POEM
VON TORSTEN SCHWANKE
Bekanntlich lehnt der Protestantismus
Die Heiligenverehrung ab.
Aus den reformierten Kirchen wurden
Die Statuen der Heiligen und Märtyrer,
Der Kirchenlehrer und der Apostel,
Ja, sogar der Gottesmutter entfernt.
Unter dem Motto „sola scriptura“
Hat ohnehin nur Geltung,
Was in der Heiligen Schrift steht,
Womit man gleich rund 1500 Jahre
Kirchengeschichte und theologische Tradition,
Konzilsbeschlüsse und Dogmatik ausklammert.
Wenn eine Person dagegen
Für den „evangelischen“ Christen
Die Rolle eines Kirchenlehrers
Und eines Vorbilds im Glauben
Und damit gewissermaßen eines Heiligen
Angenommen hat, dann ist es die Gestalt
Des Martin Luther. So wird Luther
Standesgemäß nicht etwa, wie zum Beispiel
2009 der Völkerapostel Paulus,
Bloß mit einem bescheidenen Gedenkjahr
Gewürdigt. Nein, eine ganze Lutherdekade
Muss her, denn „Ein Ereignis,
Das thematisch und strukturell so komplex ist,
Wie das 500-jährige Reformationsjubiläum,
Will gut vorbereitet sein und bedarf
Einer entsprechenden Vorlaufzeit.
Zur angemessenen Vorbereitung und Hinführung
Auf das Jubiläumsjahr 2017
Wurde deshalb die Lutherdekade
Ins Leben gerufen. Die Lutherdekade
Lädt von 2008 bis 2017
Mit vielfältigen Veranstaltungen
Und Reiseangeboten zur Spurensuche
An Originalschauplätzen der Reformation ein.
Landesweit widmen sich Ausstellungen,
Konzerte und andere kulturelle Veranstaltungen
Den verschiedenen Aspekten der Reformation.
Historische Stadtfeste, Sommertheater
Und Festivals hingegen zeigen,
Dass die Lutherdekade ein Grund zum Feiern ist.“
Tatsächlich schildert die protestantische
Hagiographie Luther als Jahrtausendfigur
Von fast übermenschlicher Größe.
Sein Berufungserlebnis
Während eines Gewitters,
Das asketische Mönchsleben,
Die steile Karriere als Theologieprofessor,
Der es wagte, Rom und dem Papsttum zu trotzen,
Der ikonographische Thesenanschlag
Zu Wittenberg, die Verbrennung
Der Bannandrohungsbulle, die Reichsacht
Durch das Wormser Edikt, die Flucht
Auf die Wartburg, wo er dem Teufel trotzte
Und die Bibel ins Deutsche übersetzte,
Was „die Entwicklung der deutschen Sprache“
Maßgeblich beeinflusste, Heirat, Vaterfreuden
Und Bildersturm. Über allem schwebend
Als geradezu prophetisches Motto sein
„Hier stehe ich, ich kann nicht anders“:
Heroisch und ungebrochen, prinzipientreu
Und nur Gott und seinem Gewissen verpflichtet,
Ein wahrhaft deutscher Held.
Doch war er das wirklich?
War seine Ausgangsmotivation allein
Die Suche nach der Wahrheit,
Die Sehnsucht nach einem gnädigen Gott,
Die auch Papst Benedikt XVI.
Ihm zugute hielt? Können auch wir als Katholiken
Von Luther lernen, wie es Kardinal
Walter Kasper forderte? Kann er uns also
Als „Lehrer im Glauben“ dienen,
Wie auch Kardinal Karl Lehmann behauptete?
War seine Reformation tatsächlich
Ein Segen für die Kirche in Deutschland
Und der Welt? Kurzum: Gibt es
Einen guten Grund, ihn zu feiern,
Nicht nur ein Jahr,
Sondern eine ganze Dekade lang?
Kein Zweifel: Jede pauschale Dämonisierung
Luthers und des Protestantismus
Würde den fruchtbaren ökumenischen Dialog stören,
Den die katholische Kirche seit Jahrzehnten
Mit den Protestanten führt,
Und wäre schon daher auch kirchenpolitisch
Unerwünscht. Ohne Frage
Hat die Christenheit Martin Luther
Wichtige Impulse zu verdanken,
Schon weil seine Reformation
Auslöser der Gegenreformation,
Jener segensreichen Selbstreinigung
Der Kirche war. Auch die Liturgie
In der Volkssprache, die Verbreitung
Der Heiligen Schrift beim Volk
Und eine ganze Tradition christlicher Lieder
Gehen auf Impulse Martin Luthers zurück.
Aber eben auch eine Radikalisierung
Des christlichen Antijudaismus, des Hexenwahns,
Die anfangs ungewollte Kirchenspaltung,
Die Bauernkriege, die Spaltung Deutschlands
Bis hin zum Dreißigjährigen Krieg,
Eine Entsakramentalisierung
Seiner Gemeinschaften, ein Schnitt
Durch die Nabelschnur der Tradition,
Eine anachronistische Theologie und dann,
Nach der Entsorgung der Exegese
Durch die Kirchenväter als Folge
Des „sola scriptura“-Wahns, als Nachwirkung
Die historisch-kritische Exegese
Und damit die Verstümmelung der Heiligen Schrift
Im Prokrustes-Bett des Rationalismus:
Alles, was vom Wirken Gottes
In der Geschichte zeugt, wird dabei bestritten,
Es bleibt nur eine Zeitgeist-konforme
Gutmenschen-Ethik
Und der König des Universums wird
Zum gescheiterten Wanderprediger degradiert.
Wie wenig der Protestantismus dabei
Die Herzen seiner Gläubigen erreichte,
Das zeigt die Entwicklung
Nach einem halben Jahrhundert
Kommunistischer Herrschaft in Osteuropa.
Dort, wo die Menschen
Vor der Machtergreifung der Kommunisten
Orthodox oder katholisch waren,
Fanden sie nach dem Fall der roten Diktaturen
Wieder in Massen zum Glauben zurück,
Finden wir heute die strahlenden Beispiele
Erneuerter Frömmigkeit: in Polen und Ungarn,
In Russland und der Slowakei.
Dort, wo die Menschen zuvor protestantisch waren,
In der DDR wie in Tschechien,
Ließ man sich mühelos zum Atheisten umschulen
Und ist dies noch heute. Auch die heutige
Misere der Evangelisch-lutherischen Gemeinschaft
In Deutschland zeugt nicht gerade vom Segen
Gottes. Wo eine Frau Käßmann Zeitgeist-konforme
Gutmenschen-Parolen als Theologie verkauft,
Eine Frau Göring-Eckart aus grünen evangelische
Und aus evangelischen grüne Parolen fabriziert
Und wo eine rheinische Landeskirche
Die Homo-„Ehe“ propagiert und praktiziert,
Glänzt der Heilige Geist durch Abwesenheit.
Nun mahnt uns der Herr im Matthäus-Evangelium,
Achtsam zu sein und keinen falschen Propheten
Auf den Leim zu gehen. Von „falschen Propheten,
Die in Schafskleidern zu euch kommen,
Inwendig aber reißende Wölfe sind“,
Ist da die Rede und vom Rat des Herrn:
„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“
Dabei ist selbst die Berufung auf Ihn
Kein Kriterium: „Nicht jeder, der zu mir sagt:
Herr, Herr! wird in das Himmelreich kommen,
Sondern wer den Willen meines Vaters tut,
Der im Himmel ist.“ Und so sind wir als Christen
Aufgerufen, unkritischen Personenkult
Auch von Menschen, die sich selbst
Wie Glaubenslehrer gerieren, zu vermeiden.
Die Kirche tut gut daran, selbst noch so fromme
Menschen vor einer Verehrung zunächst
Gründlich zu untersuchen,
In einem Heiligsprechungsprozess,
Der in der Regel viele Jahre, oft Jahrzehnte
Oder gar Jahrhunderte dauert.
Darum muss auch vor einer Quasi-Kanonisierung
Martin Luthers zum „Lehrer im Glauben“
Dringend gewarnt werden.
Zunächst einmal muss auch seine Lebensführung
Und muss sein Gesamtwerk
Einer gründlichen Prüfung unterzogen werden.
Dabei gab es vor der Reform
Des Heiligsprechungsverfahrens
Durch Papst Johannes Paul II.
Den Promotor Fidei, umgangssprachlich
„Advocatus diaboli“ genannt,
Dessen Aufgabe es war, kritische Einwände
Gegen die Kanonisierung einer Person
Zu sammeln und vorzutragen.
Diese Aufgabe möchte ich
In Sachen Luther übernehmen.
Dabei befürworte ich ausdrücklich
Jeden ökumenischen Dialog.
Die Frage ist nur, ob eine Würdigung
Der Person Luthers dabei der richtige Weg ist
Oder ob es sinnvoller wäre, Luther
Als Hindernis gemeinsam zu überwinden.
Dabei spricht einiges dafür, dass Luthers Leben
Der eigentliche Schlüssel zum Verständnis
Seiner Lehren und Schriften ist.
Wer also war Dr. Martin Luther
Und wie wurde er zum Reformator?
Wenn wir dem wahren Luther
Auf den Grund gehen wollen,
Müssen wir seine Biographie kritisch lesen,
Denn vieles, was heute als gegeben gilt,
Ist tatsächlich das Produkt
Lutherischer Selbststilisierung
Und protestantischer Legendenbildung.
Selbst in seinem knappsten Selbstzeugnis
Finden wir Halbwahrheiten,
Wenn er von sich sagte:
„Ich bekenne, dass ich Sohn eines Bauern bin,
Bin dennoch Doktor der Heiligen Schrift,
Des Papstes Feind.“
Denn einen solch steilen sozialen Aufstieg,
Wie er ihn hier behauptet,
Hat er dann doch nicht hingelegt.
Luthers Vater stammte zwar
Aus einer bäuerlichen Familie,
Hatte es aber im Kupferbergbau
Als Mineneigner und Hüttenteilhaber
Zu einem nicht unbeachtlichen
Vermögen gebracht und war Ratsherr
Seiner Heimatstadt Eisleben.
Allerdings waren seine Großeltern noch Bauern,
Sodass man seinen Vater wohl
Als sozialen Aufsteiger,
Praktisch als Neureichen bezeichnen kann,
Der alles daran setzte, seine neu erworbene
Soziale Stellung zu festigen
Und seinen Söhnen eine gute Ausbildung
Zu ermöglichen. Der Familienname
Wird in den zeitgenössischen Chroniken
Als Lotter oder Luder wiedergegeben,
Was erklärt, weshalb Martin Luther
Sich ab 1512 für eine ganz neue
Schreibweise entschied,
Die er auf Herzog Leutheri II.
Und das griechische Wort „eleutherios“
(„der Freie“) zurückführte.
Denn als „Luder“ galt im Mittelalter
Zunächst ein totes Tier,
Das etwa in der Falknerei zum Anlocken
Von Raubvögeln verwendet wurde.
Daraus entstand der Begriff
„dem Teufel sein Luder“,
Der für jede Form der Verführung
Zur Wollust stand. Verständlich also,
Dass Luther seinen Gegnern keine solche
Steilvorlage liefern wollte.
Eine Ironie der Geschichte übrigens,
Dass er gerade auf jenen Heiligen getauft wurde,
Dessen Mantelteilung wir
Als Tat der Nächstenliebe feiern,
Wo er doch gerechte Werke
Jeder Art später als unchristlich ablehnte
Und eben deshalb das unteilbare Gewand
Christi teilte, die Kirche spaltete.
Anlass heftiger Kontroversen war die Frage,
Was Hans Luder, Luthers Vater also,
Veranlasst hat, das väterliche Erbe in Möhra
Zu verlassen und nach Eisleben zu gehen.
Luther-Hagiografen behaupten,
Nach dem Thüringer Erbrecht sei der Hof
Der Eltern nicht an den ältesten, also an Hans Luder,
Sondern an den jüngsten Sohn gefallen.
Dabei gibt es keinerlei zeitgenössischen
Juristischen Quellen, die eine solche Annahme
Rechtfertigen. Luthers Vater war Bauer
Und Erbe des väterlichen Hofes.
Hans Luder hatte vielmehr
„im Jährzorn einen Bauern,
Der ihm im Grase hütete,
Mit seinem eigenen Pferdezaum erschlagen“
Und sei daher bei Nacht und Nebel,
Alles Hab und Gut zurücklassend,
Nach Eisleben geflohen. Dieses Ereignis
Könnte auch Luthers Kindheit überschattet haben.
Denn obwohl sein Vater sich redlich bemühte
Und es ihm auch gelang, in der neuen Heimat
Ein angesehener Bürger zu werden,
Könnte dieses Trauma doch die Stimmung
Im Elternhaus überschattet haben.
So erinnerte sich der spätere Reformator
An einen Vers, den er immer wieder
Aus dem Mund der Eltern vernommen hatte:
„Mir und dir ist keiner hold,
Das ist unser beider Schuld.“
Unbestritten auch von Luther selbst
Sind der Jähzorn und die Brutalität
Beider Eltern. So berichtete er
In einer 1532 gehaltenen Tischrede:
„Meine Eltern haben mich in strengster
Ordnung gehalten, bis zur Verschüchterung.
Meine Mutter stäupte mich
Um einer einzigen Nuss willen
Bis zum Blutvergießen, mein Vater
Stäupte mich einmal so sehr,
Dass ich vor ihm floh und dass ihm bange war,
Bis er mich wieder zu sich gewöhnt hatte.“
Er sei sogar in ein Kloster geflohen,
Um sich vor den brutalen Eltern zu verstecken,
Die sein „allzu erschrockenes Gemüt“
Nicht verstanden hätten.
Jedenfalls brachte Luthers Vater es
Zu bürgerlichem Wohlstand;
Bei seinem Tod hinterließ er
Jedenfalls ein Vermögen von 1250 Gulden,
Den Wert zweier großer Bauernhöfe.
Natürlich galt seine besondere Aufmerksamkeit
Dem Ältesten seiner neun Kinder,
Das wohl am 10. November 1483 geboren
Und am nächsten Tag
Auf den Namen Martin getauft wurde.
Der sollte nämlich Jura studieren
Und Wirtschaftsanwalt werden,
Nachdem er 1505 an der Universität Erfurt
Das Grundstudium mit dem Magister artium
Abgeschlossen hatte.
Doch dann kam alles ganz anders.
Als Student galt Luther als trinkfest und rauflustig,
Mit Religion hatte er wenig im Sinn.
Auch sein Elternhaus war nicht sonderlich gläubig,
Eher schon abergläubisch;
Als Luthers Mutter
Eine neugeborene Tochter verlor, glaubte sie,
Die Nachbarin habe diese verflucht.
Als die Frau bald darauf erschlagen wurde,
Frohlockte sie: endlich
Habe der Teufel die Hexe geholt!
Auch die Geschichte von Luthers Bekehrung
Belegt eher seinen Aberglauben
Als seinen Glauben –
Wenn sie sich denn überhaupt so zugetragen hat.
Danach war der 2. Juli 1505 die Wende
In Luthers Leben. Auf der Rückreise
Von einem Besuch bei seinen Eltern,
So heißt es, sei er kurz vor Erfurt
Von einem schweren Gewitter
überrascht worden. Als in seiner Nähe
Ein Blitz einschlug, habe er die Mutter Mariens
Und Patronin der Bergleute angefleht:
„Hilf, heilige Anna, ich will Mönch werden!“
Sehr zum Verdruss des Vaters habe er
Dieses Gelübde zwei Wochen später eingelöst
Und sei in das Erfurter
Augustinerkloster eingetreten.
Doch ist das wirklich plausibel?
Reicht ein einfaches Gewitter aus,
Um zu einer religiösen Berufung zu finden?
Selbst Luther-Hagiografen räumen ein:
„Es mag nicht nur das Gewitter gewesen sein.
Die ganze Lebensphase ist nicht einfach.“
Wie gesagt war Luther ein eher
Lebenslustiger Student.
Er selbst gestand 1505 in einem Brief
An seinen damaligen Beichtvater Braun:
„Durch Völlerei und Trunkenheit gehindert,
Dürfte ich bisher sehr wenig Gutes
Geschrieben oder gelesen haben,
Da ich bei den Menschen angesiedelt,
Mit den Menschen herumgewirbelt habe“.
Wenn er ganz Erfurt einmal
„Ein Hurhauß und Birhauß“ nannte,
Meinte er damit nicht nur die anderen.
Sein Kommilitone und späterer Gegner
H. Emser hielt ihm vor:
„Was meinst du wohl, dass mir
Von deinen eigenen Schandtaten
Zu Ohren gekommen ist?“
Dungersheim, Professor in Leipzig
Und ein weiterer späterer Luther-Gegner,
Klagte ihn an: „Also hott dich
Deyn buben leben verblendet
Dastu selber nicht weyst was du lallst.“
Er sei „in büberey (Hurerei und Sauferei) gar ersuffen“,
Habe sogar eine Geliebte
Und uneheliche Kinder gehabt,
Wobei es sich natürlich
Um üble Nachrede handeln kann.
Doch seinem späteren Mitarbeiter
Melanchthon gegenüber gestand Luther,
Dass er „ein großer, schwerer,
Schändlicher Sünder“ gewesen sei,
Der seine „Jugend auch verdammlich zugebracht
Und verloren habe“: Mit Wollust,
Zorn, Hass und Neid,
Die er nie überwinden konnte.
Doch nicht die Reue über ein wildes Studentenleben,
Das damals durchaus nicht unüblich war,
Könnte ihn ins Kloster getrieben haben,
Sondern vielmehr die Angst vor Strafverfolgung,
Wie ein Psychologe
In seiner Studie zu Luther aufzeigt,
Nach nicht weniger als einem ungewollten Totschlag.
Schon 1503 gibt es Hinweise auf ein Duell
Des schnell aufbrausenden Luther.
Später behauptete dieser, er habe sich
Auf dem Weg von Erfurt nach Mansfeld
„Mit der Spitze seines Degens
Durch einen unglücklichen Zufall
Die Schlagader seines Unterschenkels verletzt“
Und dabei einen schweren Blutverlust erlitten,
Was freilich praktisch unmöglich war,
Da der Degen stets in einer harten Lederscheide steckte.
So deutet man diese Erklärung
Als reine Nutzlüge, wie sie damals
Gerne benutzt wurde, um die Folgen
Eines den Studenten strikt verbotenen Duells
Zu erklären. Sein siegreicher Kontrahent
War wahrscheinlich sein Studienfreund
Konrad Wigant, der kurz darauf
Die Universität verlassen musste,
Ohne einen akademischen Grad
Erworben zu haben.
Luther dagegen musste nur seine bisherige
Unterkunft, die komfortable Studentenbude
„Himmelspforte“, verlassen
Und wurde gerade noch
Von der „Georgen-Bude“
Für arme Studenten aufgenommen.
Zwei Jahre später kam es zu einem
Noch tragischeren Vorfall.
Im Anschluss an das Magisterexamen,
An dem auch Luther teilnahm,
Starb einer der 17 Kandidaten,
Hieronymus Buntz, angeblich
An einer Rippenfellentzündung.
Der Tod des Freundes und Kommilitonen
Muss Luther geradezu erschüttert haben;
Noch Jahrzehnte später,
In seinen „Tischgesprächen“, berichtete er davon,
Wie Buntz an „Stichen“ zugrunde ging,
Was seine Zuhörer als Hinweis
Auf einen gewaltsamen Tod verstanden.
Man hält das für kein Missverständnis,
Sondern ein spätes Eingeständnis,
Dass Buntz bei einem Streit
Mit dem aufbrausenden Luther von diesem
Selbst versehentlich mit einem Messer
Tödlich verletzt worden war.
Was auf den ersten Blick verwegen klingt,
Gewinnt Plausibilität durch eine Reihe
Von weiteren Hinweisen. Tatsächlich
Hatte die Erfurter Universität
Am 3. Juli 1503 auf ihre Gerichtsbarkeit verzichtet
Und sich dem Erfurter Generalgericht unterstellt,
Das ein geistliches war. Es konnte als Strafe
Auch die zeitweilige oder dauerhafte Einsperrung
In ein Kloster verhängen. Wie auch immer
Ein Prozess ausgegangen wäre –
Mit dem Duell war Luther eidbrüchig,
Denn als Bakkalaureus hatte er zwar das Recht,
Einen Degen zu tragen,
Musste aber schwören, diesen nie zu benutzen –
Und damit exkommuniziert, zudem wäre er
Der Universität verwiesen worden.
Es lässt sich denken, wie der jähzornige Vater
Darauf reagiert hätte. Zudem stand auf Duelle
Zur Prävention solcher die Todesstrafe.
So war Luthers Flucht ins Kloster der einzige Ausweg,
Zumal die Mönche als Beichtväter
Die Möglichkeit hatten, ihn zumindest
Durch Auflegung einer schweren Buße
Vom Makel der Exkommunikation zu befreien.
Offenbar war dieser Umstand
Im akademischen Millieu
Nicht ganz verborgen geblieben.
So warf Dungersheim, als Professor in Leipzig
Auch über das Erfurter Universitätsgeschehen
Gut informiert, Luther vor,
Seine „Ungeschicklichkeit“ habe ihn
„Bis an die Pforte des Augustinerklosters
Zu Erfurt geleitet.“ Für diese Deutung spricht
Auch Luthers eigenes Eingeständnis
Aus dem Jahre 1532:
„Nach einem einzigartigen Ratschluss Gottes
Bin ich zum Mönch gemacht worden,
Damit sie mich nicht gefangennehmen.
Andernfalls wäre ich nämlich sehr leicht
Gefasst worden. So aber konnten sie es nicht,
Weil sich der ganze Orden meiner annahm.“
Auch Luther-Worte wie
„Sie wollten mir ans Krägeli“
Und „ich bin ein Mönchlein widerwillen“
Weisen darauf hin. Ähnlich in einer Predigt
Von 1523, in der er über seine Motive
Beim Eintritt in das Kloster sprach –
Vom Gewitter war da keine Rede mehr:
„Denn ich hab nicht lust dazu von hertzen,
Sondern byn dazu gezwungen und muß es thun,
Angesehen die helle, straff oder schand...“
Oder 1529, als er in einer Predigt zugab
„Ein grosser bub et homicida fui“,
Also ein Spitzbub und Mörder gewesen zu sein.
So ungeheuerlich die Schlussfolgerung
Auch klingen mag, sie erweist sich doch
Als der einzig logische Schlüssel
Zur Erklärung von Luthers Lebensmisere –
Dem Schritt ins Kloster
Ohne eine echte Berufung
Und ohne jede Befähigung zum Mönchtum,
Und die verzweifelte Suche
Nach einem gnädigen Gott,
Der nicht auf unsere Taten und Werke,
Ob nun gut oder sündhaft, schaut.
Dabei ließen ihn die Mitbrüder offenbar spüren,
Dass er keiner von ihnen war.
Glauben wir seinen eigenen Schilderungen,
So wurde er regelrecht schikaniert.
Man zwang ihn, niederste Arbeiten zu verrichten,
Und hinderte ihn daran,
Sich wissenschaftlichen Studien zu widmen -
Eine Demütigung, die vielleicht
Als narzisstische Kränkung gewertet werden kann
Und zu Luthers späterem Hass
Auf die Kirche führte.
Seinem Arzt zufolge war Luther
Zunächst Hausknecht des Klosters. Wörtlich:
„Weil er nun am neulichsten unter den brudern
Ins Closter gekommen war,
Legete man Ihme die aller verächtlichste
Und schwerste buerde auf, die er
Durch tagliche Arbeit im auskeren
Und ausfegen verrichten muste
Und sonsten des hausknechten zu thun
Und zu verrichten. Man bedenke,
dass auch die „Weimarer Ausgabe“
Ausgerechnet mit Luthers
Kirchengeschichtlicher Abhandlung
„Tractatulus Doctoris Martini Luttherii,
De his qui ad Ecclesias confugiunt“ beginnt,
Die 1517 anonym und 1520
Unter Luthers Namen veröffentlicht wurde
Und zu Luthers frühesten wissenschaftlichen
Arbeiten überhaupt gehört. Sie handelt
Vom Kirchen- und Klosterasyl.
Luther wörtlich darin:
„Zwei Dinge hat ein in die Kirche Fliehender
Hauptsächlich zu vergegenwärtigen:
1. Daß er mit Gewalt nicht herausgeholt werden darf;
2. Daß er wegen eines Deliktes nicht mehr
Zum Tode oder zu einer anderen Körperstrafe
Bzw. Körpermisshandlung verurteilt werden darf...“
Luther selbst fühlte sich von der Mehrheit
Der Mitbrüder geradezu gehasst.
Er sei „gezwungen worden zu betteln,
Käse zu schlagen
Und die Latrinen zu reinigen.“
Gemischt mit Luthers Egomanie,
Seinem Narzissmus, seinem cholerischen
Temperament und seiner
Manisch-depressiven Erkrankung,
Wird dieses Trauma der Demütigung
Zum Funken, der zur Explosion führt.
Luthers Vater, der seinen Sohn gut kannte,
Ahnte, dass es bei Luthers Klostereintritt
Nicht mit rechten Dingen zuging.
„Gott geb, dass es nicht ein Betrug
Und teuflisch Gespenst sey“,
Ermahnte er ihn. Luther,
Der zudem die Abneigung des Vaters
Gegen Mönche kannte, fühlte sich ertappt.
„Du trafst mich wieder so geschickt und passend,
Dass ich in meinem ganzen Leben
Von einem Menschen kaum
Ein Wort gehört habe,
Das kräftiger in mir geklungen
Und fester gehaftet hat“, erwiderte er.
„Ich ward ja nicht gern und willig Mönch,
Sondern als ich mit Schrecken
Und Angst des Todes eilend umgeben,
Gelobte ich Gott gedrungen und gezwungen
Gelübde“, gestand Luther später.
Immer wieder plagten ihn
Schwere Schuldgefühle.
„Ich war sehr fromm im Kloster,
Doch immer traurig, weil ich meinte,
Gott wäre mir nicht gnädig,
Satan hat mich in Verzweiflung gebracht;
Ich wusste nicht, ob ein Gott wäre,
Ich verleugnete Gott ganz und gar“,
Schilderte er seine große Seins- und Lebenskrise.
Er glaubte, er sei vom Teufel besessen.
Bei seiner Primiz stockte er mitten im Messkanon,
Rannte vom Altar weg
Und schrie entsetzt: „Ich bin kein Besessener!“
Ein anderes Mal packte ihn bei einer
Fronleichnamsprozession
Hinter seinem Ordensoberen
Und Beichtvater Johann von Staupitz
Die nackte Angst. „Ich muss Gott zürnen,
Ihn hassen; ich war Christus so feind, dass,
Wenn ich sein Gemälde oder Bildnis sah,
Wie er am Kreuze hing, so erschrak ich darüber
Und schlug die Augen nieder
Und hätte lieber den Teufel gesehen“,
Räumte er später ein. Auf Luthers Ausruf
„O meine Sünde, Sünde, Sünde“!
Erwiderte sein Beichtvater:
„Nicht Gott zürnt dir – Du zürnst Gott!“
Später verhöhnte er
Seinen damaligen Glaubensweg:
„Ich wollte lieber, dass ich wäre
Ein Hurenwirt oder Räuber gewesen,
Denn dass ich Christus fünfzehn Jahre lang
Mit Messelesen so geopfert und gelästert habe!“ –
Er hatte die Schuldgefühle verdrängt,
Aus seiner Furcht vor Christus
War ein Hass auf das Messopfer geworden,
Das er nie würdig hatte feiern können.
Seinen mönchischen Pflichten kam er
Immer weniger nach,
Während er jetzt Theologie studierte,
Dann 1511 nach einer Romreise
Nach Wittenberg versetzt wurde.
Im Oktober 1512 promovierte Luther
Zum Doktor der Theologie,
Hielt jetzt Vorlesungen und wurde zudem
Distriktvikar seines Ordens.
„Selten bleibt mir Zeit,
Die Horen zu vollenden
Und zu zelebrieren, außerdem
Kommen Versuchungen mit dem Fleisch,
Der Welt und dem Teufel“, schrieb er 1516.
Sein Brevier nahm er oft wochenlang
Nicht zur Hand. Als er seinen Freund
Spalatin, Hofprediger des Kurfürsten
Friedrich, besuchte,
Verliebte er sich spontan in die Tochter
Von dessen Haushälterin.
„O Spalatin, du kannst nicht glauben,
Wie mir dies schöne Mägdelein im Herzen liegt.
Ich will nicht ersterben,
Bis ich so viel anricht, dass ich auch
Ein schön Megtiken freien darf.“
In diese Zeit der Überforderung,
Der inneren Krise und Zerrissenheit,
Irgendwann zwischen 1511 und 1515,
Fällt Luthers „Turmerlebnis“,
Die Geburtsstunde seiner Theologie.
Ausgerechnet beim nächtlichen Stuhlgang -
„super cloacam“ auf dem Turm,
Wie er selber später schrieb – was brisant ist,
Weil die „Kloake“ damals als Tummelplatz
Von Geistern, Teufeln und Dämonen galt –
Fand er seine ganz eigene Antwort
Auf seine Frage nach dem „gnädigen Gott“
In Form seiner Rechtfertigungslehre.
Mit Luthers Worten: Der „Glaube macht,
Dass unser Dreck vor Gott nicht stinkt.“
Für den Christen bedeutete das,
Wie er 1521 an Melanchthon schrieb:
„Sei ein Sünder und sündige kräftig,
Aber vertraue noch kräftiger
Und freue dich in Christus,
Der der Sieger ist über Sünde, Tod und Welt.
Wir müssen sündigen, solange wir hier sind.
Es genügt, dass wir durch den Reichtum
Der Herrlichkeit Gottes das Lamm,
Das die Sünde der Welt trägt, anerkannt haben;
Von ihm wird uns die Sünde nicht fortreißen,
Auch wenn wir tausend- und abertausendmal
An einem Tag huren oder töten.“
Das ist, fürwahr, „die bequemste Religion der Welt“!
Denn wer nach Luthers Lehre lebt,
Der braucht weder Gottes- noch Nächstenliebe,
Weder Reue noch Buße für seine Sünden,
Am allerwenigsten aber braucht er Werke
Der Barmherzigkeit zu verrichten,
Er wird ohnehin und ganz ohne eigenes Zutun –
Sola fide, durch den Glauben allein - erlöst.
Den freien Willen des Menschen,
Der ihn zwischen Gut und Böse
Unterscheiden lässt, stellt Luther dabei
Ebenso infrage wie die Verantwortung
Des Einzelnen für seine Entscheidung
Und deren Folgen. Gott ist bei ihm
Nicht die Liebe, sondern „das Böse
Und das Gute“ in einer Person.
Gott, so Luther, tut das Böse,
Um das Gute zu erreichen.
Er sündigt durch den Menschen,
Der keinen freien Willen hat,
Sondern dem alles vorbestimmt ist von Gott.
Daher ist der Mensch auch schuldlos
Und braucht weder das Beichtsakrament
Noch die Heiligenverehrung,
Da er ja keinen Fürsprecher mehr braucht.
Damit hat sich Luther
Einen Gott geschaffen,
Der ihn von der Verantwortung
Für seine Bluttat befreit
Und seine Sündenschuld
Nicht mehr verurteilen kann –
Ja der sogar den Totschlag des Freundes
Und Kommilitonen gewollt hat.
„Gott hat mein Schicksal nicht nur
Vorhergesehen, sondern auch
Vorherbestimmt“, war Luthers Fazit
Auf dem Toilettenstuhl des Klosterturmes.
Damit war jede Sünde erlaubt,
Alles Gute aber überflüssig.
„Willst Du nicht gegen das Evangelium fehlen,
So hüte dich vor guten Werken.
Die Heilige Schrift verbietet,
Gute Werke zu tun.“
Sie seien sogar „Todsünden“.
Das war Luthers „Evangelische Freiheit“!
Natürlich wusste Luther, dass er
Mit einer solchen Lehre noch nicht
An die Öffentlichkeit gehen konnte.
So ist in Luthers nächstem Schritt
Eher ein Versuch zu vermuten,
Einen Skandal als Vorwand zu nehmen,
Um sich selbst der Öffentlichkeit
Als Retter und Reformator
Uu präsentieren und
Sympathiepunkte zu erwerben.
So gesehen war das, was vor 500 Jahren
In Wittenberg geschah,
Eine gigantische Popaganda-Aktion.
Doch sie fiel kleiner aus,
Als es der protestantische Luther-Mythos
Behauptet. Denn der Thesenanschlag
Von Wittenberg, der 2017
Mit einem ganzen „Lutherjahr“ gefeiert wird,
Diese Ur-Ikone des Protestantismus,
Hat nach Meinung einer Reihe
Renommierter Historiker
Nie stattgefunden!
Diese Erkenntnis verdanken wir
Einem Kirchenhistoriker,
Der dreierlei nachwies:
1. Es gibt nicht einen einzigen
Zeitgenössischen Bericht,
Der den angeblich so spektakulären
Und vielbeachteten Thesenanschlag
Auch nur andeutungsweise erwähnt;
2. Nicht einmal Luther selbst,
Der in seinen umfangreichen Tischgesprächen
Jeden Aspekt seines Lebens durchkaut,
Erwähnte je ein solches Ereignis;
3. Erst Melanchthon, dem wir
Eine Reihe protestantischer Mythen verdanken,
Hat den Thesenanschlag erwähnt,
Wohl basierend auf der in Wittenberg
Üblichen akademischen Praxis,
Die Kirchentüren als „schwarzes Brett“
Zu benutzen; dann allerdings wäre
Der Hausmeister der Universität
Für den Anschlag zuständig gewesen,
Nicht Dr. Luther.
Natürlich war die Ablasspraxis
Im Deutschland des 16. Jahrhunderts
Kritikwürdig. Albrecht von Brandenburg,
Der schon als 23jähriger zum Erzbischof
Von Magdeburg und Administrator
Von Halberstadt ernannt worden war,
Wollte zwei Jahre später auch noch
Erzbischof und Kurfürst von Mainz werden,
Ohne auf eines seiner bisherigen Bistümer
Verzichten zu müssen.
Um die notwendigen Gelder zu bezahlen,
Hatte er sich von den Fuggern
29.000 rheinische Gulden geliehen,
Die er in Absprache mit der römischen Kurie
Durch den Verkauf von Ablassbriefen
Erwirtschaften wollte, bei dem
Die Hälfte der Einnahmen nach Rom ging,
Die andere Hälfte aber vom zuständigen Bischof
Einbehalten werden konnte. Mit dem Verkauf
Wurde der rührige Dominikanermönch
Johannes Tetzel beauftragt, dessen Verkaufstalent
Größer als seine seelsorgerische Sorgfalt war.
Einer der ersten Gegner der Verkaufsaktion
War Luthers Landesherr Friedrich der Weise,
Der die Wallfahrt zu seiner mit Reliquien
Und Ablässen reich ausgestatteten
Allerheiligenkirche in Wittenberg gefährdet sah.
Luther ging also auf „Nummer sicher“
Und sprach „pro domo“, als er ausgerechnet
Mit einer Kritik an dem fragwürdigen Ablass-Handel
„an die Öffentlichkeit“ ging.
Das geschah aber eben nicht
Mit einem Thesenanschlag, sondern
Mit einem Brief an Erzbischof Albrecht,
Der an Unterwürfigkeit kaum zu überbieten ist.
Er befindet sich heute im Reichsarchiv
Zu Stockholm und ist
Auf den 31. Oktober 1517 datiert.
Auch hier wird der vermeintliche Thesenanschlag
Mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen
Bittet Luther den Erzbischof,
Seine Instruktion an die Ablassprediger,
Insbesondere Tetzel, zu revidieren,
Da sie irreführend sei.
Ein zweites Schreiben ging an den Bischof
Von Brandenburg. Beiden Briefen
Legte Luther seine Thesen bei, die damals
Nur handschriftlich existierten.
In einem Brief an Papst Leo X. vom Mai 1518
Versichert Luther, er habe bis dahin nur
„Privatim einige hohe Würdenträger
Der Kirche ermahnt“. Erst als er
Auf das Schreiben an Albrecht
Keine Antwort bekam, ließ er
Seine Thesen in gedruckter Form erscheinen,
Die sich daraufhin in rasender Geschwindigkeit
Verbreiteten; er hatte den Nerv
Der Zeit getroffen.
Dabei ist auffallend, dass Luthers Kritik
Am Ablasshandel allein
Auf kirchlicher Theologie
Und Kirchenrecht basierte;
Seine neuen Erkenntnisse
Spielten noch keine Rolle,
Im Gegenteil, er schreibt:
„Die Werke der Gottesfurcht und der Liebe
Sind unendlich wertvoller
Als die Ablässe.“ In seinen Thesen aber
Verhöhnt er den Papst,
Wenn es in These 82 heißt:
„Warum befreit der Papst nicht aus Liebe
Alle Seelen aus dem Fegefeuer,
so er doch des vergänglichen Geldes willen
viele daraus erlösen kann.“
Dem AblaSSprediger Tetzel schrieb er dagegen:
„Er solle sich unbekümmert lassen,
Denn die Sache sei von seinetwegen
Nicht angefangen, sondern das Kind
Habe viel einen anderen Vater.“
Zuvor hatte er erklärt: „Wo er nur einen
Fürsten wusste, der ihm den Rücken deckte,
Wollte er dem Papst, den Bischöfen und Pfaffen
Ein rechtes Spiel anrichten.“
Es war also alles eine Inszenierung,
Ein abgekartetes Spiel.
Es ging ihm nie allein um den Ablasshandel.
Aber mit dieser berechtigten Kritik
Konnte er nicht nur seinen Landesherrn,
Friedrich den Weisen, auf seine Seite bringen,
Sondern auch einen großen Teil des Volkes.
Von einem Tag auf den anderen
War er berühmt – und galt als
Gerechter Kämpfer
Gegen einen Missbrauch des Ablasses.
Mehr noch, er gab sich als Volkstribun,
„Schaute dem Volk aufs Maul“
Und nutzte geschickt den historisch bedingten
„Antirömischen Affekt“,
Der östlich des Rheins seit den Zeiten
Hermanns des Cheruskers gepflegt worden war
Und seit dem Investiturstreit
Auch einen großen Teil des Adels erfasst hatte.
„Der Mönch wurde zum Demagogen
Und Erzvater aller Revolutionen nach ihm.
Unablässig hetzte er zum Kriege gegen Rom,
Gegen den Papst, gegen die Katholiken.
Dem Kaiser riet er, den Kirchenstaat einzuziehen,
Den Fürsten und Magistraten,
Die Kirche ihrer Güter zu berauben,
Den unzufriedenen Geistlichen,
Mönchen und Nonnen stellte er
Den Hochzeitshimmel in Aussicht,
Allen die evangelische Freiheit.“
Für Aufsehen sorgte dabei speziell
Luthers anmaßende, selbstherrliche
Und vulgäre Sprache.
Den gelehrten Dominikaner Hostraten,
Der es wagte, ihn zu kritisieren,
Bezeichnete Luther
In seinem Antwortschreiben
Als „unsinnigen, blutdürstigen Mörder“,
Die Universitäten von Löwen und Paris,
Die sich gegen ihn erklärten,
Als „Tölpelschule, höllische Grundsuppe,
Verdammte Teufelssynagoge, Mutter alles Irrtums,
Das rechte Hintertor der Hölle“,
Ihre Professoren als „verfluchte Rangen,
Grobe Säue, Ketzer und Götzen.“
Englands König Heinrich VIII.,
Damals noch rechtgläubig,
Weil er die sieben Sakramente
Gegen Luther verteidigte,
Als „gekrönten Esel, verruchten Schurken,
Auswurf der Schweine und Esel,
Gotteslästerer, freches Königsmaul,
tollen Heinrich“ und vieles andere mehr.
Diese Unflätigkeiten ließ Luther drucken;
Sie führten dazu, dass man sich
In den Wirts- und Hurenhäusern Deutschlands
Auf die Schenkel schlug und
Den „unverschämten Martin“
Als „Mann des Volkes“ feierte.
Natürlich blieb des Luthers tolles Treiben
nicht ohne Folgen. Im Frühjahr 1518
musste er sich vor dem Kapitel
seines Ordens verantworten,
im Sommer wurde der Ketzerprozess
gegen ihn eingeleitet, im Herbst
verhörte ihn Kardinal Cajetan in Augsburg.
Luther, der unter manisch-depressiven
Stimmungsschwankungen litt,
bekam es mir der Angst zu tun,
sah sich bereits auf dem Scheiterhaufen:
Ach, was für eine Schande
werde ich meinen lieben Eltern sein.
Am Ende appellierte er an ein Konzil,
was er freilich ein Jahr später,
auf einem Disput in Leipzig, wieder zurücknahm:
Auch Konzilien können irren!
Der anwesende Kardinal Cajetan war entsetzt:
Das bedeutet eine neue Kirche bauen.
Von Reformabsichten war schon jetzt
nichts mehr zu hören.
Und wie reagierte die Kirche?
Papst Leo X. bot Luthers Landesherrn
Friedrich von Sachsen an, einen Kandidaten
seiner Wahl zum Kardinal zu erheben.
Das hätte sogar Luther sein können.
Als Friedrich darauf nicht einging,
blieb nur noch die Bannandrohungsbulle
vom Sommer 1520, die Luther
mit dem endgültigen Bruch
mit Rom erwiderte. Öffentlich
verbrannte er nicht nur die Bulle,
sondern gleich alle gottlosen Bücher
der päpstlichen Gesetzgebung
und der scholastischen Theologie,
darunter das gesamte Kirchenrecht
und die Werke Thomas von Aquins
sowie jene aller erklärten Luthergegner.
Dann, nach der Bücherverbrennung,
verfasste er die Schrift Vom Papsttum zu Rom,
in der er den Papst zum Antichristen,
die Kirche zur Teufelshure erklärte.
In seiner Adelsschrift verhieß
Luther den Landesherren und Adligen,
die ihm folgten, eine ganz eigene Form
der evangelischen Freiheit – nämlich
die Aneignung der Kirchengüter.
Es war eine bequeme Form,
sich jeder Gängelei durch geistliche Herren
zu entledigen, denen er die finanzielle
Ausbeutung Deutschlands unterstellte,
und das eigene Vermögen beträchtlich zu vergrößern.
Die Schrift erreichte für damalige Verhältnisse
exorbitante fünfzehn Auflagen
noch im selben Jahr, allein die Startauflage
betrug 4000 Exemplare.
In seiner zweiten Kampfschrift,
Über das babylonische Gefängnis der Kirche,
reduzierte er die Siebenzahl der Sakramente
kurzerhand auf zwei: Nur noch Taufe
und Abendmahl wurden geduldet,
die Ehe dagegen sei ein weltlich Ding.
Am 3. Januar 1521 traf dann die endgültige
Bannbulle aus Rom ein.
Die Stimmung zu diesem Zeitpunkt
schildert der Nuntius Aleander
in seinem Bericht nach Rom:
Ganz Deutschland ist in hellem Aufruhr.
Für neun Zehntel ist das Feldgeschrei Luther,
für die übrigen, falls ihnen Luther gleichgültig ist,
wenigstens Tod der Römischen Kurie,
und jedermann verlangt nach einem Konzil.
Statt den Ketzer nach Rom zu überstellen,
entschied Kaiser Karl V., ihn auf dem Reichstag
zu Worms zu verhören. Wäre damals noch
eine Reform, eine Einigung mit Rom möglich gewesen?
Wir wollen die höchste Nachsicht üben
um unseren Luther zur Einkehr
in sich selbst zu bewegen, schrieb Leo X.
In seiner Bannbulle. Doch dazu fehlte Luther
die Bereitschaft. Der Würfel ist gefallen,
ich will mich in Ewigkeit nicht mehr versöhnen.
Das Wort Gottes ist ein Schwert, ist ein Krieg,
ist Zerstörung, ist Ärgernis, ist Verderben, ist Gift.
Wenn wir Diebe mit dem Strang, Mörder
mit dem Schwerte, Ketzer mit dem Feuer bestrafen,
warum greifen wir nicht vielmehr mit allen Waffen
diese Kardinäle, diese Päpste
und das ganze römische Geschwärme an
und waschen unsere Hände in ihrem Blute?
Er fühlte sich stark, denn er wusste
seinen Landesherrn, dessen Verbündete,
aber auch die Bauern vom Bundschuh
und die Raubritter auf seiner Seite,
die Luther als Legitimation brauchten,
um die Kirchengüter an sich zu reißen;
im Gegenzug waren sie bereit, ihm Schutz
und Geleit zu geben; auch der Kaiser hatte ihm
ausdrücklich freies Geleit zugesagt.
Von 100 Rittern begleitet, traf er am 16. April 1521
in Worms ein, wo ihn 2000 Schaulustige
euphorisch begrüßten – wie damals
bei Jesu Einzug in Jerusalem, schwärmt
die protestantische Hagiographie:
Luther ist der Volksheld der Epoche.
Jetzt steht ein fundamentaler Wendepunkt
der Kirchengeschichte bevor, zugleich
ein Wendepunkt der Weltgeschichte.
Mitnichten, wie Historiker längst einräumen.
Der heroische Auftritt vor dem Kaiser
und den Fürsten des Reiches, Luthers
Hier stehe ich, ich kann nicht anders,
ein fester Bestandteil lutherischer Ikonografie,
ist ein weiterer Mythos. Er hat diese Worte
nie gesagt, wie selbst seine evangelischen
Hagiographen längst einräumen müssen:
Ein Irrtum über Luther.
Den Anwesenden erscheint Luther
bei seinem Auftritt vor dem Reichstag
am 17. April eher schüchtern, unsicher, ängstlich.
Die Situation scheint ihn denn auch
überfordert zu haben. Auf das Ansinnen,
er solle seine Schriften widerrufen,
bittet er um Aufschub, den man ihm gewährt.
Erst am nächsten Tag, nachdem er sich nachts
noch einmal der Rückendeckung seiner Anhänger
versicherte, hielt er eine längere Ansprache.
Den scharfen Ton seiner Streitkräften
bittet er zu entschuldigen,
berief sich aber auf sein Gewissen
und die Heilige Schrift
und schloss mit den Worten:
Gott helfe mir, Amen. Thomas Münzer
warf ihm später vor: Er habe es dem deutschen Adel,
dem er das Maul mit Honig bestrichen,
zu verdanken, dass er zu Worms festgestanden,
denn der Adel wähnte nicht anders,
als du würdest mit deinen Predigten
Geschenke geben - Klöster und Stifte!
So du zu Worms hättest gewankt,
wärst du vom Adel eher erstochen worden
als freigegeben, das weiß doch ein jeder.
Der Kaiser hielt sein Wort; erst im Mai
wurde über Luther die kaiserliche Acht verhängt.
Da war er von seinen Anhängern,
im Rittergewand als „Junker Jörg“,
längst in Sicherheit gebracht worden:
auf die Wartburg. Glauben wir
der protestantischen Lutherlegende,
übersetzte er dort als Erster die Bibel
in die deutsche Sprache und widerstand
mutig dem Teufel, den er
mit einem Tintenfass vertrieb; noch heute
wird Touristen der regelmäßig erneuerte
Tintenfleck gezeigt. Tatsächlich durchlebte Luther
in der Wartburg eine schwere Depression.
Von schweren Anfechtungen und Verzweiflung
schreibt er, vom Ringen mit dem Teufel.
Ein Poltergeist soll ihm
und einer nächtlichen Besucherin –
der verheirateten Frau
des Burgkommandanten von Berlepsch,
die in Luthers Kammer übernachtete –
den Schlaf geraubt haben.
Da hat‘s die ganze Nacht
ein solch Gerumpel gehabt,
dass sie meinte, da seien tausend Teufel drin,
erinnerte sich Luther später.
Am Ende flüchtete er sich wohl
vor seinen Depressionen in die Arbeit –
und machte sich ans Übersetzen.
Doch das war keineswegs ein Novum.
Lange vor Luthers Übersetzung
waren bereits 14 vollständige
hochdeutsche Bibelausgaben erschienen,
von denen Luther nachweisbar drei
als Quelle benutzte. Freilich bemühten
sich deren Übersetzer um eine möglichst genaue,
werkgetreue Übersetzung, während
Luther ziemlich frei übersetzte.
Das ist die Stärke seiner wortgewaltigen
und sprachprägenden Übersetzung,
aber auch ihre große Schwäche.
So räumen selbst Protestanten ein:
An hundert Stellen ist der Sinn des Originals
nicht getroffen, keine andere
sei vom Urtext so sehr abgeirrt,
sei die ungenaueste aller Übersetzungen,
über 3000 Stellen bedürfen der Berichtigung.
Falsch ist die Behauptung protestantischer
Hagiographen, Luther habe
statt der lateinischen Vulgata
die griechischen Urtexte übersetzt;
tatsächlich ist seine Abhängigkeit
von der Vulgata offenkundig.
Zudem übersetzte er auf der Wartburg
lediglich das Neue Testament,
das Alte Testament folgte anschließend
als Gemeinschaftswerk eines ganzen
Wittenberger Übersetzerteams
unter Leitung des gelehrten Melanchthon.
Zudem fiel die Reihenfolge der Bücher
in Luthers Neuem Testament
seiner Theologie zum Opfer:
Den Jakobusbrief verwarf er
als eine recht stroherne Epistel
und setzte ihn fast ans Ende, weil der Apostel
und Herrenbruder nicht lutherisch dachte.
Bei ihm steht So ist auch der Glaube
für sich allein tot, wenn er nicht
Werke vorzuweisen hat.
Ähnlich ging er mit dem Hebräerbrief um.
Der Römerbrief des Paulus rückt
an die erste Stelle der apostolischen Briefe,
denn Luther führte ihn als Bestätigung
seiner Lehre an, was ihm jedoch nur
durch einen Taschenspielertrick gelang.
Steht im Original „dass der Mensch
durch den Glauben ohne Gesetzeswerke
gerechtfertigt wird“, was sich ausdrücklich
auf die Vorschriften des Judentums bezieht,
wurde bei Luther daraus, „dass der Mensch
gerecht wird ohne des Gesetzes Werke,
allein durch den Glauben.“ Das Wörtchen
„allein“ ist eine rein lutherische Hinzufügung,
weshalb ihm Kritiker zurecht
„Bibel- und Urkundenfälschung“ vorwarfen.
Noch ärger war Luthers Verfälschung
des Lukasevangeliums. Wo der Engel
Maria als „voll der Gnaden“ begrüßt,
las man bei Luther bloß „Du Holdselige“,
so als würde er seine Liebste begrüßen.
Wo redet der deutsche Mann so:
Du bist voll Gnaden?
Er muss denken an ein Fass voll Bier
oder Beutel voll Geldes,
darum hab ich’s verdeutscht,
begründete er seine eigenmächtige
Interpretation. Ihm schwebte sogar vor,
es bei einem banalen
„Gott grüße dich, du liebe Maria
zu belassen. Dabei steht im griechischen
Originaltext „Chaîre kecharitomene“,
was wörtlich „Freu Dich, Du Gnadenvolle“ bedeutet.
Damit ist ihr Wesen ausgesprochen,
der ihr von Gott gegebene Name.
Sie ist voll der Gnade, sowohl der geschaffenen
als auch der ungeschaffenen Gnade,
denn der Herr ist mit dir, und zwar bereits
vor der Inkarnation. Aber das hätte Luthers
geistlich-theologischen Horizont gesprengt.
Während sich Luther noch auf der Wartburg
versteckt hielt, wagten seine Anhänger
vom Bundschuh den Aufstand.
Jetzt hatten sie endlich eine Legitimation,
glaubten, für das Evangelium
und den rechten Glauben gegen
eine dekadente, korrupte Kirche,
ja gegen den Antichristen selbst zu kämpfen.
Die evangelische Freiheit,
von der Luther predigte,
erschien ihnen als Verheißung
auf ein selbstbestimmtes Leben.
Bestärkt wurden sie durch die Schriften,
die Luther auf der Wartburg verfasste
und in der er gegen die Kirche,
das Mönchtum und die Priester hetzte.
Auch sie wurden gedruckt
und wie ein Lauffeuer
im Reich verbreitet. Darin hieß es etwa:
Bevor man die Türken vertilgen will,
sollte man über den Papst herfallen
und Kardinäle, Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte
im Rhein ertränken. Die Klostergelübde
seien wider die Gebote Gottes,
die Möncherei ein Aufruhr gegen Christus,
weshalb alle Klöster vertilgt, abgetan,
ausgewurzelt werden müssen mit Feuer,
Schwefel und Pech wie Sodom und Gomorra.
Die Messen sind bloß auf Fressen und Saufen angelegt.
Ein Messpfaffe verdiene leiblichen Tod
und Strafe wie ein öffentlicher Schänder
und Lästerer. Mit Phrasen wie
Für die Christen gibt es kein Gesetz
und unter den Christen
soll keine Obrigkeit sein,
goss Luther in seiner Schrift
Von weltlicher Obrigkeit ins Feuer
und wirkte wie ein Anarchist.
Der Bauernkrieg von 1525 forderte
über 120.000 Todesopfer,
über 1000 Klöster und Burgen
lagen danach in Schutt und Asche,
dazu Hunderte von Dörfern.
Dem Bauernstand war danach für Jahrhunderte
das Rückgrat gebrochen, Hunderttausende
fielen in die Leibeigenschaft.
Daran hatte der Reformator
keinen unbeträchtlichen Anteil.
Luther hat ganz Deutschland
in solche Raserei gestürzt,
dass man es schon für Ruhe und Sicherheit
nehmen muss, wenn man nicht augenblicklich
umkommt, schrieb Zasius, ein angesehener
Jurist, der zunächst ein Anhänger
des Reformators war. Doch statt
die Verantwortung für die Katastrophe
zu übernehmen, wechselte dieser mittendrin
die Fronten. Noch Anfang Mai 1525,
in seiner Ermahnung für den Frieden,
hetzte er die Bauern gegen die katholischen Fürsten,
blinden Bischöfe, tollen Pfaffen und Mönche,
nur den protestantischen Fürsten
sollten sie gehorchen.
Doch kaum zeichnete sich die Niederlage
der Bauern gegen Ende Mai ab,
genauer gesagt: am 30. Mai 1525,
veröffentlichte er die Schrift
Wider die räuberischen und mörderischen Bauern,
in der er die Fürsten zum Massaker
an den Bauern aufrief: Die höchste Zeit ist’s,
dass sie erwürget werden, wie die tollen Hunde.
Darum soll zuschmeißen, würgen und stechen,
heimlich und öffentlich, wer da kann,
und gedenken, dass es nichts giftigeres,
teuflischeres sein kann,
denn ein aufrührerischer Mensch,
daher dreinschlagen, solange
sich eine Ader regen kann.
Jetzt ist eine Zeit des Schwertes,
des Zornes und nicht der Gnade
und welcher Bauer erschlagen wird,
der ist mit Leib und Seele verloren
und ewig des Teufels.
Ein Fürst kann jetzt mit Blutvergießen
den Himmel leichter verdienen
denn andere mit Beten. Darum, liebe Herren,
steche, schlage und würge sie, wer da kann.
Bleibst du darüber tot, wohl dir,
seligeren Tod kannst du nimmer bekommen.
Später bemühte Luther den Herrgott
zur Legitimation seines Aufrufs zum Massaker:
Ich, Martin Luther, habe im Aufruhr
alle Bauern erschlagen, all ihr Blut
ist auf meinem Hals; aber ich weise
auf unseren Herrn und Gott, der hat mir
das zu reden befohlen.
Viel wahrscheinlicher ist, dass er die Abkehr
der ihm wohlgesonnenen Fürsten fürchtete,
weil er sich zunächst mit den Falschen
verbündet hatte. Was folgte,
war eine der verhängnisvollsten Entwicklungen
der lutherischen Glaubensgemeinschaft,
die Geburtsstunde ihrer blinden Obrigkeitshörigkeit
bis hin zum Staatskirchentum
und preußisch-protestantischen Kadavergehorsam.
Mit beinahe stupider Beharrlichkeit
wiederholt Luther wieder und wieder,
dass man der Obrigkeit Gehorsam schuldig sei –
in allen Fragen außer in Glaubensdingen;
gemeint war natürlich die mittelalterliche,
feudale Ständeordnung. Ausdrücklich
befürwortete Luther die Wiedereinführung
der Leibeigenschaft, meinte, der gemeine Mann
muss mit Bürden beladen sein,
sonst wird er zu mutwillig,
und verhöhnte die ohnmächtigen, groben Bauern,
ja postulierte: Es wäre vonnöten,
dass ein solch wild ungezogenes Volk,
als die Deutschen sind, noch weniger Freiheit hätte
als es hat. Tyrannenmord, wie ihn
die katholische Kirche mit Berufung
auf Augustinus legitimiert,
verbot Luther: Es ist besser,
dass ihnen die Tyrannen hundert Mal
Unrecht tun, als dass sie den Tyrannen
einmal Unrecht tun. Demokratie lehnte er ab:
Der Pöbel hat und weiß kein Maß,
in einem jeglichen stecken mehr
als fünf Tyrannen, erklärte Luther.
So wurden die Protestanten zu den treuesten
Untertanen deutscher Obrigkeitsstaaten,
ob im Kaiserreich oder unter Adolf Hitler.
Mit dem Volk hatte Wendehals Luther
es sich fortan verdorben. Als Doktor Lügner,
Doktor Ludibrii bezeichnete ihn
der Bauernführer Thomas Münzer.
Luther musste um sein Leben fürchten
und wagte es 1530 nicht einmal,
seinen sterbenden Vater zu besuchen.
Er selbst bekannte: Das Volk hält uns
für Aufrührer, erklärt: zur Zeit
des Papsttums sei es nicht so böse gewesen,
mit der neuen Lehre sei alles Unglück gekommen.
Doch er brauchte das Volk nicht mehr,
seit ihn immer mehr Fürsten unterstützten.
Aus der Volkskirche sollte 1555
mit dem Augsburger Religionsfrieden
eine Obrigkeitskirche werden.
„Cuius regio, eius religio“ lautete fortan das Motto.
Der Landesherr wählte den für ihn
günstigeren Glauben aus, das Volk
hatte ihm zu folgen. Wer sich
Kirchengüter angeeignet hatte,
musste Luther und seine Lehre pflegen,
um sie behalten zu können.
Ohne geschehenen reichen Raub der Kirchengüter
wäre kein Dorf lutherisch geblieben,
stellte später der katholische Politiker,
Priester und Publizist Paul Majunke fest.
Der protestantische Fürst wurde zum neuen
„Regionalpapst“, aus der evangelischen Freiheit
eine evangelische Knechtschaft.
Auch Luther wurde reich entlohnt:
Sein Landesherr schenkte ihm sein ehemaliges
Kloster zu Wittenberg mit allen Einkünften
aus Gärten, Fischweihern und Brauereien.
Wie ein Fürst residierte er fortan,
umgeben von einem regelrechten Hofstaat
von Studenten, Freunden und Trinkgenossen.
Hatte er schon im Dezember 1524
seine Augustinerkutte abgelegt,
war es nun an der Zeit, jener Begierde
zu frönen, die ihn ein Leben lang verfolgt hatte:
Der Wollust. Ich brenne durch das große Feuer
meines ungezähmten Fleisches. Ich sollte brünstig sein
im Geist und bin doch brünstig im Fleisch,
hatte er auf der Wartburg
dem Schlosshauptmann von Berlepsch anvertraut.
In seiner Schrift gegen das Mönchtum
wetterte er gegen den Zölibat,
die Lebensweise des Herrn:
Das ehelos Leben habe nur
falsche Heiligkeit genährt.
So wenig ich Berge wegwälzen,
mit den Vögeln fliegen, neue Sterne schaffen,
mir die Nase abbeißen kann, so wenig
kann ich die Unzucht lassen, schrieb er 1520,
Narren sind’s, die sich mit Beten, Fasten
und anderen Kasteiungen wider die böse Lust wehren,
denn diesen Versuchungen ist leicht abzuhelfen,
wenn nur Männer und Weiber vorhanden sind.
Ohnehin würde eine öffentliche Hure eher errettet
als ein Heiliger. Was ein Mann ist,
muss ein Weib haben, stellte er in einer Predigt fest.
Auch ein Weibsbild ist nicht dazu geschaffen,
Jungfrau zu bleiben, sondern Kinder zu tragen,
ergänzte er in Von der Freiheit eines Christenmenschen.
Die Folge war, dass im ganzen Land
Mönche und Nonnen ihre Gelübde brachen
und aus den Klöstern ausbrachen.
Trotzdem waren auch Luthers Anhänger schockiert,
als er im Juni 1525, also unmittelbar
nach dem Gemetzel an den Bauern,
seine Vermählung bekanntgab. Seine Braut
war eine ehemalige Nonne, die zuvor
mit elf anderen am Ostersamstag 1523
aus dem Zisterzienserinnenkloster Marienthron
entführt worden war; man hatte sie und die anderen
zu Luther nach Wittenberg gebracht.
Dort wurden elf der gottgeweihten Jungfrauen
unter die Haube gebracht. Luther hatte sich
zunächst in eine von ihnen verliebt,
die aber nichts von ihm wissen wollte,
während die 26jährige Katharina von Bora
dem 41jährigen Avancen machte.
Man heiratete in einer schlichten Zeremonie,
die Hochzeitsnacht wurde nach damaliger Sitte
von Zeugen überwacht,
was den lutherischen Stadtpfarrer
Johannes Bugenhagen zu Tränen rührte.
Später gab Luther freimütig zu:
Meine Frau habe ich niemals geliebt;
ich hielt sie für hochmütig (was sie ja auch ist).
Aber er hatte einen guten Rat
für jeden Ehemann parat:
Weigert sich dein Weib,
so halte dich an die Magd.
Sein engster Mitarbeiter Melanchthon
schrieb damals an Camerarius:
Am 13. Juni heiratete Luther unerwartet.
Du wirst erstaunt sein, dass er
in dieser unheilvollen Zeit nicht mitleidet,
sondern ein umso lockeres Leben führt
und seinen Ruf verschlechtert.
Er ist ein äußerst flatterhafter Mann
und die entlaufenen Nonnen,
die mit aller List Netze ausstellten,
haben ihn umgarnt, ich hoffe,
dass die Ehe ihn anständiger machen wird
und er von der Unanständigkeit ablassen werde,
derentwegen wir ihn oft tadeln mussten.
Tatsächlich hat sich Luther
in den letzten 21 Jahren seines Lebens
nicht verändert; im Gegenteil –
was er selbst und seine Zeitgenossen
uns überliefern, muss ihn als geradezu
verlottert erscheinen lassen.
Schon in besseren Zeiten hieß es,
dass sich der Doktor höchstens
zweimal in der Woche rasierte.
Als Katharina von Bora das erste Mal
in sein Haus kam, klagte sie anschließend,
es stank die Schlafkammer des Herrn Doktor
wie eine Hundehütte. Das seit einem Jahr
nicht erneuerte Bettstroh faulte vor sich hin.
Das geistliche Leben war zu diesem Zeitpunkt
fast erkaltet. Herr Doktor, woher kommt es,
dass wir im Papsttum so warm, eifrig
und oft gebetet haben,
während nun unser Gebet ohne alle Wärme ist,
ja wir selten beten, fragte ihn seine Frau einmal.
Seine Antwort, während einer der Tischreden:
Ich, Luther, kann nicht beten,
ich muß darbey auch fluchen;
soll ich sagen: geheiliget werde dein Name,
muß ich darbey sagen: verflucht und verdambt,
verstöhrt müsse werden das Papsttum.
Auch das Ave Maria veranlaßte ihn
zu einer Perversion, gezielt auf Papst Paul III.:
Ave Rabbi, heilige Jungfrau St. Paula,
Papst voll Ungnaden Gottes,
der Teufel ist mit dir,
verflucht seyestu unter allen Menschen,
verflucht sey die Frucht deines Reichs:
Kardinäle, Pfaffen, Münch und Nonnen.
Sein Hass auf den Papst hatte sich
in einen Wahn verwandelt.
Seine Schrift Wider das Papsttum zu Rom,
vom Teufel gestiftet
setzte dem die Krone auf.
Selbst sein geliebter Kurfürst war empört,
meinte, Luther habe kein Maß.
Der aber erwog allen Ernstes die Grabinschrift:
„Pestis eram vivus, moriens ero mors tua, papa.“
„Als Lebender war ich deine Pest, Papst,
als Toter werde ich dein Tod sein!“
Selbst in seinem Testament ermahnte er
seine Anhänger: Eines vergeßt nie:
den Haß gegen den Papst.
Dabei hatte der deutschstämmige Papst
Hadrian VI. bereits 1523 Abbitte geleistet,
was auch als Versöhnungsangebot
an Luther gedacht war
und vom Nuntius in Deutschland
vor den versammelten Reichsständen
verlesen wurde: Wir wissen,
dass auch bei dem Heiligen Stuhl
schon seit Jahren Verabscheuungswürdiges
vorgekommen ist. Viele Missbräuche
in geistlichen Dingen, Übertretungen der Gebote,
das dies alles sich zum Ärgeren verkehrt ist.
Deshalb sollst du in Unserem Namen
versprechen, dass wir allen Fleiß anwenden wollen,
damit zuerst der römische Hof, von welcher
vielleicht alle diese Übel ihren Anfang genommen,
gebessert werde. Sein Nachfolger, Paul III.,
hatte bereits 1537 zu einem Konzil nach Mantua
und ab 1542 zum Konzil nach Trient geladen,
das bewusst als Konzilsort nahe der Grenze
zum Heiligen Römischen Reich gewählt wurde,
und war damit Luthers ursprünglicher
Forderung nachgekommen.
Doch der Reformator hatte nie ernsthaft
an eine Kirchenreform gedacht;
er wollte den Umsturz, das Ende
des Papsttums selbst, und so
antwortete er auf die Konzilsankündigung nur so:
Man soll den Papst, die Kardinäle
und alles Gesindel seiner Abgötterei
und päpstlichen Heiligkeit nehmen und ihnen,
als Gotteslästerern, die Zungen hinten am Hals
herausreißen und der Reihe nach
an den Galgen annageln, danach ließe man sie
ein Concilium oder wie sie wollen halten
am Galgen oder in der Hölle unter den Teufeln.
Im Mittelpunkt seines geradezu pathologischen Hasses
auf die Kirche und den Papst
stand sein Hass auf das heilige Messopfer,
das er als „Gräuel“ bezeichnete.
Wenn es mir gelingt, die Messe abzuschaffen,
dann glaube ich den Papst gänzlich besiegt zu haben.
Auf die Messe wie auf einen Felsen
stützt sich ja das ganze Papsttum
mit seinen Klöstern, Bistümern,
Kollegien, Altären, Diensten und Lehren.
Fällt der sakrilegische und fluchwürdige
Messgebrauch, dann muss alles stürzen.
Durch mich hat Christus begonnen,
den Gräuel, der am heiligen Ort steht, zu enthüllen.
In seinem Hass auf das Messopfer
kannte er keinen Kompromiss
und sah darin ein unüberwindbares Hindernis
für jede Versöhnung mit Rom.
So werde ich mich auch mit Gottes Hülfe
eher lassen zu Asche machen,
ehe ich einen Messeknecht mit seinem Werk
lasse meinem Heilande Jesu Christo gleich
oder hoher sein. Also sind und bleiben wir
ewiglich geschieden und widereinander,
schrieb er in den Schmalkaldischen Artikeln,
dem großen Glaubensmanifest des Protestantismus
als Antwort auf die päpstlichen Reformbestrebungen
und das angekündigte Konzil,
in dem er konstatierte: Dass die Messe im Papsttum
der größte und schrecklichste Gräuel sein muss,
vor allen päpstlichen Abgöttereien der höchste,
ein gefährlich Ding ist, ohne Gottes Willen
erdichtet und erfunden, ja, ein Drachenschwanz,
der viel Ungeziefer und Geschmeiß
mancherlei Abgötterei gezeugt habe
und zu dem der Teufel den Papst geritten hat.
Er duldete nur ein Abendmahl,
das keinen Opfercharakter hatte
und dessen Zelebrant natürlich
kein geweihter Priester sein durfte.
Umso absurder die heutige Forderung
nach einer „Eucharistischen Gastfreundschaft“
zwischen Katholiken und Protestanten
bei so völlig unterschiedlicher, ja unversöhnlicher
Sakramentenlehre. Worin hat dieser
abgrundtiefe Hass auf das Messopfer
seinen Ursprung? Wahrscheinlich
erwuchs er aus dem ursprünglichen Gefühl,
als unwürdig, da ohne Berufung,
geweihter Priester sündhaft zu handeln.
So werden seine Schuldgefühle,
wird seine Psychologie zum Schlüssel
für seine Theologie, da Psychologen
bei ihm eine manisch-depressive
Erkrankung diagnostizierten.
Die depressiven Gefühlszustände Luthers
wechseln ab mit überfrohem, drogenartigen
Glücksgefühl, prophetischem Sendungsbewusstsein
und einem nicht mehr zu übersteigenden Selbstwertgefühl,
der rein immanente, ichverhaftete
und erfahrungsunabhängige Glaube Luthers
ist Zeichen einer schweren Krankheit
und wird tragischerweise zum Ausgangspunkt
folgenschwerer Irrtümer in Theologie und Philosophie.
Seine Theologie bleibt ohne diese Berücksichtigung
ein Buch mit vielen Siegeln.
Luthers pathologische Selbstüberschätzung
lässt sich festmachen an Aussagen wie dieser:
Ich kann Freund und Feind nur sagen:
Nimm gläubig an, was Christus durch mich
zu dir spricht; denn ich irre nicht, soviel ich weiß.
Christus redet durch mich.
Er sah sich selbst in einer Reihe mit den Aposteln,
wähnte sich einen zweiten Paulus,
rühmte sich schon 1522, als er an seinen Landesherrn,
den Kurfürsten von Sachsen, schrieb,
dass ich das Evangelium nicht von Menschen,
sondern allein vom Himmel
durch unsern Herrn Jesum Christum habe,
dass ich mich denn wohl hätte mögen –
wie ich denn hinfort tun will –
einen Knecht und Evangelisten rühmen
und schreiben. Doch anders als Paulus
empfing er sein Evangelium
weder in einer Christusvision
noch vom Heiligen Geist, er betete im Gegenteil:
Herr, verschone mich mit Visionen,
denn ich habe an der Schrift genug.
Der einzige, mit dem er Umgang pflegte,
war ausgerechnet der Teufel.
In Luthers Schriften wird der Teufel
über 9000 Mal zitiert und Luther
räumt freimütig ein, dass er
Teufelserscheinungen hatte.
Der Teufel kann mich so ängstigen,
dass mir im Schlaf der Schweiß ausbricht.
Aber ich kümmere mich nicht um Träume
oder Vorzeichen. Ich wollte auch nicht,
dass ein Engel zu mir käme. Ich würde ihm
jetzt doch nicht glauben, gestand er
in den späten 1520er Jahren. Der Teufel schläft
viel näher bei mir denn meine Käthe,
erklärte der Verheiratete später.
Wir sind des Teufels Gefangene,
als unseres Fürsten und Gottes,
dass wir tun müssen, was er will und uns eingibt,
wird er wörtlich in seinen Tischreden zitiert.
In seiner Schrift Von der Winkelmesse
und Pfaffenweihe legt er sogar dar,
wie der Teufel ihm den Widersinn
des Messopfers erklärte: Ich bin
einmal zu Mitternacht aufgewacht,
da fing der Teufel mit mir in meinem Herzen
eine solche Disputation an
(wie er mir denn gar manche Nacht bitter
und sauer genug machen kann).
Dabei konfrontierte der Teufel Luther
mit seinem eigenen Unglauben: Du weißt,
dass du nicht recht an Christum geglaubt hast
und bist des Glaubens halben so gut
wie ein Türke gewesen… Diesen dunklen Visionen
versuchte Luther wohl speziell
durch Alkoholkonsum zu entkommen.
Offen gab er zu: Ich zeche auch.
Es soll mir aber nicht jedermann nachtun,
denn es arbeitet auch nicht jeder so hart wie ich.
Sein Motto lautete: Die Böhmen fressen,
die Wenden stehlen, die Deutschen saufen getrost.
Seiner Käthe schrieb er: Ich fresse wie ein Böhme
und saufe wie ein Deutscher, das sei Gott gedankt.
Amen. Dass ich bisweilen einen guten Trunk tue,
gab er freimütig zu und so empfahl er auch
in einem Brief: Zuweilen muss man reichlicher trinken,
spielen, scherzen, ja auch eine Sünde tun
aus Hass und Verachtung gegen den Teufel,
wir werden sonst besiegt, wenn wir
allzu ängstlich Sorge tragen nie zu sündigen.
Zeitgenossen berichten von wilden Trinkereien
und Völlereien, die der nicht selten
volltrunkene Luther freimütig eingestand:
Wir essen uns zu tot, wir trinken uns zu tot,
wir schlafen uns zu tot, wir furzen
und scheißen uns zu tot,
heißt es in einer seiner Tischreden.
Noch zwei Tage vor seinem Tod
nannte er sich einen feisten Doktor.
Die letzten Jahre Luthers freilich
scheinen auch den Reformator desillusioniert zu haben.
Immer häufiger wurden seine schweren Depressionen,
immer seltener die euphorischen Momente.
Er sah sein Werk und es war nicht gut.
Wo er sola fide gepredigt hatte,
war das Volk verwildert; er hatte es gelehrt,
dass man tausend Mal sündigen konnte
und doch nur durch den Glauben
in den Himmel käme.
Luther in einem Brief
an Fürst Georg von Anhalt:
Aus dieser Lehre wird die Welt
nur je länger, je ärger.
Unsere Evangelischen werden
siebenmal ärger denn sie zuvor gewesen:
denn nachdem wir das Evangelium gelehrt haben,
so stehlen, lügen, trügen, fressen und saufen wir
und treiben allerlei Laster.
Wir leben in Sodom und Babylon,
alles wird täglich schlimmer.
Wer wollte angefangen haben zu predigen,
wenn wir zuvor gewusst hätten,
dass so viel Unglück, Rotterei, Ärgernis, Undank
und Bosheit darauf folgen sollte.
Als seine Käthe einmal vom Himmel schwärmte,
erwiderte Luther melancholisch:
Aber ich fürchte, nicht für uns.
Könne man sich nicht vom Abwege umwenden,
fragte die ehemalige Ordensfrau.
Es ist zu spät, erwiderte Luther
mit schwerem Herzen.
Ich bin schwach, ich kann nicht mehr,
beendete er seine letzte Vorlesung,
lieber Vater, spann mich aus,
ich hab mich in der argen Welt müde gezogen.
Ich bin alt, abgelebt,
träge, müde, kalt und nun gar einäugig,
vertraute er einem Freund an.
Dreimal musste er aus Wittenberg fliehen,
nur weg aus diesem Sodom, wie er schrieb.
Nur der Wunsch des Kurfürsten hinderte ihn daran,
diesem Wunsch nachzugeben.
Mit vielen seiner engsten Vertrauten
und Mitstreiter hatte er sich zerstritten.
Sie litten unter seiner notorischen Rechthaberei,
seiner Verbissenheit, seiner Radikalität
und seiner Neigung zu Wutausbrüchen
und sogar körperlicher Gewalt,
über die auch Melanchthon klagte.
Der schmächtige, hochgebildete
und blitzgescheite Kraichgauer war praktisch
die Gegenthese zu dem lauten, bulligen,
trotzigen Reformator und hatte schon
bei den Schmalkaldischen Artikeln
Bedenken angemeldet: Um des Friedens
und gemeinsamer Einheit willen
wäre er sogar bereit gewesen,
die Superiorität (des Papstes) über die Bischöfe,
also das Petrusamt, anzukennen,
wie er neben seiner Unterschrift anmerkte.
Luther muss das wie ein Verrat erschienen sein.
Immer extremer wurden seine Hasstiraden.
Schon 1526 hatte er gegen Frauen gewettert,
die der Volksglauben für Hexen hielt,
und gefordert: Die Zauberinnen sollen getötet werden,
weil sie Diebe sind, Ehebrecher, Räuber, Mörder.
Sie schaden mannigfaltig.
Also sollen sie getötet werden,
nicht allein weil sie schaden, sondern auch,
weil sie Umgang mit dem Satan haben.
Infolgedessen wurden seit dem 16. Jahrhundert
in den protestantischen Teilen Deutschlands
mehr Frauen auf die Scheiterhaufen gestellt
als in der gesamten katholischen Welt.
Auch für den Lebensschutz disqualifizierte sich Luther,
als er allen Ernstes in seinen Tischreden forderte,
sogenannte Wechselbälger – behinderte Kinder,
die man für Teufelsgeschöpfe hielt –
zu ersäufen, denn sie seien bloß
ein seelenloses Stück Fleisch.
Am übelsten aber hetzte er gegen die Juden,
die er zu Anfang seines Wirkens
noch zum Protestantismus bekehren wollte.
In seiner verhängnisvollsten Schrift,
Von den Juden und ihren Lügen,
schrieb er wörtlich: Pfui euch hier, pfui euch dort,
und wo ihr seid, ihr verdammten Juden!
Wenn du einen Juden siehst, magst du
mit gutem Gewissen ein Kreuz vor dich schlagen
und frei sicher sprechen: Da geht
ein leibhaftiger Teufel!
Darum wisse, dass du nächst dem Teufel
keinen bitteren, giftigeren Feind hast
als einen rechten Juden. Sie glauben
närrische Lügen und statt in das schöne
Angesicht des göttlichen Wortes,
gucken sie dem Teufel ins schwarze,
finstere Hinterlügenloch
und müssen seinen Stank anbeten.
Sie sind giftige, hämische Schlangen,
Meuchelmörder und Teufelskinder.
Mein treuer Rat ist, wie droben gesagt, ernstlich:
dass man ihre Synagogen mit Feuer verbrenne
und, wer kann, Schwefel und Pech hinzufüge;
wer auch höllisch Feuer zuwerfen könnte,
wäre auch gut. Darum soll der Juden Maul
nicht wert gehalten werden,
sondern mit Saudreck soll man auf sie werfen.
Verbrenne ihre Synagogen und gehe mit ihnen
nach aller Unbarmherzigkeit um.
Will das nichts helfen, so müssen wir sie
wie die tollen Hunde hinausjagen.
Wenn mir Gott keinen anderen Messias geben wollte,
als wie die Juden begehren,
so wollte ich lieber eine Sau
als ein Mensch sein.
Die Schrift diente vier Jahrhunderte später
den Nazis als Steilvorlage
für ihren Antisemitismus.
Vor allem aber spiegelt das Buch wieder,
in welch desolater seelischer Verfassung
sich Luther in seinen letzten Jahren
befunden haben muss. Bei allen lichten Momenten,
bei den noch so klugen Abhandlungen
und anrührenden Kirchenliedern, die er uns schenkte;
sie dürfen nicht darüber hinwegtäuschen,
dass der Reformator sich zeitweise
auch als Hassprediger betätigte.
Eines seiner letzten Pamphlete,
Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi,
setzte die Juden gar mit dem Teufel gleich
(„Es sind junge Teufel, zur Hölle verdammt).
Dabei ist Luthers vor Geifer triefende,
obszöne Sprache kaum mehr zu überbieten.
Wieder plagten ihn Teufelserscheinungen,
belehrte ihn der Leibhaftige:
Du bist ein Ketzer und des Teufels Apostel,
während er nach Eisleben reiste,
um einen Streit in der Mansfelder
Grafenfamilie zu schlichten.
Wenn ich wieder von Eisleben komme,
dann will ich mich in einen Sarg legen
und den Würmern einen feisten Doktor
zum Schmause geben,
ich bin der Welt müde, schrieb er nach Wittenberg.
Und gestand: „Ich werde nicht lange mehr leben.
Wenn mich der Papst oder meine Widersacher
in ihre Hände bekämen
und mir schon vieles Leides antun wollten,
so bin ich zu schwach; ich stürbe bald
in ihren Händen. Das ist die Angst, die ihn quälte.
Und wieder ging es ihm um die Juden.
Nur drei Tage vor seinem Tod forderte Luther
bei einer Predigt in Eisleben
die Vertreibung des Auserwählten Volkes.
Nach seiner Rückkehr wolle er sich ganz
dieser Aufgabe widmen.
Über Luthers Tod gibt es
die unterschiedlichsten Darstellungen.
Völlig unhaltbar ist die von
protestantischen Hagiographen
verbreitete Behauptung, er sei langsam
und friedlich im Kreis seiner Freunde entschlafen
und habe noch eine letzte,
erbauliche Predigt gehalten.
Es ist nur eine von vier unterschiedlichen
Versionen seiner letzten Worte,
die einander ausschließen und schon daher
der Apologetik zuzurechnen sind.
Ihm sollte ein seliger Tod angedichtet werden,
als Beweis für die letztgültige Verlässlichkeit
des neuen evangelischen Glaubens.
Ein Theologe ist sicher, dass eine Angina Pectoris
die Todesursache des 62jährigen war,
während andere einen Schlaganfall vermuten.
Mir aber wird bange wie nie zuvor in der Brust,
eine Compression des Herzens
und gleichsam Erstickungsnot, soll Luther
am Nachmittag zuvor geklagt haben.
Michael Coelius, der Wittenbergische Stadtpfarrer,
sah sich jedenfalls bereits bei Luthers
Bestattung genötigt, auf die längst kursierenden
Gerüchte über die Umstände seines Todes
einzugehen. Schon fänden sich, so Coelius,
bereitan leute, die durch den bösen geist
getrieben ausbringen sollen
als hab man ihn im Bette tod gefunden.
Dabei sei er keineswegs plötzlich verstorben,
sondern ein ganzes jar hat er immer gestorben,
das ist mit gedanken vom tod umgangen…
Schließlich verfassten Luthers Anhänger
einen offiziellen Bericht, der von allen Kanzeln
protestantischer Kirchen verlesen werden sollte,
um die vielen anderslautenden Gerüchte
im Keim zu ersticken.
Das gelang jedoch nicht;
seit 1548 wurden diverse echte
oder vermeintliche Zeugenberichte
auch von gelehrten Autoren zitiert.
Der erste, den der Humanist Johannes Cochläus
publizierte, soll von einem gewissen Mansfelder
Bürger stammen. Danach habe Luther
am Abend des 17. Februars noch ausgiebig getafelt
und dabei, wie üblich, bis zu sechs Liter
süßen Weines getrunken. Anschließend
habe man ihn, weil er sich nicht gut fühlte,
auf sein Zimmer gebracht. Gegen Mitternacht
seien zunächst zwei Ärzte
und später auch der lokale Apotheker
gerufen worden, die sich vergeblich
um die Wiederbelebung des offenbar
gerade Verstorbenen bemühten.
Krampfartige Verzerrungen des Gesichtes
hätten auf einen Schlaganfall hingedeutet,
auch ein Erstickungskatarrh wurde vermutet.
Auf dem Transport nach Wittenberg
habe die aufgeblähte Leiche
üble Ausdünstungen abgesondert.
Diese Version klingt plausibel,
hat aber das Manko, dass weder die Quelle
noch die vermeintlichen Zeugen
namentlich überliefert sind. Anders ist es
bei einer dritten Version, die wir 1592
in dem Werk „De signis Ecclesiae“
des Oratorianerpaters Thomas Bosius finden.
Ihre Quelle ist ein direkter Augenzeuge –
kein geringerer als Ambrosius Ruthfeld,
der Erzieher von Luthers Kindern,
der ihn nachweisbar auf dieser letzten Reise begleitete,
später aber zum katholischen Glauben zurückkehrte
und Zeugnis ablegte. Ruthfeld behauptete laut Bosius,
Luther habe sich in der fraglichen Nacht
das Leben genommen.
Neben seinem Bette hängend und elend erwürgt
habe man ihn in den frühen Morgenstunden
aufgefunden und daraufhin beschlossen,
unter den Leuten auszubreiten,
mein Herr Martin sei eines plötzlichen Todes gestorben.
Es ist heute unmöglich, die Frage
nach Luthers Todesursache endgültig zu klären.
Gut möglich, dass es doch ein Schlaganfall war,
den Ruthfeld lediglich falsch interpretierte,
denkbar aber auch, dass man einen solchen vorgab,
um vom tragischen Selbstmord
des Manisch-Depressiven abzulenken.
Was aber bleibt ist ein düsteres Bild.
Vielleicht wäre die evangelische Kirche
in Deutschland gut beraten,
wenn sie die von ihr propagierte
Entmythologisierung der Evangelien
zunächst einmal durch eine
Entmythologisierung ihres Lutherbildes
ersetzen würde. Vielleicht wäre gerade das
der sinnvollste Beitrag zur Ökumene.
Denn da Gott auch auf ungeraden Linien
gerade schreibt, hat die tragische Gestalt
des Dr. Martin Luther ganz sicher ihren Sinn
und Zweck in der göttlichen Vorsehung.
Ohne ihn hätte es nie ein Konzil von Trient gegeben,
das zu einer wirklich segensreichen Reform
der Kirche geführt hat, ohne ihn wäre
die Kirchenmusik in Deutschland
nicht zu so großen Ehren gekommen,
Dank ihm wurde der Blick der Christenheit
verstärkt auf das Evangelium,
auf die heilige Schrift gelenkt.
Macht das alles Luther zum Lehrer des Glaubens?
Bestimmt nicht. Aber zu einem Suchenden
und Irrenden, der am Ende bewies,
dass keine Macht der Welt den Felsen Petri,
das Papsttum, überwinden kann.
Mit Luther begann nicht, wie er es sich erhoffte,
das Ende des Papsttums, nein,
mit ihm begann sein eigentlicher Aufstieg,
seine Reinigung und Heiligung.
Und so hatte Luther, der so gerne Jurist werden wollte,
doch eine Aufgabe im Göttlichen Plan.
Er war der wahre Advocatus diaboli,
der durch den Irrweg seiner Lehre
die Kirche zu einer Abwehrreaktion trieb,
die sich am Ende als notwendige Kurskorrektur
auf dem Weg zu ihrer Heiligung erwies.
Möge das Luther-Jubiläum
zu einer kritischen Auseinandersetzung
mit dem gescheiterten Reformator
und seiner Lehre führen. Denn ist Luther
einmal überwunden, steht auch
den Protestanten der Weg in die Einheit offen.