ARIADNE UND DAS MATRIARCHAT VON KRETA


VON TORSTEN SCHWANKE



Seit sechzig Jahren seh ich gröblich irren

Und irre derb mit drein;

Da Labyrinthe nun das Labyrinth verwirren,

Wo soll euch Ariadne sein?


Goethe




I


Vor wohl fünfzehn Jahren beschrieb einst Anjana die Wunder,

Die in Phaistos' Mauern als Zauber vergangener Zeiten

Lautlos hauchen im Stein, doch fühlbar im Kreise der Tänzer.

Jahre vergingen, und jüngst, als ich forschte mit Freundinnen dorten,

Lasen wir wieder ihr Wort, das damals am Orte geschrieben,

Fühlten wie sie: "Lasst das Herz sich erinnern der Feste,

Blütenumkränzt, mit Früchten beladen, von Speise durchströmet,

Trank in Hülle und Fülle – so wurde das Herz warm und offen,

Floß mit allem und ließ sich tragen vom Strudel des Lebens.

Selig das Wissen: Was kommt, genügt, und das Leben ist Schenken."


Kretas Paläste beherbergten einst eine Welt, die in Müttern

Heil und Weisheit erkannt und friedvolle Zeiten gegründet.

Spät erst erkannten die forschenden Männer der Neuzeit ihr Irren,

Patriarchales Gebild entstellte die Funde in Knossos.

Räume zu Tausenden, doch in der Deutung verfehlet,

Falsch rekonstruiert nach männergeprägtem Gefüge.

Minoisch wird diese Kultur genannt, nach dem Namen

Minos, doch fand man von ihm auf Kreta keinerlei Spuren.

Wohl war Minos ein Amt, das vielleicht einer Priesterin diente,

Schützend zur Seite gestellt, ein starker Gefährte der Weisen.


Mütterlich fließt aus den Ahnen die Kraft der Minoer,

Zeigen es Zeichen der Gene, die forschende Hände entdeckten.

Ähnlich den Amazonenvölkern des Nordens Europas,

Wo der Priesterin-Königin Würde und Hoheit gebührte.

Ulm soll, heißt es, zu Zeiten des großen Alexanders

Amazonen beherrscht haben, dort in den Wäldern des Lebens.

Quellen entsprangen dem Grund, wo sie beteten, heilten, berieten.

Leukippe und Melanippe – sie waren die Göttinnen Kretas,

Weiße und schwarze Stute, die Kräfte des Wachens und Schlafens.

Sakrale Doppelaxt schmückt ihre Höhlen, Paläste und Stätten,

Mondgleich weisend auf Wachstum und Schwund, auf den Zyklus des Lebens.


Krataia, die große Mutter, war Trägerin kretischer Erde,

Namensgeberin gar der Insel, verehret mit Axt und mit Schlangen.

Gournia bewahrt ihr Heiligtum, heilig sind ihre Figuren,

Nackte Brust, in den Händen empor die windenden Wesen.

Schlangen, Symbol der Wandlung, der Kräfte im Schoße der Erde,

Waren sie Träger der Weisheit, der Ekstase und Trance.

Vielleicht mischten die Weisen das Gift in den heiligen Kelchsaft,

Tauchten ins Reich der Geister und sahen die Wahrheit, Eilythia.

Später ward sie verehrt als göttliche Helferin Mütter.


Rosen bekränzen ihr Haupt, und ein Vogel sitzt über den Blüten,

Zeugend den himmlischen Bund, der zur Erde hinunter sich neiget.

Sitzend in Ruhe und Wissen, die weise Mutter der Erde,

Trägerin weiblicher Kraft und Wandel, genannt auch Pluto.

Tief in der Schicht der Paläste verborgen, die Zeichen

Alterer Zeiten, noch älter als Tempel und heilige Hallen.


Schamaninnen tanzten die Schlange, verehrten die Göttin,

Wirbelten sinnend im Tanz und wanden die Körper im Rhythmus.

Vorbild des Schleiertanzes war dieses uralte Wissen,

Schlangenpriesterin barg ihr Gesicht, wenn sie wandelte draußen.

Tanzend versank sie in Trance, verschmolz mit der Göttin im Kreise,

Lebend das Urbild des Seins, in wellender Geste sich wiegend.


Tief in der Höhle verborgen entsprang das heilige Labyrinth,

Später erst ward es benannt nach der axtgezierten Palastwelt.

Mündlich bewahrte das Wissen der Kreis der weisen Gefährtinnen,

Schrift war fremd in den Tagen der ersten sakralen Gefüge.

Später in Bronze gemeißelt, ein Rätsel für heutige Zeiten,

Worte von Kreta, nicht gleichem Verwandt mit der Schrift der Hellenen.


Milch und Honig, der Wein und die Samen der heiligen Pflanzen

Lagerten still in den Schalen, gefunden in heiligen Höhlen.

Gaben sie wohl als Geschenk für das Reich der unsichtbaren Wesen,

Trugen sie dar, um die Kräfte des Lebens zu bitten und ehren.


Tief im kretischen Labyrinth ist kosmische Ordnung verwoben.

Ganz im Gegensinn zum Klischee: Kein Mensch kann sich darin irren!

Sieben Ringe geleiten den Schritt zum heiligen Tempel,

führen zurück in den Schoß der Mutter, ins dunkle Verborgne,

tief in die Erde hinein, die alles Leben gebar.


Seefahrerinnen der minoischen Zeit, die kühn sich

weiten Wogen vertrauten, sie trugen das Labyrinthbild

hoch in den Norden hinauf, bis Britanniens Küsten und Fjorde.

Bernstein, funkelndes Gold des Meers, als stummer Beweise

fand man auf Kreta und dort, wo Steine zu Trojaburgen

künstlich geschichtet noch heut von uralten Zeiten erzählen.

Elektra – der Name der Frauen, Bernstein gleich in Bedeutung,

strahlte in minoischer Zeit mit glänzendem Leuchten.


Tanzend schlangen die Priesterinnen sich durch die Höhlen,

riefen mit wirbelnden Schritten die Göttin herab in die Erde.

Tanz der Kraniche war es, der ins Labyrinth hineingeleitete,

wieder heraus ihn führte – ein heiliger Weg der Erkenntnis.

Kraniche sind seit uralten Zeiten magische Zeichen,

weiblich im alten Hellenisch, als „Geranos“ wurde sie geehrt.

Knossos bewahrt noch Spuren des heiligen Kranichtanzes,

Zeichen vergangener Kulte in steinernen Tempeln der Insel.


Wenn heut Frauen auf Kreta tanzen in kreisenden Schritten,

ehren sie wohl die Göttin, die einst mit Schlangen geboten.

Tief in den Zellen der Menschen bewahrt sich uraltes Wissen,

fernste Erinnerungen flüstern aus heiliger Tiefe.

Und vielleicht hören wir heut noch Anjanas leise Verheißung,

wie sie einst unter den silbernen Ölbäumen Kreta’s erklang:

Lasst uns wieder im Paradiese leben wie einst schon!“



II


Grundsätzlich, so scheint’s, war diese Kultur auf Kreta im Alter

sechzehnhundert bis fünfzehnhundert vor Christi Geburt wohl

jenes Gebilde, das nah am Matriarchate sich hielt noch.

Das ist gewaltig“, so sprach der Gelehrte John Younger von Kansas,

Kundiger altklassischer Zeiten und Kenner des Altertums.


Frauen erschienen in Kunst und den heiligen Weihen als Mächte,

spielten wohl dort eine Rolle in Sitt und Verwaltung der Bronze.

Immer in Kleidung sie prangen, die Männer doch oftmals entblößet,

während Gemälde sie schmücken in höfisch erhabenen Trachten.


Heute noch kennen wir Bilder von Frauen, die thronen mit Würde,

flanket von Männern, als herrschende Größe verehret“, so sagte er.

Nie aber fand man das Bildnis von Männern, die sitzend verharren.“


Fast alle Kunde von Frauen der minoischen Tage entstammet

Zeugnissen kunstvoll gemeißelt in Stein und auf Fingerringen,

Töpferei, Fresken und Statuen, die Zeugen der Zeiten geblieben.

Younger beschreibt dies genau in den Schriften zur alten Kulturwelt,

jüngst erst erschienen in Werken zur Frau in antiker Geschichte.


Lebend’ge Tage des Seins einer minoischen Frau“, so beschreibt er’s.

Waffen zu tragen, ein Schwert gar zu führen und jagend zu schreiten,

Pfeile zu senden, den Bogen gespannt in der kunstvollen Jagdschau –

all dies war ihnen erlaubt in den Tagen der mächtigen Frauen.


Zeugnis der matriarchalen Kultur sei dies, so behauptet

Younger und weiset hinab in die Hallen, wo Gruben entstanden,

tief in den Tempeln der Paläste prangend, inmitten der Räume,

Lustralbecken“ genannt, doch von Art, die an heilige Stätten

mahnen und oft von Gelehrten als „Menstruationsgruben“ betitelt.


Selten jedoch fand sich solche in Dörfern der alten Kulturen,

fern abseits ihrer Behausung, verborgen in abgelegenen Stätten.

Anders jedoch war es hier, wo die Frauen verehret geblieben.

Wandbilder zeugen davon: Ein Mädchen, das stehet in Ehrfurcht,

blicket hinauf zu dem Schrein, wo das Opferblut rötlich herabrinnt.


Einiges macht es uns schwer, das Geschehene klar zu erfassen,

denn was die Alten geschrieben, das ist uns bis heute verborgen.

Schriften sind da, doch die Sprache ist fremd uns, so Younger beteuert.

Hundert und fünfzig der Jahre nur währte der Höhepunkt Kreta’s,

dann aber brannten die Städte, vergingen in wüster Vernichtung.


Mykene kam von dem Festland und nahm sich der Insel in Kriegen.

Doch eine andre Theorie erblicket der Gelehrte:

War’s eine Rebellion vor der drohenden Herrschaft des Fremden?

War es das Volk selbst, das am Ende sich selber zerstöret?


Knossos nur blieb noch besteh’n, doch die Bauern und Herren, die Häuser,

alles verbrannte im Flammenmeer nieder, von Händen geschleudert,

die wohl gewusst, wo zu finden die Städte, die Tempel, die Höfe.

Nicht war es fremde Gewalt, nicht eine Armee, die dies tat wohl.


Mächtig war Kreta, doch ward es verschlungen in Flammen und Staube,

sanken Paläste in Schutt, die den Frauen die Herrschaft gesichert.


Er sprach davon, dass in der Kunst der minoischen Zeiten

Frauen in safranfarbener Gewandung erschienen,

Safran gewonnen aus Blüten der herbstlichen Wiesen.

Dieses Gewächs ist bekannt als Quelle für A-Vitamine.

Maler der Zeit zeigten Frauen mit blauen Streifen der Augen,

Männer hingegen mit roten, vielleicht als Zeichen des Mangels.

Fehlte das Vitamin A, so könnte der Zorn sie ergriffen,

Hätte den Aufruhr geschürt, so meinte es Younger entschieden.


Matriarchalisch geprägt, so wären die Minoer einzigartig,

Speziell, wenn man betrachtet die Rolle der Frauen im Staate.


Dies gibt Einsicht uns allen, wie anders es hätte sein können“,

Sprach Younger, zugleich als Leiterin jüdischer Studien.

Schon in den siebziger Jahren, als Feminismus erstarkte,

Wandten Gelehrte den Blick auf griechische Mythen und Frauen,

Sahen die Bühne, sahen die Werke der alten Poeten.

Viele von uns begriffen: Auf Kreta gab es ein Anderes.

Hier war der Frau ein Respekt in höchsten Ständen gegeben,

Etwas, das nirgends sonst in solcher Weise bestand.“



III


Schon um zweitausend vor Christus erhoben die Paläste

Knossos und Phaistos sich stolz in der kretischen Landschaft.

Mauern umschlossen sie weit, doch ohne Befestigung standen

Tempel fehlten, und breite Prozessionsstraßen auch nicht.

Nirgends ein Zeichen von Krieg auf den freskengeschmückten Gemäuern,

nichts, was vom Morden erzählt' oder zeugt' von gewaltigem Ringen.

Dies nun ließ es erscheinen, als ob die minoische Ordnung

nicht von männlicher Macht und von kriegerischem Verlangen

jemals erfasst war, vielmehr von mütterlicher Regierung.


Knossos, die Stadt, die nördlich auf Kreta erstrahlte in Größe,

lag unweit jenes Ortes, den heut' man Heraklion nennet.

Zehntausend Menschen, ja hunderttausend vielleicht auch,

lebten dort einst im sechzehnten vorchristlichen Jahrhundert.

Rühmlich geblieben sind Palast und die farbigen Bilder,

wovon manche erst jüngst mit Bedacht restauriert worden.

Groß war Knossos und schön in der späten Bronzezeit leuchtend,

doch auch Phaistos erglänzte mit prächtigem Herrschersitz ebenso,

wo man den Scheibendiskus, das Rätsel der Schrift, hat gefunden.


Minos war einst ein König, so spricht es die Sage von Knossos,

doch war sein Name zugleich ein Titel der priesterlichen Würde.

Mondwesen hieß es im Alten, wie Pharao jener in Ägypten,

jeder, der regierend als Hoher der Göttinnen diente.

Dennoch, wer weiß, ob Minos nicht Herrscherin selber gewesen,

Hohepriesterin, Königin gar in matriarchaler Gesellschaft?

Später, so scheint es, kam Wandel, der patriarchal sich erhob nun,

als die Archäer mit Macht das Erbe der Insel bemächtigten.


Sanft war das Bild dieser Welt, so zeigen die kunstvollen Fresken:

friedliches Leben und Göttinnen, stehend in herrlicher Pracht dort.

Glaube der Erde geweiht und den Gaben des wachenden Lebens.

Nirgends war langer die Mutter des Landes in Ehren geblieben,

länger als dort, von zweitausendeinhundert bis vierzehnhundert

blieb ihr das Heiligtum, wuchs aus den Äckern die göttliche Fülle.


Herrschaft gewann das Volk durch friedliche Wege des Handels,

nicht durch das blutige Schwert, nicht durch Eroberungstaten.

Paläste dienten nicht Königen, starren Geboten und Zwang nicht,

sondern sie waren das Herz der gesamten lebendigen Ordnung.

Dort lebten Priester und hielten die festlichen Riten im Kreise,

dort war das Heiligtum selbst mit den Räumen für heilige Bäder.


Ehrenvoll stand die Frau im Glanze der kretischen Zeiten,

hochgestellt, in den Bildern gezeigt, als lachende Schönheit,

plaudernd in heiterem Tanz, geschmückt und mit mutigem Anmut.

Selten ein Mann, wohl aber ein Jüngling von schlanker Gestalt noch,

nackt bis auf zarte Gewänder, in edler, geschmeidiger Haltung.

Frauen als Königinnen, Göttinnen, Dienerinnen niemals.

Nirgends ein König als Bild, kein männlicher Priester zu sehen,

alles dies ließ nur ahnen, dass Minos die Hohe war selber.


Jener berühmte Prinz, den Lilien schmücken in Bildern,

nicht als Herrscher vielleicht, doch als Liebender einer der Königin.

Zierlich von Wuchs, in der Blüte, mit Schmetterlingen umgeben,

wandelnd in heiterem Glück, ein Zeichen der sanften Kulturwelt.


Forscher erkennen es heut’: Die Kultur der Minoer auf Kreta

War eine Theokratie, geführt von Priestern, nicht Kön’gen.

Meistens regierte ein Weib, die erhabene Hohepriesterin,

Die als lebende Gottheit verehrt in Fresken erscheint.

Siegel und Statuetten, sie alle verherrlichen Göttinnen,

Doch keinen Gott – und das Fest war nach Geschlecht stets getrennt.

Dennoch stand eine Frau oft im Zentrum der heiligen Riten,

Fleischgewordene Göttin, wie einst im matriarchalen Kult.


Berge und Höhlen galten als heilig, dort opferte man ihr,

Ebenso in den Palästen, von Göttern erhabene Stätten.

Gräber bezeugen den Glauben: Die Toten gebettet im Erdreich,

Eingewickelt, als kehrten sie heim in den Schoß ihrer Mutter.


Heilige Zeichen geblieben: Die Doppelaxt, Labyrinthpfade,

Stiere, die Lilie blüht, und der Krokus, Sinnbild des Lebens.

Affen und Delfine in Knossos, gemalt auf den Wänden,

Zeugen vom Reichtum der Kunst und vom Geist der Zivilisation.


Lebende Priesterinnen verkörperten Göttinnenbilder,

Daher fand man nur wenig Statuetten der heiligen Frauen.

Doch eine Schlangenpriesterin thront mit entblößten Brüsten,

Zeigt in den Händen die Schlangen, ein Zeichen der Erde und Kraft.

Oben auf ihrem Haupte ein wildes, katzenartiges Tier.


Eine andere trägt die Gestalt der erhabenen Göttin,

Schlangen umarmen die Hüften, sie hält sie in beiden Händen.

Turmhoch steckt ihr Haar, die Augen geweitet in Trance,

Zeichen der heiligen Ekstase, erfüllt von göttlichem Licht.

Schlangen symbolisierten von jeher die Erd- und die Unterwelt,

Daher galten die Priesterinnen als Träger des Urkrafts.


Knossos, der Thronraum, von Forschern benannt und gedeutet,

War nicht Palast eines Königs, zu klein für amtliche Feste.

Besser wohl Heiligtum einer Priesterin, Herrin der Berge,

Mutter des Lebens und Hüterin all der geweihten Natur.

Greife mit Löwenleib, mit Adlerschwingen und Schlangenschweifen,

Waren die Zeichen der Macht, der Erde, des Himmels und Tods.


Hochkultiviert war das Volk der Minoer, berühmt ihre Bauten,

Prächtige Paläste erhoben sich stolz mit Höfen und Hallen.

Schlösser aus Bronze verschlossen die Türen mit kunstvollem Griff.

Bäder mit fließendem Wasser, verborgen in Schiebetüren,

Schauten gen Osten, begrüßten das Licht der erwachenden Sonne.

Treppen und Säulen, von mächtigem Bau, führten in Gärten,

Wo aus Kanälen das Wasser durch Terrakottaröhren rann.


Rot war der Säulenschaft, mit Kapitellen in tiefem Schwarz,

Andere leuchteten weiß oder trugen die Farben des Blutes.

Diese drei Töne verherrlichten Göttinnen heiliger Ordnung:

Jung war die Weiße, die Rote gebar, die Schwarze war Weisheit.


Ungelöst bleibt uns bis heute das Rätsel der Krokusdarbietung,

die nicht bloß Knossos verziert, doch ebenso andernorts leuchtet:

Santorin birgt sie im Bild, an Ägyptens Küste erscheinen

Blüten im Stein verewigt – doch wer kann deuten ihr Wesen?

Affen pflücken sie dort und reichen sie Priesterin, Göttin.

Welcher Kult liegt zugrund? Es bleibt uns bloß zu vermuten.

Minoische Händler gewannen womöglich das edle Gewürz draus,

tauschten den Safran gar weit in Küsten ferner Reiche.


Festliche Spiele erblüh’n auf Kreta in heiligen Tänzen:

Stiersprung war es genannt – ein Wettstreit von Mensch und von Tiere.

Wandbilder zeigen es dort: Wie Jünglinge, mutige Mädchen

packen des Stieres Geweih, um sich über den Rücken zu schwingen.

Doch das Tier bleibt geehrt, war heilig der göttlichen Mondkraft,

niemals getötet, stets mit Ehrfurcht behandelt.

Ganz nicht gleicht es dem Kampf, der heut in Spaniens Arenen

blutig den Stier bezwingt zu erbärmlicher Lust der Zuschauer.


Minos, der König von Kreta, ward Sohn des Zeus und Europas,

also erzählt die Legende – doch liegt noch älterer Glaube

tief in der Sage begraben: Es war die große Matrone,

Schlangengöttin geweiht, die einst das Volk verehrte.

Später kam Demeter dann, gepriesen als Erdmuttergöttin,

löste die Alte ab und schuf die Brücke zum Olympos.

Zeus ward zum Vater des Minos erklärt, damit Herrschaft gesichert

und wie die Pharaonen Ägyptens heilige Ahnen gewannen,

so musste Minos erneut des Zeus Verbundenheit zeigen:

Alle neun Jahre bestieg er den Weg zu der Höhle des Gottes,

Dikti, wo Zeus ihm das königliche Amt erneuerte.

Auch seine Gattin, Pasiphae´, galt als Tochter des Helios,

so ward auch sie mit göttlicher Ahnenschaft zierlich geschmücket.


Doch um Minos rankt sich die Sage des stierköpfigen Dämons,

Minotaurus genannt, im Labyrinth von Knossos verborgen.

Minos, Gemahl Pasiphae´s, Vater von Ariadne,

hütete herrliche Stiere, die Poseidon geweiht sein sollten.

Doch ein prächtiges Tier hielt er zurück vor dem Opfer,

tauschte es heimlich aus – dies erzürnte den Meeresbeherrscher.

Rache entsandte er nun: Pasiphae´, Minos' Gemahlin,

brannte in Liebe zum Stier – ein Fluch, vom Gotte geworfen.

Daidalos baute darauf ihr hölzernes Kuhgebilde,

in dem versteckt sie vereinte sich sehnend mit weißem Stiere.

Minotaurus entstand, ein Wesen halb Mensch, halb ein Stiere.


Minos erschrak, doch tötete nicht das Ungeheuer.

Daidalos musste es bannen in dunklen, verwinkelten Gängen,

tief im Palaste Knossos – so ward das Labyrinth einst geschaffen.

Doch als sein Sohn, Androgeos, starb bei attischen Spielen,

forchte Minos von Athen als Tribut sieben Jünglinge,

sieben Jungfrauen gar, dem Stiermenschen jährlich gesendet.

Theseus, mutiger Held, vernahm von des Königs Verlangen,

schwört’ auf sein Schwert und Verstand, das Untier dort zu bezwingen.

Ariadne, die Tochter des Minos, sah ihn und liebte

Theseus innig – so bot sie ihm heimlich die Hilfe.

Gab ihm den magischen Faden, gesponnen aus weisem Geflecht,

führte ihn sicher hinaus aus dem finsteren Wirrwarr der Gänge.

Theseus tötete bald das Ungeheuer im Dunkeln,

floh mit Ariadne hinaus, entrann mit Gefangenen allen.

Athene schützte die Fahrt – so endete Minos’ Tribute.


Doch in der Sage verbirgt sich tiefere Deutung der Zeichen:

Stiersprung war ein gefährliches Spiel, oft endend im Tode.

Dies mag der Menschenopfer blutiges Echo noch tragen.

Und das Labyrinth, in dem Minotaurus gehalten,

gleicht den verwinkelten Hallen des Palastes von Knossos.

Labrys, die Doppelaxt, war Symbol der Göttlichen Mächte,

eingemeißelt in Stein als Zeichen der Herrin der Erde.

So ward der Palast „Haus der Labrys“ genannt – und aus diesem

Namen entstand wohl das Wort, das heute als Labyrinth gilt.


Seit den ältesten Tagen diente das Labyrinth den Geweihten,

Führte die Jünglinge ein in den Dienst der heiligen Göttin.

Sieben der Knaben zugleich und sieben der blühenden Jungfraun,

Weiheten einst sich ihr, der späteren Sage zum Opfer.


Doch wohl galt der Minotaurus im alten Kreta

Nicht als ein Ungeheuer, gefräßig nach Menschengebeinen –

Priester vielmehr, geweiht dem erhabenen Stier der Altäre,

Trug er das Stierhaupt wohl nur als heilige Maske.

Einst war der Stier ein heiliges Zeichen göttlicher Macht noch,

Doch seine wilde Natur erschuf aus ihm bald einen Dämon,

Machte ihn feindlich und zwang ihn zuletzt zum Opfer am Steine.

Hörner des Stieres erhob man zum Zeichen auf Türmen und Treppen,

Schmückte mit ihnen Paläste und weite Terrassen von Knossos.


Doch als Theseus kam, da fiel der heilige Stierpriester,

Zeichen des Wandels, da Kreta der Macht der Archäer nun folgte,

Patriarchale Gewalt ersetzte die Mutter der Urzeit.


Dann brach Feuer herab aus dem Schoße der Erde, des Meeres,

Santorin schleuderte Asche gen Himmel in dunkler Gewalt auf.

Neunzehn Jahrhunderte trennte die Flut uns vom Christus,

Damals, so schätzt man, entbrannte das wütende Feuerspiel,

Brachte den Wandel, der Knossos zur neuen Epoche geleitete.

Fünfzig der Jahre verstrichen, und neue Paläste erhoben

Glanzvoll sich über den Resten der alten, zerstörten Gemäuer:

Malia, Zakros, Archanes, die herrlichen Hallen von Phaistos,

Knossos zuerst – die Perle der minoischen Fürsten.


Doch am Ende des Glanzes, da kamen die Heere vom Festland,

Archäer fielen herab auf das stolze minoische Kreta.

Mächtig erhoben sich jene, die dort schon lange gelebt hatten,

Stürzten den alten Bestand, und Kreta versank in den Schatten.



IV


Kundige Seefahrer waren die Minoer, berühmt weit,

Thukydides berichtet, dass Minos der erste gewesen,

Welcher das Reich der Meere begründet, mit fester Gewalt schon.

Kykladische Inseln beherrschte er, trieb von den Küsten

Karische Sippen hinweg und setzte die Söhne als Fürsten.

Raub auf dem Meere verfolgte er streng, um die Wege zu sichern,

Dass ihm der Handel erblühe und Einkünfte reichlich ihm flössen.


Später erzählten davon Herodot, Aristoteles,

Platon zugleich, wie Minos die Herrschaft des Meeres errungen.

Seine Gewalt soll über die Wellen geboten, doch meinen

Forscher, die These sei fraglich, dass Kreta beherrschte die See einst.

Phönizier folgten wohl nach dem Fall der minoischen Reiche,

Doch ist die Meinung geteilt, ob Kreta die Meere gebändigt.


Funde bezeugen den Einfluss der minoischen Künste,

Bis nach Sizilien strahlte ihr Glanz in den östlichen Ländern.

Kykladische Bauten und Kunst trugen kretische Züge,

Zeugnis davon gibt der Name "Minoa" auf Inseln und Küsten.

Kretischer Einfluss umfasste Thera, Kythera, Melos,

Rhodos vor allem, dazu noch Milet und vielleicht auch Zypern.

Ob sie als Kolonien bestanden, als Handelsstationen,

Bleibt umstritten – doch stand dies Gebiet unter kretischem Einfluss.


Enge Verbindungen pflegten sie tief mit Ägyptens Gefilden,

Denn in den Gräbern des Niltals sah man Gesandte von Kreta.

"Keftiu" nannten sie dort die Minoer, die kunstvollen Meister.

Avaris barg einen Palast, der kretische Formen enthielt schon,

Malereien in höchster Geschicklichkeit zeugen davon noch.

Auch Mesopotamien kannte die Waren der kretischen Händler.


Tell el-Dab’a, am Nil, barg Stiersprungfresken aus jener

Zeit, als Pharao Thutmosis regierte das weite

Reich mit Geschick. Die Forscher erschlossen mit digitaler

Kunst diese Bilder erneut und verglichen sie jenen

Fresken von Knossos, die zeigen die gleichen Motive:

Springer mit Stieren, die Jäger, Palastembleme aus Kreta.

Zeichen für Austausch, für Macht und für Handelsbeziehungen hohen

Ranges, in denen Ägypten mit Kreta verbunden gewesen.

Neuste Entdeckungen deuten auf große Häfen am Delta,

Wo sich die Flotte des Pharaos stützte auf kretische Seefahrt.


Bis in den Norden, zur rauen Nordsee, sei Handel gewesen?

Unbewiesen bleibt diese Behauptung, bestritten von Kennern.

Hans Peter Duerr, der Schiffe der Minoer im Watt fand,

Konnte mit Funden die Forscher der Zeit noch nicht überzeugen.



V


Nicht aus Afrika stammt der Ursprung der Minoer –

Forscher entschlüsseln das Rätsel der frühen Kultur.

Einst, vor fünftausend Jahren, begründeten sie eine Hochzeit,

deren berühmtester Name von Minos, dem König, sich leitet.


Minos, der Sohn des gewaltigen Zeus, aus Europa geboren,

Zeus, der verwandelt in Stier auf dem Rücken sie trug,

Schwamm durch die Wellen nach Kreta, verwandelte sich in den Götterstand,

Weissagung Aphroditens benannte den Erdteil nach ihr.


Später erzählte die Sage von Jupiter, römischem Herrscher,

Schneeweiß leuchtete strahlend sein Fell in der goldenen Sonne,

Lockte Europa zum Spiel, die ihn streichelte, fütterte, ritt,

Trug sie geschwind auf den Rücken und schwamm durch die Meere nach Kreta,

Dort nahm er sterbliche Form und schuf ihr Kinder im Schoß.


Homer jedoch, der Sänger der Ilias, meldet es anders:

Tochter des Phoinix sei sie, der wiederum Sohn des Belus,

Dieser als Ba’al verehrt von den Völkern des östlichen Reichs.


Lange vor ihnen betraten schon Menschen die kretischen Ufer,

Neuntausend Jahre zuvor war die Insel belebt,

Ihre Nachfahren begründeten mächtige Paläste und Städte,

Bis im Jahrhundert neunzehnter Zeit, als Evans sie fand,

Trümmer des Knossos enthüllend, des großen minoischen Reiches.


Später durchforschten Gelehrte das Erbgut von hundert Skeletten,

Tief in den Gräbern von Phaistos verborgen im Staub,

Lasithi barg die Gebeine der Toten in uralter Höhle,

Dienend als Stätte des Totenkults über Jahrtausende hin.


Proben verglich man mit hunderten Stämmen von Völkern der Erde,

Kein Zweifel blieb: Nicht Afrika war ihre Heimat zuvor.

Näher verwandt mit dem Westen Europas, den nördlichen Völkern,

Doch noch ähnlicher waren sie jenen aus Südeuropas Gefilden,

Speziell der iberischen Halbinsel, bronzezeitlichen Stämmen.


Forscher erklärten die Minoer als Sprösslinge jener,

Die aus Anatolien einst auf die Insel gelangt.

Hier, aus steinzeitlichen Ahnen, erhob sich die blühende Kultur,

Nicht aus dem Süden des Nils, nicht aus der Wüste des Ostens.


Noch in den Menschen, die heut auf der Lasithi-Ebene wohnen,

Lebt das Erbgut der Minoer in Blut und Gebein.

Mehr als gedacht blieb erhalten vom Erbe der alten Dynastien,

Zeugen vergangener Zeiten in lebender Form.


Europa, so sagt es die Sage, war einst eine Göttin,

Großäugig blickte sie nieder, von heiliger Kuh gleich Hathor,

Hera vergleichbar und Isis, die Mutter des Erdengeschlechts.

Zauberspeer in der Hand, unfehlbar traf er das Ziel.

Messingner Krieger bewachte die Insel, den heiligen Tempel,

Mondstier trug sie, die Nächte durchreitend im silbernen Licht.


Doch in den Zeiten des Krieges zerbrach das uralte Gefüge,

Athener drangen gewaltsam in Kretas Gefilde hinein,

Nicht half Messing und Schild, denn die Griechen kannten das Eisen,

Neues Metall, das stärker als Bronze in Klingen erstrahlte.


Götter des Festlands verdrängten die alten minoischen Mächte,

Europa verschwand in den Mythen der neuen Ära des Zeus.

Drei Kinder gebar sie dem Götterherrn über den Blitzen:

Minos, der Richter, Rhadamanthys, der Weise, Sarpedon.

Einer von ihnen, so munkelt das Volk, sei der Minotauros,

Mensch mit dem Haupte des Stiers, verborgen im Labyrinth.


Weit in den Ländern des Ostens verehrte man Stierkult und Mithras,

Gott des Gesetzes und Bundes, der Sonnengott strahlender Macht.

Über die Zeiten hinweg kam sein Licht in den Westen getragen,

Bis sich der Glaube verband mit der römischen Welt.


Schon in den Zeiten, da Götter noch nicht auf dem Olymp waren,

Ritt eine Göttin, Europa genannt, auf dem Rücken des Stieres.

Nicht war dies Sinnbild von Raub, noch Entführung durch mächtige Kräfte,

Denn mit gelassener Hand und furchtlosem Blicke beherrscht sie

Majestätisch das Tier, so zeigen die alten Darstellungen.


Hörner des Stieres galten als Zeichen des himmlischen Mondes,

Zeugnis der Großen Göttin, der Mondkuh, Herrin des Lebens.

Weiße Stiere, geweiht, wurden ihr als Opfer gebracht,

Zeichen der Macht, die einst über Kreta in Ehrfurcht geboten.


Britomartis, so hieß dort die Göttin der Jagd und der Meere,

Hüterin wilder Natur und Beschützerin seefahrender Völker.

Kreta verehrte sie wohl, doch teilte sie Macht mit Dictynna,

Ostwärts herrschte die eine, die andere wachte im Westen.

Doppelte Äxte zeugten von Mondes wächsernem Wandel,

Zunehmend und schwindend, im ewigen Kreislauf der Zeiten.


Neun lange Monate jagte Minos die Göttin durch Wälder,

Bergige Täler durchstreifend, in unermüdlicher Jagd.

Doch als er nahet, sich greifend die Göttin, da sprang sie verzweifelt

Hoch von den Felsen hinab in die tiefen, schäumenden Wogen.

Artemis kam ihr zu Hilf und fischte sie aus mit den Netzen,

Machte sie göttlich und nannte sie Dictynna, die Fangende.


Felsen des Sprungs, sie mahnen an Hirschsprung tief in den Schluchten,

Wo sich die Wege verengen im Höllental dunkler Gesteine.

Neun sind die Musen, und neun sind die Sphären des Kosmos,

Neun ist die Dauer des Lebens, das werdende Kindlein beweisend.


Schlangen beschützten die Göttin, und wilde Tiere des Waldes,

Tempel der Göttin bewachten die Hunde, stark wie die Bären.

Keuschheit, die ihr zugeschrieben, meint Reinheit des Geistes,

Nicht aber Enthaltsamkeit, wie der späte Glaube es deutet.


Rheia, die Urmutter, Schöpferin, Erde der alten Minoer,

Herrin des kreisenden Himmels, des Kosmos ewiger Schoß.

Alles Geborene nahm sie am Ende des Lebens zurück,

Nicht als ein Opfer von Blut, doch in den Kreislauf der Schöpfung.


Alles, was wächst aus der Erde, kehrt wieder in Erde zurück,

So, wie die Äcker sich fügen dem Rhythmus des ewigen Pflügens.

Göttlich vereint sich der Mensch mit der Erde in heiliger Saatzeit,

Fruchtbarkeit wachsenden Lebens im Schoße der Mutter gewährend.


Rheia ward Rha bei den Stämmen im Süden des russischen Landes,

Rot war ihr Zeichen, und mächtig die Schlange, die sie gebar.

Python, die Seherin, göttliche Wächterin Delphis,

Trug in sich Weisheit der Ahnen, die Stimme des Drachen erklang.


Zeit und Raum zu beherrschen, ward Rheia als Göttin gegeben,

Mächtig verwob sie das Sein in den ewigen Strom der Geschicke.

Doch die Minoer, sie sanken, die alten Paläste verbrannten,

Theras Zorn oder Beben, vielleicht auch griechische Waffen.

Knossos zerfiel, und das Volk ward besiegt von den neuen Herrschern,

Patriarchale Gewalt brach das heilige Reich der Matronen.



VI


Tief in den Büchern verborgen, die Schätze der Weisheit uns bieten,

finden wir heute erneut ein Kleinod von seltener Schönheit.

"Wind auf Kreta" geschrieben von David MacNeil Doren,

führt uns ins Herz der Geschichte, ins Reich der minoischen Frauen.


Knossos, der Palast, der in alter Erinnerung lebet,

wird in den Zeilen beschrieben mit neuem und frischem Bedenken.

Nicht nur Ruinen von Mauern, nicht nur vergangene Zeiten,

sondern ein Hauch der Kultur, der Geist der Herrscherin selbst.


Frauen beherrschten die Stadt, so flüstern die bunten Fresken,

überall tanzende Bilder, die weibliche Schönheit verkünden.

Niedliche Vögel im Flug, die Delphine verspielter als anders,

alles gestaltet mit Blick, der zärtlich von Frauen erdacht.


Sehet die Frauen von Knossos, die bar ihre Brüste enthüllen,

freier als jene, die heute in Dunkel und Schleiern gebunden.

Wo sich die Weiblichkeit wählt, was ihrem Gefallen entspreche,

zeigt sie so viel von sich selbst, wie immer es möglich nur sei.


Dort in Mexikos Süden, wo Mütter das Leben regieren,

kannten sie keine Beschränkung und badeten stolz in dem Flusse.

Gleichen die Minoerinnen, die trugen die wallenden Kleider,

leicht und von Luft durchweht, befreit von dem Joch eines Mannes.


Wandernd durch steinerne Hallen, die Einsamkeit ringsum genießend,

staunen wir über die Werke, die kunstvoll von Händen geformt.

Siehe die Wasserleitung! Gewiss eine weibliche Schöpfung,

Sorge um Reinlichkeit stets als Zeichen des klugen Verstands.


Arthur Evans, der Gräber, enthüllte in mühevoll’n Jahren

wohl eine Königin hier, ein Reich, das dem Weibe gehörte.

Doch was besagen die Schriften, entziffert von Michael Ventris?

Nicht etwa Epen voll Helden, noch Lieder von großen Taten,

Listen von Vorräten nur, Bestände von Töpfen und Pfannen.

War es ein Reich voller Frauen? So zeigt es sich uns im Detail.


Schließlich der Palast, sein Labyrinth, ein Zeichen der Seele,

kompliziert, voller Gänge, verwirrend und dennoch erhaben.

Theseus fand keinen Ausweg, verloren in weiblichem Wesen,

wäre nicht Ariadne gewesen mit ihrem rettenden Faden.


So ist der Irrgarten Knossos ein Spiegel der ewigen Frage,

Rätsel des weiblichen Seins, das stets uns in Staunen versetzt.



VII


Forscher ergründeten jüngst die Gesetze der Ehe im Alter,

Wie sie im Bronzezeitreich der Hellenen bestanden und galten.

Nicht war Zufall entscheidend, vielmehr war’s Blut und Verwandtschaft,

Die sich verband in der Wahl der Gatten und Ehgemahle.


Schliemann stieß auf die Gräber von Mykene, die goldreich

Schimmerten, doch nur rätselte er um die Ahnen der Toten.

Jetzt erst brachte das Wissen genetischer Forschungsmethoden

Licht in das Dunkel der Eh’ und des Bluts in minoischer Zeit.


Forscher, vereint aus Ländern der Welt, vom Planck-Institut aus,

Haben mit Fleiß entschlüsselt der Vorfahren tiefste Geheimnis’.

Hundert Genome verrieten die Wahl ihrer Bräut’ und Gesellen:

Nicht war fremd das Geschlecht, doch nahe verwandt mit einander.


Neueste Kunst der Analyse, geboren aus wissenschaftlichem Eifer,

Drang nun vor in Regionen, wo Klima die Zeichen zerstörte.

Sogar ein Hof ward erforscht aus mykenischer Zeit, und die Ahnen,

Die dort lebten vereint, als Stammbaum klar dargestellt wurden.


Söhne verblieben oft noch im Haus der Eltern beständig,

Kinder bestattet im Hof der Heimat, so blieb es erhalten.

Selbst eine Braut kam nicht allein in die ehrwürd’ge Sippe,

Mit ihr folgte die Schwester, ihr Kind ward ebenfalls dort dann bestattet.


Doch was Forscher entdeckten, verwunderte selbst die Gelehrten:

Tausend Genome sind schon bekannt aus Regionen der Erde,

Nirgendwo fand sich dies: dass Vettern und Basen sich ehelichten.

Dies war Brauch in den Landen der Ägäis, der Inseln und Küsten,

Nahverwandte verband das Band der Ehe beständig.


Warum solch Sitte bestand, kann niemand genau nun ergründen.

Wollte man Land bewahren, die Äcker dem Stammhaus erhalten?

Sicher scheint nur, dass künftige Forschungen Klarheit noch bringen,

Da alte Genome enthüllen, was einst in den Zeiten verborgen.



VIII


Was, wenn wir annähmen, das alte, das kretische Reich sei

Mütterlich stets gewesen, mit Frauen im Zentrum des Lebens,

Muttergeschlechtlich geordnet, in Ahnenfolgen der Mütter?

Welche Gestalt wohl trüge die heil’ge Religion dieses Landes?


Harriet Hawes und Blanche E. Williams gruben die Stätten,

Fanden und deuteten Spuren von Frau’n in der Macht ihrer Zeit einst.

Nicht nur herrschte die Göttin, so sagten die Zeichen im Boden,

Auch die Frauen erschienen als stark und als herrschende Wesen,

Mütterlich formend Kultur und Gesetze mit sicherem Willen.


Tänze von Frauen gemalt auf den Wänden von Knossos verkünden,

Wie sie die Riten geformt und dem Glauben Gestalt haben gaben.

Priesterinnen erkannten sie dort in den heiligen Tempeln,

Zeichen von Würde und Rang in den Bildern der sitzenden Alten.

Wo kein Beweis für die Herrschaft der Männer zu finden gewesen,

Soll man nicht denken, es hätten allein sie die Ordnung besessen.


Erdmutter selbst war Zentrum der alten, der heiligen Feste,

Nicht ein Gott in den Himmeln, entfernt und mit strengerem Walten.

Nicht war die Göttin Richterin über das Leben und Sterben,

Tote kehrten zu ihr in den Schoß, in die Erde, zurück nur.

Lebenskraft war sie, schenkend das Sein den Geschöpfen der Erde,

Flüsse, die winden sich, Flügel der Vögel, die ragenden Berge,

Alles ein Bild von ihr, das sich stets in den Dingen erneuert.


Nicht sahn Kreter die Welt in den Stufen der Menschen als Herren,

Lebendes alles vereint sich im heiligen Netz dieser Erde.

Dasein zu preisen, zu tanzen in Freude am heiligen Leben,

Nicht zu entfliehen in Träume von Richter und himmlischem Throne,

War es, was Kreta verband in der Gnade des irdischen Daseins.


Eins oder viele? Die Göttin in Tausenden Formen erschienen,

Trennten die Kreter sich nicht in den starren Begriffen der Später’n.

Eines nur ist das Sein, doch vielfach strömet das Leben,

Eines die Wurzel, und tausend Gestalten entspringen dem Baume.

So war Kreta geprägt von der Feier des Seins in den Zeichen,

Die von der einen und vielen zugleich uns sprechen in Bildern.


Wo matrilinear, matrifokal und matriarchalisch

Völker die Erde als Mutter verehrten, die gibt und erhalten,

Dürfen wir hoffen, dass dies in den Ritualen erklinge,

Dankt doch der Mensch für Geschenke, die freiwillig werden gegeben.

Dank für das Leben, das höchste Geschenk, das ein Wesen empfangen,

War, so behaupte ich kühn, der zentrale Gedanke der Kreter.

Falls dies zutrifft, so müssten wir Riten erwarten, die Leben

Feiern, wenn Kinder geboren, wenn Mädchen erwachsen geworden,

Auch wenn die Ahnen geehrt in den feierlich dunklen Zeremonien.

Riten der Dankbarkeit ehrten die mütterliche Verbindung,

Huldigten Ahnen und wussten um Weisheit der Alten in Zeiten.

Viele der Riten, so zeigen die Funde, geschahen im Hause,

Dort, wo die Mutter das Zentrum des Lebens für alle gewesen.

Ahnenverehrung geschah wohl auch draußen an Gräbern der Ahnen,

Auch für die Nahrung, die Leben erhält, gab man Opfer in Dankes-

Gaben der ersten der Früchte der Erde, die nährt und gebiert uns.

Gaben von Tränken ergossen sich segnend zurück in die Erde,

Die uns von Neuem gebären wird, wenn sich der Kreislauf erfüllet.

Fanden die Frauen den Ackerbau, lehrten die Saat sie zu streuen,

Sollte sich, wie es Gimbutas lehrte, in Riten entfalten,

Wie sich Geburt und der Tod und das Werden beständig erneuern.

Dort, wo die Felder bestellt und die Ernte bewahrt und gesichert,

Dort mögen Riten erfolgt sein in Kreta, in heiligen Zeiten.

Häuser bewahrten den Glauben, doch sicher war vieles im Freien,

Dort, wo die Mutter Natur mit den Menschen in Einheit verbunden.

Töpfern und Weben geschah als ein Mysterium heiliger Wandlung,

Wie sich Geburt und der Tod und das neue Entstehen verbinden,

Riten der Wandlung erblickt man vielleicht in den Häusern und Werkstätten.

Bäume und Berge, die Höhlen und Quellen, die lebenden Wasser,

Waren durch Riten geheiligt in Kreta, in alter Erinnerung.

Fragen wir uns, wie in jenen Zeremonien der Dank sich erhoben

Hin zu der Mutter, der Erde, die Leben in Kreisen erneuert.



IX


Eines der Werke, an denen ich forsche, ein Aufsatz der langen,

gründet sich tief auf die Götter des alten minoischen Kreta,

dient einer Reihe von Büchern, die jenes erforschen, das weite

Gournia barg, eine Stätte von Rätseln und mächtigen Zeichen.


Harriet Boyd war die Frau, die zuerst dort grub mit den Händen,

fand eine Stadt, nicht Paläste, wie andre zuvor nur beschrieben,

tauschte den Spaten mit Wissen und lehrte als eine der ersten,

führte die Arbeit mit Mut und mit Kraft und erzog eine Schülerin,

Edith H. Hall, die darauf die begonnene Forschung verfolgte.


Harriet Boyd hätte vieles noch tun und noch länger erforschen,

doch ihre Ehe und bald auch die Geburt eines Sohnes

nahmen den Weg, den sie ging, und verlagerten ihn in das Lehren.

Dennoch verfasste sie Schriften, die vieles bewahren und künden.


Ich nun las Gournia gründlich, bis jede der Seiten mir eigen,

suche darin nach den Spuren, die ihre Gedanken verrieten,

wie sie die Religion der Minoer verstand und erklärte.

Marija Gimbutas’ Werk ward mein Leuchten in dunklen Gefilden,

sah in Kreta die Blüte des Alten Europa, das einst war,

ehe die Krieger des Nordens mit Rossen und Schwertern es brachen.

Froh war ich, als ich fand, dass die beiden Gedanken sich gleichen.


Evans entdeckte in Knossos das Land der minoischen Ahnen,

glaubte, die Göttin des Lebens beherrsche die Hallen der Zeiten,

dennoch erklärte er: Dies sei der Sitz eines mächtigen Königs.

Boyd aber folgte den Schriften, erweiterte, stellte auch Fragen,

widersprach und verband, was sie wusste von Völkern des Meeres.

Viele Gedanken, die heute mit Gimbutas’ Namen verbunden,

hatte sie schon formuliert in den Forschungen jener Jahrzehnte.


Gimbutas lehrte: Europa entstand aus gewaltigen Kämpfen.

Friedlich war einst das Volk, das verehrte die Göttin des Lebens,

wandelte sanft durch die Zeiten, matrilinear und in Frieden.

Später dann kamen die Horden mit Waffen und himmlischen Göttern,

stürzten das Alte, doch niemals erlosch ganz das frühere Leben.


Griechenland hielt sich am längsten, der Süden Europas bewahrte

Spuren des Alten, bis Krieger mit Mykene kamen und nahmen.

Hart war die Zeit, doch die Zeichen der Göttin, sie blieben verborgen.

Jene, die taten, als gäb es nur eine Kultur, nur ein Kreta,

kannten nicht das, was Boyd schon bewies mit genauen Befunden.


Schärfer als viele sah sie die Trennung der Zeiten und Völker,

sagte: Das Festland ward früh von den Hirten mit Rossen beherrscht,

während das Kreta sich langsam entlang einer anderen Spur hielt,

wo noch die Göttin in Frauen das Leben in Ehren bewahrte.


Boyd erkannte: Es gab keine sanfte Verschmelzung der Formen.

Nicht von alleine erblühte Mykene aus kretischer Erde.

Krieg war’s, der nahm, was gefiel, und die Künstler zu Knechten erniedrigt,

nahm ihre Hände, doch nicht ihren Geist, um Paläste zu schmücken.

Sagte: Der Zeus von den Inseln war niemals ein Sohn dieses Bodens,

er war Zumutung nur, ein erzwungenes Zeichen der Fremden.


Sieh man genau auf die Werke von Boyd und Gimbutas, so zeigen

beide dasselbe: Ein Wechsel von Macht, von Gedanken und Leben.

Deutlich erkannten sie, was sich verändert mit Schwert und mit Feuer,

sahen den Wandel der Göttin, die doch nicht verschwand aus den Zeiten.

Evans dagegen verklärte die Spuren der myken’schen Eroberung,

nannte Minos den König, den Kreta vielleicht nie gesehen.


Boyd Hawes meidet den Drang, die minoische Kultur zu deuten

Anhand Ägyptens und auch Mesopotamiens Schätzen der Kunstwelt.

Klar erkennt sie: „Wer ohne Befangenheit Kreta studieret,

Sieht und staunet zugleich, wie das Genie sich frei hier entfalte,

Weil es anders als Werke des Nil- und des Euphrat-Gebietes

Strahlt in eigenem Licht, durch glühende Regung beseelet,

Nicht von priesterlich strenger Monumentalität schwerlich.“

Hier bedeutet „priesterlich“ jene Vergöttlichung Herrschers,

Wie sie östlich gemein, doch kretische Zeichen entziehen

Sich der Gleichung mit alten Symbolen des Reichs der Pharaonen,

Denn die Unterschiede der Kulte sind mächtig und prägen

Stärker als Ähnlichkeiten den Sinn des minoischen Glaubens.


Boyd Hawes deutet mit klarem Verstand die Macht der Matronen,

Göttinnen ehrt sie in Kreta, beschreibt sie im Buche Gournia,

Fügt noch Fußnoten an, doch weiter vertieft sie die Lehre

Nicht, vielmehr bittet sie Williams, die Freundin und erste Gehilfin,

Daß sie schreibe für sie von Kult und minoischem Glauben.

Williams folget der Lehrerin, sieht in den Funden Beweise,

Daß ein männlicher Gott hier fehlet in allen Gefilden.

Evans’ These, der Stier sei göttlicher Herrscher der Lande,

Oder die Säule sei göttlich, befragt sie und zweifelt entschieden.

Doch vermengt sie die Zeiten, vermischt minoische Zeichen

Mit den mykenischen Spuren und deutet den Sarkophag fälschlich,

Der aus Aghia Triada als Zeuge des Kreta der Alten

Stehe, obwohl seine Riten womöglich später entstanden.


Gimbutas kannte die Werke von Boyd Hawes nicht und erwähnt sie

Nicht in Zitaten, noch führte sie Bücher von ihr in den Listen.

Das verwundert nicht sehr, da Gimbutas spätere Zeiten

Forschend verfolgte und nicht in Kreta gegraben. Doch schade

Ist es, denn ihre Theorien gewännen an Schärfe,

Hätte sie frühere Werke geprüft und dazu sich geäußert.

Gimbutas wusste gewiß, daß Göttinnen einst hier verehret,

Doch vermied sie es stets, die Stärken und Schwächen zu wägen

Alter Theorien, sie kritischer Prüfung zu unterwerfen,

Um zu zeigen, worauf sie fußt, worin sie sich absetzt.

So gewährte sie ihren Kritikern den Raum für Behauptung,

Daß sie Althergebrachtes nur wiederholte in Schriften.

Doch dies stimmte nicht ganz, denn vieles, was andere lehrten,

Blieb noch gültig, und Gimbutas fügte Beweise hinzu.


Boyd Hawes und Williams fanden im Schrein nicht jene Belege,

Welche Zeiten bezeugen, und glaubten, das Heiligtum Kreta

Sei nicht später erneut besiedelt. Drum legten sie vorschnell

Die minoische Göttin ins späte Zeitalter festlich.

Williams spricht von Figuren, die gleich sich in Form und Gebärde

Phaistos barg und in Agia Triada gefunden.

Deren Herkunft verweist auf Zeiten der Alten Paläste.