliebt in die junge Deutschlehrerin. Wir lasen Schillers Räuber, Thomas Manns Tod in Venedig und Nietzsches Geburt der Tragödie. Da ich in einem schweren Abgrund einer psychischen Krise versunken war, traf sich meine Deutschlehrerin mit mir zu einem seelsorgerlichen Gespräch. Sie riet mir, alles aufzuschreiben. Das tat ich auch. Ich führte meine ganze Jugend über ausführliche Tagebücher, die ich nach meiner Bekehrung zu Christus in der ausbrechenden Psychose alle im heimatlichen Wald verbrannte.


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Ich musste die elfte Klasse des Gymnasiums wiederholen. So lernte ich Erich kennen. Mit ihm zusammen schwänzte ich die Schule. Er hatte eine grüne Ente, mit der fuhren wir durch Ostfriesland und saßen in irgendwelchen Cafés. Ich las Lenin, völlig berauscht las ich seinen Kommentar zu Hegels Dialektik. Erich war Anarchist, er liebte Erich Mühsam, den anarchistischen Dichter. Mein Idol war Lenin, Erichs Idol war Ché Guevarra. Wir rauchten viel zusammen und hörten dann Bob Dylan. Wir machten auch Blues-Musik zusammen mit Gitarre, Blues-Mundharmonika und Gesang. Öfter übernachtete ich auch bei ihm. Eines Nachts fuhren wir in der Ente durch den ostfriesischen Nebel und kamen an eine Pferdeweide. Ich wollte die Pferde füttern und pflückte große Pflanzen und sie aßen sie gerne. Erst am nächsten Morgen merkte ich, dass es Brenn-Nesseln gewesen waren, die mich nun nüchtern brannten, berauscht hatte ich nichts gemerkt.


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Erich und ich waren beide in Maike verliebt. Wir waren zwanzig, sie dreizehn. Sie lebte allein, ihre Mutter war tot und ihr Vater in Brasilien. Wir rauchten zu dritt Haschisch. Erich war mit ihr zusammen. Ich sagte: Immer wenn ich komme, hat ein anderer das Rätsel vor mir schon gelöst. - Sie sagte: Ich bin kein Rätsel, ich bin ein Geheimnis... Jahre später traf ich Maike noch einmal in der Discothek Meta. Ich war akut psychotisch und berauscht von Haschisch und Bier und trug in mir den festen Entschluss, mich umzubringen. Maike und ich nahmen uns in die Arme: Schön, dass du noch lebst, sagte ich. Es war wie die Umarmung von zwei Todgeweihten.


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Erich war auch gut befreundet mit Hedda, meiner ersten Geliebten. Hedda hat ein eigenes Zimmer. Erich und Hedda qualmten mit der Haschischpfeife und hörten the Dark Side of the Moon von Pink Floyd, und ich lag draußen berauscht vor dem Fenster und sehnte mich gequält nach Heddas Leib, ihren Brüsten, ihrem Schoß. Sie ist später in die Szene der Heroin-Süchtigen geraten, hat aber wohl den Absprung geschafft. Nun ist sie Rechtsanwältin mit Ehemann und Kindern.


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Erich war auch mit Matthias befreundet. Der war fünfzehn und hatte lange blonde Haare, war schlank und schön wie ein Mädchen. Wir trafen uns zu dritt in meiner Wohnung. Matthias brachte seine zahme Ratte Mathilde mit. Ich hatte große Angst. Später in der Psychose hatte ich paranoide Wahnvorstellungen von Raten der Hölle. Ich schwärmte für Matthias. Später, in meiner Psychose, sah ich ihn noch einmal wieder. Ich dachte in meinem Wahn, in meinem früheren Leben sei ich ein chinesischer Poet zur Zeit der Tang-Dynastie gewesen. Als Chinese müsste ich natürlich einmal Opium rauchen. Ich traf Matthias wieder, der inzwischen Heroin-süchtig geworden war. Wieder ein Liebesgruß zweier Todgeweihten. Wir wollten Mohnsamen sammeln und selber Opium bereiten. Es kam aber nicht dazu. Gott sei Dank.


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Muse, schweige von Marion! Die russische Weisheit hat ihr Urteil über dieses Phänomen gesprochen. Dostojewski sagte: Und er dichtete so lange an diesem armen blassen Mädchen herum, bis sie zur Jungfrau Maria wurde.... Und Anna Achmatowa schrieb:


Du hast mich ausgedacht. So etwas gibt es nicht,

So etwas kann es auf der ganzen Welt nicht geben.

Das heilt kein Arzt, das lindert kein Gedicht,

Der Schatten dieses Spuks quält dich dein ganzes Leben.


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Ich war verliebt in ein Paar Augen. Die ganze Nacht verbrachte ich im Haschischrausch. Morgens, übernächtigt, überwach, hypersensibel durch Schlafentzug und Haschisch, ging ich zum Haus der Geliebten. Ich kam an einer Wiese vorbei, die in Stille und Morgenröte lag, da weideten Pferde. Da sah ich das Reich des Friedens, das Himmelreich, das Reich der himmlischen Pferde…


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Erich war in ein sehr hübsches Mädchen namens Sonja verliebt. Erich sagte immer, er sei Er und Ich. Offensichtlich war ich in jedes Mädchen verliebt, in das Erich sich verliebt hatte. Erich, Sonja, Marion und ich fuhren zu einem Fest neuheidnischer Naturverehrer. Wir saßen in der Nacht am Lagerfeuer vor einem Bauernhof auf Strohhalmen und trommelten wie die Indianer und zupften die Gedärme der Gitarren wie Baal. Ich schmiegte mich an Sonja. Erich und ich besuchten Sonja einmal zuhause, wir gingen dann aus dem Haus, da man bei ihr nicht rauchen durfte, und rauchten eine Haschischpfeife auf dem Abeneuerspielplatz meiner Kindheit, wo ich als Knabe mich in Nscho-Tschi verliebt hatte, Winnetous Schwester.


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Erich und ich wollten mit seiner Ente durch Europa fahren und uns den Lebensunterhalt mit Straßenmusik verdienen. Matthias wollte vielleicht mitkommen, ich sagte aber zu Erich: Nur ohne die Ratte. Matthias sagte ab. Marion wollte erst mitkommen, sagte dann aber auch ab, lieh mir aber ihr Akkordeon. Erich und ich fuhren - natürlich - zuerst nach Holland, parkten irgendwo in der Natur, rauchten Haschisch, musizierten etwas, stritten uns und fuhren heim.


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Ich arbeitete in einer Gruppe gegen die Arpartheit in Südafrika, wir probten ein Theaterstück, dass ich geschrieben hatte, wir probten im Gemeindehaus der evangelischen Kirche. Da hatte ich mir eine Bibel geklaut. Erich war bei mir, wir rauchten Haschisch, dann nahm er die Bibel in die Hand und las mir theatralisch das Buch der Apokalypse vor. Davon ward ich so wütend, dass ich ihm an den Hals sprang und ihn würgte, bis er aufhörte.


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Nach dem Gymnasium ward ich Schriftsetzer bei einem Zeitungsverlag. Die Ausbildung dauerte drei Jahre. Oft wachte ich morgens auf, zündete eine Kerze an, trank einen Tee, rauchte Haschisch, hörte Beethoven oder Hans Eisler, blieb im Bett liegen, träumte vor mich hin, bis mich die solidarischen Kollegen anriefen, ich sei schon wieder viel zu spät, ich müsse kommen, oder sie könnten es nicht länger geheimhalten. Auch im Betrieb rauchte ich Haschisch auf der Wiese draußen oder in der Dunkelkammer. Ich war ein faulen, schlechter Arbeiter. Die Arbeiter sagten, ich müsse bald studieren, sie hörten schon, wie die Studenten mir zujubelten.


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Nach meiner Lehre und vor dem Beginn des Studiums wohnte ich bei einem jungen Pärchen, die im Sommer 1989 über Prag aus der DDR geflohen waren und nun in Ostfriesland lebten. Er trank jeden Abend eine Flasche Rotwein und sprach von Nietzsche, sie, Birgit, war anmutig wie eine expressionistische Muse, ich wollte sie küssen. Nach dem Fall der Berliner Mauer bekamen sie Besuch von drei Freundinnen aus dem Osten. Deren erster Wunsch in der neugewonnenen Freiheit war es, Haschisch zu probieren. Der Mann bat mich, ihnen etwas zu besorgen. Das tat ich auch, gab es ihnen, sie freuten sich wie Kinder über Schokolade.


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Ich war nach Oldenburg zum Studium der Germanistik und Geschichte gezogen. Mein Bruder lebte noch alleine und gab mir ein Zimmer ab. Eines Abends war ich in der Oldenburger Innenstadt in einer Discothek. Vor der Tür sprach mich ein Freak an. Ich nahm ihn mit in mein Zimmer, wir rauchten Haschisch zusammen. Mein Bruder war nicht da. Am nächsten Tag war ich in der Universität. Ich las gerade Wielands Agathon und sah in den tausenden jungen schönen Studentinnen lauter griechische Nymphen. Berauscht vom Haschisch und von der Frauenschönheit kam ich nach Hause. Der Freak hatte einen angebrannten Löffel und ein Band zum Abbinden da gelassen. Mein Bruder dachte, ich sei heroinsüchtig geworden und hatte meine Eltern alarmiert, die waren sofort gekommen. Mein Vater, meine Mutter und mein Bruder saßen über mich zu Gericht, ich stand da als Angeklagter. Mein Vater schrie mich an: Zeig uns deine Arme! - ob ich Einstiche hätte. Ich zeigte ihm wütend meine Arme. Er sagte: Wir geben dir Geld, dass du studieren kannst, und nicht, dass du Drogen nimmst! Ich schrie ihn an: Leck mich doch am Arsch mit deinem Geld!


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Ein Bekannter hatte mir ein kleines Stück Papier, getränkt mit LSD geschenkt. Ich legte es auf die Zunge und sah sofort eine Nebelwelt mit giftgelben Spinnen. Sofort spuckte ich das LSD wieder aus. Ich wusste, hinter dieser Tür wartet ein gigantischer Alptraum auf mich. Bei allem Haschisch- und Alkohol-Konsum bin ich Gott doch dankbar, dass er mich vor LSD und Heroin, Stechapfel und Opium bewahrt hat.


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Ich hatte mich auf den ersten Blick in Karine verliebt. Sie hatte einen göttlichen Glanz um sich, den Glanz der Aphrodite. Aber ich trug auch noch Marion im Herzen, von der ich oft träumte. Karine hatte Eine Seele in ihren zwei Brüsten, aber ich hatte zwei Seelen in meiner Mannesbrust: die eine Seele, die Karine-Seele, wollte alle irdische Lust, die andere Seele, die Marion-Seele, wollte hinauf ins Reich der Götter und Geister. So war ich di-psychos, wie die Bibel es nennt. Ich las Anna Achamatowas Poem ohne Held. Angetan von diesem Geisterspuk, gequält von meiner inneren Zerrissenheit und berauscht vom Haschisch stieg ich in der Sylvesternacht 1991 in Osternburg in Oldenburg über die Mauer auf den jüdischen Friedhof, setzte mich vor die Kapelle und sah zu den Sternen. Da erschien mir eine geheimnisvolle Frau. Sie hatte keinen irdischen Leib, sondern war nur Astralleib oder Aura oder reiner Äther. Dennoch war sie eine Frau, in ein rotes Kleid gekleidet und einen blauen Mantel, mit kastanienbraunen Haaren. Sie sah mich freundlich ernst an aus Augen, die wie Sterne waren, sagte aber nichts.


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Ich war mit Karine in ein kleines Zimmer gezogen. In der Nähe war ein Wäldchen und ein verschwiegener Teich, menschenleer. Ich las viel Marina Zwetajewa. Sie hatte Anfang des 20. Jahrhunderts ein Liebesgedicht geschrieben an den, der sie in hundert Jahren lieben wird. Das war ich. Sie hatte mir ein Liebesgedicht geschrieben. Ich ahnte, Marina im Jenseits, sie liebt mich. Mit dieser heimlichen Liebe im Herzen und berauscht vom Haschisch ging ich an den stillen See. Da setzte ich mich nieder. Beten konnte ich noch nicht, aber Gedanken ins Jenseits senden. Da sah ich auf der anderen Seite des Sees wieder diese geheimnisvolle Frau. Sie trug ein langes violettes Kleid. Sie und ihr Kleid waren nur aus Licht. Sie schwebte über dem Gras. Sie sah zu mir herüber wie eine Freundin oder Schwester. Aber wieder schwieg die geheimnisvolle Frau. Ihr Gesichtsausdruck war wieder freundlich-ernst, aber auch gewissermaßen liebevoll-mahnend, mein Leben in Ordnung zu bringen.


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Das THC hatte sich an meinen Synapsen festgesetzt, so hatte ich auch Halluzinationen, Visionen, ohne unmittelbar vorher Haschisch geraucht zu haben. Es war die langsam heranschleichende Psychose. Mit Karine fuhr ich nach Darmstadt zu unsrer Freundin Evi (Kleopatra-Isis). Ich fuhr eigentlich in den Odenwald an die Quelle, da Siegfried hinterrücks ermordet wurde. Unterwegs hatte ich ein Gesicht: Ich sah am Himmel eine Frau in einem langen goldenen Mantel, auf dem Haupt eine goldene Krone. Ihre Gestalt war umgeben von einer hellroten, mandelförmigen Mandorla als ihrem Heiligenschein (heilig nicht nur um das Haupt, sondern um die ganze Gestalt). Ich sah ihr Herz, es war aus loderndem Feuer. Ich wusste, es war das Feuer der göttlichen Liebe. Zu ihrer rechten Seite sah ich einen Engel ohne Flügel, kleiner als sie, ein Jüngling, der hielt eine goldene Harfe in dem Arm. Da hatte ich den Gedanken: Das bin ja ich!


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Mit Karine war ich in Südfrankreich, in der Provence, an einem Seitenarm der Rhone, der Ardeche, in einem Weinbergtal. Ich hatte Tagträume von Karine als sumerischer Muttergöttin und von antiken Dionysosprozessionen. Ich suchte die mythologischen Götter. Ich hatte einen Kanister voll Rotwein und trank. Eines Abends gingen Karine und ich schweigend an die Ardeche. Am anderen Ufer stieg eine Felsenwand auf. Da hatte ich wieder eine Halluzination. Ich sah auf den Felsen fließendes grün-weißes Licht. Dann sah ich eine Hütte, die war aus geistigem Licht. Und in der Hütte stand eine Frau (ganz Geist, ganz Licht). Sie war schlank und groß, gekleidet in ein langes weißes Kleid. Um die Stirn trug sie ein weißes Stirnband. Sie erschien mir wie eine heilige antike Hohepriesterin. Ohne laut zu sprechen, sprach ich sie in meinem Inneren an: Gibt es die Götter? Und im Inneren meiner Seele hörte ich eine zärtlich-sanfte Frauenstimme: Das Göttliche ist in dir!


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Mit Karine fuhr ich ins französische Baskenland. In den Pyrenäen lebten wir auf dem Pic du Midi in einer einsamen Hirtenhütte. Nur ein alter baskischer Hirte war noch da, der nur baskisch sprach, der hütete seine Schafherde mit einem dreibeinigen Hund. Karine und ich ernährten uns nur von Reis mit Salz und Butter und klarem Wasser aus der Quelle. Aber auch hier hatte ich wieder eine Halluzination. Ich stand im Wohnraum der Hirtenhütte. Auf dem Kaminsims stand eine Kerze in der Form einer Madonna. Eine Holztreppe führte in das obere Stockwerk, wo Karines und mein Schlafzimmer war. Am oberen Ende der Treppe erschien mir wieder die Königin meiner Halluzinationen. Sie trug ein ganz reines weißes Kleid, das reichte bis zu den Füßen. Um die Brust trug sie einen goldenen Gürtel. Ihr Haupt war von Licht umgeben. In den Armen hielt sie eine goldene antike Lyra.


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Karine bekam Besuch von Babette aus Berlin. Babette las in meinem Buch mit Gedichten von Karoline von Günderode und vertonte ein Lied von ihr und sang es. Babette wohnte in einer kleinen verfallenen Hütte vor Emden, wo ich sie besuchte. Wir rauchten Haschisch zusammen. Sie las im Alten Testament. Ich ging in der Abenddämmerung vor der Hütte spazieren. Die Luft war dunkel, grauschwarz, die Natur war schattig, vor mir floss ein kleiner Graben, das war wohl der Fluss Lethe aus dem Jenseits, der Fluss des Vergessens. Auf der anderen Seite kam ein Schatten auf mich zu, ein Mann im schwarzen Anzug, einen schwarzen dreieckigen Hut auf dem Kopf, den er vor mir zog und mich schweigend grüßte. Ich dachte: Das ist Hölderlins Geist, ein Schatte aus den elysischen Feldern. (Ich studierte nämlich in der wissenschaftlichen Gesamtausgabe Hölderlins jedes Detail seiner Poesie.)


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Karine besuchte einen jungen Mann in Berlin. Ich war rasend eifersüchtig, dachte, sie werde mit untreu und mit dem Typen intim. Ich las eine Ode von Horaz an Lydia, da er seine verzehrende Eifersucht zum Ausdruck bringt. In der Abenddämmerung ging ich berauscht durch Osternburg und sah am Himmel den Abendstern, das ist der Planet Venus oder die Göttin Venus. Und ich betete zur Göttin Venus, sie möge Karine zu mir zurückbringen. Der Abendstern funkelte grünweiß auf, als sei mein Gebet erhört. Karine kam zurück und bekannte, sie habe an jenem Abend schon im Bett des Typen gelegen, habe plötzlich aber Gewissensbisse bekommen, sei aufgestanden und zu mir zurück gekommen.


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Ich mag von der zweijährigen akuten Psychose nicht schreiben. Ich hatte eine blühende Phantasie eines Wahnsinnigen. Ich war im Himmel und sah Christi Angesicht, ich sah und hörte meinen Schutzengel Mahanajim, ich sah Sankt Michael mit seinem Schwert, aber ich sah auch mein voriges Leben und meine Geburt in China im achten Jahrhundert, ich sah die Immaculata Maria als chinesische Göttin der Barmherzigkeit Guan Yin, ich sah die Ratten der Hölle, ich roch den Schwefelgestank der Hölle, ich ward versucht vom Satan mit einem Bibelwort, mir selbst das Leben zu nehmen, ich sah im Augenblick des Verblutens Christi Auferstehung, Christus am Abendmahlstisch, Maria Magdalena gehüllt in lange goldene Haare und die Madonna mit dem Jesuskind auf dem Arm. Meine Mutter fand mich halb tot und blutüberströmt vor ihrem Haus und rief: Mein Sohn, ach mein Sohn! Anschließend kam ich in die Psychiatrie, wo ich ein Jahr blieb und keine Halluzinationen mehr hatte und kein Haschisch mehr rauchte.




FÜNFTER TEIL

ERINNERUNGEN AN MAITE


VON TORSTEN SCHWANKE


NACH IHREM TOD AUFGESCHRIEBEN FÜR IHRE GELIEBTEN ENKEL JURI, MILAN UND SIMON


Vierge Marie,

Mère chèrie!



Sie ist im französischen Baskenland geboren, im Dorf Omize (baskisch) oder Abense-de-haute (französisch). Sie ist als Kind katholisch getauft worden auf den Namen Marie-Therese, aber alle nannte sie Maite, das ist baskisch und heißt: Geliebte.


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Im Alter sagte sie mir einmal: „Meine Großmutter war ein Teufel!“


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Im Alter erinnerte sie sich oft an ihre Mutter. Die war gestorben, als Maite ungefähr acht Jahre war. Maite erinnerte sich an ihre Mutter, wie sie ihr die Lieblingspuppe geschenkt hatte. „Mein Vater hat mich verwöhnt.“ Ich weiß nur von den beiden Schwestern Cathy und Madelaine.


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Als ich im Sommer 1991 mit Maite und ihrer Tochter Karine im Baskenland war, besuchten Karine und ich auf dem Dorffriedhof das Grab von Cathy. Ich sah neben dem Grab einen großen weißen Engel mit Flügeln aus Licht, der Engel reichte vom Friedhof bis in den Himmel.


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Maite Schwester Madelaine lebte auf einem Bauernof. Maite, Karine undd ich besuchten sie dort. Madelaine war Katholikin sie hatte in der Küche einen Heiligenkalender, aus dem ich erfuhr, dass mein Geburtstag Karines Namenstag war. Madelaine sagte: „Derriere le mirroir il y‘a le diable“. Madelaines Sohn Marc war Hirte.


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Ich lernte auch Maites Nichte Chantal kennen. Sie lebte in Paris und sprach mit mir über die großen deutschen Dichter Rainer Maria Rilke und Paul Celan.


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Vom Zweiten Weltkrieg hat Maite im Baskenland nichts mitbekommen.


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Sie ist katholisch erzogen worden. Im Alter träumte sie einmal von ihrer toten Schwester Cathy, die sie in einer katholischen Kirche während der Heiligen Messe traf und ging mit ihr gemeinsam zur Kommunion. Im Alter erinnerte sie sich einmal an das Schuldbekenntnis „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“. Aber sie wurde wohl doch zu streng im Glauben erzogen, jedenfalls hat sie sich als Jugendliche von der Kirche abgewandt. „Ich wollte nicht mehr in die Kirche gehen, ich wollte lieber tanzen.“


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Als junge Frau ist sie nach Paris gezogen. Dort hat sie bei verschiedenen bürgerlichen Familien als Haushaltshilfe gearbeitet. Das war Schwarzarbeit.


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Wie und wo hast du Konrad kennen gelernt?“ - „Das war in Paris auf einer Feier.“ Sie hat mit Konrad in Paris gelebt. Ich weiß nicht, ob sie in Paris geheiratet haben. Jedenfalls trug sie fortan den Namen Tiburzy.


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1966 hat sie Karine geboren, am 24. September, in Paris. Karine ist geborene Französin, Pariserin. Wenn man so will, ist sie die französische Venus, die aus der Seine getaucht ist.


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Von der Kulturrvolution 1968 in Paris hat sie nie erzählt. Aber siee kannte Simone de Bauvoirs Buch über die Frau. Und im Alter stimmte sie mir zu, dass die Philosophie des Existentialismus von Jean-Paul Sartres und Albert Camus eine „trostlose“ und „sinnlose“ Philosophie sei.


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Sie lebte mit Konrad und dem Baby Karine in Deutschland. Karine war drei Jahre alt, als Konrad sich von Maite scheiden ließ und sie und Karine verließ. Maite war nun eine alleinerziehende Mutter. Sie arbeitete als Krankenschwester im evangelischen Krankenhaus in Oldenburg. Sie wohnten im Stadtteil Bürgerfelde in der Hermannsstädter Straße, einer Gegend mit Blockwohnungen. Karine war schon früh sich selbst überlassen, weil Maite ja Geld verdienen musste.


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Karine war ein „Schlüsselkind“. In der letzten Zeit vor ihrem Tod dachte sie viel an ihre Kindheit zurück und sie machte insgeheim Maite Vorwürfe, sie so allein gelassen zu haben. Nach Karines Tod erzählte mir Maite von ihren schweren Schuldgefühlen deswegen. Ihre Freundinnen wollten ihr die Schuld ausreden, aber das half nichts, Maite fühlte sich wirklich schuldig. Sie konnte deswegen nicht gut schlafen. Da suchte sie einen Psychologen auf, aber der konnte ihr auch nicht helfen. Nun, Maite hat ihre Schuld wirklich bereut, darum hat ihr Gott gewiss vergeben.


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Von der Zeit zwischen Karines Kindheit und der Zeit, da Karine und damit auch Maite in mein Leben traten, weiß ich nichts. Ich lernte Karine im Juli 1990 in Oldenburg kennen. Sie war Studentin der Slawistik und ich Student der Germanistik. Wir wurden ein Liebespaar und reisten viel.


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Ich erinnere mich, wie Karine und ich aus der Provence kamen und ich Maite die Gedichte schenkte, die ich dort geschrieben hatte. Maite wohnte in der Ziegelhofstraße in Oldenburg in einem sehr schönen Haus. Sie lebte dort mit ihrem schwarzen Kater Amadee. Karine und ich waren öfter dort. In jener Zeit trug ich immer den gleichen Pullover und war nicht sehr gepflegt, und Maite hatte eine feine Nase. So bat Maite Karine, dass Karine mich bitte, immer wenn ich komme, mich eben im Badezimmer frisch zu machen und etwas Parfüm aufzutun.


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Im Sommer 1991 fuhren Maite und Karine und ich in ihre Heimat im Baskenland. Karine und ich verbrachten eine Woche in einer einsamen Hirtenhütte hoch oben in den Bergen, und ich fühlte mich Gott sehr nah…


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Wir feierten auch einmal Weihnachten zusammen, da war noch Karines Freundin Meike aus Berlin dabei. Maite konnte gut kochen und gab sich immer sehr viel Mähe, einen köstlichen Kaffee zu kochen. Nach dem Hauptgericht, das oft aus Fleisch bestand, gab es in guter französischer Sitte Weißbrot und Käse. Zum Essen bot sie mir immer ein Glas Rotwein an. Zwar schimpfte sie oft beim Kochen vor sich hin („merde!“) und meinte dann, das Essen sei ihr gar nicht gelungen, aber es schmeckte doch immer sehr gut. Mit Karine und Maite lebte ich „wie Gott in Frankreich“.


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Mit Karine lebte ich in einem kleinen Zimmer zusammen. Das wurde mir auf die Dauer zu eng. Karine zog dann zu Maite in ihr Haus und hatte da ein eigenes kleines Zimmer.


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Im Frühjahr 1993, nach dem Tod meiner Großmutter und meiner Begegnung mit Christus, trennte ich ich von Karine. Ich nahm noch Abschied von Maite. Im Dezember 1993 war ich noch einmal in Oldenburg, denn ich war inzwischen nach Ostfriesland gezogen, da besuchte ich Maite noch einmal, das heißt, ich wollte Karine sehen, aber sie war nicht da. Maite stand oben auf der breiten Holztreppe zu ihrer Wohnung, ich am Fuß der Treppe, wir wünschten uns gesegnete Weihnachten („Noel“), sie hielt Amadee im Arm und nahm wirklich freundlich von mir Abschied.


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Ich war wahnsinnig geworden, hatte einen Selbstmordversuch und einen einjährigen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter mir, und Karine nahm wieder Kontakt mit mir auf. Nun waren wir zwar kein Liebespaar mehr, aber doch richtig gute Freunde. Sie besuchte mich in meiner Ostfriesischen Einsamkeit, zweimal kam auch ihre beste Freundin Evi mit. Und wegen Karine und Evi bin ich dann Anfang 1998 wieder nach Oldenburg gezogen.


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Am 13. November 2000 ist Juri geboren. Als Karine und ich im Sommer 1990 am französischen Mittelmeer am Strand lagen, wollten wir zwei Kinder haben, sie sollten Buffodontel und Akkadanu heißen. Als Juri Kleinkind war, sagte Karine zu mir: „Das ist auch eine Art, einen Buffodontel zusammen zu haben, nicht wahr?“ Karine wohnte mit ihrem Partner und Juri in der Dedestraße in Oldenburg-Osternburg, genau zwischen dem heiligen Jüdischen Friedhof und der katholischen Kirche des Heiligen Geistes. Maite wohnte einige Straßenecken weiter in der Wiesenstraße, wo sie bis zu ihrem Tod wohnen blieb. Manchmal, wenn ich Juri im Kinderwagen schob, wir beim katholischen Kindergarten auf dem Spielplatz spielten, ich für Juri eine Kerze vor der Gottesmutter angezündet hatte, besuchten wir zusammen Maite. Nun lernte ich Maite ganz neu kennen, als Großmutter. Aber sie wollte nicht Oma genannt werden, sondern „Amani“ (das heißt auf baskisch Großmutter).


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Im Sommer 2001 war ich auf eine Jugend-Wallfahrt ins französische Marien-Heiligtum Lourdes gefahren. Dort verliebte ich mich unsterblich in die Jungfrau Maria und schrieb auf französisch ein Liebesgedicht an Notre Dame d‘Amour, Unsere Liebe Frau von der Liebe. Karine las es und sagte: Wow! Ich zeigte es auch Maite. Sie sagte: „Das ist ja ein richtiges Liebesgedicht“. Karine und Maite sprachen meistens französisch miteinander. Einmal schrieb ich für Karine ein französisches Liebesgedicht. Ich nannte sie „ma jolie“, sie sagte: „Pst, sag es keinem weiter.“ In dem Gedicht wollte ich auch ihre „schöne Mutter“ grüßen und schrieb „ta belle mère“ aber Karine klärte mich auf, das heiße „Schwiegermutter“…


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Maites Wohnung hatte einen schmalen Flur, in dem viele Fotos ihrer baskischen Familie hingen. Davongingen das kleine Badezimmer ab und ihr großes Schlafzimmer. Ihre Küche war nur eng und klein. Ihr Wohnzimmer hatte zwei Zentren, einmal einen runden Esstisch mit mehreren Stühlen und einmal einem niedrigen Sofatisch mit einem roten Schlafsofa und einem weißen Sessel. In der Ecke, bei den Büchern, der Musikanlage und dem kleinen Fernseher stand noch ein Sessel, in dem sie ihren Mittagsschlaf hielt. Die Balkontür führte auf ihre kleine Terasse, da stand ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Sonnenschirm, da war ein kleines Beet, in dem sie Blumen gepflanzt hatte, auf der Terrasse standen auch noch Blumenkübel. Ich werde Maite immer mit dem Lavendel assoziieren.


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Maite liebte den kleinen Juri innig. Sie fütterte ihn mit Brei. Besonders gut schmeckte Juri die Brocculi-Suppe, die Maite für ihn kochte. Auch war Juri ein großer Liebhaber von Milchreis mit Zimt und Zucker. Dazu hatte Maite immer Apfelschorle für ihn. Sie machte unendlich viele Fotos vom kleinen Juri. Juri war auch wirklich eine Schönheit. Karine und ich verglichen ihn mit dem griechischen Sonnengott Apoll, dem Ideal klassischer Jünglingsschönheit. Juri eiferte auch seinem Namenspatron, dem heiligen Georg nach, und war ein gewaltiger Ritter und Drachentöter. Ich sagte zu Karine: „Juri hat so eine schöne Sprache, er redet wie ein Gedicht von Eichendorf.“ Als er vier Jahre alt war, verliebte er sich in die „Primavera“ von Sandro Botticelli…


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Im Vorfrühling 2003 sagte Karine mir: „Toto, ich bin wieder schwanger.“ Sie hatte sie wirklich sehr nach einem zweiten Kind gesehnt! „Aber werden wir noch ein weiteres Kind so lieben können wie Juri?“ Gewisse dämonische Geister drängten zur Abtreibung. Es waren Zwillinge in Karines Bauch. „Toto, wirst du mir helfen, die Kinder großzuziehen?“ - „Ja, mon filou...“ Karine war bei der Schwangerschaftsberatung, ich saß vor dem Gesundheitsamt mit Juri, er spielte auf der Wiese, ich betete den Rosenkranz für die lebend-Geburt der Zwillinge. Die Zwillinge sind Marienkinder. Karine gebar sie mit Kaiserschnitt im Krankenhaus, ich besuchte sie, sie legte mir Milan und Simon nacheinander in die Arme. Ich kam dann täglich, die Babys mittags zu wiegen und zu stillen (mit dem Fläschchen – wie gerne hätte ich Mutterbrüste gehabt!...), wenn Karine ihren Mittagsschlaf hielt.


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Ich hatte ein Foto zuhause, da stand Karine und hielt in ihren Armen das Juribaby, das malte ich ab: Karine als Muttergottes mit dem Jesusbaby, und unten am Rand des Bildes zwei kleine Kinder-Engel, das waren die Seelen der ungeborenen Zwillinge. Das Bild schenkte ich Karine. Ich sagte ihr: „Das Leben ist uns heilig“… Sie stimmte mir zu. Sie sagte: „Nun haben wir zwei Akkadanus...“


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Karine war nun eine Zeit lang alleinerziehende Mutter von drei kleinen Kindern. Wenn sie einmal mit ihren Freundinnen feiern wollte, brachte sie Juri zu mir und die Zwillinge Milan und Simon zu Maite. Ich musste immer weinen vor Rührung über Juri, wenn Karine ihn am nächsten Tag abholte. Da hörte ich immer „Circus left town“ von Eric Clapton: „Little man with his heart so pure...“


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Später, als der Erzeuger wieder gekommen war, blieb Juri, wenn Karine ausgehen wollte, bei seinem Erzeuger, Karine brachte dann Milan und Simon zu mir.


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Dann brach bei Karine der Brustkrebs aus. Nun lernte ich auch Karines Vater Konrad kennen. Öfter kam er und wohnte dann bei Maite. Dann waren wir alle beisammen: Karine, Maite, Konrad, Juri, Milan, Simon und ich. Die Erwachsenen redeten Französisch miteinander, die Kinder spielten miteinander und ich, als das große Kind, gesellte mich zu den Kindern.


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Maite hatte nach ihrer Scheidung von Konrad nie wieder geheiratet. Sie pflegte weiter den Kontakt zu ihm, verstand sich aber auch gut mit Konrads zweiter Frau Christel. Aber irgendwie war Konrad doch der Mann ihres Lebens. Aber sie zankten auch oft miteinander.


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Karine wollte nach Berlin, um chinesische Atem-Meditation zu lernen. Da nahm sie mich und Milan mit. Milan nannte mich Mama, er war zwei Jahre alt. Karine meditierte und ich schob Milan im Kinderwagen zum Ententeich, zu Schafen, Pferden, Schweinen und Hunden. Juri und Simon blieben in dieser Zeit bei Maite.


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Maite fragte mich: „Würdest du mit Konrad und mir und den Kindern einen Urlaub in Rügen machen? Dann könnte Karine sich zuhause erholen.“ Ich sagte: „Nein, ich komme nur mit, wenn Karine mitkommt.“ Ich wollte nämlich nicht allein mit Maite und Konrad sein, wenn sie sich wieder zankten. Karine kam auch wirklich mit. Milan und Simon waren drei Jahre alt, Juri fünf. Sie wohnten alle zusammen in einer Ferienwohnung, ich draußen im Wohnwagen. Einmal schlief Juri bei mir. Nachts gabs ein Gewitter und Wettersturm und Regen, da sahen Juri und ich die „Waffen Gottes“ und wie ein Blitz den Himmel aufriss und wir konnten sehen bis zum weißen Thron Gottes. Konrad dominierte die Gespräche. Maite war meistens still. Sie mache das Essen. Ich nannte Simon Chou-Chou und Milan Mignon, aber das gefiel Maite nicht.


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Ein Jahr später fuhr Karine allein zu einer Kur nach Sylt. Maite hatte ihr ihr Fahrrad mitgegeben. Sie machte sich sorgen, ob alles klappt. Ich sagte: „Vertraue auf die Vorsehung Gottes (providence).“ Maite sagte: „Ich glaube nicht an die Providence.“ Ich besuchte dann Karine zuerst allein mit Juri, und zwei Wochen später fuhr ich mit Konrad und Milan und Simon zu Karine.


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Als wir auf Rügen waren, fuhren wir alle im Auto zum Kap Arkona, da war ein großer Leuchtturm und ein großer Saal, wo traditionell Hochzeiten gefeiert wurden. Karine sagte da zu mir: „Totolino, wollen wir hier heiraten?“ - Ich sagte: „Mon bijoux, du weißt doch, ich lebe im Zölibat.“ Aber abends trat ich vor der Ferienwohnung zu ihr und sagte: „Oder wollen wir doch heiraten? Ich möchte so gerne der Papa deiner Kinder sein.“ Da lächelte Karine mich an, nahm meine Hände und sagte: „Ich liebe dich wie einen Bruder – und noch mehr. Aber lass uns das doch lieber lassen. Denn du liebst doch auch Evi.“


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Als ich mit Konrad, Milan und Simon Karine auf Sylt besuchte, blieb Juri bei Maite. Als Karine nach Hause kam, sagte Maite über Juri: „Ils est adorable!“ (Er ist anbetungswürdig!)


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Einmal trafen wir uns alle mit Konrad bei Maite. Konrad hatte einen Truthahn mitgebracht und Maite bereitete ein Festmahl zu: Truthahnbraten mit Bratensauce, Gemüse und Salzkartoffeln, dazu Wein für die Erwachsenen und Apfelschorle für die Kinder, und zum Nachtisch Baguette und Käse und anschließend Vanille-Eis. Dann kam der Kaffee. Wie immer fluchte sie in der Küche beim Kochen vor sich hin. Aber es war ein leckeres Festmahl.


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Karine fuhr in eine Kur zu den Anthroposophen. Maite und ich passten auf die Kinder auf im schönen Haus Karines im schönen Garten Karines im schönen Hasenweg. Maite machte das Essen. Juri fuhr allein zur Schule. Ich brachte Milan und Simon im Fahrradanhänger zum Kindergarten und ging anschließend einkaufen. Abends brachte Maite die Zwillinge ins Bett, mit Vorlesen und Händchenhalten, und ich brachte in Karines Bett Juri zum Schlafen, mit Vorlesen und Plaudern. Die Zwillinge kamen zu Juri und mir herüber und wollten auch von mir ins Bett gebracht werden. Ich legte sie in ihr Bett und sagte: „Zwei Engel zu euren Köpfen, zwei Engel zu euren Füßen, zwei Engel zu eurer Rechten, zwei Engel zu eurer Linken, und zwei Engel über euch, die zeigen euch den Weg ins Paradies.“ Dann sang ich noch: „Maria, breite den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus, lass uns darunter sicher stehn, bis alle Stürme vorübergehn. O Mutter voller Güte, uns allezeit behüte!“ Dann schliefen alle ein. Maite und ich hörten den französischen Liedermacher Jaques Brel. Die Nachbarin sagte zu mir: „Da du und Maite da sind, sind die Kinder viel ruhiger und ausgeglichener als sonst.“ Maite ging schon am Krückstock, sie hatte wirklich all ihre Kraft gegeben. Jeden Abend rief Karine an und telefonierte mit Maite. Ich saß vorm Haus, trank Wein und rauchte, betete und dichtete Gedichte über die Mutterliebe Gottes, die ich später Maite schenkte.


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Das Telefon bei mir klingelt. „Ja?“ - „Hallo Toto, ich bins, Karine. Dein Liebling Milan will dich sehen.“ - „Ich komme!“


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In den letzten Monaten vor ihrem Tod dachte Karine immer wieder an ihre Kindheit, wie sie sich allein gelassen gefühlt hatte, von Konrad sowieso, aber auch von Maite.


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Maite war bis zum Ende bei Karine. Karine machte sich sehr, sehr große Sorgen um die Zukunft von Milan und Simon. Juris Erzeuger war bereit, sich als ein Vater um Juri zu kümmern. Ich sprach mit meinem Beichtvater, ob ich die Zwillinge aufnehmen solle. Er sagte: „Nur Mut zur Courage!“ Ich sprach mit Maite. Sie wollte mit mir zusammen ziehen, und dann würden wir Milan und Simon aufnehmen. Das sagte ich Karine im Krankenhaus. Da sagte sie: „Außer meine Kinder liebe ich nur noch meine Mutter und dich – wegen der Zwillinge.“ Am Tag vor ihrem Tod rief Karine mich noch an: „Kannst du die Kleinen zusammen mit Evi aufnehmen?“ Denn Maite war doch schon sehr gebrechlich und hätte sich nicht wirklich kümmern können, und ich war versunken in entsetzlichen Depressionen, ich hatte zehn Jahre lang jede Nacht Rotz und Wasser geheult. Und Evi und ich nahmen „die Kleinen“, wie Karine und ich sie immer nannten, tatsächlich für drei Monate auf. Aber, was Karine auf Erden nicht gewusst hatte, am Tag ihrer Beerdigung meldete sich ein Verwandter von Karine mit seiner Frau, B.B., sie würden die Zwillinge für immer bei sich aufnehmen.


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Am letzten Tag, da ich Karine sah, es war drei Tage vor ihrem Tod, es war der Valentinstag 2010, kam ich gerade aus dem Gottesdienst. Jesus sagte: „Selig sind die Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Das sagte ich Karine. Da sagte sie: „Bin ich auch selig?“ - „Ja,mein Schatz“, sagte ich, und sie lächelte glücklich. Da kam die Nonne des Krankenhauses und brachte der Bettnachbarin die Hostie (den Leib Christi), und Karine sagte: „Toto, zünde die Marien-Kerze an, ich möchte auch den Leib Christi empfangen.“ Und so ist sie in den Himmel gekommen.


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Ich hatte mit Milan und Simon am Leichnam Karines gestanden, ihr mit Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet, war mit Milan und Simon in die Kapelle gegangen vor das Bild der Gottesmutter, zündete eine Kerzen für Karine an und betete: O Maria, führe Karine ins Paradies, und sei du nun die Mutter von Milan und Simon. - Vor dem Krankenhaus stand Maite. Sie sagte zu einer Verwandten: „Das ist Torsten. Er stand den Kindern noch näher als ich, ja, noch näher als ihre Mutter.“


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Als Milan und Simon drei Monate bei Evi wohnten, war ich jeden Tag bei ihnen. Ich brachte sie abends mit Evis Sohn Tom ins Bett. Nach dem Segen ging ich, um nach Hause zu fahren, da sagte Milan noch: „Pass auf dich auf, Toto.“ Maite und Konrad kamen auch manchmal zu Evi, um bei den Zwillingen zu sein.


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Konrad gab Evi Karines Auto, wollte aber noch vierhundert Euro dafür haben. Maite bezahlte die vierhundert Euro und schenkte Evi Karines Auto.


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Nach Karines Tod und dem für mich sehr schmerzlichen Verlust der Kinder kam ich mit einem Nervenzusammenbruch in die Psychiatrie. Maite hätte mich gerne besucht, war aber zu gebrechlich für den weiten Weg. Als ich aus der Psychiatrie kam, schenkte sie mir zum Trost das „Buch der Lieder“, die gesammelten Liebesgedichte von Heinrich Heine, des deutschen Dichters, der die Französinnen so sehr geliebt hat.


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Maite träumte sehr viel von Karine. Sie hörte nachts Karines Stimme, wie sie „Mamutschka“ zu ihr sagte, denn so hatte Karine Maite genannt, wenn sie sie besonders lieb hatte.


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Ich ging manchmal mit Maite auf den Friedhof an Karines Grab. Einmal setzte ich mich dort auf eine Bank und betete: „O Gott, ich will schon so lange tot sein, und du lässt mich nicht sterben, und Karine hat so gerne gelebt, und sie musste sterben. Das ist eine himmlische Ungerechtigkeit! Wäre ich doch an ihrer Stelle gestorben!“ Das erzählte ich Maite, sie wollte mich trösten: „Aber es geht dir doch gut.“ Maite hat nie verstanden, wie krank meine Seele war, wie sehr ich am Leben litt.


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Einmal besuchte ich Maite, es war im heißen Hochsommer. Wir tranken auf der Terrasse Kaffee, aßen Kuchen und rauchten zusammen. Dann ging ich für sie einkaufen. Als ich wiederkam, saß Maite halb schwindelig, halb ohnmächtig in ihrem Sessel. Ich rief den Notarzt und blieb bei ihr, bis der Arzt kam. Da sagte sie mit schwacher Stimme: „Ach, es wäre mir lieber, wenn du mein Schwiegersohn wärst.“


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Zweimal fuhr ich mit Maite und Juri nach Hamburg zu Konrad und seiner Frau Christel. Mit Christel hatten Juri und ich die schönsten Stunden im Serengeti-Park. Konrad suchte immer Streit mit mir und griff meinen Glauben sehr aggressiv an. Ich saß meistens draußen auf der Terrasse und rauchte, Juri war bei mir und wir redeten miteinander. Da trat Maite abends aus der Haustür und sagte: „Kommt nun rein, Konrad will euch sehen! Das ist unverschämt!“ Dann ging sie wieder rein. Juri sagte: „Und jetzt reden sie wieder französisch miteinander.“


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Juri sagte mir auch, dass er nicht so gerne Maite besuche, weil sie immer so viel von ihrem Tod rede. Maite beklagte sich bei mir, dass sie Juri nicht so oft sehen könne, wie sie wollte. Juri war schon ein Jugendlicher. Zu mir hatte er einmal gesagt: „Ich bin jetzt in einem Alter, wo man sich nicht mehr für Erwachsene interessiert.“ Ich versuchte, Maites Verständnis dafür zu wecken, dass ein Jugendlicher am liebsten mit seinen Freunden das Leben genießt und nicht so gerne mit Alten über den Tod spricht.


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Maite versuchte mehrmals, mich und Juri in ihrer Wohnung zusammen zu bringen. Vielleicht dreimal traf ich auch Juri bei Maite. Er gefiel mir außerordentlich gut mit seiner ordentlichen Seele. Maite hörte aber immer schlechter und verstand nicht immer, was geredet wurde.


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Manchmal kamen zu Maite alle drei Enkel. Die drei Enkel redeten dann schnell und begeistert und verspotteten ihre Lehrer, und Maite verstand nur die Hälfte, aber sie war glücklich, alle ihre drei Engel bei sich zu haben.


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Weihnachten lud Maite immer Juri und seinen Vater zum Essen ein. Aber mit zunehmender Altersgebrechlichkeit mochte sie nicht mehr gerne kochen.


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Einmal luden Konrad und Christel Maite, Juri und mich nach Hamburg ein. Ich war aber von den Medikamenten gegen meine Depressionen fast bettlägrig und sagte ab. Juri sagte: „Wenn Torsten nicht mitkommt, komme ich auch nicht.“ Maite war beleidigt: „Sind ich und Konrad denn nichts?“


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Einmal kam ich mit Maite vom Friedhof. Ich sagte: „Karine ist nun im Himmel.“ Sie sagte: „Glaubst du an den Himmel? Dass nach dem Tod alles schön wird?“ - „Ja.“ - „Und was ist mit Hitler? Ist der auch im Himmel?“ - „Für solche Leute gibt es wohl eher die Hölle.“ - „Ich möchte nach dem Tod eine Blume werden...“


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Maite erinnerte sich an ihre Jugend in Paris, damals hatte sie gerne Jazz gehört. Swing. Ich schenkte ihr einige Jazz-Aufnahmen.


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Maite konnte wegen ihrer fehlenden Sehkraft nicht mehr lesen. Ich erzählte von Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Sie sagte, sie hätte einmal das erste Buch davon gelesen, die Erinnerungen an die Großmutter… Das wäre sehr schön gewesen.


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Einmal habe ich ihr Schiller geschenkt, die Jungfrau von Orleans, und einen eigenen Text über Jeanne d‘Arc. Sie ehrte Jeanne d‘Arc. Ich erzählte ihr auch, als ich Voltaires Epos über Jeanne d‘Arc übersetzte.


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Eine Zeit lang hörte Maite dann Hörbücher. Ich schenkte ihr ein französisches Hörbuch von Balzac, aber sie kam nicht mehr dazu, das zu hören. Ich schenkte ihr aber auch ein Hörbuch mit Gedichten von Francois Villon auf deutsch. Sie hörte es und schenkte es ihrer Freundin Jeanine, einer Französin, die Villon verehrte.


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Zu Maites 80. Geburtstag war ich mit ihr und Jeanine im Restaurant essen. Anschließend tranken wir auf Maites Terrasse Kaffee. Wir sprachen über Villon, Rimbaud, Verlaine, Baudelaire, Racine (Athalja) und den tragischen Tod von Moliere. Wegen Karine hatte ich eine besondere Liebe zu Frankreich, zur französischen Sprache, zu den französischen Dichtern, zu den französischen Liedermachern. Wenn ich meinen Engel Karine hören wollte, hörte ich französisches Radio.


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Zu einem Geburtstag rief ich sie an und sagte: „Je vous salut, Marie-Therese! - „Sie sagte: „Nein, das heißt: Je vous salut, Marie! Du musst sagen: Bon anniversaire, Maite!“


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Ihre langjährige beste Freundin, die Spanierin Maria, die ein Bild der Jungfrau Maria in ihrem Schlafzimmer hatte, verließ im hohen Alter nach dem Tod ihres Mannes Deutschland und kehrte in ihre spanische Heimat zurück. Sie war immer sehr lieb zu Maites Enkeln gewesen.


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Maite wollte klassische Musik hören. Ich schenkte ihr die vier Jahreszeiten von Vivaldi, die Zauberflöte von Mozart und die neunte Symphonie von Beethoven.


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Ich schenkte Maite ein Hörbuch von Leo Tolstoi. Der war Karines Lieblingsschriftsteller. Als Studentin der Slawistik schrieb sie eine Arbeit über die Lebensphilosophie von Tolstoi. Als ich noch mit Karine zusammen war, las sie Tolstois Roman Auferstehung, kam aus ihrem Zimmer und sagte: „Ich muss mein Leben ändern!“ Nach Karines Tod las ich ihre Ausgabe des Romans Anna Karenina.


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Manchmal besuchte ich mit meinem kleinen Freund Tom, Evis Sohn, Maite. Ich dachte, mein kleiner Erzengel könnte sie ein wenig trösten, denn sie war sehr traurig, dass sie ihre Enkel so selten sah.


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Dann starb die Pflegemutter von Milan und Simon. Maite war verzweifelt. Dann starb auch ihr ehemaliger Ehemann Konrad. Maite wollte danach noch einmal in sein Haus, „um noch einmal Konrads Geruch zu riechen“. Aber da sie kaum noch gehen konnte, fast gar nichts mehr sah, musste sie darauf verzichten.


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Es freute sie, dass Milan und Simon Maites baskische Heimat besuchten.


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In einem Schwindelanfall, da sie gefallen war, hatte sie zu Juri gesagt: „Du bist nicht mehr mein Enkel!“ Das hatte Juri zutiefst verletzt. Maite bat mich, zu vermitteln, sie liebe ihn doch genauso wie Milan und Simon. Aber sie war auch wohl zu stolz, sich zu entschuldigen. Aber sie dachte bis zum Schluss in Liebe an Juri.


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Dann begann ein langer Kreuzweg durch Krankenhäuser und Pflegeheime, eine Odyssee der Leiden. Da sie telefonisch oft nur für Verwandte erreichbar war, stellte ich mich als der „Verlobte ihrer Tochter“, ihr „Schwiegersohn“, ihr „Sohn“ vor, sie stellte sich als meine „Tante“ vor.


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Ihre Verwandte (Großnichte ihres ehemaligen Mannes) Kathi, und Evi, die Busenfreundin ihrer Tochter, kümmerten sich rührend um sie bis zum letzten Atemzug. Maite hatte ein kindlich-dankbares Leuchten in den Augen, wenn sie ein wenig Zärtlichkeit erfuhr.


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Drei Tage vor ihrem Tod war ich mit Evi im Krankenhaus, sah Maite aber nicht, weil sie gerade in Behandlung war.


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Am Tag vor ihrem Tod, als sie, aufgequollen von Wasser, im Tiefschlaf lag, waren nicht nur Kathi und Evi da, sondern auch ihre Enkel Milan, Simon und Juri. Wenn sie auch schlief, ihre Seele nahm von allen Abschied, und da alle drei Enkel von ihr Abschied genommen hatten, konnte sie in Frieden entschlafen.


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In der Nacht ihres Todes betete ich für einen Heimgang in der Gnade Gottes. Spät in der Nacht kam ein Maikäfer in mein Zimmer, umflog das Licht und verschwand wieder. So nahm Maites Seele Abschied von mir.


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Am Morgen nach Maites Tod feierte ich eine Heilige Messe für sie. Jesus sagte im Evangelium: „Ich gehe euch voraus in den Himmel, um euch dort eine Wohnung zu bauen, und dann werde ich kommen, und euch zu mir holen.“ Und der Priester sagte: „Ich war fünfzehn Jahre alt, als meine Großmutter starb, und ich wählte dieses Gotteswort für die Beerdigung meiner Großmutter.“





SECHSTER TEIL

DIE KINDHEIT DER ZWILLINGE



Am 12. 11. 2000 feierte ich meinen 35. Geburtstag nach. Karine war hochschwanger bei mir, und am nächsten Tag hat sie Juri geboren. Sie musste im Krankenhaus bleiben. Ich schenkte ihr ein Ikone der Gottesmutter.


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Als Juri klein war und sich Nuni nannte, sagte Karine zu mir: „Wenn du kommst, schaut Juri uns nicht mehr mit dem Arsch an.“


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Im Frühling 2003 sagte Karine mir am Telefon: „Toto, ich bin schwanger! Hilfst du mir?“


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In der Schwangerschaft lag Milan nah am Fruchtkuchen und aß sich satt. Simon war etwas im Hintergrund und unterernährt. Ich legte meine Hände auf Karines Bauch und segnete die Kinder in ihrem Bauch und sagte: Herzlich willkommen auf Erden, Zwillinge!


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Karine musste dann mit einem Kaiserschnitt geöffnet werden, so wurden die Zwillinge geholt. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, wurde Simon zuerst ans Tageslicht gehoben. Ich besuchte Karine im Krankenhaus. Die Zwillinge lagen als Frühgeburten in einem Brutkasten. Karine legte mir Simon in die Arme, er sah mich aus großen Augen an, er war sehr klein und dünn. Dann legte Karine mir Milan in die Arme, er war recht gut ausgebildet und lag mit geschlossenen Augen entspannt in meinen Armen, an meinem Herzen. Ihr Geburtstag war der 20. Oktober 2003.


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Einen Monat und einen Tag früher hatte Karines beste Freundin Evi ihren zweiten Sohn Tom geboren, am 19. 9. 2003. Die Zwillinge und Tom wurden später die besten Freunde.


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Ich hatte für Karine ein Bild auf eine Holzplatte gemalt: Karine mit Juri im Arm, und unten am Bildrand die Seelen der Zwillinge wie kleine Engel. Karine sagte: „Das bin ja nicht ich, sondern das ist Maria.“ Ich sagte: „Aber ich habe es nach einem Foto von dir mit Juri gemalt.“ Karine verehrte ich von nun an als meine kleine Gottesmutter auf Erden.


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Karine lebte nun mit ihrem Freund Detlef und Juri und Milan und Simon und der weißen Katze im Hasenweg in Oldenburg-Osternburg, am Ende der Stadt, schön in der Natur, in einem bäuerlichen Haus mit sehr großem Garten, ringsumher Weiden mit vielen Tieren und einem Spazierweg zum Kanal mit dem Deich voller Schafe und einem kleinen Wäldchen.


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Im Winter hatte mich Karine zum Kinderhüten eingestellt. Da sie ja oft nachts wach sein musste, brauchte sie ihren Mittagsschlaf. Der Weg zu Karine von mir dauerte mit dem Fahrrad etwa 40 Minuten, ich betete auf dem Weg immer das Rosenkranz-Gebet. Mittags teilte ich mir dann mit Detlef die Betreuung der Zwillinge. Detlef hielt meistens Simon in den Armen und ich Milan. Ich wiegte ihn hin und her in meinen Armen, murmelte immer „Ave Maria“ und gab ihm sein Fläschchen mit Milch, wenn er Hunger und Durst hatte. Da hätte ich so gerne eine Mutterbrust wie eine Frau gehabt, da hätte ich ihn so gerne gestillt. Aber Gott hat nur Karine als Frau und Mutter geschaffen und mich als Mann.


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Nachdem ich das so drei Monate gemacht, sagte ich zu Karine: Ich helfe dir weiter, aber ich nehme kein Geld mehr dafür. Ich will nicht dein Angestellter, sondern dein Freund sein. Ich tue es nicht um Geld, sondern aus Liebe.


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Milan war kräftig, er konnte an Karines Mutterbrust die Muttermilch saugen, die er brauchte. Aber Simon war schwach, er konnte nicht stark genug saugen. Karine wollte ihm aber keine künstliche Milch geben. So besorgte sie sich ein Gerät, eine Art Pumpe, mit der pumpte sie Muttermilch für Simon in ein kleines Fläschchen und gab ihm so die Milch. Da lag sie in ihrem Schlafzimmer mit der Pumpe an ihrer nackten Brust, und Karine und ich unterhielten uns dabei ganz entspannt, als es mich plötzlich überkam und ich sagte: „Karine, ich möchte auch von dir gestillt werden!“


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Im Winter waren Karine und ich im Wohnzimmer. Da war ein Sofa, das man ausziehen konnte und es so in ein Bett verwandeln. Da war ein Bücherregal, ein Fernseher, eine Musikanlage. An der Wand hing das Bild eines antiken Frauenkopfes aus Marmor, von Efeu überwuchert, vom Friedhof aus Paris. Dies Bild hatte ich Karine in unserer gemeinsamen Jugend geschenkt. Die Zwillinge standen auf der Fensterbank,ich hielt sie fest, wir schauten aus dem Fenster auf eine große Weide. Vom Himmel fiel Schnee. Die ganze Natur war weiß. Und da sang ich:


Schneeflöckchen,

Weißröckchen,

Wann kommst du geschneit?

Du kommst aus den Wolken,

Dein Weg ist so weit.


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Wenn Detlef Milan wickelte, sah er ihn an und sagte: „Du bist Dumpfi.“ Ich war empört. Nein, Milan ist nicht dumpf! Er sieht aus wie ein Pfirsich, und seine Lippen sind wie Karines Lippen so schön, dass ich sie immer küssen möchte: „Du sollst Knutschi heißen!“ („Knutschen“ nannte Karine das Küssen.)


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Waren an Milan die Lippen so appetitlich für einen Menschenfresser wie mich, so waren an Simon besonders seine Ohrläppchen appetitlich: „Du sollst Öhrchen heißen!“ Und ich versuchte immer, in Simons Ohrläppchen zu beißen. Aber er hörte sich gar nicht so gerne Öhrchen genannt. „So sollst du Püppchen heißen!“ Aber nein, Püppchen hörte er auch nicht gerne.


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Karine lernte das afrikanische Trommeln auf ihrer Djembe-Trommel in einer Trommelgruppe im Jugendzentrum Alhambra von einem Afrikaner. Während sie trommelte, schob ich die Zwillinge im Doppel-Kinderwagen durch die Gegend, und während sie schliefen, betete ich den Rosenkranz und sang Marienlieder. Manchmal kam ich eher zurück ins Jugendzentrum, und Milan und Simon hörten Karine beim Trommeln zu.


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Wenn Karine mal abends feiern gehen wollte mit ihren Freundinnen, nahm Karines Mutter Maite die Zwillinge, Juri schlief dann bei mir zuhause, das war immer ungeheuer schön für mich. Ich las Juri vor, wir sahen Zeichentrickfilme von Bibel-Helden und malten Bilder, Juri malte am liebsten riesige Drachen mit sehr kleinem Drachentöter, wobei immer Blut floss. Auch malte ich für Juri Labyrinthe, er musste dann den Weg finden. Morgens gingen wir mit Apfelsaft und Brötchen auf den Spielplatz, mittags aß Juri mit mir im Imbiss, er Milchreis mit Zimt und Zucker, ich ein halbes Hähnchen mit Pommes frites.


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Maite wollte nicht Oma genannt werden, sondern Amani. Sie war vom stolzen Volk der Basken, und in der baskischen Sprache heißt Großmutter: Amani. Amani las den Zwillingen vor, fütterte sie, ließ sie mit Spielzeug spielen, sie schliefen dann bei ihr im Bett.


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Amani nannte Simon immer in ihrem gebrochenen Deutsch mit starkem französischen Akzent „Schimòn,“ mit Betonung auf der zweiten Silbe und das -on französisch durch die Nase gesprochen. Ich nannte die Zwillinge inzwischen auch „Schimi und Mimi“.


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Karine benutzte immer noch die Milchpumpe an ihrem Busen. Aber die war zu kräftig, so dass sich mit der Muttermilch Blut mischte. Karine war wie eine Pelikan-Mutter, von der man erzählt, dass sie mit ihrem Schnabel ihren Busen aufreißt, um ihre Küken mit ihrem eigenen Blut zu ernähren. Und so ist ja auch Jesus diese Pelikan-Mutter, der sein Herz aufreißt, um uns mit seinem Blut vom Tod zu erlösen.


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Wir fuhren alle in den Urlaub auf die ostfriesische Insel Baltrum. Am Bahnhof in Norden begrüßten uns meine Eltern. Karine schlief mit den Zwillingen in einem Bett, Evi schlief mit Tom und Quentin in einem Zimmer, und ich schlief mit Juri und Detlef in einem Doppelbett. Frühmorgens lagen dann da drei Säuglinge, Milan und Simon und Tom, und wurden von Karine und Evi gewickelt. Mittags machten alle Mittagsschlaf, ich führte dann den dreijährigen Juri im Bollerwagen durch das Naturschutzgebiet spazieren, er schlief dann im Frieden der Natur ein. Juri mochte gerne die frischen Fischbrötchen, aber Quentin war Vegetarier und stritt sich mit uns, es sei böse, Tiere zu essen. Ich sagte: „Tiere essen auch Tiere.“ Da sagte Quentin: „Dann ist die Natur auch böse.“ Ich ließ die streitende Gruppe allein und ging spazieren, da kam ich zur katholischen Kirche von Baltrum, der Altar hatte die Form einer riesigen Muschel, es begann gerade der Gottesdienst, der Priester bat mich, aus der Bibel vorzulesen. Nach dem Gottesdienst ging ich mit himmlischem Frieden im Herzen zu den Meinen zurück. Abends sprach ich mit Evi und Karine. Ich hatte ein Buch über die Jungfrau der göttlichen Weisheit gelesen. Die kann nur von Ehelosen gefunden werden, Mönchen oder Nonnen, nicht aber von Müttern, die nur an ihre Kinderstube denken. „Oh, dann können Evi und ich sie ja nicht finden“, sagte Karine.


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Karine wollte ihr Studium der Slawistik und Politik beenden und brachte darum vormittags Milan und Simon in eine Kinderkrippe. Dort lernten „die Kleinen“ (wie wir sie immer nannten) Mozarts Zauberflöte kennen. Milan war begeistert von Papageno, dem lustigen Vogelfänger. Ich schenkte den Kindern einen Film, eine Aufzeichnung der Zauberflöte für Kinder, von Marionetten gespielt. Auch machte ich selbst ein kleines buntes Kinderbuch über Papageno. Da malte ich die Königin der Nacht wie die Himmelskönigin Maria, auf einer Mondsichel stehend. Die Zwillinge wunderten sich und waren irritiert, denn die Königin der Nacht in der Zauberflöte ist eine böse Hexe, aber die Himmelskönigin Maria ist die gütige Mutter aller Kinder. Weil Milan von dem Vogelfänger so begeistert war, wollte ich ihm einen Singvogel im Käfig schenken, aber Karine sagte: „Tiere im Käfig, das gibt es bei mir nicht.“


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Einmal holten Karine und ich die Kleinen mit dem Auto von der Kinderkrippe ab. Da zitierte ich Karine einen Weisheitsspruch aus der Bibel: „Eine ständig redende Frau ist für einen stillen Weisen wie für einen alten gebrechlichen Mann ein Sandhügel, den er hinaufsteigen muss.“ Da sagte Karine: „Oh Toto, das ist frech!“


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Eines Abends rief mich Karine mit dem Telefon an: Milan hatte Fieber, ich solle kommen. Ich fuhr mit dem Bus zu ihnen. Im Wohnzimmer hatte Karine das Sofa in ein Bett verwandelt. Ich nahm Milan in die Arme und sprach beruhigend auf ihn ein, während ihm Karine ein Fieberzäpfchen in den Popo schob. Milans Augen waren vom Fieber ganz groß geworden, glänzend, fast glühend. Ich sah in seine Augen und sah in seinen Augen den leidenden Jesus. Ich blieb dann über Nacht und schlief mit Milan auf dem Schlafsofa. Ich trank noch eine Flasche Wein, sah in die Nacht hinaus in den Sternenhimmel und bat Maria, mich und Milan mit ihrem Sternenmantel zuzudecken. Es war Adventszeit, und als ich mich neben Milan legte und sein Händchen hielt, kam es mir vor, als sei Weihnachten und ich sei in Bethlehem im Stall und schlief mit dem göttlichen Jesuskind in einer Krippe.


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Einmal erklärte mir Karine, wie man Kinder in Windeln wickelt. Im Kinderzmmer neben den beiden Gitterbettchen stand eine Wickelkommode. Nun wickelte ich das erste Mal im Leben ein Kind. Ich sah eine Vision: Die Mutter Maria wickelte das Jesuskind, dann bat sie den heiligen Josef, das Jesuskind zu wickeln. Maria wusch die Leinenwindeln selbst. Und als die Heiligen Drei Könige kamen, das Kind anzubeten, gab Maria ihnen einee saubere Windel mit als Reliquie.


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In der Vorweihnachtszeit saßen Karine und ich mit den drei Kindern im Wohnzimmer. Karine hatte ein Buch mit Weihnachtsliedern, die sie uns vorsang. Sie konnte wirklich sehr schön singen.


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An eine Weihnachtsfeier bei mir zuhause kann ich mich noch erinnern. Ich hatte Kerzen anzeündet und das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach angemacht. Karine wartete mit den Kindern im Schlafzimmer. Da klingelte es an der Tür, das Christkind brachte die Bescherung. Die Kinder kamen ins Wohnzimmer und packten die Geschenke aus. Der Tisch war voll Süßigkeiten und Nüssen und Kuchen. Juri bekam eine Musikanlage und eine Geschichte von Narnia als Hörbuch. Simon sagte: „Oh, Juri hat viel zu viel bekommen.“ Und dann machten wir es uns auf den Sofas gemütlich und hörten das Narnia-Buch. Und auch die Kleinen waren fasziniert. In der Folge bekamen sie alle drei alle Narnia-Bücher als Hörbücher. Drei Narnia-Bücher waren auch verfilmt, die sahen wir uns an. Die Kinder waren wirklich begeistert von Narnia. C.S. Lewis, das hast du gut gemacht.


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Pünktlich zum Heiligen Abend fuhr Karine mit allen Kindern und mit Amani nach Hamburg zu Opa Konrad und seiner Frau Christel.


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Karine hatte eine junge Frau, eine Studentin angestellt, die die Wohnung saubermachte. Sie hieß Kathrin und war wirklich wunderschön. Ich sagte zu ihr: „Wenn ich Maler wäre, würde ich dich malen.“ Sie war auch sehr lieb zu den Kindern. Ich übernachtete öfters im Wohnzimmer und betreute dann morgens alle drei Kinder, wenn Karine noch schlief. Manchmal kam auch Detlef vorbei und war bei den Kindern. Einmal sagte Kathrin zu mir: „Wenn ich morgens komme, weiß ich immer, wer da ist, du oder Detlef. Wenn Detlef da ist, schweigen alle oder sitzen vor dem Fernseher, wenn du da bist, hört man fröhliche Kinderstimmen mit dir scherzen.“


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Wenn ich die Kleinen abends ins Bett brachte, jeden in sein Gitterbettchen, las ich ihnen vor. Ich musste immer ganz gleichmäßig vorlesen, nicht pathetisch wie im Theater, auch durfte ich den Text nicht vorsingen wie in der Kirche. Dann machte ich ein Kreuz an die Bettchen. Ich hatte immer ein kleines Fläschchen Weihwasser bei mir, damit segnete ich die Kinder. Ich hielt dann ihre Händchen, bis sie eingeschlafen waren. Ich betete noch mit ihnen:


Maria, breit den Mantel aus,

Mach Schirm und Schild für uns daraus,

Lass uns darunter sicher stehn,

Bis alle Stürm‘ vorüber gehen.

O Mutter voller Güte,

Uns allezeit behüte!


Oder:


Schlaf selig und süß,

Schau im Traum‘s Paradies!


Oder:


Zwei Engel stehen zu deiner Rechten,

Zwei Engel stehen zu deiner Linken,

Zwei Engel stehen an deinem Kopf,

Zwei Engel stehen an deinen Füßen,

Zwei Engel schweben über dir

Und zeigen dir den Weg ins Paradies.


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Im Winter gingen Karine und ich mit den Kindern in die verschneite Natur. Das war vielleicht eine Aufregung, bis alle winterfest angezogen waren. Karine und ich zogen die Kinder mit dem Schlitten über die verschneiten Wege. Natürlich machten wir auch eine Schneeballschlacht und bauten einen Schneemann. Ein Weg auf unserm Spaziergang hieß „zu den sieben Bösen“, das war ordentlich schaurig! Wer waren wohl diese sieben Bösen? Aber wenn man den Weg ging, kam man zu gar nichts Bösem, sondern zu einem Pferd. Und Karine hatte immer einen Apfel dabei, dass die Kinder das Pferd füttern konnten.


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In der Natur umher waren viele Tiere zu sehen. Auf den Wiesen war manchmal ein scheuer Hase zu sehen oder ein scheues Reh, auf den Weiden standen Pferde, einmal sah ich ein Rebhuhn, auf den Weiden standen Kühe und auf dem Deich am Kanal weideten Schafe. Einmal ging ich mit den Kindern spazieren, da stellte sich uns ein Ziegenbock in den Weg.


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Über die Vorfahren: Karine ist in Paris geboren, also eigentlich eine Französin, sie lebte aber vom vierten Lebensjahr in Deutschland, studierte später in Berlin und Paris. Karines Mutter Maite (eigentlich Marie-Therese) ist baskischer Abstammung (aus dem französischen Baskenland). Karines Vater Konrad stammte aus Ostpreußen, Königsberg, heute Russland, war aber Weltbürger, lebte in Paris und Brüssel und Amerika, zuletzt in Hamburg.


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Im Garten hielt Karines Nachbarin Steffi einen Han und eine Schar Hennen. Das war sehr interessant zu beobachten. Der Hahn hieß Manni und war nicht gerade zärtlich, wenn er eine seiner Hennen bestieg. Die Hennen mit ihren Küken waren ausgebrochen liebevoll. Ich sagte einmal zu Karine: „Ich habe nicht das Herz eines Vaters, sondern das Herz einer Großmutter.“ Da lächelte Karine und sagte: „Du bist keine Großmutter, sondern eine Glucke.“


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Einmal kam auch Luise, die Großmutter väterlicherseits. Sie gab uns allen Brathähnchen aus. Sie sagte zu Karine: „Da Detlef sich so wenig um die Kinder kümmert, aber Toto so viel, scheint mir, dass Toto der Vater ist und du, Karine, hast die Kinder nur Detlef untergeschoben.“ Das erzählte mir Karine amüsiert. Karine und ich wussten ganz genau, dass ich nicht der leibliche Vater war, da wir nicht miteinander geschlafen hatten.


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Öfter, wenn ich bei Karine im Wohnzimmer geschlafen, mussten wir nachts mit den Kleinen ins Kinderkrankenhaus, denn sie hatten öfter Bronchialkatarrh oder Fieber. Das war anstrengend, schweißte uns aber noch mehr zusammen. Ich ging auch mit Karine und allen drei Kindern zur Kinderärztin. Karine sagte: „Das ist unser Hausfreund.“ Milan hatte ein kleines Loch im Herzen. Die Ärztin untersuchte das Herz mit einem Ultraschallgerät, und auf dem Computerbildschirm konnte ich wie in einem Film das Innere des Herzens Milans sehen. Was für eine wunderbare Schöpfung Gottes!


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Im Sommer fuhren wir alle in die Ferien nach Rügen: Konrad, Maite, Karine, Detlef, Juri, Milan und Simon und ich. Alle hatten ihre Zimmer in der Ferienwohnung, ich aber schlief allein im Wohnwagen. Einmal schlief Juri bei mir im Wohnwagen, da war nachts ein Sturm und Regen und Donner und Blitz, das war sehr majestätisch. Ich las in einem alten philosophischen Epos aus Indien: Dem Weisen ist Gold nicht mehr wert als ein Kieselstein. Das stimmt, denn auch Karines Kinder waren an Kieselsteinen mehr interessiert als an Geldmünzen. Die Vermieter der Ferienwohnung hatten einen Hund, einen Rottweiler. Aber Opa Konrad ging mit Milan und Simon zu dem Rottweiler. Das fand ich sehr gefährlich. Einmal erzählte mir Konrad: „Die Zwillinge spielten vorm Haus Ball, der Ball rollte auf die Straße, die Kinder hinterher, Detlef sah zu und rührte sich nicht. Da war der Typ für mich gestorben.“ Ich hatte neue Kosenamen: Simon nannte ich Chou-Chou (schlaf schön) und Milan nannte ich Mignon (niedlich). Aber Maite fand das gar nicht lustig. Wir sind jeden Tag an den Strand gegangen. Abends hab ich immer meinen Rotwein getrunken und in meinem philosophischen Buch aus Indien gelesen. Eines Tages machten wir einen Ausflug zum Kap Arkona. Da war ein Leuchtturm und ein Saal, wo traditionell Hochzeit gefeiert wurde. Karine sagte zu mir: „Toto, sollen wir hier heiraten?“ Ich: „Aber Karine, ich bin doch ein eheloser Mönch.“ Abends sagte ich zu Karine: „Oder wollen wir doch heiraten?“ Ich wollte nämlich gerne Papa für die Kinder sein. Karine: „Ach, wir sollten das doch lassen. Ich liebe dich wie einen Bruder und noch mehr.“ Und so blieb ich Mönch. Ich ging zum Strand und sah den Sonnenuntergang, der Horizont und das Meer war ganz golden, da verlobte ich mich mit der Weisheit Gottes.


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Was ich fast vergessen hätte: Karine war im Meer baden, ich war mit Konrad und den Kindern in einem Strandcafé, Konrad und ich tranken Bier. Konrad ließ Milan und Simon den Schaum auf dem Bier probieren, aber es schmeckte ihnen nicht. Mit zwei Jahren das erste Bier!


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Karine begann, chinesische Atem-Meditationen zu machen. Um das zu lernen, fuhr sie Nach Berlin zu einer Verwandten, die in einer chinesischen Meditationsgruppe war. Karine nahm Milan und mich mit. Milan war zwei Jahre alt. Juri blieb bei Detlef, Simon bei Amani. Vormittags war Karine dann in Berlin im Tiergarten meditieren, ich ging mit Milan im Kinderwagen spazieren. Wir waren an einem Ententeich, da sang ich ihm Alle meine Entchen vor. Dann waren wir in einer katholischen Kirche, ich zeigte ihm die Statue der Mutter Gottes. Über dem Taufbecken war eine steinerne Taube. Milan sagte: „Piep“. Dann waren wir bei einem Bauernhof und sahen uns die Pferde und die Schweine an. Auf einer Wiese ließen Leute Drachen steigen. Da war eine Frau mit einem kleinen Schoßhund. Milan hatte eigentlich Angst vor Hunden, aber diesen Schoßhund hat er gestreichelt. Nachmittags spielten wir, er spielte gerne mit Bauklötzen, da baute er einen Turm und setzte den letzten Stein drauf und zeigte mir sein Kunstwerk. Er sagte „Mama“ zu mir. Ich dachte: Die Weisheit Gottes ist ein göttliches Kind und es spielt vor Gott Vaer. Am Anfang der Welt hat das göttliche Kind mit den Bausteinen von Elementen und Atomen den Kosmos gebaut, und als es fertig war, hat es den Kosmos dem Vater im Himmel gezeigt, und der hat den Sohn Gottes für seine Arbeit gelobt. Mit Karine waren wir auch im Zoo. Da sahen wir Affenmütter mit Kinderaffen auf dem Rücken, gefährlich aussehende Gorilla-Männchen, ein Elefantenbaby, einen Tiger, Kamele und Dromedare und Lamas, und im Streichelzoo streichelte Milan kleinen Ziegen. Das war mein Berlin, die Hauptstadt Deutschlands.


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Als Tom drei Jahre alt war, bat Evi mich, dass ich mich auch um Tom kümmere. So hab ich noch einen Pflegesohn bekommen. Wenn Evi und ich mit Tom und Quentin zu Karine und ihren Kindern fuhren, dann schwatzten Karine und Evi miteinander, Juri spielte mit Quentin, Tom spielte mit Milan und Simon, und ich saß im Garten und rauchte und langweilte mich. Wenn Karine mit ihren Kindern zu Evi kam, dann saßen wir in Evis schönem Garten, die Kleinen spielten im Garten, schaukelten, kletterten in die Bäume, Juri verschwand in Quentins Zimmer, Karine sprach mit Evi, ich saß auf der Gartenbank und fühlte mich wie ein alter Patriarch aus dem Alten Testament, der sah auf seine Frauen und vielen Kinder, die alle fröhlich waren, und dankte seinem Gott.


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Nach den Hörbüchern mit den Narnia-Romanen schleppte ich weitere Hörbücher an: Die Märchen der Gebrüder Grimm, Die Märchen aus Tausend und Einer Nacht, Griechische Heldensagen. Die Kinder hörten sehr gerne Hörbücher.


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Auch alle meine Asterix-Comics hatte ich Karines Kindern geschenkt. Sie liebten Asterix und Obelix. Und Karine las sie auch sehr gerne vor und amüsierte sich immer sehr über Obelix, das gab dann viel Gelächter beim Lesen. Es gab auch Zeichentrickfilme über Asterix, die sahen wir uns auch an.


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Ich liebte das Versepos Reinecke Fuchs von Goethe. Und ich schrieb auch ein mittelalterliches Gedicht Reinecke Fuchs in ein hochdeutsches Gedicht um, das las ich Juri vor und er sagte: „Dafür, dass das von Toto ist, ist es nicht schlecht.“ Ich musste Simon und Milan immer Geschichten von Reinecke Fuchs erzählen. Nur Tom mochte Reinecke Fuchs nicht, weil er Tiere tot biss, und Tom liebte kleine Tiere.


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Wenn ich vor Karines Haus saß und rauchte, dann kamen Milan und Simon und standen um mich. Milan sagte: „Hör auf zu rauchen!“ Und Simon sagte: „Erzähl uns eine Geschichte!“ Simon hatte auch sehr viel Phantasie und erfand lange Geschichten.


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Ich erzählte Simon und Milan von Odysseus und Salomo. Odysseus hatte ein großes Holzpferd gebaut und im Bauch des Pferdes griechische Krieger versteckt und sann das Pferd den Feinden geschenkt, die es in ihre Burg Troja holten, da kamen nachts die Krieger aus dem Pferd und besiegten die Feinde. Das hatte Athene, die Göttin der Weisheit, dem schlauen Odysseus eingegeben. Und Salomo, der weise König von Israel, hatte die Königin von Saba aus dem Süden eingeladen. Da wollte er wissen, ob sie schöne oder behaarte Beine habe. Also bedeckte er den Boden seines Saales mit blauen Edelsteinen. Die Königin von Saba hielt es für Wasser und hob ihren Rock, dass er nicht nass wird. So konnte der weise Salomo ihre Beine sehen. Da fragte mich Simon: Wer ist klüger, Odysseus oder Salomo? Diese Frage erzählte ich meinem Prieester, und er war schwer beeindruckt von dieser intelligenten Frage.


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Ich hatte auch zuhause ein Hörbuch mit Gedichten für Kinder. Da hörten Milan und Simon den „Knaben im Moor“ von Anette von Droste-Hülshoff besonders gerne, das war so unheimlich schaurig. Aber auch wenn Goethes „Rattenfänger von Hameln“ vorgesungen wurde, freuten sich die beiden Knaben.


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Einmal saßen Karine und ich mit den Kindern beim Mittagessen. Ich betete: „Komm Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns gegeben hast.“ Karine sagte: „Ja, wenn Toto da ist, wird bei uns gebetet. Aber das Gebet heißt: Komm Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.“ Karine hatte ein Ritual, das ihr soviel wie ein Segnen der Mahlzeit war. Beim Kochen verwendete sie wenig Salz, und wenn dann der Teller mit Essen vor jedem stand, dann streute sie mit der rechten Hand jedem eine gute Prise Salz auf die Mahlzeit. Das war ihre Segensgebärde.


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Die Kinder mochten gerne Spinat mit Spiegelei und Kartoffelpüree, Spinatpizzaa, Milchreis mit Zimt und Zucker, Crepes mit Marmelade, Reibekuchen oder Kartoffelpuffer, Kräuterbutter-Baguette und Salatgurken mit Kräutersalz, selbstgemachte Gemüsepizza und Spaghetti mit Tomattensauce und Zwiebeln und Schafskäse.


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Es gab natürlich auch fröhliche Kindergeburtstage. Da war das Haus dann voll Kinderfreunden aus dem Kindergarten. Es gab eine Schatzsuche, da Karine eine Kiste mit Süßigkeiten und Spielzeug irgendwo in der freien Natur versteckt hatte und rote Bänder in die Bäume gehängt, so mussten die Kinder die Schatzkiste suchen. Es gab genügend Kuchen. Juri liebte vor allem den Bienenstichkuchen. Abends bereitete ich für alle Kinder einen Backofen voll Pommes frites und Pfannen voll Bratwürstchen.


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Einmal machten wir in meinem Geburtsort Hage Urlaub. Meine Eltern hatten uns eine Ferienwohnung in Berumbur gemietet, wir waren jeden Tag am See baden. Morgens schlief Karine länger, dann ging ich mit den Kindern zum Spielplatz, wo wir frische Croissants und Apfelschorle frühstückten. Mittags machten alle Mittagsschlaf, ich ruhte mich im Gebet aus. Einmal war ich mit Milan allein im See, da dachte ich: Ich will Milan heimlich taufen. Ich goss ihm also dreimal mit der hohlen Hand etwas Wasser über sein blondes Köpfchen und sagte: Hiermit taufe ich dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und in deinem Namen widersage ich dem Bösen und folge Jesus nach. Das erzählte ich später meinem Beichtvater, er sagte, das sei keine gültige Taufe. Wir waren auch einen Nachmittag bei meinen Eltern. Meine Mutter machte Reibekuchen für alle. Sie stellte dazu den Zuckertopf auf den Tisch. Karine gab mir einen Wink mit den Augen, ich solle heimlich den Zuckertopf wegstellen. Ich spielte dann mit den Kindern Fußball im Garten meiner Eltern. Mein Vater sagte zu den Kindern: „Toto ist eine Flasche, was den Fußball betrifft.“ Das fand ich sehr verletzend. Zum Abschieed schenkten meine Eltern jedem Kind eine Stoffpuppe von den Figuren der japanischen Karten, die sie sammelten.


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Wir spielten auch in Karines Garten Fußball. Da gab es sogar ein richtiges Fußballtor. Nur wenn ich den Ball trat, flog er irgendwohin, ich konnte wirklich nicht zielen. Aber wir hatten Spaß. Wir spielten auch Verstecken im Haus und im Freien. Besonders im großen Garten gab es gute Verstecke. Sonst tobten wir gerne im Wohnzimmer auf dem Schlafsofa, dann griffen mich alle drei Knaben an und wir rangen und kämpften unter viel Gelächter. Im Garten gab es auch eine Rutsche, und im Sommer ein Planschbecken. Besonders gerne rutschten die Kinder die Rutsche hinunter direkt in das Planschbecken.


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Ich kaufte allen drei Kindern Ritterschwerter aus Holz. Es gab Frauen, die meinten, ich solle doch kein Kriegsspielzeug verschenken. Aber die Knaben spieltern gerne Ritter. Sie kämpften besonders gerne gegen die Brennesseln im Garten und hieben den Feinden die Köpfe ab. Juri hatte von Detlef allerdings kleine Soldaten und Panzer geschenkt bekommen, und Karine und ich waren uns einig und warfen die Panzer weg.


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Ostern kam ich am Sonntagvormittag. Karine hatte Schokoladenostereier und andere Süßigkeiten (Juri mochte keine Schokolade) im Garten versteckt. Da suchten die Kinder, und wer suchet, der findet, wir saßen dann im Ostergarten, Karine und ich tranken Kaffee, und die Kinder vernaschten ihre Süßigkeiten.


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Einmal waren wir spazieren, wir drangen durch ein Dickicht von Gestrüpp, da fragten die Kinder nach der Bedeutungen ihrer Namen. „Milan heißt: der Liebe. Simon heißt: der von Gott Erbetene. Juri heißt: der Landmann.“ Juri war enttäuscht. Aber Juris Namensheiliger war Sankt Juri (Sankt Georg), der Schutzpatron der Ritter und Drachentöter. Simons Namensheiliger war der heilige Simon Stock, dem die Mutter Gottes Maria erschienen und ihm ein Stück ihres Schutzmantels geschenkt. Milans Namensheiliger war der heilige Maximilian Kolbe, der im KZ Auschwitz sich den Nazis angeboten, sie sollten doch ihn töten anstelle des jüdischen Familienvaters. „Karine heißt: die Geliebte. Torsten heißt: der Donnerhammer Gottes.“


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Zu einem Kindergeburtstag machte ich eine Einladungskarte mit dem Bild von Botticelli, Athene, die Göttin der Weisheit, mit einem Zentauren darstellend, eine Ikone des florentinischen Neuplatonismus. Simon sah sich Athene an und urteilte mit Kennerblick: „Das muss wohl eine Hamadryade sein.“ Apropos Botticelli. Sein Gemälde Primavera oder der Frühling war Juris Lieblingsbild, die Göttin des Frühlings war sein Schönheits-Ideal.


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Karine machte eine Kur auf der nordfriesischen Insel Sylt. Für drei Tage besuchte ich sie mit Juri. Juri und ich schliefen in der Jugendherberge. Wir lasen Prinz Eisenherz zusammen. Tags waren wir mit Karine am Strand. Mittags schlief Karine mit Juri in der Jugendherberge, ich saß draußen und betete: Die Toten sind in Gott, und Gott ist allgegenwärtig, also sind die Toten auch allgegenwärtig, sie sind mitten unter uns, nur unsichtbar. - Die Zwillinge waren in der Zeit bei ihrer Großmutter. Anschließend reiste ich mit Milan und Simon nach Sylt, Juri blieb bei der Großmutter (sie fand ihn anbetungswürdig). Ich reiste mit den Zwillingen zuerst zu Konrad, ihrem Opa, nach Hamburg. Dort ging ich mit Milan und Simon in die Kirche des heiligen Josef mit dem Pflegekind Jesus und empfahl ihm unsere Reise. Mit Konrad fuhren wir zu Karine nach Sylt, die Kinder schliefen bei Karine im Kurheim, ich und Konrad in einer Ferienwohnung, er erzählte mir abends beim Wein aus seinem Leben. Eines Mittags saß ich allein am Strand und sah auf das Meer, da schwebte die Jungfrau Maria über dem Meer, es war ein Meer der Liebe, ich dachte an die Weisheit Gottes, das Hätschelkind von Gottvater, die Weisheit Gottes war mir wie ein kleiner blonder vierjähriger Knabe. Ich sprach zu Karine von der „platonischen Knabenliebe“. Eines Mittags kam ich vom Meer, ging zu Karine und den Zwillingen ins Kurheim und machte Karine kniend und mit einem Blume in der Hand einen Heiratsantrag – den dritten in meinem Leben, keiner anderen Frau hab ich je einen Heiratsantrag gemacht, aber Karine sagte: „Aber du liebst doch Evi!“ Es war Ostern, Karine hatte Schokoladeneier versteckt, mitten im Brombeerendorngestrüpp, Konrad humpelte hinter uns her, die Kinder freuten sich. Wir waren auch im Schwimmbad, Die Kinder konnten noch nicht schwimmen, ich hielt sie, dass sie auf meinen Armen im Wasser sich bewegen konnten. Konrad sagte: „Bei mir haben sie Angst, aber bei dir sind sie ganz ruhig.“ Karine war wunder-wunderschön im Bikini.


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In Oldenburg waren wir auch öfters schwimmen, zum einen im Schwimmbad, da machte Juri seinen Schwimmkurs, Karine schwamm ihre Bahnen, ich spielte mit den Kleinen im Kleinkinderplanschbecken. Das Wasser war lauwarm. Juri sagte: „Das Wasser ist so warm, weil die kleinen Kinder immer ins Wasser pinkeln.“ Wir waren auch am Oldenburger Tilly-See baden, Karine schwamm, ich spielte mit den drei Kindern halb am Strand, halb im Wasser. Karine war so schön, wie eine Najade.


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Milan und Simon übernachteten oft bei mir. Sie schliefen in meinem Schlafzimmer, ich schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa. Morgens schauten die Kinder biblische Zeichentrickfilme, ich betete in der Zeit mein Morgengebet auf dem Balkon. Dann gingen wir zum Bäcker, kauften Croissants und Apfelsaft und gingen zum Spielplatz, frühstückten dort, die Kinder spielten, ich sah ihnen zu. Mittags gingen wir in den Imbiss und aßen Pommes frites. Dann holte Karine sie wieder ab.


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Einmal übernachteten Milan und Simon und ihr bester Freund Tom bei mir. Der Bibelfilm morgens zeigte, wie Abraham dachte, er müsse seinen Sohn opfern. Milan und Simon hatten etwas Angst, aber Tom sagte: „Das geht aber gut aus!“ Tatsächlich sagte Gott zu Abraham: Opfere deinen Sohn nicht. Ich saß auf dem Balkon, die drei Knaben drängelten sich um meine Knie, ich spielte Menschenfresser und wollte Simon in sein appetitliches Öhrchen beißen. Tom verstand den Spaß nicht, wollte seinen Freund Simon verteidigen und biss mir ins Ohr, er biss mein Ohr blutig. Nachdem wir im Wäldchen auf dem Spielplatz gewesen, spielten die drei Knaben friedlich in meiner Wohnung mit dem Spielzeug. Dann kamen Evi und Karine, ihre Söhne abzuholen. Karine sah den Frieden unter den Kindern und sagte zu Evi: „Toto hats drauf mit der Kindererziehung.“


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Ich hatte noch von meiner Wallfahrt ins Marien-Heiligtum Lourdes in Südfrankreich ein kleines Fläschchen in Form der Jungfrau Maria, gefüllt mit Lourdes-Wasser. Ich gab den Kindern immer einen kleinen Schluck, bis einer der Zwillinge sie eines Tages ganz leer trank. Karine sagte: „Was ist denn da drin?“ Ich sagte: „Das ist allerreinstes Quellwasser.“


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Milan schenkte ich einen Trinkbecher mit den beiden Engelskindern zu Füßen der Sixtinischen Madonna. Aus Gerechtigkeit kaufte Karine noch zwei solcher Trinkbecher für Juri und Simon.


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Einmal gab es Streit zuhause, Karine schimpfte mit den Kindern und verteilte Ohrfeigen. Da rief Milan: „Ich zieh hier aus! Ich zieh zu Toto!“ Einmal sagte Milan: „Die Welt sollte nur aus Torstens bestehen.“


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Karine wollte, dass die Kinder Musikunterricht bekommen. Wir brachten Juri zur musikalischen Früherziehung. Im Auto fiel mir plötzlich ein Lied ein von Charlie Chaplin aus dem Film „der große Diktator“, und ich sang: „Wir Arier, wir Arier, wir kämpfen gegen Volk und Vegetarier.“ Die Kinder sangen alle drei kräftig mit. Karine lachte, hoffte aber, dass die Kinder das nicht in der Öffentlichkeit singen. Als Milan und Simon zur musikalischen Früherziehung kamen, saß ich mit den Zwillingen vor dem Unterrichtsraum und wartete auf den Unterrichtsbeginn, und erzählte den Kindern von Frau Weisheit. Da sagte Milan strahlend: „Ich weiß, wer Frau Weisheit ist – Maria!“ Da kam eine Musiklehrerin aus einem Raum und sagte zu mir: „Sie haben ja eine sehr schöne Bass-Stimme, aber bitte reden Sie etwas leiser, sonst kann meine Schülerin nicht Geige lernen.“


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Bei mir zuhause sagte Milan einmal: „Du sollst mal Gott malen! Gott und Jesus und die Taube und Maria!“ Ich zeichnete also Gottvater mit langem Bart auf seinem Thron, rechts von ihm Jesus stehen und ein Kreuz in den Armen, zwischen ihnen die Taube und unter der Taube Maria auf einer Mondsichel, alles nur in Umrissen mit einem schwarzen Stift. Milan malte das Bild dann in den lustigsten Farben aus, ich glaube, Gottes Gesicht sah aus wie ein Regenbogen.


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Ich hatte zuhause auch ein kleines Bild von Amor, dem kleinen Liebesgott der alten Römer. Amor war ein sechsjähriger nackter Knabe mit Flügeln an den Schultern und Pfeil und Bogen in den Händen. Ich sagte: „Wen Amors Pfeil trifft, der beginnt zu lieben.“ Da spielte Milan Amor, schoss mir einen Pfeil ins Herz, ich stöhnte auf und sagte: „Oh ich liebe dich!“ Da lachte der kleine Amor vor Freude und wiederholte das Spiel noch mehrmals.


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Milan und Simon und vorher Juri auch waren im Naturkindergarten. Eine ihrer Kindergärtnerinnen war die blonde Bärbel, die mit mir in Ostfriesland aufs Gymnasium gegangen war und in die ich als Lehrling einmal etwas verliebt war. Einmal brachte ich mit Karine die Zwillinge in den Kindergarten, auf dem Rückweg gab ich Karine einen Kuss auf ihren schönen Mund. „Oh, nun gibst du mir auch noch einen Kuss auf den Mund“, sagte sie lächelnd. Besonders schön fand ich immer im November das Laufen mit den Laternen, wenn der ganze Kindergarten und alle Eltern durch die Natur zogen und die Kinder sangen: „Dort oben leuchten die Sterne, hier unten leuchten wir“ Da ging ich sehr gerne mit.


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Karine machte eine Kur in einem anthroposophischen Kurhaus, Maite und ich blieben bei den Kindern. Juri ging schon zur Schule. Ich brachte die Zwillinge mit dem Fahrradanhänger zum Kindergarten und holte sie mittags ab. Ich kaufte ein, Maite kochte, sie als Französin konnte lecker kochen. Nachmittags spielten wir. Abends brachte ich Juri in Karines Schlafzimmer ins Bett, ich las ihm Erich Kästner vor, wir plauderten noch etwas, bis er einschlief. Maite brachte die Zwillinge ins Bett, aber die standen wieder auf und kamen zu Juri und mir, und warteten, bis ich sie auch ins Bett gebracht hatte: „Schlafe selig und süß, schau im Traum das Paradies“… Dann setzte ich mich in den Garten, trank eine Flasche Rotwein, las in der Bibel, betete und schrieb Gedichte. Karine rief dann an und sprach mit Maite, wie es den Kindern gehe. Am Ende der zwei Wochen fragte ich Milan: “Wie hat es dir gefallen mit Amani und Toto?“ Und Milan sagte: „Nicht gut, wir mussten jeden Tag Zähne putzen...“


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Als ich mit Maite die Kinder hütete, ging ich eines Vormittags auf dem Hasenweg zum Deich und zu den Schafen spazieren, da war heiterer klar blauer Oktoberhimmel, die „liebe Sonne“ (wie Juri sie immer nannte) schien mild, aber kräftig, da sah ich die Sonnenstrahlen wie eine goldene Straße des Lichts, die von der Erde zum Himmel führte, und am Ende der goldenen Straße des Lichts war der Himmel offen, da saß auf dem weißen Thron Gottes die Schöne Liebe!


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Karine wollte, dass Milan und Simon getauft werden und dass ich ihr Pate werde. Ich sprach auch schon mit einer evangelischen Pastorin darüber. Leider kam es nicht mehr dazu.


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Ich nahm Juri einmal an einem Sonntag morgen mit in die Heilige Messe. Juri fragte mich: „Glaubst du an Gott?“ Ich sagte: „Ja.“ Er sagte: „Und ich glaube noch viel mehr an Gott als du!“ In der Heiligen Messe rief der Priester alle Kinder an den Altar, Juri stand da mit einem Haufen Kinder, sie beteten: „Vater unser, der du bist im Himmel!“ An einem Dienstag Nachmittag nahm ich einmal Milan und Simon ins Gemeindehaus mit, wo Heilige Messe gefeiert wurde. Der Priester gab den Kindern Kinderbilderbücher, in denen sie während der Messe blätterten. Als der Priester mir den Leib Christi reichte, machte er ein Kreuzzeichen auf die Stirn bei Milan und Simon und sagte: „Jesus ist euer bester Freund!“ Dann sah Simon das kleine Stück Brot, das der Priester in Jesus verwandelte hatte, und sagte: „Aha, das ist also Jesus?“ Ich sagte: „Ja.“


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Es war im Advent des Jahres 2009. Wir machten am Nachmittag einen Spaziergang. Alle drei Kinder rannten voraus, wir verloren sie aus dem Blick. Karine humpelte. Der Hasenweg war gefroren und spiegelglatt. Karine hakte sich bei mir ein und so gingen wir langsam und vorsichtig Arm in Arm weiter. Da sagte Karine: „Wir sind wie ein altes Ehepaar, Totolino. Wenn du bei mir bist, hab ich keine Angst vorm Tod.“ Überall lag Schnee, auf dem Weg, auf den Wiesen zu beiden Seiten, auf den kahlen Bäumen, die silberweißen Birken waren noch weißer geworden vom Schnee, es war ein weißer Nebel in der Luft. So war wirklich alles um uns ein mildes weißes Licht. Ich sagte: „Mir ist, als ob wir gerade in den Himmel spazieren.“ Und so war es auch, eine weiße Wolke nahm uns auf.


Dieses schrieb der arme Torsten Schwanke. Gott verzeih ihm seine Sünden alle.





SIEBENTER TEIL

DIE DÄMONEN


Mein erster Protest richtete sich gegen meine Großmutter, die eigentliche elterliche Autorität in meiner Kindheit. Ich sollte mit dem Rasenmäher ihren Rasen mähen und auch die Gänseblümchen mit abmähen. Da protestierte ich im Namen der Lebensrechte der Gänseblümchen. Dann plagten die Nacktschnecken meine Oma, weil sie ihre Erdbeerpflanzen ruinierten, und meine Oma streute den Nacktschnecken Salz auf die nackte Haut. Und vor der Tür zu ihrer Küche plagte sie das fleißige Volk der Ameisen, die ins Haus kamen. Da übergoss sie den Staat der Königin der Ameisen mit kochendem Wasser. Ich rebellierte, ich protestierte im Namen der fleißigen Ameisen-Arbeiter und der Nacktschnecken der freien Liebe gegen die göttliche Autorität meiner Großmutter. So wurde ich zum Rebellen.


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Bevor ich meine ersten Liebesgedichte schrieb, schrieb ich "philosophische Meditationen", ich erinnere mich an einen Dialog zwischen mir und "Herrn Mark Engel". Dieser Herr Mark Engel verkündete die Anarchie. Ich kannte nicht die Theoretiker weder der Anarchie noch des Marxismus, ich dachte nur, Marxismus und Anarchismus sind die Lehren der Herrschaftslosigkeit, einer Gesellschaft ohne Unterdrückung, einer Welt der Freiheit. Und Freiheit wollte ich, vor allem erst einmal Freiheit von Vater und Mutter und Freiheit von den Lehrern der Schule. Jugend begeistert sich immer für Freiheit! Die Frage ist nur, welche Lehre bringt Freiheit? Und zwar, wie Nietzsche sagt, nicht nur Freiheit VON etwas, sondern Freiheit FÜR etwas. Aber ich wollte nur heraus aus dem Elternhaus und frei sein wie die Vögel. Aber das war meine erste "Begegnung" mit Marx und Engels.


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Ich saß im Elternhaus und hörte Radio, da kam die Nachricht, dass zur Unterdrückung der freien Arbeitergewerkschaft Solidarnosc in Polen das Militär die Macht übernommen, der General Jaruselski das Kriegsrecht über Polen verhängt hatte. Im Polen ward in Gdansk (Danzig) die erste freie Gewerkschaft unter Führung von Lech Walesa gegründet worden. Nach dem Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II in seiner Heimat, da er auf einer Massenkundgebung von Solidarität (Solidarosc) und von der Herabkunft des Heiligen Geistes auf Polen gesprochen, hatte sich Solidarnosch massiv ausgebreitet in Polen. Das alles hörte ich nicht im Radio, das wusste ich auch nicht. Ich sah sozusagen nur ein weltgeschichtliches Drama von Gut und Böse. Die Guten, das waren die freiheitsdurstigen Arbeiter der Untergrundgewerkschaft, die Bösen, das war der General, das Militär mit dem Kriegsrecht. Das allein lernte ich. Das das Militär Kommunistisch war und die Arbeiter katholisch, das war mir nicht im geringsten bewusst. Ich solidarisierte mich im Herzen mit dem Kampf der Arbeiter gegen das Militär.


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In der Schule hatte ich einen neuen Gemeinschaftskunde-Lehrer bekommen, frisch von der Universität, mit Vollbart und langen Haaren. Ich schrieb einen Schulaufsatz und malte unter den Aufsatz das A im Kreis, das Zeichen der Anarchie. Der Lehrer beurteilte die Arbeit und schrieb zum Anarchie-Zeichen: Wenn Sie wissen wollen, was Anarchie ist, lesen Sie das Buch "der kurze Sommer der Anarchie" von Hans-Magnus Enzenberger. - Ich las das Buch, eines berühmten zeitgenössischen Schriftstellers Lobpreis der Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg. - Im Spanischen Bürgerkrieg hatten sich die Kommunisten in Stalinisten und Trotzkisten gespalten. Stalin unterstützte die stalinistische Kommunistische Partei mit Mitarbeitern des sowjetischen Geheimdienstes, die die Gegner der Kommunisten folterten. Die Kommunisten und die Anarchisten stritten miteinander. Einig war sich die Front der Linken nur darin, ob Stalinisten, Trotzkisten oder Anarchisten, dass die Christen in Spanien blutig zu verfolgen seien. Die Spanische Kirche hat im Spanischen Bürgerkrieg 40 000 Märtyrer hervorgebracht. Manche sagen, der Spanische Bürgerkrieg war der eigentliche Anfang des Zweiten Weltkrieges. Die Internationalen Brigaden aus militanten Kommunisten aller europäischen Länder kämpfte unter Stalins Einfluss gegen den Diktator Franco, der von Hitler und Mussolini unterstützt wurde. Mit diesem Buch über die Anarchie endete aber auch meine "anarchistische Phase", und wie ich zum Anhänger des Sowjetkommunismus wurde, erzähle ich das nächste Mal.


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Im Haus meiner Jugendgeliebten im Kult der Freien Liebe fand ich unter den Büchern ihrer Mutter ein Buch: Die Mutter, von dem russischen Schriftsteller Maxim Gorki. Mich interessierte der Titel. Es war ein Roman über die Kommunistische Partei in Russland. Hier war meine Erste Liebe zum Mysterium Russland. Die Jugend liebt Verwegenheit, Rebellen, Störtebecker, Robin Hood, Lenin, Ché Guevara, Kämpfer für die Rechte der Armen, Kämpfer für die Gerechtigkeit, Helden. Es war eine romantische Verklärung der russischen kommunistischen Bewegung. Berthold Brecht hat aus dem Roman ein Theaterstück gemacht, das von Hanns Eisler vertont wurde. Maxim Gorki war der Begründer des "sozialistischen Realismus", einer ganz und gar unpoetischen Literatur-Schule. Sie war eigentlich die Erfindung von Stalin. Stalin nannte den Schriftsteller "Ingenieur der Seele". Übrigens stellte meine Freundin mich ihrer Mutter vor und sagte: Er schwärmt für Lenin! - Warum? fragte mich die Mutter. Ich sagte: Weil er den Zaren gestürzt hat. - Sie fragte: Was war denn so schlecht am Zaren? - Da war ich perplex und stumm. Das hatte ich noch nie gehört, dass irgendein vernünftiger Mensch auch nur Ein gutes Haar an einem Zaren oder Kaiser finden könne. Inzwischen hat die russisch-orthodoxe Kirche den von den Bolschewiki ermordeten Zaren Nikolaus II als Märtyrer für den christlichen Glauben mit vielen tausenden anderen Märtyrern heilig gesprochen. Aber so kam ich über die Dichtkunst zum russischen Kommunismus.


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Vor mir stand die Frage, ob ich in einigen Jahren zur Bundeswehr gehe oder den Wehrdienst verweigere, mich der Gewissensprüfung vorm Staat unterziehe und Zivildienst leiste. Ich schrieb einen satirischen Dialog: Gewissensprüfung eines Kriegsdienstanwärters. Dort musste einer peinlich genau beweisen, wie er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, im Militär zu dienen. Mit diesem Text ging ich privat zu meinem Politiklehrer, der mir das Buch über die spanischen Anarchisten empfohlen hatte. Er las meine satire, fand sie gut und verwies mich an eine Monatszeitung, die von einem sozialdemokratischen Gymnasiallehrer herausgegeben wurde. Dort wurde meine Satire veröffentlicht. Nach einer kurzen Phase, da ich ein Buch mit Liebesgedichten (in freien Versen) vollgeschrieben hatte und zwanzig Seiten lange Liebesbriefe, wandte ich mein Schreibertalent nun ganz allein dem politischen Journalismus zu. Ich schrieb Flugblätter, Pamphlete, politische Aufsätze. Meine Beredsamkeit (die meine Kindheitsfreunde die Beredsamkeit eines Predigers nannten) strömte sich aus in den Reden eines Agitatoren, eines Propagandisten.


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Ich kam, ich weiß nicht mehr wie, in ein Haus eines Arztes. Seine Frau war Christin. In ihre Tochter Ursula verliebte ich mich, sie war wunderschön, ihre Schwester Anne war wohl in mich verliebt. Aber ihr Bruder war Marxist und gab mir zwei Bücher: Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels und ein Buch von Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Das Manifest verstand ich recht gut, es war einfach geschrieben, aber doch von sprachlicher Schönheit: Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus. Nur die Beurteilung des vormarxistischen, französischen, utopischen Sozialismus konnte ich nicht verstehen, dazu fehlte mir das Wissen. Lenin dagegen, nun, ich verstand kein Wort, es war ein Tanz von Zahlen und ökonomischen Fachbegriffen, trocken und unpoetisch. Aber es machte den Eindruck einer tief sachlichen Wissenschaftlichkeit, was immer leicht den Eindruck von objektiver Wahrheit macht. Der junge Marxist erklärte mir, im atomaren Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion sei Amerika der Agressor und die Sowjetmacht nur defensiv, sei eigentlich die größte Friedensbewegung der Welt. Wir lebten alle in großer Angst vor einem dritten atomaren Weltkrieg. Der junge Marxist wies mich daraufhin, dass eine Gruppe eines sozialistischen Jugendverbandes gegründet werden solle und lud mich dazu ein. Ich ging auch tatsächlich hin.


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Ich nahm teil an der Gründung der Ortsgruppe Norden der Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Jugend (SDAJ), der Jugendorganisation der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Anwesend waren ein Funktionär der SDAJ aus Bremen, die Parteivorsitzende der DKP Norderney (ein alte schreckliche Hexe), und einige Gymnasiasten, keineswegs Arbeiter, nämlich neben mir Volker, Folkert, Thomas, Werner, später kamen Sonja und Karin hinzu. Nur Werner war der Sohn eines Arbeiters. Die Monatszeitschrift der SDAJ war das Magazin "elan", das wir auf der Straße verkaufen sollten. Wir bekamen ein Parteibuch, in das wir monatliche Marken zu kleben hatten, die unsere Mitgliedsbeiträge waren. Ein Schein, denn DKP und SDAJ wurden mit Millionenbeiträgen aus der DDR finanziert. Wir wurden alle gleich zu Funktionären: Volker wurde Gruppenvorsitzender, ich schrieb die Sitzungsprotokolle, Werner war Kassierer. Unser Hauptaugenmerk wurde auf die Mitarbeit an der Friedensbewegung der BRD gerichtet, die protestierte gegen die Aufstellung US-amerikanischer Atomraketen auf dem Boden der BRD, allerdings kaum oder gar nicht gegen die Stationierung sowjetischer Atomraketen auf dem Boden der DDR (die zuerst erfolgt war).


(Fragment)




ACHTER TEIL

DON JUAN


Als der Gott der Schönen Liebe mich in den Schoß meiner Mutter gelegt hatte, machte ich meine erste Erfahrung mit der Frauenliebe. Meine Tante Petheda erzählte mir: Ich wollte deine Mutter besuchen, da traf ich deinen Vater, der besorgt aussah und sagte: Doris ist krank. Ich ging zu deiner Mutter, sie lag im Bett und sagte unglücklich: Ach, ich bin wieder schwanger. - Dieses Unglück meiner Mutter legte sich auf meine Seele als ein schwarzer Schleier der Traurigkeit, des Gefühls, nicht gewollt und nicht geliebt zu sein auf Erden. Dieser Fluch wird mich bis an mein Lebensende plagen. Als ich geboren wurde, öffnete meine Großmutter ihr Herz für mich und nahm mich als ihren Liebling an. In meiner Kindheit war meine Großmutter, eine Witwe, also eine Jungfrau, die Stellvertretung der Gottesliebe an, davon ich mir das Gottesbild angeeignet habe, dass Gott eine Große Mutter ist. Darum ward ich auch psychotisch, als meine Großmutter starb, darum in der Stunde des Todes meiner Großmutter begann ich, GOTT anzubeten.


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Meine Eltern hatten gebaut ein Haus für sich und ihre zwei Söhne und gleich daneben ein Haus für die Großmutter. Auch der kleine Blaufärberweg in Hage bestand erst aus Sand. Gegenüber war das Haus von Familie Athen, die auch neugebaut hatten. Meine Mutter und Frau Athen feierten das Richtfest des Athener Hauses mit einem kleinen Umtrunk geistiger klarer Getränke. Ich lag im Kinderwagen, war ein kleines hilfloses Baby. Die Tochter Athen war zwei oder drei Jahre alt. Die Tochter Athen neigte sich mit ihrem blonden Kopf über mich im Kinderwagen und schaute mich mit großen neugierigen Augen an. Vielleicht kommt daher meine heidnische Verehrung der blauäugigen Jungfrau Athene, der Tochter Zeus, die ich immer lese als eine heidnische Prophezeiung auf die göttliche Frau Weisheit.


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Die Nachbarstadt meines Geburtsortes Hage (Garten) hieß Norden, benannt nach Njörd, dem germanischen Meeresgott. In Norden dienten die friesischen Priester dem Gott der Friesen, Forsete, auf einem heiligen Hügel. Dort baute der heilige Ludger eine Kirche. Der heilige Ludger wurde immer begleitet von einem weißen Schwan. In Norden heißt die lutherische Kirche Ludgeri-Kirche und die katholische Kirche Sankt Ludger. Ludger segelte nach Helgoland, der Insel, wo sich das Hauptheiligtum der Friesen befand, damals hieß die Insel Forsete-Land. Da gab es einen heiligen Hain mit heiligen Pferden, aus deren Bewegung die friesischen Priester weissagten. Ludger begegnete dem Barden Bernlef, der blind war. Auf die Fürbitte Ludgers hin gab Jesus dem Bernlef das Augenlicht wieder. Bernlef ward Christ und dichtete die Psalmen Davids als Barde in friesischer Sprache nach. In Norden weissagten die Priester nicht aus Pferden, sondern aus weißen Schwänen, die im heiligen Schwanenteich lebten. Und dort stand ich vierjähriger Knabe mit der vierjährigen Marita M. von Hannover, der Tochter von Freunden meiner Eltern. Marita hatte ein weißes Hemd an und einen schwarz-rot-karierten Rock. Zusammen fütterten wir die Enten, Gänse und Schwäne des heiligen Schwanenteiches. Auch waren dort Taubenhäuser, Käfige mit Fasanen und Pfauen, Gehege mit Wellensittichen und Nymphensittichen und ein Gehege mit Ziegen und Zicklein. Ich war wahrlich das hässliche Entlein des Märchens, ich lebte unter Entenküken, von einer Entenmutter und einem Erpelvater erzogen, und bin doch in Wahrheit ein wunderschöner Singschwan, der singt voll Jubel, wenn er den Heiland Tod nahen kommen weiß. Ich bin der Singschwan des friesischen Heiligtums, und Marita meine erste Muse.


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Meine Eltern gingen mit ihren Freunden aus Hannover im Lütetsburger Park spazieren. Marita und ich spazierten mit. Da lag eine ostfriesische Häuptlingsburg, ein Wasserschloss, in einem großen englisch-chinesischen Park mit vielen Kanälen und weißen Brücken. Da gab es den goldenen Pavillon der Freundschaft und da gab es die Insel der Seligen. Auf der Insel der Seligen gab es eine Ruhebank mit der Inschrift: Hier ruhe dich aus, du vielgeprüfter Pilgrim nach der Insel der Seligen. Und dort saßen Marita und ich Seite an Seite, Hand in Hand.


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Meine Mutter war immer noch befreundet mit ihrer Jugendfreundin. Deren Ehemann gab meinem Vater immer Stern und Spiegel, was andres las mein Vater nicht. Die beiden hatten zwei Töchter: Bärbel war so alt wie mein Bruder, Doris, die jüngere, war so alt wie ich. Mein Bruder Stefan konnte die Bärbel haben, die war größer und dicker und hatte dunklere Haare. Mein Schatz war Doris, die war schlank und hatte lange helle Locken. Wir spielten Ping-Pong. Ich als wiedergeborener Chinese war in keiner Sportart gut als im Ping-Pong. Unsre beiden Familien machten auch zusammen Urlaub auf der Insel Langeland in der Ostsee. Da wuchs viel Mohn (Poppie). Ich badete mit Doris in der Ostsee. In der griechischen Mythologie ist Doris eine Nymphe, eine Tochter des Meeresgottes. Meine Mutter fragte mich: Ob ich lieber kleine oder große Brüste möge? Denn ihre Freundin Wilhelmine hatte große Brüste. Peinlich, Mama, du bist peinlich! An eine Antwort kann ich mich nicht erinnern. Später, ich war etwa vierzig Jahre alt, besuchte ich aus Oldenburg meine Eltern in Hage. Um nicht den Abend mit ihnen verbringen zu müssen, fuhr ich mit dem Rad von Hage nach Norden, ging ins Hotel zur Post, der ostfriesischen Intellektuellen-Kneipe. Da saß Doris am Nachbartisch. Sie war Meisterin des Ping Pong. Sie war sportlich-dynamisch-schlank, aber kein muskulöses Mannsweib, hatte lange braune Locken und ein wunderschönes Gedicht. Ich lieh mir von der Wirtin einen Schreibblock und einen Kugelschreiber, schrieb ein Liebesgedicht für Doris, gab es ihr, sie lächelte mich an und bedankte sich freundlich.


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Mein Vater arbeitete in der Sparkasse und meine Mutter vormittags als Sekretärin im Büro eines Bauunternehmers. Manchmal nahm sie mich mit ins Büro, dann zeichnete ich auf der großen Zeichenplatte. Der Bauunternehmer hatte zwei Töchter, der Name der Älteren war, meine ich, Elke, und die jüngere, etwas jünger als ich, hieß Dörte. Dörte wurde meine Spielfreundin. Wir spielten, was ihr gefiel, mit ihren Püppchen und ihrem Miniatur-Kaufmannsladen. Zuhause versuchte ich im Sandkasten, mit Steinen und Schlamm statt Zement Mauern zu bauen. Mit Dörte spielte ich auch Ping Pong im Garten. Sie hatte kurze blonde Locken, hellblaue Augen wie Sommerhimmel und Sommersprossen auf der süßen Nase. Einmal war ich mit Dörte und ihrem Vater mit dessen Segelboot auf dem Ewigen Meer in Ostfriesland segeln, das Segelboot lag schief im Wind und das vom Wind aufgepeitschte Wasser spritzte ins Boot. Später, als ich etwa zwanzig war, hörte ich, dass eine junge Frau, in die ich gerade verliebt war, bei Dörte auf deren Geburtstagsfeier war. Dörte wohnte nahe an meinem Elternhaus. Ich nahm mir eine Kasperle-Puppe, verfasste ein Gedicht, mit dem ich um Einlass zur Geburtstagsfeier bat, ließ den Kasper das Gedicht vortragen, Dörte lächelte und ließ mich ein in das Haus der Liebe.


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Mein Freund Andreas war Katholik, ich war Lutheraner, aber das kümmerte uns nicht, wir spielten Zusammen Indianer im Wald und auf dem Abenteuerschauplatz. Ich hatte die gesammelten Werke von Karl May gelesen und die Winnetou-Filme im Fernsehen gesehen. Old Shatterhand hätte ich gerne zum Vater gehabt. Da ich blond und nordisch war, spielte ich den Old Shatterhand, Andreas, da er schwarzhaarig war, spielte Winnetou. Die Dritte im Bunde war Karin, sie hatte kurze schwarze Locken und ein hübsches Gesicht. Sie spielte Winnetous Schwester, die Tochter Inntschutschunas, die Squaw Nscho-Tschi (Schöner Tag). Und wie allgemein bekannt, liebten sich Old Shatterhand und Nscho Tschi. Die Häuptlingstochter war ja auch die Fürsprecherin für den Deutschen beim Apachen-Häuptling. Und da Karin einen so süßen Mund ("sweet lips! sweet upper lip", sagt Byron), darum begehrte ich Nscho Tschi zu küssen, und tatsächlich, sie küsste mich. Das war das Erste Mal! Die Erste, die ich geküsst, war eine Indianerin. (Sie tat mir auch etwas leid, denn ihr Vater war trockener Alkoholiker und durfte nicht einmal eine Likör-Praline essen.)


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In naher Nachbarschaft wohnte Sonja. An ihre Eltern kann ich mich gar nicht erinnern. Meine geliebte Oma hatte in ihrem Garten einen Schmetterlingsflieder, der lila blühte, auf den Blütendolden saßen immer viele bunte Schmetterlinge, vor allem der Monarch! Dann der Admiral! Aber auch in Massen der gemeine Kohlweißling! Ich wollte sie fangen und sammeln. Meine weise Großmutter sagte: Die schönen farbigen Schmetterlinge darfst du nicht berühren, denn dann verlieren sie ihr Puder, ihre Schminke, dann sehen sie aus wie graue Motten und sterben. - So, dachte ich, ist es mit den Mädchen: Wenn man sie nur anschaut, sind sie wie Monarchinnen schön, wenn man sie aber berührt, werden sie zu gemeinen Motten und sterben. - Sonja teilte meine Leidenschaft für die Schmetterlinge. Das griechische Wort für Schmetterlinge und für Seele ist das selbe: Psyche. Und wo Psyche ist, da ist nach den Neuplatonikern der Eros nicht fern... Sonja hatte auch einen Schmetterlingsflieder im Garten, und wir sammelten Schmetterlinge zusammen. Einmal durfte ich auch in ihr Mädchenzimmer. Wir saßen auf dem Bett nebeneinander und sprachen. Da ward mir so anders zumute, es war so schwül, irgendwie halb magnetisch und halb elektrisch, und Sonja hatte so ein schönes weißes lachendes Vollmondgesicht und kurze schwarze Locken. Das war wohl das Frühlingserwachen des vorpubertären Eros. Der Gott kam zärtlich wie ein Schmetterling zu mir…


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So ist das mit der menschlichen Liebe, der irdischen Liebe, die die Griechen in Aphrodite vergöttert haben, sie ist eine Mischung aus Hass und Liebe. Der vorpubertäre Eros machte mit dem Hormonstoß von Testesteron meine Seele unruhig und orientierungslos. Ich beschimpfte meine Mutter als Hure. Mein Vater sagte, ob ich überhaupt wisse, was eine Hure sei? Nein, sagte ich. Das, erklärte er mir, sind Mädchen, die in den Häfen auf die Seemänner warten. Eigentlich liebte ich Karin, nicht die Indianerin, sondern Karin die Zweite, Karin die Große. Aber weil ich sie liebte, hasste ich sie auch. In der Schule plagte ich sie so sehr ich konnte, um nur ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Öfters nahm ich ihr den Mantel weg und warf ihn in den Abfalleimer. Eines Tages kam ihr Vater zu uns und beschwerte sich bei meiner Mutter über mich. Meine Mutter fragte mich, ob ich Karin in der Schule quäle. Nein, log ich. Da sagte meine Mutter (ich habe das Sprichwort nie vergessen können): „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er doch die Wahrheit spricht.“



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Ich war mit der sechsten Klasse aufs Gymnasium gekommen. Unsere Schule war das Ulrichs-Gymnasium in Norden, das war im Mittelalter ein Kloster Unserer Lieben Frau Maria gewesen. In meiner Klasse ware viele Schüler aus Norderney. Norderney wurde von Heinrich Heine besungen und von Wladimir Majakowski besucht. Eine Mitschülerin aus Norderney hieß Kerstin. Sie wurde von allen Kissi genant, ein passender Name. O what a bliss / to die from a kiss, sagt der englische Dichter. Kissi hatte kurze Haare, lockig und wirklich strahlend goldenblond. Sie war schlank, durch ihre leichte weiße Sommerbluse schimmerten ihre Brüste. Sie war die Schönste der Klasse und ich schwärmte für sie. Aber "sie sah mich einfach nicht", wie es in einem Pop-song heißt. Sie hatte einen Liebhaber, älter als sie, gut aussehend, männlich, Motorradfahrer mit Lederjacke. Mit dem stand sie auf dem Flur vor dem Klassenzimmer, und sie küssten sich. Das sah unser Lateinlehrer, ich sah es auch, und ich hörte den alten Lateinlehrer sagen: "Küssen in der Öffentlichkeit ist unsittlich." Kissi lachte und zeigte dabei ihre schönen Grübchen. 'Ihre beste Freundin war Helga, nicht so strahlend schön wie Kissi, aber mit einem schwesterlich-freundlichen Herzen, mehr von innere schönheit der Seele. Eines Tages, es war gerade die erste Schallplatte von Dire Straits erschienen, ich hörte das Lied "waters of love", da rief ich mit dem Telefon Helga auf Norderney an, ob sie mit mir gehen wolle. Sie sagte freundlich Nein, und damit war die Sache für mich erledigt.


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Ich war in die Pubertät gekommen mit einem Hormonstoß von Testosteron. Im Schulbus fiel mir morgens meine Mitschülerin Hedda auf, sie war groß, hatte lange blonde Haare und "eine interessante Figur" (wie Hölderlin sagt). Ich durfte sie besuchen. Ich verliebte mich in sie und warb um sie mit Gedichten und endlos langen Liebesbriefen. Sie war aber etwas größer als ich und wollte einen Freund, der größer war als sie. Ich schrieb: Ihr Frauen wollt einen Mann, der größer ist als ihr; ihr wollt also einen Mann, der auf euch herabschaut? - Ich habe immer zu den Frauen aufgeschaut. Es gelang mir aber, Heddas Herz zu erobern. Ich erinnere mich an den ersten Kuss, es war von ihr aus ein Zungenkuss, was ich nicht kannte. Die feierliche Entjungferung zelebrierten wir in Greetsiel im leerstehenden Haus einer Tasse nach einer Flasche Wein. In der Schule schickten wir uns durch die Bänke kleine Zettelchen mit Liebesbotschaften zu. "Ich liebe dich immer sehr" kürzten wir ab zu ILTIS. Da wir intim waren und Freude am Beischlaf hatten, schrieb ich ihr, sie sei eine Hure. Immer habe ich Frauen, die sich mir körperlich hingaben, für Huren gehalten. Als Kind hatte ich schon meine Mutter eine Hure genannt. Nach dem Motto: Wer sich mir hingibt, ist meiner nicht wert... Wir hatten ein gemeinsames Liebesnest in ihrem Haus auf dem Dachboden. Wir verbrachten die meiste Zeit mit Schmusen und Beischlaf. Bald reichte mir das nicht, diese "Lampe des Privaten" (wie Marx den Epikuräismus nannte). Ich ward politisiert durch die Friedensbewegung, die politisch kämpfte gegen das atomare Wettrüsten. Hedda blieb unpolitisch. So löste ich mich von ihr. Das war aber schmerzlich für beide. Wir waren ein halbes Jahr zusammen "selig im Himmelsbett" und ein halbes Jahr quälten wir uns gegenseitig mit einem "Scheidungsprozess".


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Ich war zu einem Treffen der Friedensbewegung gegangen, die demonstrierte gegen einen atomaren dritten Weltkrieg. Da ward ich eingeladen in das Haus eines Arztes, seine Frau war eine Christin und wollte eine internationale Politik nach dem Gesetz der Bergpredigt. Der Sohn war Marxist und schenkte mir das Kommunistische Manifest. Dann waren da noch zwei Töchter, Ursula und Anne. Ursula war makellos schön, ein rundliches Gesicht, sehr weiß, mit großen braunen Augen, besonders schöne lange schwarze Haare, glatt und in der Mitte gescheitelt, und hatte schöne ebenmäßige weiße Zähne. Ich verliebte mich in ihre makellose Schönheit. Für sie legte ich die Halskette mit dem Medaillon ab, auf dem Heddas Name stand. Ursels Mutter merkte das. Ursels Schwester Anne, die jüngere, war nicht sehr schön, aber auch nicht hässlich, nur irgendwie gewöhnlich. Ich glaube, sie hatte mich sehr gern. Ursel dagegen blieb irgendwie unnahbar, ohne mich aktiv zurückzuweisen, wandte sie mir doch nicht ihr Herz zu. Es war, als säße ich vor einem Bild der makellosen Schönheit, das man nur mit interesseloser, begierdeloser Bewunderung anbeten kann, das einem aber keine Liebe zuwendet, ein wenig wie der Gott des Aristoteles, den man wohl lieben kann, der aber selbst nicht liebt. Ursels Familie hatte ein Herz für Flüchtlinge aus dem kommunistischen Vietnam, später hat Ursula einen Vietnamesen geheiratet.


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In Norddeich am Meer, gleich hinter dem Deich, gab es eine Diskothek namens Meta. Später, wenn ich von Klopstock und seiner Meta las oder von Aristoteles und seiner Meta-Physik, musste ich an diesen Tanzschuppen an der Nordsee denken. Da sah ich ein junges Mädchen sehr anständig und ruhig tanzen zu zärtlicher Musik (nicht wie ich bacchantisch taumelnd) und ich verliebte mich in ihre Anmut. Sie war klein und von knabenhafter Figur, hatte schöne schlanke Beine, kurze schwarze Haare, jungenmäßig geschnitten, und ein sehr feines Gesicht. Ich sah sie auch im Gymnasium und mit ihrer Freundesclique in der Schülerkneipe Borke. Tatsächlich gelang es mir, sie anzusprechen, und, o Wunder, ich durfte sie besuchen. Sie wohnte in Norddeich bei ihren Eltern, ich etwa zehn Kilometer entfernt in Hage bei meinen Eltern. Wir saßen in ihrem Zimmer und erzählten aus unserem Leben. Sie hieß eigentlich Annabella - Anna nach ihrer Großmutter - aber sie wollte nur Bella (die Schöne) genannt werden. Ich erzählte von der kommunistischen Ideologie und sie von ihrem Christentum - so kamen wir nicht zusammen. Dennoch lud ich sie auf meinen 17. Geburtstag ein. Ich feierte mit meinen kommunistischen Freunden und Freundinnen im Party-Keller meines Elternhauses. Ich hörte das Lied: Love is a burning ring of fire - und hatte nur Bella im Sinn. Tatsächlich klingelte es und Bella stand vor der Tür. Ich war sehr aufgewühlt. In der kommenden Zeit, einige Monate lang, sprach ich sie öfter im Gymnasium an, um mich wieder mit ihr zu verabreden, aber sie fand immer neue Ausreden, bis ich - mich in jemand anderes verliebte.


*


Ich hatte einen Freund, der war in ein dreizehnjähriges Mädchen verliebt. Und ich verliebte mich auch immer in die Mädchen, die er liebte. Maike war also 13, ich 18. Sie hatte ihre Mutter verloren und ihr Vater lebte in Brasilien. Sie wohnte in der Rosenallee bei einem älteren Ehepaar, der Mann war Kunstmaler. Als ich Maike mit meinem Freund besuchte, trank der Künstler gerade warmes Bier mit Kandiszucker. Wir waren zu dritt in Maikes Zimmer, auf dem Tisch lag ein Kreuzworträtsel. Ich sagte: Immer, wenn ich komme, hat schon jemand anderes das Rätsel gelöst. Maike verstand und sagte: Ich bin kein Rätsel, ich bin ein Geheimnis... Sie war klein und hatte lange rote Haare. Sie war sehr reif und selbständig für ihr Alter. So wie ich und mein Freund Erich (Er und Ich) war sie Haschischraucherin. Sie wurde davon aber nicht lethargisch wie ich, sondern quicklebendig und agil. Ich verlor sie aus den Augen, aber sie blieb verborgen in meinem Herzen. Fünfzehn Jahre später war ich wieder nach Norden gezogen, in den Schwanenpfad am Schwanenteich. Da war ich akut psychotisch und plante meinen Selbstmord. So ging ich in die Diskothek Meta und da traf ich Maike wieder. Sie schien mir immer noch 13 zu sein. Irgendwie umgab sie eine Aura von Lebensgefahr, vielleicht hatte sie eine Heroin-Sucht. Jedenfalls strahlten wir uns an und nahmen uns in die Arme (ich hatte fast väterliche Gefühle für sie) - Ave Cäsar, die Todgeweihten grüßen dich!


(Fragment)






NEUNTER TEIL

NORDISCHE MEMOIREN


ERSTES KAPITEL

ERINNERUNGEN AN SKANDINAVIEN



Das geht jetzt alles so durcheinander. Wir sind mit dem Auto - einem kleinen Renault - nach Travemünde gefahren und dann mit dem Auto auf die Fähre. Auf der Fähre gab es ein Kino, da hab ich Don Camillo und Peppone gesehen. (Später spielte ich mit Karines Vater Don Camillo und Peppone, Konrad war der kommunistische Bürgermeister und ich der katholische Priester, der immer mit Jesus sprach, aber sich auch gerne prügelte.) Auf dem Schiff trug ich schon Klocks, Holzschuhe mit hartem Lederbezug. Wir waren einmal auf der dänischen Ostsee-Insel Langeland, da waren weite Felder von rotem Mohn (die Engländer sagen Poppie...) Wir trafen uns da mit Mamas Schulfreundin Wilhelmine und Familie (Stefan im Alter von Bärbel und ich im Alter der wunderschönen Doris, die später sehr erfolgreich im Tischtennis wurde). Meine Mutter fragte mich, ob ich lieber Frauen mit großen oder mit kleinen Brüsten möge - peinlich! Mama! (Natürlich mit großen Brüsten...) Aber meistens waren wir auf Öland. Aber erstmal noch von Dänemark, wir hatten auf dem Festland eine Ferienwohnung, ein Holzhaus in der Nähe des Strandes, aber das Holzhaus war voll mit Ungeziefer. Und am Badestrand schwammen in der Ostsee Feuerquallen, die sehen aus wie transparente Spiegeleier und brennen wie Nesseln. Es gab da salzige Butter. Und Himbeermarmelade (seit jener Zeit meine Lieblingsmarmelade) und wir aßen Dickmilch mit Honig-Smacks. Nach Öland aber fuhren wir nicht mit der Fähre, sondern über die längste Brücke Europas. In Öland gab es sehr viele Windmühlen. Und da war auch die Sommerresidenz der schwedischen Königin, ich meine, es war die deutsche Sylvia. Ach ja, in Kopenhagen war ich auch einmal, bin aber nicht Kierkegaards Schatten begegnet, sondern sah die stocksteifen Wachsoldaten mit riesigen Fellmützen das Kopenhagener Schloss bewachen. Auf Öland lernten wir eine schwedische Familie kennen, die dort ihre Sommervilla hatte. Die Mutter hieß Maj-Brit und der Vater Ingmar und sie hatten einige Söhne und Töchter. Maj-Brit hatte eigenen Dill im Garten. Maj-Brit konnte etwas deutsch. Die Kinder kaum. Maj-Brit fand es seltsam, dass im deutschen Fernsehen Cowboys und Indianer alle deutsch reden. Im schwedischen Fernsehen reden sie englisch (mit schwedischen Untertiteln). Ich las auf Öland Kriminalromane von Raymond Chandler über Philip Marlowe, aber auf deutsch. Wir machten einen Vorlesewettbewerb: Mama las am schnellsten, ich machte den zweiten Platz. Übrigens liebte ich in meiner frühen Jugend die Kriminalromane von Sjöwall/Wahlöö, ich las alle davon. Eines Tages fuhr Papa allein mit einem kleinen Segelboot auf die Ostsee und kam nicht zurück... Wir hatten Angst, er sei ertrunken, er war aber nur gekentert und kam spät doch noch zurück. Am Strand von Öland gab es Stellen mit klebrigem Lehm, den rollte ich zu langen Schlangen und häufte sie übereinander und töpferte so eine Blumenvase, die an der Sonne trocknete, die brachte ich aus dem Urlaub meiner lieben Oma mit. Zuhause dann auf dem Jahrmarkt schoss ich ihr mit dem Gewehr eine rote Plastikrose, die stellte sie dann in meine Blumenvase in der Küche auf die Fensterbank. Dann wollten wir eine Nordland-Reise machen. Mama arbeitete als Sekretärin bei einem Bauunternehmer, der lieh uns einen VW-Bus, und Papa als Heimwerker machte die Inneneinrichtung selbst, so hatten wir einen Wohnwagen. Mama und Papa schliefen im Bus und Stefan und ich im Zelt. Einmal wachte ich morgens auf und sah aus dem Zelt, da stand ein Rentier vor dem Zelt. Wir machten irgendwo an einem See in Waldnähe ein Feuer und grillten Lachs, frisch auf dem Markt gekauft, aber Einheimische verboten uns das Feuermachen wegen Waldbrandgefahr. Ich dachte mir auf der Autofahrt mein eigenes Englisch aus und sprach in einer erfundenen Phantasie-Sprache. In Dänemark übrigens haben wir oft Karten gespielt, Rommée und Canasta. Die Fjorde in Norwegen waren sehr schön. In Finnland sah ich echte Lappländer in ihren Folklore-Kostümen. Ich wünschte mir ein Messer, und Papa kaufte mir eins mit einem Hirschhorngriff. Mama und Papa kauften auch ein Elchgeweih, das hing zuhause lange an der Wand. Wir waren auch am Nordkap, dem nördlichsten Punkt Europas, gleich danach kam die Arktis. Um den Hals trug ich ein Lederband mit einer Rentier-Zehe daran. Ja, in Finnland waren wir auch mal in einer Sauna, das einzige Mal in meinem Leben, dass ich in einer Sauna war. Zum Abkühlen ging es dann in den Badesee. Ganz hoch im Norden wurde es nachts gar nicht richtig dunkel. es war wie die berühmten Weißen Nächte von Petersburg, oder auf Latein Aurora Borealis, über den Bergen war nachts eine rosige Dämmerung. In Finnland kehrten wir mitten in der leeren Weite in ein Gasthaus ein, da gab es Grütze. Wir waren in Schweden auch in Upsala, das war früher das Hauptheiligtum der skandinavischen Germanen. Ich stand dort im lutherischen Dom. Wir waren auch in einem Museum, da wurde das Floß gezeigt, auf dem ein Norweger den Atlantik überquert hatte. Wir waren in Schweden auch in einer Glasbläserei, wo sie Flaschen und Vasen aus blauem Glas bliesen. - Ach, das waren schöne Kindertage, ich war weder schizophren, noch hatte ich Liebeskummer, ich war einfach glücklich…



ZWEITES KAPITEL

ERINNERUNGEN AN BALTRUM



1



Die ostfriesische Nordseeinsel Baltrum hieß früher Balderinge, sie war nach den beiden germanischen Göttern Balder und Ing benannt. Da auf der Insel viele Heckenrosen (Hagebutten oder Weinrosen) wachsen, nennt man sie auch das Dornröschen der Südlichen Nordsee. Meine Mutter, Doris Paula Schwanke, geborene Grensemann, ist dort geboren. Und obwohl sie Doris hieß, denn Doris war in der griechischen Mythologie eine Göttin des Meeres, mochte sie nicht gerne schwimmen. Ihre Mutter stammte auch von Baltrum, meine Großmutter Paula Margarethe Grensemann, geborene Mayer. Deren Mutter hieß Margarethe Johanna Mayer, geborene Ulrichs. Und deren Vater hieß Ulrich Ulrichs und war ein Seemann (wenn nicht gar ein Pirat). Seine Schiffertruhe besaß ich in meiner Kindheit. Leider ist sie spurlos verschwunden gegangen. Meine Großmutter Paula Margarethe Grensemann hatte mit ihrem Mann Dirk Grensemann (der vom Festland, aus Norden stammte) fünf Töchter. Ihre Tochter Paula ist als Kleinkind gestorben. Ihre anderen Töchter hießen Hildegard, Petheda und Henriette, zuletzt kam als jüngste meine Mutter Doris. Hildegard hatte geheiratet einen Karl-Heinz Klawonn und war weggezogen, sie wurde Mutter von vier Söhnen. Henriette, genannt Henny, hatte ein Hotel zur Post, sie hatte Alkoholprobleme, wie mein Großvater dirk Grensemann, der ein Quartalssäufer war. Petheda, genannt Thedi oder von uns Tante Thedi hatte Arno Meinhold geheiratet, sie brachte in die Ehe ihren unehelich empfangenen sohn Joachim, genannt Achim mit, was aber lange ein Geheimnis war. Meine Großeltern hatten eine Pension auf Baltrum, die Villa Petheda, mit fünfzig Betten, Oma hatte alle Hände voll zu tun, und die Töchter (bis auf die Kleine Doris) mussten mithelfen. Thedi und Arno hatten im Ostdorf die Teestube, und dort war ich in meiner Kindheit offt zu Gast, mit den Eltern oder mit meinem Bruder Stefan allein. Wir wohnten auf dem Festland im Flecken Hage, Mama, Papa, Stefan und ich. Meine liebe Oma wohnte im Haus nebenan allein, denn sie war Witwe, mein Großvater war vor meiner Geburt gestorben.




2



Meine Tante Thedi führte mit Onkel Arno die Teestube im Ostdorf. Da waren Stefan und ich in der Kindheit oft zu Besuch. Ostern haben wir dann bunt gefärbte Eier den sanften Hügel runterrollen lassen und versucht, so andere Eier zu treffen. Die Angestellten in der Teestube nannte Tante Thedi immer "unsere Mädchen". Thedis Sohn Achim war auf dem Festland. In der Küche hatte Thedi für uns immer Eis bereit, Vanille oder Erdbeer, heute noch meine Lieblingssorten. Oft gab es auch frisch gebackenen Apfelkuchen. Thedi rauchte Filterzigaretten "Lord" und legte manchmal eine Zigarette angezündet in den Aschenbecher, wenn sie was zu tun hatte. Ich sog dann an der Zigarette, leugnete aber, es getan zu haben, Thedi fand es aber heraus, doch schimpfte sie nicht. Stefan und ich schliefen oben in einem geräumigen Zimmer.Onkel Arno brachte uns ins Bett und sein Abendsegen war: Klappe zu - Affe tot. Arno schenkte uns die gesammelten Werke von Karl May, die Achim alle gelesen hatte, und die ich nun alle las, nicht nur die Indianerbücher, sondern auch die aus Kurdistan oder Sibirien. Um die Teestube herum die sanft wellenden Wiesen fand man viele Kaninchen-Löcher, denn es wimmelte auf Baltrum von Kaninchen. Dann kam man zum Kiefernwäldchen, das sehr still war. Überhaupt war es auf Baltrum himmlisch-still, weil auf der ganzen Insel keine Autos fuhren. Alles war gut zu Fuß zu erreichen, vom Ostdorf zum Westdorf ein Fußweg von vielleicht zehn Minuten. Man sagte, die Insel heiße Baltrum, weil man bald rum sei. Am Strand gab es einen Kiosk, wo es Eis und Pommes frites gab. Am Strand sammelten wir Muscheln und bauten Sandburgen.Natürlich gingen wir auch baden in der Nordsee. Manchmal besuchten wir Mamas Cousine Ursel, die mit ihrem Mann Werner eine Bäckerei hatte. Wir spielten dann mit deren Söhnen. Es roch dort immer sehr gut nach frisch gebackenem Brot. Im Westdorf führte unsere Tante Henni ein Hotel, mit ihrem Mann, aber da waren wir selten. Henni war uns lange nicht so lieb wie Thedi. Über die ganze Insel führten auch Reitpfade. An solch einem Reitpfad fanden Stefan und ich hohe Ballen von Heu gestapelt, in die wir Löcher rein bohrten und uns in ihnen versteckten.Henni war uns lange nicht so lieb wie Thedi. Über die ganze Insel führten auch Reitpfade. An solch einem Reitpfad fanden Stefan und ich hohe Ballen von Heu gestapelt, in die wir Löcher rein bohrten und uns in ihnen versteckten.Henni war uns lange nicht so lieb wie Thedi. Über die ganze Insel führten auch Reitpfade. An solch einem Reitpfad fanden Stefan und ich hohe Ballen von Heu gestapelt, in die wir Löcher rein bohrten und uns in ihnen versteckten.



3



Im Alter von ungefähr 35 Jahren - Hälfte des Lebens - fuhr ich mit meinen beiden Frauen Evi und Karine nach Baltrum. Drei Jahre später fuhren wir erneut auf die Insel. Karine war im neunten Monat schwanger mit ihrem ersten Kind, Evi hatte ihren dreijährigen Sohn Quentin mit. Karine hatte noch ihren Knecht mitgenommen. Wir hatten eine Ferienwohnung im idyllischen Ostdorf gemietet. Karine schlief in einem Zimmer mit ihrem Knecht, ich sollte mit Evi in einem Zimmer schlafen. Aber da ich dann keine Nachtruhe finden würde, schlief ich im Wohnzimmer auf dem Sofa. Karine hatte einen verspannten Rücken, sie zog ihr Hemd aus, und Evi massierte ihr Rücken und Nacken. Abends saßen wir auf dem Balkon und plauderten beim Wein. Die Grillen zirpten, "schwatzhaft wie Goethe und Eckermann". Ich psychologisierte mit Evi. Karine gegenüber zitierte ich Salomo: Sei nicht allzu weise und nicht allzu gerecht". Das gefiel ihr. Wir spielten ein Gesellschaftsspiel, Therapie. Auf die Frage, wen er lieber treffen möchte, Gott oder den Teufel, sagte der Knecht: Den Teufel. Ich will lieber in die Hölle kommen als in den Himmel. - Auf die Frage, wie sie sterben möchte, bei Musik oder beim Sex, sagte Evi: Beim Sex. Auf die Frage, welche Frau als Baby schöner gewesen, sagte der Knecht: Evi. Karine war beleidigt. Eines Tages ging ich mit Evi spazieren, gemeinsam zogen wir den Bollerwagen, in dem Quentin saß. Es war heller Sonnenschein. Evis Hand und meine Hand waren als Schatten auf der Erde zu sehen. Während sich unsere Körper-Hände nicht berührten, berührten sich unsere Schatten-Hände, was mit den Anlaß gab zu mystischen Spekulationen. Ich las in diesem Urlaub den Schriftsteller Reinhold Schneider. Er schrieb: "An der Schwelle von der Jugendkraft zur Altersweisheit", das war genau die Epoche meines Lebens. Ich schrieb einen Text in poetischer Prosa, es kam darin die Vatikanische Venus und die Erotik des Rotweins vor. Ich las ihn den beiden Frauen vor. Eines Nachts ging ich allein spazieren, bewunderte die Heckenrosen und erinnerte mich an eine fatale Jugendliebe, stand des Nachts am Meer und nahm das Rauschen der Brandung in mich auf, wie die Stimme Gottes.



Vom zweiten Urlaub ist mehr in meiner Erinnerung gegenwärtig. Karine hatte neben ihrem erstgeborenen Juri auch als Babys die Zwillinge Milan und Simon dabei, und ihren Knecht. Wir trafen uns am Oldenburger Bahnhof. Evi wollte mit Quentin und ihrem Baby Tom mitkommen, kam aber, wie immer, zu spät, und wir fuhren allein ab. Auf dem Bahnhof in Norden, Ostfriesland, warteten meine Eltern auf uns, sie gaben uns Regenjacken mit. Mit dem Bus fuhren wir zum Hafen von Nessmersiel und von dort mit der Fähre nach Baltrum. Wir fuhren durch dichten Nebel, dem Nebel von Avalon. Wir hatten eine Ferienwohnung im Ostdorf. Später traf auch Evi mit ihren beiden Söhnen ein. Evi hatte ein Zimmer mit ihren beiden Kindern, Karine hatte ein Zimmer mit den Zwillingen, ich hatte ein Zimmer mit Juri und dem Knecht. Morgens war das Wohnzimmer zum Wickelzimmer geworden, die Mütter wickelten ihre Babys, ich saß rauchend und betend draußen auf der Terrasse, ein kleines Neues Testament hatte ich immer in der Hosentasche. Eines Tages holte ich Fischbrötchen für Juri, er liebte das. Quentin war aber extremer Vegetarier und begann zu schimpfen. Ein Streit kam auf. Ich sagte: Auch Tiere essen Tiere. Quentin sagte: Dann ist die Natur eben auch böse. (Eine interessante philosophische Frage.) Um mich zu beruhigen, ging ich spazieren und kam an der kleinen katholischen Kapelle vorbei, ich ging hinein, es begann gerade die Heilige Messe, der Altar hatte die Gestalt einer Muschel, der Priester bat mich, die Lesung aus dem Alten Testament vorzulesen, es waren einige Verse des Propheten Jesaja. Mit Frieden im Herzen kehrte ich zurück. Eines Tages gestand ich Evi, als ich mit ihr allein war, dass ich nicht beide Zwillinge von Karine gleich lieb habe, ich bevorzugte Milan. Sie bekam es, wie so oft, in den falschen Hals und dachte, ich wollte ihr sagen, dass ich ihre Kinder nicht so lieb habe wie Karines Kinder. Wenn die Mütter sich mittags mit den Babys schlafen legten, ging ich spazieren. Juri führte ich im Bollerwagen spazieren, er schlief dann ein, während ich durch den Naturschutzpark spazierte, ich konnte dann herrlich den Rosenkranz beten. Juri erwachte aber auch bald wieder, und wir bewunderten die Raupen an den Büschen, und überhaupt die schöne Natur und die Stille. In der Ferienwohnung waren Kinderbücher, wir lasen eins über Klaus Störtebeker. Ich besuchte auch den Inselfriedhof. Am Eingangstor stand: Komm Christ Kyrie / zu uns über die See! Da lagen begraben auch Verwandte von mir, denn meine mütterlichen Vorfahren stammen von Baltrum. Als ich allein einen Spaziergang machte, bewunderte ich die "Majestät des Himmels über Germanien", diese friesischen Ebenen mit dem freien Himmel darüber, und es wehte auch ein starker Wind, so dass ich den Gott im Himmel und den Heiligen Geist anbetete. Wir gingen eines Tages alle zum Strand, die Kleinen hatten Eimerchen und Schaufeln mit. Wir kamen am Strandkiosk vorbei, da gab es Waffel-Eis oder Pommes Frites. Karine hatte ein Waffel-Eis in der Hand, da schoss eine Möwe vom Himmel herab und stahl ihr im Flug die Eiskugel aus der Waffel. Eines Nachmittags waren wir auch in der Teestube, die früher meiner Tante gehörte, ich erkannte sie aber nicht wieder, denn sie war inzwischen abgebrannt und neu wieder aufgebaut. Da gab es Kaffee, Kakao, Kuchen und Eis. Eines Abend stand ich mit Karine und Evi allein im Wohnzimmer und erzählte ihnen von dem Buch, das ich gelesen hatte: Logos und Sophia, von Otfried Ebertz, einem feministischen Philosophen von Anfang des 20. Jahrhunderts. Er schrieb, Sophia, die Jungfrau der göttlichen Weisheit, ließe sich nur erkennen von zölibatär lebenden Menschen. Frauen, die nicht über den Tellerrand der Kinderstube hinausschauen, könnten sie nicht erkennen. Karine sagte lächeld zu Evi: Dann können wir sie ja nicht erkennen. - Eines Nachts saß ich mit Karine allein auf der Terrasse, der Wind rauschte in den Büschen, ich trank eine Flasche Rotwein, Karine sagte: Was für dich Gott ist, das ist für mich die Natur, mit der ich eins sein möchte. Comme belle nous avons fait l'amour dans notre jeunesse... Auf der Rückfahrt mit der Fähre schien die schönste goldene Sonne am hellblauen Himmel überm blauen Meer, und ich stand neben Evi, die bewundernswert schön war.



DRITTES KAPITEL

ERINNERUNGEN AN SYLT



1



Karine hatte Brustkrebs. Die Krankenkasse finanzierte ihr eine Kur auf Sylt. Allerdings ohne Kinder. Sie wollte aber doch ihre Kinder sehen. Zuerst fuhr ich also mit dem vierjährigen Juri mit der Eisenbahn von Oldenburg nach Sylt. Ich hatte ein Fahrrad mit Kindersitz mit. In Sylt fuhr ich mit Juri auf dem Fahrrad in die Jugendherberge am anderen Ende von Sylt, mitten in den Dünen. Ich hatte einen großen Haufen kalte gebratene Schnitzel mit. Karine traf uns in der Jugendherberge. Wir gingen an den Strand. Später erzählte Karine ihrer Mutter, wir "hätten uns zusammen am Strand gewälzt". Schön wärs gewesen. Karine hatte am Strand ihren Fahrradschlüssel verloren. Ich versuchte, das Schloss aufzubrechen. "Das muss ein richtiger Mann machen", sagte Karine. Ich war verletzt. Mittags machte Karine mit Juri in unserm Jugendherbergszimmer Mittagsschlaf. Ich saß dann draußen und las im Neuen Testament. "Die Armen habt ihr immer bei euch, und ihr könnt ihnen Gutes tun, wenn ihr wollt, aber mich habt ihr nicht immer bei euch." Ich sah in die Dünen und dachte: Gott ist allgegenwärtig, und die Toten sind in Gott, sie sind also auch allgegenwärtig, sie sind nicht irgendwo über den Wolken, sondern hier in den Dünen unsichtbar um uns herum. Für Juri hatte ich ein Comic-Buch zum Vorlesen mitgenommen: Prinz Eisenherz, eine herrliche Rittergeschichte. Sie gefiel uns beiden sehr gut. Wir waren nicht in der City von Sylt, sondern jeden Tag in den Dünen und am Strand, und Juri war mein kleiner griechischer Gott Apoll, und Karine war meine wunderschöne Venus der Nordsee. Nur einmal waren wir in einem Imbiss und aßen Pommes frites und Fischfrikadellen. Da schenkte ich Karine einen "Freundschafts-Ring". Sie bedankte sich, nahm ihn an, trug ihn aber nicht an der Hand.



2



Ostern 2005 nahm ich Karines Zwillinge Milan und Simon, 2 Jahre alt, und fuhr mit der Bahn nach Neu Wulmstorf zu Karines Vater Konrad. In Neu Wulmstorf ging ich mit den Zwillingen in die Sankt Josefs Kapelle und bat Sankt Josef um eine gute Reise. Wir fuhren mit dem Auto nach Sylt. Konrad hielt die ganze Fahrt über Monologe. Die Zwillinge schliefen bei Karine im Kurheim, Konrad und ich hatten zwei Zimmer in einer Pension. Abends saßen wir zusammen, tranken spanischen rotwein Carenina und aßen Baguette und Knoblauchsalami und Tomaten und Eier und Käse. Konrad lag auf der Couch und prahlte in einer zweistündigen Beichte mit seinen Sünden. Ich sagte: Mit Karine und mir ist das wie im indischen Mythos von Shiva und Parvati. Der Gott Shiva sprach das Sanskrit der Brahmanen und war so geistig und asketisch, dass er mit seinem dritten Auge den Liebesgott Kama verbrannte. Und Shivas Partnerin war die Göttin Parvati. Sie sprach Prakriti, die Sprache der Frauen und Kinder, der Natur und des Alltags, sie war die Mutter Erde. - Ich wartete mit Konrad vor dem Kurheim. Ich hatte lange Haare, einen verwilderten Vollbart, trug abgenutzte Jacke und Hose und Schuhe und schälte gerade ein Ei. Die vornehmen Kurgäste von Sylt schauten mich geringschätzig an wie einen Bettler. - Wir trafen Karine zum Mittagessen im Kurheim. Karine bekam Gänsebraten. Wir hatten ja kein Recht auf ein Mittagessen, Konrad stritt sich mit Karine, weil sie ihm nicht auch einen Gänsebraten organisierte. - Wir waren im Schwimmbad. Karine sah hinreißend aus im Bikini, wie ein Supermodel. Konrad stand im Wasser und trug die Zwillinge durchs Wasser, aber sie hatten Angst. Dann trug ich sie durchs Wasser. Konrad sagte: Bei dir haben sie keine Angst. Wir wollten in die Sauna. Konrad wollte nackt hinein, Karine bestand aber auf Badebekleidung. - Ich ging mittags allein an den Strand und betete den Rosenkranz und sah auf die Nordsee. Da schien mir die Jungfrau Maria über dem Meer zu schweben, wie eine christliche Venus, und sie sagte zu mir: Gott ist ein Ozean der Schönen Liebe. Dann meditierte ich über den Vers aus Sprüche Salomos 8: Die Weisheit ist wie das Hätschelkind Gottes. Da schien mir die Weisheit ein zweijähriger blonder Knabe, wie Milan, mein Liebling. In Milan begegnete mir die Weisheit Gottes. Ich kehrte zum Kurheim zurück und sagte zu Karine: Meine Liebe zu den Zwillingen ist platonische Knabenliebe. Sie sagte: Oh! Ich sagte: Versteh mich nicht falsch, platonische Knabenliebe ist asexuell. - Wir lagen am Strand, die Kinder sammelten Muscheln, und ich hätte gern Karine in die Arme genommen und sie geküsst. - Eines Tages war ich mittags allein in den Dünen, da dachte ich: Karine ist so göttlich schön, ich will sie heiraten. Ich betete: Gott, ich mache Karine jetzt einen Heiratsantrag. Wenn es dir nicht gefällt, lass sie Nein sagen. Und ich pflückte ein Strand-Blümchen, ging zu Karine aufs Zimmer, sie lag mit den Kindern im Bett, ich kniete mich vor ihr nieder und sagte: Willst du mich heiraten? Sie sagte: Ach Toto, lass uns das mal lassen, du liebst doch Evi... Nun kam Ostern. Karine hatte Ostereier und Schokolade versteckt, wir gingen, die Ostereier zu suchen. Konrad mit seinen kranken Füßen humpelte. Karine hatte die Ostereier in Brombeer-Dornengestrüpp versteckt.




ZEHNTER TEIL

WINTERREISE



ERSTES KAPITEL

WEIHNACHTEN IN DER KINDHEIT


in der adventszeit hat mama leckere kekse gebacken, vanillekipferl oder haferflockenplätzchen. oma im haus nebenan hat pfeffernüsse (pepernoten) gebacken und neujahrswaffeln. mama sagte: abendrot - die englein backen brot. dann hat mama mit ihrer schönen stimme advents- und weihnachtslieder mit uns gesungen, die klassischen deutschen weihnachtslieder, vom himmel hoch da komm ich her, es ist ein ros entsprungen, ihr kinderlein kommet, süßer die glocken nie klingen, stille nacht heilige nacht, o du fröhliche. ich habe sie manchmal auf der flöte begleitet. den heiligen nikolaus haben wir im flecken hage begrüßt, er ritt im langen roten bischofsmantel mit seinem weißen rauschebart auf einem schimmel mit einem großen sack voll bonbons, die er den kindern zuwarf, ihm folgte der knecht ruprecht, ein neger, mit der rute für die kinder, die nicht brav gewesen (aber auch an der rute hingen bonbons). am vorabend hatten wir einen roten stiefel vor die tür gestellt und einen teller mit schwarzbrot für das pferd des heiligen nikolaus. am morgen war der stiefel gefüllt mit bonbons und schokolade. am heilig abend mussten wir kinder nachmittags in unsere zimmer, da war das wohnzimmer abgeschlossen. da war dann der weihnachtsmann zu hause. im wohnzimmer stand ein großer tannenbaum, den wir kinder mit mama geschmückt hatten mit stroh-sternen und silber-lametta und roten kugeln, auf der spitze steckte der stern von bethlehem. oma hatte in ihrer stube einen kleinen weihnachtsbaum, den ich auch schmücken durfte. wir hatten auch aus holz geschnitzte figuren aus dem erzgebirge, männchen, die man mit weihrauchkegeln füllen konnte, die dann rauchten und dufteten. eine krippe hatten wir nicht, aber natürlich den ganzen advent über einen adventskranz. wir knackten auch viele nüsse, erdnüsse, haselnüsse, walnüsse. und es gab mandarinen und orangen. am heilig abend gingen wir, also mama und papa und stefan und ich, zu oma rüber, da gab es bescherung. von oma bekam ich meistens einen teller mit süßigkeiten und einen taler und einen schlafanzug. wenn ich bei oma schlief, wärmte sie den schlafanzug an der heizung auf. dann gab es salzkartoffeln mit selbstgemachtem heringssalat. dann gingen wir wieder in unser haus und feierten die bescherung. einmal bekamen stefan und ich ein yankee-fort mit yankees und indianern. einmal bekam ich einen technischen baukasten. einmal bekam ich eine mundharmonika. um zehn uhr abends gingen mama und oma mit mir in die evangelische ansgarikirche zum weihnachtsgottesdienst. da war dann eine große krippe mit maria und josef und dem jesuskind und den hirten und ochs und esel aufgebaut. und mama sang sehr schön die weihnachtslieder mit. zu weihnachten gab es dann schöne filme, ben hur oder einen jesusfilm oder die schatzinsel von stevenson oder den seewolf von jack london oder winnetou. o du fröhliche, o du selige, gnadenbringende weihnachtszeit! oma, mama und papa sind nun schon in der ewigkeit. kyrie eleison.



ZWEITES KAPITEL

SILVESTER


in den tagen vor silvester hatten stefan und ich und unser nachbar uwe schon kleine knaller, hauptsächlich ladykracher oder chinaböller. wir hatten im sandkasten kleine spielzeugautos, in die wir den sprengstoff steckten und die autos flogen dann durch die luft. zu silvester hörte mama partymusik, populär war damals abba. es gab fernsehshows mit viel glitter und glamour. zur abenddämmerung ging papa mit stefan und mir in den garten, ein kleines feuerwerk anzünden. papa bevorzugte sonnenräder, das waren sich drehende feuerkreise, die wurden an baumstämmen angeheftet. viel geld mochte papa für sowas nicht ausgeben, und er mochte auch kein feuerwerk, das an den krieg erinnerte, unter dem er in seiner kindheit gelitten hatte. an ein besonderes festessen kann ich mich nicht erinnern. unsere eltern sind dann feiern gegangen, zu freunden oder zum tanzen. stefan und ich kamen zu oma, die nebenan wohnte. dort saßen wir mit oma in ihrem wohnzimmer und schauten fern, da gab es viel komiker. wir aßen salzgebäck und tranken orangensaft. oma brachte uns dann in ihrem gästezimmer so um neun uhr abends ins bett. aber kurz vor mitternacht weckte sie uns wieder. wir zogen was über und traten mit oma vor ihre haustür und schauten uns das feuerwerk am himmel an. dann stieß oma mit uns an, ich meine, sie hatte etwas sekt in ihrem orangensaft, und wir gingen alle schlafen. am nächsten morgen frühstückten wir noch in omas küche, da gab es ostfriesentee und weißbrot mit marmelade. dann gingen wir zu neujahr zu unseren eltern ins haus zurück.





ELFTER TEIL

TRAUERREDE


ZU MEINER BEERDIGUNG


geboren am 7. 11. 1965, dem tag der heiligen karine, geburtstag und todestag von platon, tag des einzugs goethes in weimar


auf wunsch meiner oma und mutter am 16.1.1966 sakramental getauft in der evangelisch-lutherischen kirche st ansgari in hage


in der kindheit besonders viel liebe von oma bekommen


schöne skandinavienreisen mit eltern und bruder stefan


in der kindheit lutherischer konfirmation, urlaube mit katholischen pfadfindern und evangelikale kinderbibelstunde


mit 15 evangelisch konfirmiert, nasenbluten beim ersten abendmahl


in der jugend aktiv in der friedensbewegung und kommunistischen jugend. studierte politische ökonomie des marxismus-leninismus und in der ddr marxistische philosophie. ausbildung zum schriftsetzer


1989 begegnung mit erster großer liebe marion. berufung zum dichter


1990 studium angefangen in oldenburg, aber hauptsächlich durch die universitätsbibliothek durchgefressen, antike poesie, englische poesie. karine kennen gelernt, reisen nach südfrankreich, paradiesisch


nach dem ende des sowjetkommunismus studium antiker muttergöttinnen und des matriarchats


1993 beim tod meiner oma mystische begegnung mit christus. jünger jesu geworden. verliebt in maria. 2 jahre einsamkeit und bibelstudium und studium klassischer christlicher literatur, besonders dante und augustinus


ich suchte nach 2 jahren einsamkeit - inklusive psychose, selbstmordversuch und klinikaufenthalt - die wahre kirche in verschiedenen protestantischen gemeinden.


aus der zeit in den protestantischen gemeinden stammen wertvolle freundschaften, die auch später anhielten, mark und marco und später sabine.


in den jahren 2000/2001 bin ich zur katholischen kirche konvertiert, mit sakrament der firmung, lebensbeichte, weihe an maria und im august 2001 in lourdes verlöbnis mit maria


zehn jahre studium der mystik der karmeliter, des platonismus, besonders der platonischen liebe. dann suche nach weiblichem gottesbild in der literatur über die göttinnen des altertums, evangelischem feminismus und katholischer frauenmystik des mittelalters, bis mir die gestalt der hagia sophia immer klarer wurde. entscheidung zum zölibat als geistliche ehe mit der göttlichen weisheit ostern 2006 auf sylt.


von 2000 bis 2010 als hausfreund bei karine und ihrer freundin evi, kindererziehung, viel jesuskind. ein väterliches herz für meine ziehsöhne quentin, juri, tom, milan und simon.


2010 karines tod, verlust ihrer kinder. fortan gespräche mit karines seele in der heiligen messe und allein zuhause.


von 2012 bis 2022 zwei protestantische bibelkreise besucht.


von 2022 an rückzug in meine einsiedelei mitten in der welt. Kontakte nur mit evi und der pfadfinderin sabine. ansonsten nur mit guten ärzten zu seelsorgerlichen gesprächen über die schizophrenie.


ab 2022 bevorzugte mitfeier der traditionellen lateinischen messe im livestream, dreimal täglich.


studium der philosophie, nach platon und den platonikern nietzsche intensiv, das gesamtwerk von edith stein, studium der weisheit der ägypter, mesopotamier, inder und besonders der chinesen.


von 2000 an eine eigene bibelübersetzung.