DAS BUCH DER REVOLUTION


VON TORSTEN SCHWANKE



INHALT

DIE FRANZÖSISCHE

DIE DEUTSCHE

DIE RUSSISCHE

DIE CHINESISCHE




DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION



ERSTER GESANG


Ludwigs Eltern, Dauphin Ludwig Ferdinand 

und Maria Josepha von Sachsen, 

Tochter von Friedrich August II. 

Kurfürst von Sachsen und König von Polen, 

führten ein zurückgezogenes Familienleben 

in einem stillen Winkel von Versailles, 

abseits vom hektischen Hofleben. 

Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, 

dass der Vater vom König keinen Zugang 

zu Regierungsgeschäften und Verantwortung erhielt.


Ludwig erhielt die Namen 

seiner beiden Großväter Ludwig-August 

und den Titel Herzog von Berry. 

Die Geburt fand unter Anwesenheit des Hofes statt. 

Ein üblicher Vorgang bei möglichen Thronfolgern, 

damit von verlässlichen Repräsentanten der Monarchie, 

in diesem Fall in Gestalt von drei Ministern, 

die Abkunft des Neugeborenen bezeugt werden konnte. 

Ein Te Deum wurde vom König, wie üblich 

für einen männlichen Nachkommen, angeordnet. 

Ludwig hatte zum Zeitpunkt seiner Geburt 

eine Schwester, Zephyrine, 

und einen lebenden Bruder, Louis Joseph Xavier, 

Herzog der Bourgogne. 

Ludwig stand hinter Ludwig XV., 

seinem 35-jährigen Vater 

und seinem 3-jährigen Bruder 

an dritter Stelle der Thronfolge. 

Es galt als unwahrscheinlich, 

dass Ludwig-August die Thronfolge antreten würde.


Die Aufsicht über die Kinder 

wurde bei Hof durch lukrative Posten sichergestellt. 

Die Amme für Säuglingspflege und Ernährung 

konnte den Säugling nicht mit genügend Milch versorgen. 

Da der gutbezahlte Posten aber 

durch Beziehungen zum Innenminister 

vergeben worden war, wurde sie 

gegen keine der sechs zur Verfügung stehenden 

Ersatz-Ammen ausgetauscht. 

Nach einem Monat wurden die Hintergründe entdeckt 

und die Amme ersetzt. Der Schweizer Arzt Tronchin, 

Leibarzt von Voltaire, wurde herangezogen 

und verordnete einen Kuraufenthalt 

auf dem Besitz Bellevue bei Meudon. 

Diese Maßnahme rettete dem Säugling das Leben. 

Die Aufgabe der Pflege und Erziehung 

bis zum Alter von sechs Jahren erfüllte 

Comtesse de Marsan, Schwester 

des Marschalls Rohan-Soubise 

und Gouvernante der Kinder von Frankreich.


Der traditionelle Übergang 

zum Status des Erwachsenen 

erfolgte im Alter von sechs Jahren. 

Damit verbunden waren umfangreiche 

medizinische Untersuchungen. 

Es wurde festgestellt, dass das Kind 

bis auf Kurzsichtigkeit normal und gesund sei.


Der neue Lebensmittelpunkt 

wurde in einen neuen Hausstand am Hof verlagert, 

zusammen mit seinem älteren Bruder 

Louis Joseph Xavier 

und den nachgeborenen Brüdern, 

den späteren Königen Ludwig XVIII. und Karl X. 

Dafür wurde eigens Personal zusammengestellt. 

Als Louis Joseph Xavier am 22. März 1761 

an Tuberkulose starb, 

rückte Ludwig mit sechs Jahren 

hinter seinem Vater zum Thronfolger auf. 

Als sein Vater am 20. Dezember 1765 starb, 

wurde er mit elf Jahren selbst Thronfolger.


Die Eltern legten großen Wert 

auf eine universelle, umfassende Ausbildung, 

besonderes Interesse galt Geschichte, Religion, 

der Vermittlung von Gerechtigkeit 

und Regierungskunst.


Der für die Erziehung verantwortliche 

Herzog La Vauguyon wurde bei seiner Tätigkeit 

von Hauslehrern, wie Monseigneur Coetlosquet, 

Bischof von Limoges, 

und Abbé de Radonvilliers, 

einem Mitglied der Académie francaise, unterstützt. 

Die beiden Geistlichen standen den Jesuiten nahe. 

Der Vater und nach seinem Tod die Mutter 

überprüften die Lernerfolge ihrer Söhne. 

Der Vater bediente sich eines Jesuiten, 

Pater de Neuville. 

Dieser attestierte dem achtjährigen Berry 

weniger Lebhaftigkeit und Anmut 

als seinen Prinzenbrüdern. 

In Urteilsfähigkeit und Herzenseigenschaften 

stehe er ihnen aber in nichts nach. 

Gelobt wurden seine Kenntnisse in Latein 

und Geschichte und sein gutes Gedächtnis.


Die Erziehungsmethoden von La Vauguyon 

müssen auf Ludwig XVI. abschreckend gewirkt haben, 

denn als er als König einen Erzieher 

für seine Kinder auswählen musste, 

lehnte er den jungen La Vauguyon mit den Worten ab: 

Es tut mir leid, Sie ablehnen zu müssen, 

aber Sie wissen doch, dass Sie und ich 

so schlecht wie möglich erzogen worden sind.


Ludwigs Vorgänger als König 

war sein Großvater Ludwig XV. 

Als sein ältester Bruder starb, 

rückte Ludwig XVI. mit sechs Jahren 

zum nächsten Thronfolger nach seinem Vater auf. 

Als auch dieser starb, 

wurde Ludwig XVI. zum rechtmäßigen Nachfolger. 

Am 16. Mai 1770 heiratete der 15-jährige Kronprinz 

zur Festigung des französisch-österreichischen Bündnisses 

die ein Jahr jüngere habsburgische Prinzessin 

Marie Antoinette, Tochter des Kaisers Franz I. Stephan 

und der Kaiserin Maria Theresia.


Als sein Großvater Ludwig XV. 

am 10. Mai 1774 starb, 

wurde Ludwig XVI. mit 19 Jahren König. 

Er suchte zunächst einen Mentor 

und entschied sich für den 73-jährigen 

vormaligen Staatssekretär Graf von Maurepas. 

Die Krönung des Königs 

fand am 11. Juni 1775 in Reims statt. 

Das Volk begrüßte ihn bei seiner Thronbesteigung 

mit dem Beinamen „le désiré“, der Ersehnte, 

doch Ludwig XVI. lehnte diesen Namen 

aus Bescheidenheit ab.


Ludwig brachte es zustande, 

Frankreichs Position als Seemacht wieder zu stärken, 

indem er die Marine immens ausbaute. 

Diese konnte nun erneut mit jener Großbritanniens konkurrieren.

Frankreich konnte sich damit 

im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 

gegen die Engländer behaupten. 

1777 wurde die Unabhängigkeit 

der Vereinigten Staaten anerkannt, 

1778 trat Frankreich an der Seite der USA 

in den Krieg ein. 

Der anschließende heftige Seekrieg 

hatte seine Schwerpunkte in West- und Ostindien.


Durch Ludwigs militärische Intervention 

verhalf Frankreich den Amerikanern zur Unabhängigkeit 

und konnte 1783 auf der Siegerseite 

den Frieden von Paris vermitteln. 

Doch der Unabhängigkeitskrieg 

hatte ein gewaltiges Loch in die Staatsfinanzen gerissen, 

während er für Frankreich im Großen und Ganzen 

nur mit dem früheren Besitzstand endete.


Ludwig XVI. zeigte wenig Interesse, 

die Politik seines Bündnispartners Österreich zu unterstützen. 

Am 14. März 1778 bat Joseph II. 

den König angesichts eines drohenden 

österreichisch-preußischen Krieges 

um seine Vermittlung und fragte an, 

ob er im Falle einer preußischen Aggression bereit sei, 

Truppen zu stellen, wie im Vertrag von 1756 festgelegt. 

Am 30. März antwortete Ludwig, 

die Aufgabe eines Vermittlers 

gehe über seine Rolle hinaus, 

und im Falle einer preußischen Aggression 

könne er keine andere Position 

als die der Neutralität beziehen. 

Auch als Friedrich II. am 7. Juli 1778 

in Böhmen einmarschierte, 

erklärte sich Ludwig nicht zugunsten Österreichs. 

Als 1784 ein Krieg zwischen Österreich 

und den Niederlanden drohte, 

warnte er vor den unberechenbaren Folgen 

und bot an zu vermitteln. 

Nach dem Friedensschluss schloss er sogar 1785 

ein Bündnis mit Holland. 

Auch zögerte er trotz Marie Antoinettes Drängen, 

dem Plan des österreichischen Kaisers zuzustimmen, 

die Österreichischen Niederlande 

gegen Bayern zu tauschen.


In den ersten neun Jahren seiner Regentschaft 

war der König bei seinem Volk sehr populär. 

Der junge König setzte darauf, 

dass seine Beliebtheit das Funktionieren 

des Königtums garantiere, 

und so kam es, dass er einesteils 

den an ihn gestellten Anforderungen weit nachgab, 

zum Beispiel die Wiedereinsetzung der Parlamente, 

in der Meinung, dadurch das Beste 

seines Volkes zu fördern, 

andererseits sich keiner der gegeneinander 

mit immer wachsender Erbitterung 

streitenden Parteien anschloss 

und ihr durch sein Ansehen 

den Sieg zu verschaffen.


Ihm war es als einzigem König 

im 18. Jahrhundert gelungen, 

einen Krieg gegen England zu gewinnen. 

Aber genau dieser Sieg sollte sich 

als Mitursache seines Untergangs herausstellen. 

Es waren die Kosten des Krieges 

für die Staatskasse unerschwinglich 

und steigerten die Staatsverschuldung 

ins Unermessliche. 

Zum Anderen brachten die in Amerika 

eingesetzten Soldaten das Gedankengut 

der Amerikanischen Revolution 

unter das französische Volk. 

Außerdem betrieben die Adligen, 

allen voran der Herzog von Orléans, 

genannt Philippe Égalité, 

und die von Ludwig 1774 zurückgerufenen Parlamente, 

eine harte Oppositionspolitik gegen die Monarchie. 

Hinzu kam die zunehmende Unbeliebtheit 

der Königin beim Volk, 

die unter anderem durch die Halsbandaffäre 

1785 in Misskredit geriet. 

Der aufsehenerregende Prozess 

zeigte erstmals ein selbstbewusstes Parlament. 

Außerdem gab es widrige Umstände 

wie zwei schlechte Ernten 

und einen harten Winter 

mit Versorgungsproblemen für die Bevölkerung. 

Alle diese Faktoren mündeten 

in die Ereignisse des Jahres 1789.


Als die in der Öffentlichkeit stark beachteten 

Debatten der Notabeln-Versammlung 

zur Lösung des Staatsdefizits 

kein Ergebnis brachten 

und auf eine Beschränkung 

der königlichen Macht hinauszulaufen schienen, 

beschloss Ludwig am 25. Mai 1787, sie aufzulösen. 

Auf Vorschlag von Étienne Charles 

de Loménie de Brienne 

gebot er zudem in der Nacht vom 14. auf den 15. August 

dem Parlament, sich nach Troyes zurückzuziehen. 

Mit diesem Ereignis begannen 

die persönlichen Angriffe gegen den König. 

Am 26. August ernannte er Brienne 

zum leitenden Minister, ein Titel, 

den er bis dahin noch niemandem verliehen hatte. 

Zur Reformpolitik der neuen Regierung 

gehörte das Edikt von Versailles, 

das erste Ansätze zu einer religiösen Toleranz beinhaltete.


Brienne versuchte, den zögernden König 

zur Einberufung der Generalstände zu bewegen, 

um die drängenden Finanzprobleme zu lösen.

Am 19. November 1787 verlangten 

bei einer feierlichen Parlamentssitzung 

mehrere Redner nachdrücklich, 

die Generalstände bereits 1788 

oder 1789 einzuberufen. 

Als der König ausweichend antwortete, 

warf ihm der Herzog von Orléans vor, 

sein Verhalten sei ungesetzlich. 

Daraufhin ließ Ludwig seinen Cousin 

auf dessen Schloss verbannen, 

außerdem verbannte er zwei weitere Parlamentarier.


Um finanzielle Reformen zu verabschieden, 

berief der König 1789 die Generalstände ein, 

die seit 1614 nicht mehr zusammengetreten waren. 

Die Feierlichkeiten begannen am 4. Mai, 

wobei der König ohne besondere Bekundung 

der Freude begrüßt wurde. 

Am nächsten Tag erschien er 

zur Eröffnung der Generalstände. 

In seiner kurzen Ansprache erwähnte er 

nur das Problem der Staatsschuld 

und warnte vor einem übertriebenen Wunsch 

nach Neuerungen.


Am 17. Juni erklärten sich die Abgeordneten 

des Dritten Standes zur Nationalversammlung. 

Der König hielt sich zu dieser Zeit in Marly auf 

und konnte sich nicht dazu entschließen, 

dem Vorschlag des Finanzministers Necker zu folgen 

und den Forderungen des Dritten Standes 

entgegenzukommen. Dessen Bestrebungen 

gipfelten am 20. Juni im Ballhausschwur. 

Am 21. Juni hielt der König eine Rede 

an die Generalstände. 

Die Beratungen des Dritten Standes seien nichtig, 

ungesetzlich und wider die Grundsätze 

des Königreiches. Andererseits 

erklärte er sich bereit, die individuelle Freiheit, 

die Pressefreiheit und die Abstimmung 

der Generalstände nach Köpfen 

statt nach Ständen anzuerkennen.


Bei seiner Rückkehr nach Versailles 

fand er Neckers Rücktrittserklärung vor. 

Gleichzeitig zeigte sich erstmals 

eine aufgebrachte Menschenmenge vor dem Schloss 

und ergoss sich in Höfe und Säle. 

Auf dringende Bitten des Königs 

sah sich Necker veranlasst, 

seinen Rücktritt wieder rückgängig zu machen, 

und am 27. Juni ersuchte der König 

in einem Schreiben den Klerus und den Adel, 

sich dem Dritten Stand anzuschließen. 

Am selben Tag gab er jedoch auch den Befehl, 

Truppen am Rande der Hauptstadt zusammenzuziehen. 

Rings um Paris sammelten sich 

die Regimenter, und Ludwig ernannte 

am 30. Juni Victor-François de Broglie 

zum Generalmarschall der Truppen. 

Am 10. Juli erklärte Ludwig 

auf das Ersuchen der Versammlung hin, 

die Truppen seien da, um ihn zu schützen. 

Am 11. Juli entließ er Necker, 

am 13. Juli stellte er ein neues Kabinett zusammen 

mit de Broglie als Kriegsminister. 

Am Nachmittag des 13. Juli 

inspizierten der König und die Königin 

ausländische Regimenter, 

die kurz zuvor eingetroffen waren.


Am 14. Juli erfolgte in Paris der Sturm auf die Bastille. 

Etwas später erschien der König überraschend 

in der Nationalversammlung und kündigte an, 

er werde seine Truppen zurückziehen. 

Viele erleichterte Abgeordnete geleiteten ihn daraufhin 

zum Schloss und riefen: Es lebe der König! 

Dessen ungeachtet wurde am 16. Juli 

in einer Sitzung des Staatsrates 

der Plan diskutiert, Versailles zu verlassen 

und fern der Hauptstadt den Kampf 

gegen die Revolution aufzunehmen. 

Der König entschied sich jedoch zu bleiben 

und rief abermals Necker zurück. 

Als Zeichen seines guten Willens 

fuhr er am 17. Juli in die Hauptstadt, 

um den Neuerungen seine Zustimmung zu geben.


Am 29. Juli traf Necker, der in Basel 

von seiner Rückberufung erfahren hatte, 

in Versailles ein. Bei seiner Begrüßung 

durch den König erklärte er, 

seine Stellung gebiete Eifer für den König, 

er schulde aber keine Dankbarkeit. 

Am 25. August, dem Tag des heiligen Ludwig, 

kamen wie üblich die Schöffen, Offiziere 

und Marktweiber der Stadt nach Versailles, 

um ihre Glückwünsche zu überbringen, 

diesmal jedoch in Begleitung der Nationalgarde 

und des Magistrates.


Da der König zögerte, die Beschlüsse 

der Nationalversammlung zu unterschreiben 

und am 14. September das Régiment de Flandre 

nach Versailles verlegte, 

wuchs das Misstrauen erneut. 

Am 21. September bat Mirabeau 

im Namen der Nationalversammlung 

den König, er möge erklären, 

warum er die Truppen gerufen habe. 

Am 23. September traf das Regiment 

mit 1100 Infanteristen in Versailles ein. 

Am 1. Oktober veranstaltete die 600 Mann 

starke Leibwache des Königs 

mit dessen Zustimmung ein Bankett 

mit 210 Gedecken für das „Régiment de Flandre“, 

bei dem auch die königliche Familie erschien. 

Am 3. und 4. Oktober gab es erneut Bankette 

für das Regiment Flandern.


Die Berichte über diese Gelage 

lösten in Paris, wo hungernde Menschen 

vor den Bäckereien Schlange standen, 

Empörung aus. Am 4. Oktober 

riefen Demagogen wie Marat und Danton 

das Volk zu den Waffen. 

Am 5. Oktober brach dennoch der König 

zur Jagd in den Wäldern von Meudon auf. 

Zahlreiche aufgebrachte Bürger, 

darunter viele Weiber (Poissarden) 

und Nationalgardisten strömten unterdessen 

nach Versailles. Gegen drei Uhr am Nachmittag 

kam der König zurück und beriet mit seinen Ministern, 

was zu tun sei. Er empfing eine Delegation 

der Weiber, die nach Brot schrien, 

schickte sie in die Küche und versprach, 

dass es an Brot nicht fehlen werde. 

Mounier bat den König, jetzt die Erklärung 

der Menschen- und Bürgerrechte zu unterschreiben, 

doch der König war unentschlossen. 

Als er befahl, die Kutschen anzuspannen, 

stürzte sich die Menge auf die Wagen, 

zerschnitt das Geschirr und führte die Pferde weg. 

Der König sah sich genötigt, 

nun die Dekrete zu unterschreiben. 

Das aufgebrachte Volk schien beruhigt, 

und der König verbrachte noch einmal 

eine Nacht im Schloss.


Am frühen Morgen des 6. Oktober jedoch 

drang noch vor Tagesanbruch 

eine mit Spießen und Messern bewaffnete Horde 

in das Schloss ein. Als die Menge 

nach dem König rief, überredete ihn La Fayette, 

er möge sich dem Volk zeigen. 

Die königliche Familie zeigte sich auf dem Balkon, 

während La Fayette zu der Menge sprach. 

Die Menge schrie: Nach Paris! Nach Paris! 

Tatsächlich sah sich der König gezwungen, 

mit seiner Familie nach Paris 

in den Palais des Tuileries umzuziehen. 

Die königliche Familie saß dabei, umgeben 

von einer dichtgedrängten Menge, in einer Kutsche, 

der die Köpfe von zwei getöteten 

Leibwächtern vorangetragen wurden. 

Um neun Uhr abends traf der König im Rathaus ein 

und zeigte sich mit seiner Familie 

einer jubelnden Menschenmenge auf dem Balkon, 

um zehn Uhr kam er in den Tuilerien an.


In diesem anfänglichen Stadium der Revolution 

erließ die Nationale Versammlung 

am 10. Oktober 1789 

anlässlich der Diskussion über die Art, 

Gesetze zu verkündigen, 

die neue Formel Ludwigs: 

Ludwig, durch die Gnade Gottes 

und des konstitutionellen Gesetzes des Staates 

König der Franzosen. 

Ab diesem Zeitpunkt trug Ludwig also 

den Titel Roi des Français. 

Zwischen „Roi des Français“ und „Roi de France“ 

gibt es nicht nur einen grammatischen, 

sondern einen fundamentalen Bedeutungs- 

und Statusunterschied: Als „Roi de France“ 

schulden die Franzosen ihm Treue und gehören ihm, 

während er als „Roi des Français“ 

den Franzosen gehört und ihnen Treue schuldet.


Ludwig selbst war lange Zeit populär 

und stand den Reformen der Revolution 

zunächst aufgeschlossen gegenüber. 

Dies hatte er bereits mit der Abschaffung 

der Folter bekundet, 

auch schuf er öffentliche Arbeitsplätze, 

indem er beispielsweise Notleidende, 

die für einen gerechten Lohn arbeiten sollten, 

Sümpfe entwässern ließ. 

Doch die in der Revolution geforderte Volkssouveränität 

war ein deutlicher Bruch mit den gültigen Prinzipien 

der Monarchie. Entsprechend 

wurde die Revolution von der herrschenden Elite 

Frankreichs und den übrigen 

europäischen Herrschern abgelehnt.


Nach und nach wurden aus Versailles 

Möbel und andere Gegenstände 

in die zuvor größtenteils leerstehenden Tuilerien gebracht. 

Bälle, Jagden, Theater und Konzerte 

gab es hier nicht mehr. Am 4. Februar 1790 

verkündete Ludwig vor der Nationalversammlung 

feierlich, er und die Königin 

nähmen die Verfassung vollständig an. 

Am 6. Juni 1790 durfte die Königsfamilie 

mit Erlaubnis der Nationalversammlung 

nach Saint-Cloud reisen. 

Der König unternahm wieder lange Jagdpartien, 

es wurden Komödien gespielt, 

Konzerte gegeben und Spazierfahrten unternommen. 

Am 14. Juli reiste er nach Paris zurück, 

um am Föderationsfest 

auf dem Champ de Mars teilzunehmen. 

Der König schwor auf Nation und Gesetz, 

aber nicht wie gewünscht am Vaterlands-Altar 

in der Mitte des Platzes. 

Wieder zurück in Saint-Cloud 

nahm er den abermaligen Rücktritt Neckers entgegen, 

der die Finanzkrise nicht hatte lösen können, 

und bildete ein neues Kabinett 

aus Anhängern La Fayettes. 

Ende Oktober kehrte das Königspaar nach Paris zurück, 

wo es eisig empfangen wurde. 

Am 13. November zog der Pöbel zu den Tuilerien, 

und der König flüchtete ins Dachgeschoss, 

doch die postierte Nationalgarde 

konnte die Menge abdrängen. 

Am 28. Februar 1791 hingegen zogen Adlige, 

mit Degen, Jagdmessern und Pistolen bewaffnet, 

zu den Tuilerien, um das Königspaar 

vor Angriffen zu schützen. 

La Fayette entwaffnete sie im Beisein des Königs.


Obwohl die königliche Familie 

die Erlaubnis erhalten hatte, 

über Ostern ein paar Tage in Saint-Cloud zu verbringen, 

wurde sie von der Nationalgarde 

mit aufgepflanzten Bajonetten 

über zwei Stunden in ihrer Karosse 

am Losfahren gehindert 

und von einer wütenden Menge beschimpft. 

Der König kehrte schließlich in das Schloss zurück.


Als der Druck auf Ludwig und seine Familie 

immer größer wurde, unternahm er 

in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 1791 

die Flucht nach Varennes 

in die Österreichischen Niederlande. 

Die Flucht endete vorzeitig 

in dem kleinen Ort Varennes, 

nachdem Ludwig anhand seines Konterfeis 

auf einer Münze 

von dem Sohn eines Postmeisters 

erkannt worden war. Die königliche Familie 

wurde anschließend von Angehörigen 

der Nationalgarde nach Paris zurückgeführt 

und der König kurzfristig 

von seinen Ämtern suspendiert. 

Ludwig war nun faktisch in Gefangenschaft, 

auch wenn er noch einige 

seiner Privilegien genießen konnte. 

In einer Befragung durch drei Abgeordnete 

am 25. Juni hinsichtlich seiner Flucht 

wurde er schonend behandelt, 

zumal er seine Verbundenheit 

mit der Verfassung beteuerte. 

Gleichzeitig knüpfte er wieder Kontakte 

zu den europäischen Fürstenhöfen. 

Am 13. Juli verkündete die Kommission 

zur Aufklärung der „Entführung“ Ludwigs, 

dem König sei nichts vorzuwerfen. 

Das Ergebnis der Kommission wurde angenommen 

und der König für unantastbar erklärt. 

Da sie zu diesem Zeitpunkt keine Alternative 

zur geplanten Einführung 

der konstitutionellen Monarchie 

in der Verfassung sahen, einigten sich 

die Abgeordneten der Nationalversammlung darauf, 

den Fluchtversuch als „Entführung“ auszugeben, 

und beließen Ludwig im Amt. 

Daraufhin begehrten die Gegner des Königs auf, 

und es kam am 17. Juli 1791 

zum Massaker auf dem Marsfeld.


Am 27. August erklärten der österreichische 

Kaiser Leopold II. und König 

Friedrich Wilhelm II. von Preußen 

in der Pillnitzer Deklaration ihr Ziel, 

den König von Frankreich in die Lage zu versetzen, 

in vollkommener Freiheit die Grundlage 

einer Regierungsform zu befestigen, 

welche den Rechten der Souveräne 

und dem Wohle Frankreichs entspricht.


Von äußeren Kräften bedrängt, 

akzeptierte der König die Verfassung 

des 3. September 1791. 

Am 14. September schwor der König 

in der Reithalle, dem Tagungsort 

der Nationalversammlung, 

der neuen Verfassung die Treue. 

Frankreich wurde zur konstitutionellen Monarchie. 

Der König galt nun nicht mehr 

als Herrscher von Gottes Gnaden, 

sondern als erster Repräsentant des Volkes. 

Den Gesetzen der Nationalversammlung 

hatte er durch seine Unterschrift 

Rechtskraft zu verleihen, allenfalls 

konnte er durch sein aufschiebendes Veto 

ihr Inkrafttreten hinauszögern.


Mit fröhlicher Miene nahm der König 

an den Feierlichkeiten des 18. September teil. 

In offener Kutsche fuhr das Königspaar 

am Abend über die Champs-Élysées, 

und zuweilen ertönte der Ruf: Es lebe der König! 

Das Vertrauen der meisten Abgeordneten 

in seinen guten Willen hatte Ludwig 

durch seinen Fluchtversuch indes 

nachhaltig erschüttert. Das Ereignis 

gab republikanischen Gruppierungen 

in der Nationalversammlung starken Auftrieb. 

Als der König Ende 1791 sein Veto 

gegen zwei Dekrete einlegte, 

verstärkte sich das Misstrauen.


Am 20. April 1792 legte er der Nationalversammlung 

die Kriegserklärung gegen Österreich vor. 

Heimlich sandte er jedoch den Journalisten 

Jacques Mallet-du-Pan zum Kaiser 

und zu den deutschen Fürsten 

und ließ ihnen mitteilen, er wolle 

den Konflikt zum Anlass nehmen, 

um seine Macht wiederherzustellen.


Bald kam es zu schweren Rückschlägen 

in Belgien, wo Truppen 

ihre adeligen Offiziere im Bunde 

mit dem Feind wähnten 

und ihnen den Gehorsam verweigerten. 

Am 18. Mai beschworen die versammelten Generäle 

den König in Valenciennes, 

so schnell wie möglich um Frieden zu bitten. 

Dieser hingegen legte wieder gegen zwei Dekrete 

sein Veto ein, entließ am 12. Juni 

seine girondistischen Minister 

und berief ein gemäßigtes Ministerium. 

Am 20. Juni drang eine bewaffnete Menschenmenge 

in das Schloss ein und verlangte vom König, 

sein Veto zurückzunehmen. 

Stattdessen erklärte er 

der aufgebrachten Ansammlung stundenlang, 

die Jakobinermütze auf dem Haupt, 

er werde von seinen Entscheidungen nicht abgehen. 

Das eine Veto richtete sich gegen das Dekret, 

zum Schutz der Hauptstadt ein Lager 

für 20.000 Mann der Nationalgarde zu errichten, 

das andere gegen den Beschluss, alle Priester, 

die von den Bürgern denunziert würden, zu deportieren. 

Gegen zehn Uhr abends leerten sich allmählich 

die Höfe und Parkanlagen.


Am 11. Juli erklärte die Nationalversammlung 

das Vaterland in Gefahr. 

Am 14. Juli, dem Jahrestag des Sturmes auf die Bastille, 

legte der König am Altar des Vaterlandes 

den Eid auf die Verfassung ab. 

Am 25. Juli 1792 veröffentlichte 

Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig 

ein Manifest, in dem er der Stadt Paris 

und ihren Bewohnern eine beispiellose 

und für alle Zeiten denkwürdige Rache androhte, 

sollten sie Ludwig oder seiner Familie etwas antun. 

Dies Manifest wurde von den Revolutionären 

als Beweis einer Kollaboration von Ludwig XVI. 

mit den Feinden Frankreichs verstanden. 

Ludwigs Erklärung, er werde alles tun, 

dass Frankreich im Krieg den Sieg davontrage, 

überzeugte nicht mehr. 

Als die Nationalversammlung es ablehnte, 

über die Absetzung des Königs zu beraten, 

beschlossen die Sektionen der Hauptstadt, 

den Aufruf der Jakobiner zu befolgen 

und die Monarchie gewaltsam zu stürzen.


Nach dem Sturm auf die Tuilerien 

am 10. August 1792 wurde der König 

mit seiner Familie am 13. August 1792 

im Kloster der Feuillanten verhaftet 

und im Temple eingekerkert. 

Bei der zwei Stunden dauernden Überführung 

saß die königliche Familie in einer 

von nur zwei Pferden gezogenen Hofkarosse, 

die von Nationalgardisten begleitet wurde, 

während von allen Seiten Spottverse 

und Beschimpfungen erschollen. 

Da er nicht mehr König war, wurde er von nun an 

nur noch Bürger Louis Capet angesprochen.


Anlässlich der ersten Sitzung des Nationalkonvents 

wurde am 21. September 1792 die Republik ausgerufen 

und der König offiziell entthront. 

Als Ludwig das entsprechende Dekret vorgelesen wurde, 

ließ er sich nichts anmerken. 

Am nächsten Tag erfuhr er, 

dass die französischen Truppen in der Kanonade 

von Valmy die Preußen zurückgeschlagen hätten.


Am 29. September wurde Ludwig 

in den großen Wehrturm gebracht, 

in den man drei Wochen später auch 

die übrigen Familienmitglieder einquartierte. 

Die Haftbedingungen wurden ständig verschärft, 

und schließlich entdeckte man beim König 

eine Schatulle, die viel belastendes Material enthielt. 

Aus diesen Papieren ging hervor, dass der König 

in Kontakt mit Emigranten gestanden hatte, 

heimlich mit Österreich verhandelte 

und Politiker der Revolution bestochen hatte.


Am 3. Dezember nahm der Konvent ein Dekret an, 

in dem der König vorgeladen wurde. 

Ihm wurde ab dem 11. Dezember 

vor dem Nationalkonvent in der Salle du Manège 

der Prozess gemacht. 

Robespierre betonte vor dem Konvent: 

Wenn nicht der König schuldig ist, 

dann sind es die, die ihn abgesetzt haben. 

Somit konnte nach Robespierres Darstellung 

der Konvent, der Ankläger und Richter 

in einer Person war, den König gar nicht freisprechen, 

da dies einer Selbstanklage gleichgekommen wäre.


Die Abstimmung zog sich über mehr als 24 Stunden 

vom 16. bis zum 17. Januar 1793 hin. 

Ein Antrag der Girondisten, 

über Schuld oder Unschuld des ehemaligen Königs 

das Volk abstimmen zu lassen, 

wurde mit 426 zu 278 Stimmen abgelehnt. 

Mit 387 zu 334 Stimmen sprach der Konvent ihn schuldig 

der Verschwörung gegen die öffentliche Freiheit 

und die Sicherheit des gesamten Staates. 

Eine Aussetzung der Todesstrafe 

wurde mit 380 zu 310 Stimmen abgelehnt.


Am Vormittag des 21. Januar 1793 

wurde Ludwig auf der Place de la Révolution 

vom Henker mit einer Guillotine enthauptet.


Am 16. Oktober 1793 wurde 

nach einem kurzen Prozess 

auch seine Frau Marie-Antoinette 

auf dem Revolutionsplatz guillotiniert. 

Sein überlebender Sohn Louis Charles 

starb im Alter von zehn Jahren 

im Temple-Gefängnis.


Ludwig wurde zunächst auf dem Friedhof 

de la Madeleine beigesetzt und 1815 

in die Basilika Saint-Denis überführt.




ZWEITER GESANG


Rousseaus Vater Isaac lebte von 1672-1748 

und war ein Uhrmacher und Forscher, 

dessen protestantische Vorfahren aus Glaubensgründen 

von Frankreich in die damals unabhängige Stadtrepublik 

Genf ausgewandert waren.


Von 1705 bis 1711 lebte Isaac Rousseau 

in Konstantinopel, wo er als Uhrmacher 

des Sultans am Serail Genfer Uhren reparierte. 

Sein Cousin Jacques Rousseau, 

Vater des französischen Orientalisten 

Jean-François Xavier Rousseau, 

folgte ihm von Genf zwischenzeitlich 

als Hofjuwelier nach Konstantinopel.


Rousseaus Mutter Suzanne Bernard 

war Tochter eines Genfer evangelischen Pastors. 

Das Paar lebte bei Jean-Jacques Rousseaus Geburt 

im Haus ihres Vaters im Zentrum von Genf.


Die Mutter starb 1712 in Genf, 

neun Tage nach Rousseaus Geburt, 

am Kindbettfieber. In der Folge 

übernahm eine jüngere Schwester 

des Vaters den Haushalt. 

Sie kümmerte sich liebevoll um das oft kränkelnde 

und empfindsame Kind. 

Eine andauernde körperliche Belastung 

wird oft als einer der Gründe 

für die empfindliche Gereiztheit angesehen, 

die Rousseau zeit seines Lebens charakterisierte.


Der Vater förderte schon früh 

die Leselust seines Sohnes, 

indem er nächtelang gemeinsam mit ihm las, 

unter anderem die Biographien Plutarchs, 

die lebenslang Rousseaus Lieblingslektüre bildeten. 

1718 zogen Vater und Sohn 

in das ärmere Handwerkerviertel St. Gervais 

auf der anderen Rhone-Seite.


1722 änderte sich die Situation 

des Zehnjährigen drastisch. 

Der Vater flüchtete nach einer Rauferei 

mit einem Offizier, in dessen Verlauf er 

diesen mit einem Degenstich verletzt hatte, 

aus Genf vor der drohenden Gefängnisstrafe. 

Den Sohn ließ er in der Obhut seines Schwagers, 

Gabriel Bernard, zurück. 

Während der nächsten zwei Jahre lebte Rousseau 

bei Pfarrer Lambercier in Bossey, 

wo er Unterricht erhielt. 

Mit zwölf ging er zunächst 

bei einem Gerichtsschreiber 

mit Namen Masseron (ein für Rousseau 

schmählich endender Aufenthalt), 

ein Jahr später bei einem Graveur 

namens Abel Ducommun in die Lehre. 

An der letzteren Tätigkeit fand er 

zwar mehr Gefallen als an der vorigen; 

Leselust und Träumereien 

erschwerten jedoch Freundschaften 

unter den Altersgenossen 

und führten immer wieder zu Bestrafungen. 

1726 heiratete Rousseaus Vater ein zweites Mal; 

seitdem zeigte er nur noch ein geringes 

Interesse an dem Jungen.


Als Rousseau im März 1728 

bei der späten Rückkehr von einem Sonntagsausflug 

das Stadttor verschlossen fand, 

was davor bereits zweimal geschehen war 

und ihm jeweils eine Prügelstrafe eingebracht hatte, 

folgte er einer schon länger gehegten Idee 

und ging auf Wanderschaft. 

In Savoyen lernte er nach einigen Tagen 

einen katholischen Geistlichen kennen, 

der den Kontakt zu Madame de Warens 

in Annecy vermittelte. 

Sie war soeben aus der Schweiz 

nach Savoyen ausgewandert 

und Katholikin geworden; 

in Annecy lebte sie unter dem Schutz 

der katholischen Geistlichkeit. 

Madame de Warens nahm Rousseau auf, 

schickte ihn aber auf kirchlichen Ratschlag hin 

schon drei Tage später nach Turin. 

Dort ließ er sich nach vierteljähriger Unterweisung 

im Hospiz der Katechumen katholisch taufen. 

Die Reise dorthin unternahm er in Begleitung 

eines Bauernpaars zu Fuß. 

Seinen Lebensunterhalt verdiente er in Turin 

als Diener, später als Sekretär in adligen Häusern.


Ein Jahr später kehrte er zu Madame de Warens zurück. 

Ihrem Vorschlag folgend, trat er für kurze Zeit 

in das Priesterseminar von Annecy ein. 

Anschließend vermittelte sie ihn 

an den Leiter der Dom-Musikschule, 

da er ihr während der Hausmusikstunden 

als talentierter Sänger aufgefallen war. 

Der Schulleiter nahm ihn bei sich auf 

und unterrichtete ihn in Chorgesang und Flöte. 

Es folgten einige fruchtbare Monate, 

in denen Rousseau die Grundlagen 

seiner Musikkenntnisse erwarb.


Als sein Lehrer eine neue Stelle in Lyon antrat, 

begleitete Rousseau ihn zunächst, 

kehrte dann aber nach Annecy zurück. 

Da jedoch Madame de Warens 

nach Paris gereist war, ging Rousseau 

erneut auf Wanderschaft. 

Das führte ihn unter anderem nach Lausanne, Nyon, 

wo er auch den Vater besuchte, 

ins preußische Neuchâtel 

und im Sommer 1731 zum ersten Mal nach Paris. 

In Neuchâtel versuchte er sich 

erfolglos als Musiklehrer. 

Während seiner Wanderschaft litt Rousseau 

immer wieder große Armut. 

Sie zwang ihn zum Betteln, 

brachte ihn aber auch mit den notleidenden 

Bauern in Verbindung.


Im April 1731 begegnete Rousseau 

auf einem Spaziergang in Boudry 

einem italienisch sprechenden Mann 

mit einem großen schwarzen Bart 

und einem veilchenfarbenen Gewand 

nach griechischer Art, 

der angab, als griechisch-katholischer Prälat 

und Archimandrit von Jerusalem 

in Europa Mittel für die Wiederherstellung 

des Heiligen Grabs in Jerusalem zu sammeln. 

Rousseau ließ sich dazu bewegen, 

den vermeintlichen Archimandriten 

als Sekretär und Dolmetscher zu begleiten. 

Sie sammelten zunächst Geld 

in Freiburg sowie Bern und reisten 

anschließend nach Solothurn 

zum französischen Gesandten weiter. 

Bei diesem handelte es sich 

um den Marquis Jean-Louis d'Usson de Bonnac, 

der zuvor Botschafter 

im Osmanischen Reich gewesen war 

und den angeblichen Prälaten und Archimandriten 

als Schwindler enttarnte. 

Da Rousseau bei Marquis de Bonnac 

einen guten Eindruck erweckt hatte, 

konnte er sich einige Tage in der Residenz aufhalten 

und dann mit Empfehlungsbriefen 

und hundert Franken Reisegeld 

nach Paris reisen.


In Paris erhielt Rousseau sich, 

indem er in den Dienst eines jungen Schweizers eintrat. 

Nachdem er aber erfahren hatte, 

dass Madame de Warens sich wieder 

in Savoyen aufhielt, diesmal in Chambéry, 

kehrte er zu seiner dreizehn Jahre älteren „Mama“, 

wie er sie nannte, zurück. 

Sie nahm ihn nun wie einen Ziehsohn auf 

und vermittelte ihm eine Schreiberstelle 

im Katasteramt, die er jedoch 1732, 

nach acht Monaten, wieder aufgab, 

um als Musiklehrer zu arbeiten.


Es folgten fünf glückliche Jahre, 

die für seine fast gänzlich autodidaktisch 

erworbene Bildung sehr wichtig waren. 

Er las, musizierte, experimentierte 

und begann zu schreiben. 

Die Gastgeberin führte den anfänglich Widerstrebenden 

auch in die Liebeskunst ein, 

hatte allerdings mit dem bei ihr 

als Faktotum beschäftigten Claude Anet 

neben Rousseau noch einen weiteren Liebhaber. 

1735 pachtete Madame de Warens 

das vor den Toren Chambérys gelegene 

Anwesen Les Charmettes. 

Dieser Ort verkörperte für Rousseau 

in den kommenden drei Jahren 

das Ideal eines geordneten 

und glücklichen Lebens.


Im Sommer 1736 erlitt er 

durch einen Explosionsunfall 

bei chemischen Experimenten 

eine Augenverletzung, 

weswegen er sich im Herbst 

zu einem Arzt nach Montpellier begab. 

Als er Anfang 1738 zurückkehrte, 

hatte Madame de Warens mit ihrem neuen 

Sekretär und Hausverwalter 

Jean-Samuel-Rodolphe Wintzenried 

ein Verhältnis begonnen. 

Zwar bot sie Rousseau ein erneutes 

Dreiecksverhältnis an, doch dies lehnte er ab. 

Dennoch blieb er weitere zwei Jahre bei ihr, 

bis er im Frühjahr 1740 eine Stelle 

als Hauslehrer bei der Familie Mably in Lyon antrat.


Nachdem er im Frühjahr 1741 

noch einmal nach Les Charmettes zurückgekehrt war, 

reiste er im Sommer 1742 nach Paris, 

um ein von ihm entwickeltes, 

auf Zahlen basierendes Notensystem 

von der Académie des sciences patentieren zu lassen. 

Er durfte es dort präsentieren, 

bekam ein Zertifikat 

und ließ Anfang 1743 seine Präsentation 

als Dissertation sur la musique moderne 

im Druck erscheinen. 

Auch lernte er den Komponisten 

Jean-Philippe Rameau kennen, 

der Rousseaus System zwar für die ihm eigene 

Exaktheit lobte, gleichzeitig aber geltend machte, 

es sei der abstrakteren Notenschrift, 

die den Verlauf der Melodie veranschauliche, 

unterlegen. Auch sonst setzte sich Rousseaus 

Notationssystem nicht durch.


Immerhin erhielt er Zugang 

zum bekannten literarischen Salon 

von Madame Dupin und lernte führende 

Köpfe der Stadt kennen. 

Auch begann er, die Oper 

Die galanten Musen zu komponieren. 

Im Sommer 1743 reiste er nach Venedig, 

wo er für den neuen französischen Gesandten 

als Gesandtschaftssekretär arbeitete. 

Rousseau zerstritt sich jedoch mit seinem Herrn 

und kehrte schon im Herbst 1744 nach Paris zurück.


In Paris machte Rousseau 1745 

die Bekanntschaft verschiedener Mäzene, 

so die des Alexandre Le Riche de La Pouplinière, 

mit dessen Hilfe er seine fertiggestellte Oper 

aufführen ließ. Vor allem knüpfte er Kontakte 

zu anderen jungen Intellektuellen, 

darunter Denis Diderot, 

Étienne Bonnot de Condillac 

und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, 

den Herausgebern der 1746 

von Diderot initiierten Encyclopédie. 

Es folgten weitere literarische Versuche. 

Zeitlebens blieb seine Existenz 

durch große materielle Unsicherheit bestimmt.


Ebenfalls 1745 begann er ein festes Verhältnis 

mit der Wäscherin Thérèse Levasseur, 

die im Folgejahr ihr erstes Kind gebar. 

Auf sein Drängen hin übergab sie dieses 

einer Einrichtung für Findelkinder. 

Auch die vier später geborenen Kinder 

verschwanden in Waisenhäusern. 

Rousseaus unväterliches Verhalten 

wird bis heute als schwerster Einwand 

gegen seine Persönlichkeit erhoben; 

auch schon seinerzeit, so etwa von Voltaire. 

Insbesondere Rousseaus Glaubwürdigkeit 

als pädagogischer Theoretiker 

wird von hier aus in Frage gestellt. 

Rousseau selbst führte eine ganze Reihe 

von Entschuldigungsgründen an: 

Hätte ich sie der Frau von Epinay 

oder der Frau von Luxembourg überlassen, 

die sich sei es aus Freundschaft, sei es aus Edelmut 

oder aus irgend einem andern Grunde später 

ihrer haben annehmen wollen, 

wären sie wohl zu gesitteten und gebildeten 

Leuten erzogen worden? Ich weiß es nicht; 

aber davon bin ich überzeugt, 

dass man sie zum Hasse, vielleicht zum Verrat 

ihrer Eltern getrieben hätte; 

es ist hundertmal besser, 

dass sie sie gar nicht gekannt haben. 

Sein wichtigstes Argument war, 

dass seine Arbeit schlecht oder gar nicht bezahlt sei, 

weshalb Thérèse weitgehend allein 

für den Lebensunterhalt der beiden 

habe aufkommen müssen und sich nicht 

zusätzlich mit Kindern habe belasten können.


1749 war ein entscheidendes Jahr für Rousseau. 

Zu Jahresbeginn beauftragte ihn d’Alembert 

mit der Abfassung musikologischer Artikel 

für die Encyclopédie. 

Im Herbst besuchte er den in der Festung Vincennes 

inhaftierten Diderot und las unterwegs 

in der Zeitschrift Mercure de France 

die Preisfrage der Académie von Dijon: 

Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften 

und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu läutern? 

Er verneinte in seiner Abhandlung 

über die Wissenschaften und die Künste 

eindeutig die Frage, da – wie er später 

in seiner staatstheoretischen Schrift 

Du contrat social weiter ausführte – 

der Mensch im Naturzustand unabhängig und frei lebe, 

in der auf Konventionen beruhenden Gesellschaft 

aber ein gefesselter Sklave sei: 

Der Mensch ist frei geboren, 

und liegt überall in Ketten. 

Künste und Wissenschaften verschleiern nur 

das Schicksal des modernen Menschen, 

die Zivilisationsgeschichte wird 

wie in seinen anderen philosophischen Schriften 

zu einer Geschichte des Niedergangs. 

Die nach Luxus strebende zeitgenössische 

europäische Gesellschaft sah er 

in die sittliche Dekadenz abgleiten. 

Der Diskurs lief den Vorstellungen 

vieler Intellektueller der Zeit zwar völlig entgegen, 

stieß bei anderen jedoch auf Interesse. 

Rousseau erhielt 1750 den ersten Preis 

und wurde, auch dank der Diskussion, 

die er auslöste, über Nacht europaweit bekannt. 

Seine Einkünfte stiegen, 

und er konnte mit Thérèse 

in eine gemeinsame Wohnung ziehen. 

Allerdings gab das Paar 1751 

auch ein drittes Neugeborenes im Findelhaus ab.


Ende 1752 wurde mit großem Erfolg 

seine Oper „Der Dorfwahrsager“ 

zunächst vor dem Hof 

und 1753 auch in Paris aufgeführt. 

Als Rousseau dem König vorgestellt werden sollte, 

entzog er sich der Ehrung 

und versäumte damit die Zuweisung 

einer jährlichen Pension. 

Nach dem Erfolg der Oper 

wurde vom Théâtre Français auch 

seine Komödie Narcisse, 

ein Jugendwerk, angenommen.


Statt sich zu etablieren, begab sich Rousseau 

nun sogar in eine Art fundamentaler Opposition, 

da er mit seiner Oper im Buffonistenstreit 

als Retter der konservativen 

französischen Partei dastand, 

was er keinesfalls wollte. 

Noch 1754 begann er eine zweite kritische Preisschrift. 

Daneben erregte er den Zorn nicht nur 

des Opernorchesters (das eine Rousseau-Puppe erhängte) 

mit seiner Lettre sur la musique française, 

in der er den französischen Musikstil 

zugunsten des italienischen herabsetzte. 

1754 reiste er (mit einer Zwischenstation 

bei Madame de Warens) nach Genf, 

nahm die Staatsbürgerschaft 

der Genfer Republik wieder an 

und kehrte zum Protestantismus zurück.


1755 publizierte er, vorsichtshalber in Amsterdam, 

seine Abhandlung über den Ursprung 

und die Grundlagen der Ungleichheit 

unter den Menschen, die wiederum 

die Antwort auf eine Preisfrage 

der Académie de Dijon war: 

Was ist der Ursprung der Ungleichheit 

unter den Menschen, und lässt sie sich 

vom Naturrecht herleiten? 

Rousseau, der ärmliche Kleinbürger, 

erklärt hierin die soziale Ungleichheit 

zunächst grundsätzlich aus der geschichtlichen Tatsache 

der Vergesellschaftung des Menschen – 

wodurch jeder sich mit jedem vergleicht 

und Neid sowie Missgunst erwachsen – 

sodann aus der Etablierung des Privateigentums: 

Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte 

und es sich einfallen ließ zu sagen: 

dies ist mein, und der Leute fand, 

die einfältig genug waren, ihm zu glauben, 

war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.


In der Folge erklärt Rousseau 

die soziale Ungleichheit 

aus der Herausbildung der Arbeitsteilung 

und der dadurch ermöglichten Aneignung 

der Erträge der Arbeit vieler durch einige wenige, 

die anschließend autoritäre Staatswesen organisieren, 

um ihren Besitzstand zu schützen. 

Rousseau wurde mit dieser wahrhaft revolutionären 

Schrift einer der Begründer 

des europäischen Sozialismus.


Anfang 1756 lehnte er den Bibliothekarsposten ab, 

den ihm die Stadt Genf angeboten hatte. 

Stattdessen siedelte er um nach Montmorency 

nördlich von Paris als Gast 

der vielseitig interessierten, 

selbst schriftstellernden Madame d’Épinay, 

einer Freundin von Diderot. 

Mit diesem und dem Kreis der Philosophen um ihn 

verfeindete er sich allerdings 1758, 

als er auf den kritischen Artikel „Genf“, 

den d’Alembert für die Encyclopédie verfasst hatte, 

mit dem Lettre à d’Alembert sur les spectacles reagierte, 

worin er, der einstige Theaterautor, das Theater, 

dieses Lieblingskind der Aufklärung, 

als unnütz und potentiell unsittlich anprangerte.


Von April 1756 bis Dezember 1757 

fand er in einer Einsiedelei 

unweit des Schlosses von Madame Louise d’Épinay, 

dem Château de la Chevrette in Deuil-la-Barre, Zuflucht.

Danach, bis zum 8. Juni 1762, 

fand er Unterkunft beim Marschall 

von Montmorency-Luxembourg, 

Charles François de Montmorency, 

sowie bei dessen Frau 

Madeleine Angélique de Neufville, 

die gesellschaftliche Salons veranstaltete.


In Montmorency, wo er 1758 ein Häuschen mietete 

und vorübergehend auch Gast 

des hochadligen Duc de Luxembourg war, 

schrieb er innerhalb von knapp sechs Jahren 

seine bei den Zeitgenossen erfolgreichsten 

und wirksamsten Werke: erstens 

den empfindsamen Briefroman Julie 

oder Die neue Heloise, 

der die letztlich unmögliche Liebe 

des bürgerlichen Intellektuellen Saint-Preux 

zu der adligen Julie d’Étanges darstellt 

und von Rousseaus Leidenschaft 

für die Schwägerin von Madame d’Épinay, 

Madame d’Houdetot, inspiriert war; 

zweitens den Bildungsroman Émile, 

in dem er dafür eintritt, einerseits Kinder 

ihre Kindheit durchleben zu lassen 

und von korrumpierenden gesellschaftlichen 

Einflüssen fernzuhalten (negative 

und natürliche Erziehung) und andererseits 

sie dazu anzuleiten, die Gesetzmäßigkeiten 

der Natur anhand ausgewählter Lehrszenen 

selbst zu entdecken und die Strukturen, Werte 

sowie Normen der Gesellschaft 

in der arbeitsteilig gegliederten Gesellschaft 

selbst zusammen mit dem Mentor zu erleben 

und im Gespräch zu bedenken (kritische Sozialisation); 

schließlich drittens die staatstheoretische Schrift 

Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes, 

die die Rechte der Individuen gegenüber dem Staat, 

aber auch dessen Ansprüche gegenüber den Individuen 

zu definieren und zu begründen versucht 

und den heute so wichtigen Begriff 

der Volkssouveränität prägt, 

auf dem die Legitimität von Volksentscheiden 

und allgemeinen Wahlen gründet.


Während Julie oder Die neue Heloise 

sofort nach seinem Erscheinen Anfang 1761 

ein großer Erfolg war und eine Welle 

von Briefromanen in ganz Europa auslöste 

(darunter Goethes Werther), 

wurde der Contrat social nach seinem Erscheinen 

im April 1762 verboten, ebenso Émile, 

als er Ende Mai erschien. 

Die Sorbonne verurteilte das Buch Anfang Juni, 

das Parlement von Paris verbot es wenige Tage danach 

und erließ einen Haftbefehl gegen den Autor. 

Stein des Anstoßes war vor allem das 

im Émile im 4. Buch als Einschub enthaltene

Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“. 

In diesem Text trägt Rousseau 

zunächst eine Philosophie von Erkenntnis und Moral vor, 

in der die Stellungnahme des eigenen Herzens 

und Gewissens eine alles beherrschende Rolle spielt. 

Es folgt der Entwurf einer „natürlichen Religion“, 

verbunden mit einer scharfen Kritik jeglicher Religion, 

die sich auf Offenbarung gründet. 

Neben den französischen Autoritäten, 

darunter dem Erzbischof von Paris 

Christophe de Beaumont, 

waren insbesondere die calvinistischen Oberen 

in Genf entrüstet. Sie verboten das Buch noch im Juli 

und erließen ebenfalls Haftbefehl gegen seinen Autor. 

In Genf wie in Paris wurden Exemplare 

des Émile verbrannt, in Genf 

auch des Gesellschaftsvertrags.


Rousseau, der sofort geflüchtet war, 

fand Aufnahme bei einem Freund, 

Daniel Roguin, in Yverdon, 

wurde aber sehr rasch ausgewiesen.

Im Juli wandte er sich über den Gouverneur Keith 

der damaligen preußischen Exklave Neuchâtel 

an Friedrich den Großen, 

der ihm Asyl und etwas später sogar 

Bürgerrecht gewährte. 

Rousseau ließ sich nieder 

im neuenburgischen Städtchen Motiers, 

wohin er Thérèse nachholte und wo er begann, 

sich als Armenier zu kleiden. 

Noch vor Ende 1762 datiert 

eine erste Verteidigungsschrift Rousseaus, 

ein offener Brief an den Pariser Erzbischof, 

der im August den Émile ebenfalls verurteilt hatte.


Anfang 1763 stellte er in Motiers 

sein wohl noch in Montmorency begonnenes 

Dictionnaire de la musique fertig. 

1764 begann er mit botanischen Studien.


1765 lebte Rousseau vom 12. September 

bis zum 25. Oktober auf der St. Petersinsel 

im Bieler See, die, wie er bekennt, 

glücklichsten Monate seines Daseins. 

Er zog sich in die Natur zurück, 

suchte auf der Insel Einsamkeit, 

begann ihre Pflanzen zu erfassen 

und verfasste eine Flora Petrinsularis; 

gleichzeitig besuchten ihn dort Berühmtheiten 

aus ganz Europa. 

Der Berner Geheime Rat wies ihn aus.


Ende 1765 fühlte er sich auch in Motiers 

unwillkommen und verfolgt, 

nicht zuletzt vielleicht, weil er begonnen hatte, 

sich als Armenier zu kleiden. 

Er nahm deshalb eine Einladung 

des Philosophen David Hume an 

und ließ sich einen Durchreise-Pass 

für Frankreich ausstellen. 

Unterwegs konnte er feststellen, 

dass er inzwischen durchaus 

auch Sympathisanten hatte. 

Bei einem Aufenthalt in Straßburg 

wurde er mit einer Aufführung 

des Dorfwahrsagers geehrt, 

in Paris war er Gast des Prince de Conti 

und empfing in dessen Haus Besuche.


Das Jahr 1766 und die erste Jahreshälfte 1767 

verbrachte er überwiegend in England, 

anfangs bei Hume, 

mit dem er sich aber zerstritt 

und der ihn attackierte. 

Immerhin fand er auch in England Sympathisanten vor, 

die den König bewogen, ihm eine Pension zu gewähren. 

1767 und 1768 lebte er 

an verschiedenen Orten Frankreichs, 

unter anderem auf einem Schloss von Conti. 

Da der Haftbefehl des Pariser Parlaments 

nicht aufgehoben war, reiste er 

unter einem Decknamen 

und gab Thérèse als seine Schwester aus. 

1769 und 1770 lebten sie auf einem Bergbauernhof 

in der südostfranzösischen Dauphiné, 

nachdem sie im August 1768 dort geheiratet hatten.


Ab 1763 verfasste Rousseau eine ganze Reihe 

kürzerer und längerer autobiografischer Texte, 

darunter seine 1765–1770 geschriebenen, 

später berühmt gewordenen Confessions 

(Die Bekenntnisse), die erst posthum publiziert wurden. 

Darin schildert er auch intime Details 

aus seinem Leben sowie eigene Verfehlungen. 

Vor allem diese Schrift begründete die Untergattung 

der selbstentblößenden Autobiografie. 

Den Titel wählte er in Anlehnung 

an den der Confessiones des Augustinus von Hippo.


Im Frühjahr 1770 verließ er seinen Bergbauernhof 

Richtung Paris. Bei einem Aufenthalt in Lyon 

ließ der Vorsteher der Kaufmannschaft 

ihm zu Ehren seinen Dorfwahrsager 

und sein lyrisches Kleindrama Pygmalion aufführen, 

in dem er es offenbar als erster 

in der Geschichte dieses Stoffes wagte, 

den Künstler sein Kunstwerk 

ohne göttliche Hilfe beleben zu lassen. 

Ab Juni lebte er wieder, zurückgezogen 

und von den Behörden geduldet, 

mit Thérèse in Paris. 

Er wurde hin und wieder zu Lesungen eingeladen 

und da seine Ideen sich nun weiter verbreiteten, 

sammelten sich Bewunderer um ihn, 

darunter ab 1771 der später sehr bekannte Autor 

Bernardin de Saint-Pierre.


Etwa seit 1762 war Rousseau 

den nervlichen Belastungen 

aufgrund der zahlreichen Verunglimpfungen 

und Verfolgungen nicht mehr gewachsen. 

Seine Ängste und Abwehrhandlungen 

nahmen teilweise wahnhafte Züge an.


1772–1775 verfasste Rousseau 

den autobiografischen Dialog 

Rousseau juge de Jean-Jacques. 

1774 gab er sein Dictionnaire 

des termes d’usage en botanique 

in Druck. 1776–1778 schrieb er 

sein letztes längeres Werk, 

die in lyrischer Prosa gehaltenen Träumereien 

des einsamen Spaziergängers, 

die auf ebenfalls neue Art Gegenwartsmomente 

zum Ausgangspunkt von autobiografischen 

Rückblicken machen und mit ihrem Einfangen 

von Naturstimmungen 

als eine Vorbereitung der Romantik gelten.


Im Mai 1778 folgte er einer Einladung 

des Marquis René Louis de Girardin 

auf dessen Schlösschen Ermenonville. 

Als er den Tod kommen fühlte, 

sprach er darüber freimütig und ohne Scheu 

zu seiner Frau, und als sie in Tränen ausbrach, sagte er: 

Warum weinst Du? Es ist ja mein Glück, 

ich sterbe in Frieden. 

Niemand wollte ich Leid antun 

und rechne mit der Gnade Gottes. 

Er ließ das Fenster öffnen, 

sah in den schönen Tag hinein und sagte: 

Wie rein und lieblich ist der Himmel, 

keine Wolke trübt ihn. Ich hoffe, 

der Allmächtige nimmt mich da hinauf zu sich.


In Ermenonville starb er wenig später, 

wahrscheinlich an einem Schlaganfall. 

Er wurde auf der „Insel der Pappeln“ 

im Schlosspark, dem heutigen 

Parc Jean-Jacques Rousseau, begraben. 

Seine Witwe Thérèse wohnte noch etwa ein Jahr 

in dem für ihn bestimmten Haus.




DRITTER GESANG


Diderot war das zweitälteste Kind 

des wohlhabenden jansenistischen 

Messerschmiedemeisters Didier Diderot 

aus Langres (Champagne) 

und dessen Ehefrau Angélique Vigneron, 

der dreizehnten Tochter eines Gerbers. 

Sein Großvater Denis Diderot 

heiratete am 20. Juni 1679 Nicole Beligné, 

eine Tochter des Messerschmiedemeisters 

François Beligné. Das Paar 

hatte insgesamt neun Kinder, 

unter ihnen der Vater von Denis Diderot.


Denis Diderot wurde am 5. Oktober 1713 geboren 

und schon am nächsten Tag 

in der Église paroissiale Saint-Pierre-Saint-Paul 

zu Langres nach römisch-katholischem Ritus getauft. 

Diderot hatte noch fünf jüngere Geschwister, 

von denen jedoch zwei im Kindesalter starben. 

Zu seiner Schwester Denise Diderot 

hatte er zeitlebens ein sehr gutes Verhältnis, 

er nannte sie Soeurette. 

Zu seinem jüngeren Bruder Didier-Pierre Diderot,

einem späteren Geistlichen 

und Stiftsherrn von Langres, 

war seine Beziehung konfliktbeladen. 

Eine weitere Schwester, Angélique Diderot, 

trat dem Ursulinen-Orden bei.


Ab seinem 12. Lebensjahr 

bereiteten seine Eltern ihn 

auf das Priestertum vor. 

Am 22. August 1726 erhielt er 

vom Bischof von Langres die Tonsur 

und damit die niederen Weihen. 

Er hatte jetzt das Recht, sich als Abbé zu bezeichnen 

und geistliche Kleidung zu tragen. 

In näherer Zukunft sollte er 

die Kanonikus-Pfründe seines Onkels mütterlicherseits, 

des Kanonikus Charles Vigneron 

an der Kathedrale Saint-Mammès de Langres, 

übernehmen. Langres war ein wichtiges Zentrum 

des Jansenismus.


In Langres besuchte Diderot eine Jesuitenschule.

In Paris wurde Diderot zunächst 

am Lycée Louis-le-Grand aufgenommen, 

dann wechselte er an das jansenistisch orientierte 

Collège d’Harcourt. Das Kolleg-Studium 

beendete er am 2. September 1732 

mit dem Grad eines Magister Artium. 

Er unterließ es, das geplante Theologiestudium 

abzuschließen, schloss aber sein Studium 

an der Sorbonne am 6. August 1735 

als Bakkalaureus ab.


Ab 1736 war Diderot als Anwaltsgehilfe 

bei dem ebenfalls aus Langres stammenden 

Advokaten Louis Nicolas Clément de Ris tätig. 

Als er 1737 diese Stelle aufgab, 

beendete sein Vater die regelmäßigen Geldzuwendungen. 

Diderot lebte jetzt vier Jahre 

von schriftstellerischen Aufträgen, 

so schrieb er Predigten für Geistliche 

und arbeitete als Hauslehrer 

bei einem reichen Finanzier, 

nebenbei lernte er Englisch. 

Es war eine Zeit chronischer Geldnot. 

Zeitweise half ihm der Karmelit Frater Angelus 

oder seine Mutter, die sogar ihre Dienstmagd 

Hélène zu Fuß nach Paris schickte, 

um ihn finanziell zu unterstützen. 

Auch ein Monsieur Foucou aus Langres, 

ein Freund seines Vaters, 

der sich als Künstler und Dentist in Paris betätigte, 

hat Diderot häufiger mit Geld ausgeholfen.


Diderot begeisterte sich für das Theater 

und führte bald das Leben eines Bohémien. 

An Mathematik stark interessiert, 

lernte er den Mathematiker und Philosophen 

Pierre Le Guay de Prémontval kennen 

und besuchte 1738 dessen Vorlesungen, 

ebenso die von Louis-Jacques Goussier. 

Andere Bekannte aus dieser Zeit waren 

der Literat Louis-Charles Fougeret de Monbron, 

der spätere Kardinal François-Joachim de Pierre de Bernis 

und der spätere Polizeipräfekt von Paris Antoine de Sartine.


Seit 1740 schrieb Diderot Artikel 

für den Mercure de France 

und die Observations sur les écrits modernes. 

In dieser Zeit besuchte er auch Anatomie- 

und Medizinvorlesungen bei César Verdier.


Im Jahr 1740 lebte Diderot zunächst in einem Haus 

in der Rue de l’Observance 

im heutigen 6. Arrondissement, 

unweit der École de médecine, 

eine Etage unter dem deutschen Kupferstecher 

Johann Georg Wille. Wille beschrieb ihn 

als einen sehr umgänglichen jungen Mann, 

der ein guter Schriftsteller und wenn möglich, 

ein noch besserer Philosoph sein wollte. 

Noch im selben Jahr zog er mehrfach um, 

so in die Rue du Vieux-Colombier, 

ebenfalls im 6., und in die Rue des Deux-Ponts 

im heutigen 4. Arrondissement.


Später übernahm Diderot Übersetzertätigkeiten 

aus dem Englischen in das Französische. 

Englisch lernte er mittels 

eines lateinisch-englischen Wörterbuchs. 

1742 übersetzte er die Geschichte Griechenlands 

von Temple Stanyan. 

Robert James hatte Anfang der 1740er Jahre 

das dreibändige englische Lexikon 

A medicinal dictionary geschrieben. 

Der französische Arzt Julien Busson 

überarbeitete und erweiterte es 

zu einem sechsbändigen Werk, 

Dictionnaire universel de médicine, 

welches zwischen 1746 und 1748 von Diderot, 

François-Vincent Toussaint und Marc-Antoine Eidous 

ins Französische übertragen 

und von Busson gegengelesen wurde.


Ferner übersetzte Diderot 1745 

Shaftesburys Untersuchung über die Tugend. 

Die Ideen Shaftesburys beeinflussten 

die französische Aufklärung stark. 

Für Diderot waren die Abneigung 

gegen dogmatisches Denken, 

die Toleranz und die an humanistische Ideale 

angelehnte Moral besonders wichtig. 

Diderot las mit großem Interesse die Essais 

von Michel de Montaigne.


In diesen Jahren befreundete Diderot sich 

mit anderen jungen Intellektuellen, 

wie d’Alembert, Abbé Étienne Bonnot de Condillac 

und Melchior Grimm. Er verkehrte 

im Café de la Régence und im Café Maugis, 

das auch von Jean-Jacques Rousseau besucht wurde; 

im Juli 1742 lernte Diderot ihn kennen. 

Rousseau, Condillac und Diderot trafen sich 

zeitweise einmal wöchentlich 

in einem Restaurant in der Nähe 

des Palais Royal, dem Panier fleuri.


Anne-Antoinette Champion, genannt Nanette, 

lebte 1741 mit ihrer Mutter in der Rue Boutebrie, 

wo die beiden Frauen von Weißnäherei 

und Spitzenklöppelei lebten. 

Diderot wohnte zu dieser Zeit 

in einem kleinen Zimmer desselben Hauses. 

Als er 1743 die besitzlose, 

bekennend katholische Nanette heiraten wollte 

und wie üblich seinen Vater um Erlaubnis bat, 

ließ dieser ihn Kraft seiner väterlichen Autorität 

in einem Karmeliterkloster bei Troyes einsperren. 

Diderots Antipathie gegen die Kirche 

und die Institution Kloster liegt wohl auch 

in dieser Erfahrung begründet, eine Antipathie, 

die sich später noch steigerte, 

als seine jüngste Schwester freiwillig 

ins Kloster ging und dort psychisch erkrankte. 

Diderot konnte nach einigen Wochen fliehen, 

er kehrte nach Paris zurück 

und heiratete Anne-Toinette Champion 

heimlich am 6. November 1743. 

Das Verhältnis von Anne-Toinette 

zum Schwiegervater normalisierte sich später, 

spätestens 1752 war es ein freundliches.


Die Familie wohnte zunächst 

in der Rue Saint-Victor im 5. Arrondissement, 

1746 zog sie in die Rue Traversière, 

im April gleichen Jahres weiter 

in die Nummer 6 Rue Mouffetard, 

ebenfalls 5. Arrondissement. 

In der Nähe wohnte der Polizeioffizier 

François-Jacques Guillotte, 

der ein Freund Diderots wurde.


Seit 1747 wohnte die Familie Diderot 

in der Nummer 3 Rue de l’Estrapade, 

von 1754 bis 1784 dann im 4. und 5. Stockwerk 

eines Hauses in der Rue Taranne, 

am 7. und 6. Arrondissement liegend.


In seinem Essay Regrets sur ma vieille robe de chambre 

ou Avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune 

beschrieb Diderot sein Arbeitszimmer 

im vierten Stockwerk. 

Ein Stuhl aus Strohgeflecht, 

ein einfacher Holztisch 

und Bücherbretter aus Tannenholz, 

an den Wänden einfache italienische Farbtapeten, 

zusätzlich rahmenlose Kupferstiche, 

einige Alabasterbüsten 

von Horaz, Vergil und Homer. 

Der Tisch war bedeckt mit Druckbögen und Papieren. 

Im fünften Stockwerk, 

unter dem Dachgeschoss hatte er 

die Redaktion der Enzyklopädie eingerichtet. 

Bei einem Freund, dem Juwelier Étienne-Benjamin Belle, 

in Sèvres, Nummer 26 Rue Troyon, 

mietete Diderot im November 1767 

ein zusätzliches Appartement. 

Dorthin zog er sich bis kurz vor seinem Tode 

regelmäßig zum Arbeiten zurück. 

Sein letztes Domizil – hier verbrachte er 

die letzten Tage seines Lebens – 

lag in der Nummer 39 Rue de Richelieu 

im 2. Arrondissement von Paris.


Das Paar hatte vier Kinder, 

von denen drei sehr früh starben, 

Angélique, Jacques François Denis, Denis-Laurant 

sowie Marie-Angélique. Marie-Angélique 

heiratete am 9. September 1772 den Industriellen 

Abel François Nicolas Caroillon de Vandeul. 

Er war der Sohn von Diderots Jugendliebe 

Simone la Salette 

und ihrem Ehemann Nicolas Caroillon.


Diderot hatte zwei Enkel, 

Marie Anne, früh verstorben, und den späteren Politiker 

Denis-Simon Caroillon de Vandeul, 

der Eugénie Cardon heiratete. 

Dieser Ehe entstammen die drei Urenkel Diderots, 

Abel François Caroillon de Vandeul, 

Marie Anne Wilhelmine Caroillon de Vandeul 

und Louis Alfred Caroillon de Vandeul.


Ein interessantes Faktum ist, 

dass sein Bruder Didier-Pierre Diderot 

von 1743 bis 1744 ebenfalls 

zum Studieren in Paris lebte. 

Er besuchte ein Katholisches Priesterseminar 

und studierte zusätzlich noch Jurisprudenz. 

Am Freitag den 9. Dezember 1746 

beendete er sein Studium 

und ging zurück nach Langres. 

Denis’ Verhältnis zu seinem Bruder 

Didier-Pierre Diderot war immer schwierig. 

Die Einladung zur Hochzeit Marie-Angéliques 

beantwortete dieser rüde und kam nicht. 

Am 14. November 1772 kam es 

zum endgültigen Bruch zwischen den Brüdern.


Seine Frau, die Mutter seiner Kinder, 

war die Seele seines Hauses, 

und Diderot tolerierte auch ihre strenge Gläubigkeit. 

Während der Zeit dieser Ehe 

führte er aber daneben weitere intime Beziehungen: 

Ab 1745 war er mit Madeleine de Puisieux liiert, 

einer Abenteurerin, wie emanzipierte 

und unverheiratet lebende Frauen 

(meist besserer Herkunft und Bildung) genannt wurden. 

Im Jahr 1755 lernte Diderot Sophie Volland kennen, 

die ihm eine lebenslange Gefährtin 

und Seelenfreundin wurde, 

beide führten einen regen empfindsamen Briefwechsel. 

Es war das Jahr des Erdbebens von Lissabon, 

das die Theodizee-Diskussion neu aufwarf. 

Vom Frühjahr 1769 bis 1771 hatte Diderot 

dann eine weitere intime Beziehung 

mit Jeanne-Catherine Quinault, 

die er bereits seit 1760 kannte. 

Im August 1770 traf er sich mit ihr 

und ihrer Tochter in Bourbonne-les-Bains 

und kurte dort mit ihnen im Thermalbad. 

Kurz danach schrieb er 

Die beiden Freunde aus Bourbonne.


Diderot verkehrte weiter mit Pariser Intellektuellen, 

im Café Procope, auch im Café Landelle. 

So lernte er Alexis Piron kennen. 

Über diesen Kreis kam er in Kontakt 

zur Salonnière und Schriftstellerin Louise d’Épinay 

sowie zu Paul Henri Thiry d’Holbach. 

Er wurde Teil des Coterie holbachique.


Im Café de la Régence am Place du Palais-Royal 

spielte Diderot regelmäßig Schach. 

Mit François-André Danican Philidor, 

dem besten Spieler dieser Zeit, war er befreundet; 

beider Familien trafen sich regelmäßig. 

Philidors Schachlehrer François Antoine de Legall, 

einem regelmäßigen Besucher des Cafés, 

setzte Diderot in „Rameaus Neffe“ 

ein literarisches Denkmal.


Diderots philosophische Ansichten hatten sich 

inzwischen weit von den christlichen Ideen 

des Vaterhauses entfernt. 

Seine Zweifel daran, sein Übergang 

zu einem von der Vernunft geprägten Theismus 

wurden 1746 öffentlich 

mit dem zu Ostern verfassten Essay 

Pensées philosophiques. 

Dieser machte ihn, obgleich anonym erschienen, 

einer größeren Leserschaft bekannt. 

Das religionskritische Werk 

wurde vom Pariser Parlament verurteilt 

und öffentlich verbrannt. 

Die weitere Entwicklung seiner Positionen 

hin zu einem eindeutigen Materialismus 

markieren La promenade du sceptique 

und der Brief über die Blinden 

zum Gebrauch für die Sehenden, 

später dann die Pensées sur l’interprétation de la nature.


Ab 1747 folgte die intensive Arbeit an der Encyclopédie. 

Im Jahre 1749 wurde sie jedoch unterbrochen.


Der Kriegsminister Frankreichs, 

Marc-Pierre d’Argenson, 

forderte am 22. Juli 1749 den Generalleutnant 

der Polizei Nicolas René Berryer auf, 

einen königlichen Haftbefehl für Diderot auszustellen. 

Am 24. Juli 1749, um halb acht Uhr morgens, 

wurde Diderot von Joseph d’Hémery, 

Kommissar und Inspektor 

der königlichen Zensurbehörde, verhaftet. 

Er wurde verhört 

und in die Festung Vincennes gebracht.


Diderot wurde die Veröffentlichung 

der Pensées philosophiques 

und des Briefes über die Blinden 

zum Gebrauch für die Sehenden, 

in denen er seine materialistische Position dargelegt hatte, 

sowie das Arbeiten an weiteren 

gegen die Religion gerichteten Schriften 

zur Last gelegt. Schon zwei Jahre zuvor 

war er vom Pfarrer seiner Gemeinde 

Saint-Médard, Pierre Hardy de Lévaré, 

als gottloser, sehr gefährlicher Mensch 

beschrieben worden. Eine gewisse Rolle 

soll auch gespielt haben, dass eine einflussreiche Frau, 

Madame Dupré de Saint-Maur, sich 

für eine herabsetzende Äußerung Diderots rächen wollte.


Rousseau besuchte ihn regelmäßig im Gefängnis. 

Die Buchhändler, an zügiger Arbeit 

an der Encyclopédie interessiert, 

beschwerten sich über die Verhaftung. 

Diderot selbst intervenierte brieflich 

bei René Louis d’Argenson 

und Nicolas René Berryer. 

Am 3. November 1749 wurde er entlassen. 

Er musste sich hierfür schriftlich verpflichten, 

keine blasphemischen Schriften mehr 

zu veröffentlichen. Um den Fortgang 

der Encyclopédie nicht zu gefährden, 

ließ er daher in den folgenden Jahren vieles unpubliziert.


Die Erfahrung seiner Inhaftierung 

prägte sich Diderot tief ein 

und ließ ihn künftig mit größerer Vorsicht vorgehen. 

Viel später, am 10. Oktober 1766, 

bekannte Diderot in einem Brief an Voltaire, 

bezogen auf seine Arbeit an der Encyclopédie, 

dass seine Seele voller Angst 

vor einer möglichen Verfolgung sei, 

er aber dennoch nicht fliehen werde, 

da eine innere Stimme ihm befehle, weiter zu machen, 

teils aus Gewohnheit, teils aus Hoffnung, 

dass schon am nächsten Tage 

alles anders aussehen könne.


1747 übernahm Diderot die Leitung der Arbeit 

an der Encyclopédie als Herausgeber, 

zunächst gemeinsam mit d’Alembert, 

ab 1760 mit Louis de Jaucourt. 

Den Gesamtplan zu entwerfen, 

Autoren zu gewinnen 

und deren Zusammenarbeit zu organisieren, 

um das Druckprivileg 

und gegen die Zensur zu kämpfen 

und außerdem noch mehr als 3000 Artikel 

selbst zu schreiben, war Arbeit für Jahre. 

Wo nötig erweiterte Diderot hierfür 

seinen Wissensbereich. So besuchte er 

von 1754 bis 1757 regelmäßig 

die Chemievorlesungen Guillaume-François Rouelles. 

Bei den unausweichlichen Kämpfen 

wurde Diderot durch die Freimaurer unterstützt.


Diderot schrieb in dieser Zeit außerdem 

Romane und Erzählungen, Stücke für das Theater, 

er arbeitete an einer Theatertheorie 

und zur Erkenntnistheorie. 

Vieles hiervon wurde zunächst nicht publiziert, 

manches kam jedoch durch Abschriften 

bereits an die Öffentlichkeit. 

Ein wichtiger Mitarbeiter wurde ihm hierbei 

Jacques-André Naigeon, 

auch als Sekretär d’Holbachs tätig, 

der Texte redigierte und bearbeitete 

und auch für die Encyclopédie schrieb. 

Er gab später, 1798, eine erste, 

wenn auch unvollständige, Werkausgabe heraus.


Trotz all dieser Arbeit nahm Diderot 

am regen gesellschaftlichen Leben 

der Philosophen teil – der kritisch eingestellten 

Pariser Intellektuellen, 

wie Condillac, Turgot, Helvétius und d’Holbach – 

ebenso besuchte er adlige Salons. 

Seit dem Winter 1752/53 hatte er auch Briefkontakt 

zu Madame de Pompadour, 

die dem Journal von Marc-Pierre d’Argenson zufolge 

1752 Verbindung zu den Enzyklopädisten 

aufgenommen hatte. Später empfing sie 

einige von ihnen, auch Diderot, 

zu informellen Diners und Gesprächen.


Spannungen gab es jedoch. 

So beklagte Diderot sich 1757 bei Grimm 

über eine Einladung durch d’Holbach 

auf das Château du Grand Val: 

er zweifle, ob er ihr folgen solle, 

sei der Baron doch ein despotischer 

und launischer Mensch. 

Später hielt er sich allerdings mehrfach dort auf, 

ebenso auf dem Château de la Chevrette 

in Deuil-la-Barre, dem Besitz von Louise d’Épinay. 

In Briefen an Sophie Volland schilderte Diderot 

seinen Tagesablauf im Grand-Val: 

Neben Lesen, Nachdenken und Schreiben, 

Spaziergang und Gesprächen mit d’Holbach, 

allgemeiner Konversation und den Mahlzeiten 

gehörten auch Tric Trac und Piquet dazu.


Im Juli 1765 beendete Diderot 

die Arbeit an der Encyclopédie. 

Fast 20 Jahre hatten er und seine Familie 

von den Zahlungen der Verleger und Buchhändler gelebt, 

Rechte auf Tantiemen besaß er nicht. 

So kamen nun lediglich Einnahmen 

aus dem väterlichen Erbe aus Langres. 

Dmitri Alexejewitsch Golizyn und Grimm 

retteten die Situation. 

Sie vermittelten den Verkauf von Diderots Bibliothek 

an Katharina II. von Russland, 

sie wurde nach seinem Tod 

nach Sankt Petersburg transportiert, 

für 16.000 Livre. Katharina II. besoldete ihn zudem 

zeitlebens als Bibliothekar seiner eigenen Bibliothek 

mit 1000 Livre pro Jahr und stattete ihn mit Geld 

für Neuanschaffungen aus. 

1773 fuhr Diderot für einige Monate 

an den Hof von Sankt Petersburg.


Das Geld ermöglichte es seiner Tochter 

Marie-Angélique, ab 1765 

Cembalo-Unterricht zu nehmen, 

zunächst bis 1769 bei der Pianistin 

Marie-Emmanuelle Bayon Louis, 

dann bei dem Musiktheoretiker 

und Komponisten Anton Bemetzrieder. 

Dieser machte sie 1771 zu einer Hauptperson 

seines musikalischen Lehrwerks, 

den Leçons de Clavecin, 

et Principes d’Harmonie.


Diderots Bibliothek ging 

(wie auch die Voltaires) 

in die 1795 gegründete Russische Nationalbibliothek ein. 

Mit deren Beständen wurde sie jedoch später zerstreut, 

eine begleitende Aufstellung ging verloren. 

Sie konnte nur lückenhaft über die Register 

der Diderot mit Büchern versorgenden Verleger 

rekonstruiert werden.


Die Zarin Katharina II. hatte Denis Diderot 

schon im Jahr 1762 nach Russland eingeladen, 

dort sollte er die Enzyklopädie vollenden. 

Diderot sagte ab, blieb aber mit dem General 

und Schulreformer Iwan Iwanowitsch Bezkoi 

in Verbindung, um eventuell später 

eine zweite redigierte Ausgabe der Enzyklopädie 

in Russland zu veröffentlichen. 

Als Diderot 1773 nach Russland aufbrach, 

war die Enzyklopädie fertiggestellt, 

seine Tochter verheiratet 

und er seiner Mäzenin zu Dank verpflichtet. 

Am 11. Juni 1773 verließ Diderot Paris 

zu seiner einzigen längeren Reise 

mit dem Ziel Sankt Petersburg.


Die Reise ging zunächst über Den Haag 

in das Herzogtum Kleve, 

wo er seinen späteren Reisebegleiter 

Alexei Wassiljewitsch Naryschkin traf. 

In Den Haag wohnte er bis zum 20. August 1773 

bei dem russischen Botschafter 

Dmitri Alexejewitsch Fürst von Gallitzin 

und seiner Ehefrau Amalie von Gallitzin. 

Nach krankheitsbedingter Pause 

fuhr Diderot weiter ins Kurfürstentum Sachsen. 

Über Leipzig und Dresden ging es, 

unter Vermeidung der preußischen Residenzen 

Potsdam und Berlin, weiter nach Königsberg, 

Memel, Mitau, Riga und Narva. 

Am 8. Oktober 1773 erreichte Diderot 

den Zarensitz an der Newa.


In Sankt Petersburg kam Diderot, 

krankheitsgeschwächt, zunächst bei Naryschkin 

und dessen älteren Bruder Semjon unter. 

Dort hütete er zunächst noch das Bett.


Vom 15. Oktober 1773 an wurde Diderot 

von der Zarin – mitunter dreimal pro Woche – 

zu regelmäßigen Audienzen empfangen. 

Als Vertreterin des aufgeklärten Absolutismus 

versprach sie sich davon Anregungen 

für ihre Reformpolitik. 

Sie hatte bereits mit Voltaire korrespondiert 

und sich gerade den französischen aufklärerischen Denkern 

als nahestehend empfohlen, 

seit sie 1767 ihre umfangreiche Instruktion 

über Rechtsgrundsätze an die russische 

gesetzgebende Kommission veröffentlicht hatte, 

in der sie sich insbesondere an die Schriften 

Montesquieus sehr stark angelehnt hatte. 

Aufgabe der neu gebildeten Kommission war, 

ein System einheitlicher Rechtsprechung 

für das gesamte Russische Reich zu schaffen.


Diderot hatte während seines Aufenthalts 

kaum Gelegenheit, die Verhältnisse 

im Zarenreich genau und direkt kennenzulernen, 

so dass seine Empfehlungen gemeinhin 

abstrakt bleiben mussten. 

Den Inhalt seiner Gespräche mit der Zarin 

legte er in den Entretiens avec Catherine II nieder. 

Er unterstützte etwa das Bemühen 

um eine einheitliche Rechtsprechung, 

kritisierte aber nachdrücklich die autokratische, 

absolutistische Monarchie.


Die Gespräche und Erfahrungen 

in Sankt Petersburg ließen Diderot später, 

besonders in seiner Auseinandersetzung 

mit der Instruktion der Zarin unter dem Titel 

Observations sur l’instruction de l’impératrice de Russie, 

deutlich abrücken von der in Gesetze gegossenen 

monarchie pure“, wie sie Katharina II. vorschwebte. 

Er propagierte Glück und Freiheit 

als Ziele aller Gesellschaften und als Aufgabe, 

der sich Herrscher wegbereitend zu stellen hätten. 

Er forderte die vollständige Beseitigung 

der Leibeigenschaft und ein Ende 

des kirchlichen politischen Machteinflusses. 

Weiter erwartete Diderot, 

am Leitbild der Volkssouveränität orientiert, 

von der Kaiserin eine deutliche Selbstbeschränkung 

ihrer absoluten Macht.


Dies erfuhr die Zarin erst nach Diderots Tod. 

Vor seiner Abreise beauftragte sie ihn, 

einen Plan zur Reform 

des russischen Erziehungssystems zu entwickeln, 

um die Ideen der französischen Aufklärung 

im Zarenreich zu verbreiten. 

Diderot schrieb den Plan des gesamten Schulwesens 

für die russische Regierung 

oder einer öffentlichen Erziehung 

in allen Wissenschaften. 

Darin forderte er etwa, die akademische Ausbildung 

dürfe sich nicht einzig an der unmittelbaren 

Verwendbarkeit durch die Krone 

oder an der Staatsräson orientieren. 

Grimm brachte die Abhandlung nach Russland.


Gegenüber Louis-Philippe de Ségur, 

dem französischen Gesandten in Sankt Petersburg 

von 1783 bis 1789, äußerte die Zarin: 

Hätte sie alle Ideen und Vorstellungen Diderots 

in das politische Handeln einfließen lassen, 

wäre das gesamte Zarenreich 

auf den Kopf gestellt worden. 

Und sie sagte Diderot zum Ende 

seines Aufenthaltes in Russland, 

dass sie mit größtem Vergnügen 

seine brillanten Ausführungen hörte, 

dass sie aber im Unterschied zu ihm 

nicht mit Papier sondern mit Menschen arbeite.


Am 1. November 1773 wurde Diderot 

zusammen mit Grimm auf Order der Zarin hin 

als membre étranger 

in die Russische Akademie 

der Wissenschaften aufgenommen. 

Die anwesenden Akademiker zeigten hierüber 

eine sehr gedämpfte Begeisterung“. 

Diderot legte der Akademie einen Katalog 

mit 24 Fragen zur Naturgeschichte Sibiriens vor. 

Erik Gustavovich Laxmann war beauftragt, 

sie zu beantworten.


Während seines Aufenthaltes in Sankt Petersburg 

bemühte Diderot sich, die russische Sprache zu erlernen. 

Er wurde oft in die Paläste 

der russischen Aristokraten eingeladen.


Am 5. März 1774 begann die Rückreise 

mit der Postkutsche. Über Hamburg, Osnabrück 

ging es wieder nach Den Haag, 

wo er am 5. April eintraf 

und dann einige Zeit verweilte. 

Erst am 21. Oktober 1774 war er wieder in Paris.


In seiner Abhandlung 

Essai sur la vie de Sénèque et sur les règnes 

de Claude et de Néron von 1778 

verteidigte Diderot die Zarin gegen den Vorwurf, 

sie sei ähnlich der Julia Agrippina, 

welche ihren Ehemann, 

den römischen Kaiser Claudius, ermordete, 

eine Gattenmörderin 

an Peter III. von Russland gewesen.


Diderots gesundheitlicher Zustand 

verschlechterte sich seit der Rückkehr 

aus Russland zusehends. 

Herz- und Kreislaufprobleme 

machten ihm zu schaffen, 

er litt unter geschwollenen Beinen 

und Kurzatmigkeit. 

1774 schrieb er an Sophie Volland, 

er erwarte in zehn Jahren sein Ende. 

Häufiger als früher zog es ihn 

in sein Ausweichquartier in Sèvres 

oder auf das Landgut Château de Grand-Val 

seines Freundes d’Holbach.


Ein letztes Mal sollte Diderot 

nur knapp einer erneuten Inhaftierung entgehen. 

Im Jahr 1782 erschien im damaligen 

unabhängigen Fürstentum Bouillon 

der Essai sur les règnes de Claude et de Néron. 

Laut Lenoir verlangte König Ludwig XVI. 

Diderots Bestrafung. Diderot wurde vorgeladen, 

konnte aber die Vorwürfe entkräften, 

zumal man ihm seitens der Administration 

eine gewisse Sympathie entgegenbrachte. 

Er vollzog einen rhetorischen Kniefall 

und beschwichtigte seine Ankläger 

noch durch einen Widerruf. 

Diderot traf sich in der Folgezeit regelmäßig 

mit dem Polizeileutnant Lenoir 

zum Gedankenaustausch, war dieser doch 

ein liberaler Geist 

und Logenmitglied der Freimaurer.


Im Februar, dem Winter 1784, 

starb Diderots langjährige Freundin Sophie Volland 

mit 67 Jahren und im April seine Enkelin 

Marie Anne Caroillon de Vandeul, Minette, 

im Alter von zehn Jahren. 

Am 19. Februar 1784 erlitt er einen plötzlichen 

Zusammenbruch, möglicherweise einen Herzinfarkt, 

begleitet von einer Herzinsuffizienz. 

Er starb am Samstag, dem 31. Juli 1784, 

beim Mittagessen. 

Bei der Obduktion am Folgetag 

wurden eine vergrößerte Leber 

und ein vergrößertes Herz gefunden. 

Anne-Antoinette Diderot, die Ehefrau, 

und der Schwiegersohn 

Abel François Nicolas Caroillon de Vandeul 

organisierten die Bestattung 

in der Pfarrkirche St-Roch in Paris. 

Hierzu wurde dem Priester diskret 

ein Betrag von 1800 Livre als Spende zugesichert. 

Bei der Zeremonie sollen 50 Priester 

anwesend gewesen seien. 

Denis Diderot wurde im Ossuarium 

unterhalb des Hauptaltars beigesetzt.



VIERTER GESANG


Erbaut wurde sie als Bastille Saint-Antoine 

im 14. Jahrhundert unter König Karl V. 

als befestigtes östliches Tor 

und als ein Eckpfeiler der Befestigungsanlagen 

der Hauptstadt gegen Angriffe 

der englischen Truppen, 

die während des Hundertjährigen Krieges 

in Frankreich herumzogen. 

Seit der Zeit Ludwigs XIII. diente sie 

als Staatsgefängnis mit 80 teils unterirdisch 

liegenden Kerkern. Berühmte Häftlinge 

waren 1717/1718 und 1726 

der Schriftsteller Voltaire 

und 1784–1789 der Marquis de Sade.


Die Bastille besaß acht Zinnentürme 

mit eigenen Namen: Feldseite von Norden nach Süden: 

Eckturm, Kapellenturm, Schatzturm, Grafschaftsturm; 

Stadtseite von Norden nach Süden: Brunnenturm, 

Freiheitsturm, Bertaudièreturm, Basinièreturm. 

Zwischen Basinièreturm und Grafschaftsturm 

lag südlich der Eingang mit Zugbrücke. 

Zwischen Kapellen- und Schatzturm 

war das zugemauerte ehemalige Stadttor zu sehen. 

Das Gebäude besaß außerdem einen Festungsgraben, 

der mit Wasser gefüllt war.


Eines der interessantesten Dokumente 

aus dem Innenleben der Bastille 

ist René Auguste Constantin de Rennevilles 

1715 veröffentlichter Bericht „Inquisition Françoise“ 

über seine elfjährige Gefangenschaft. 

Renneville beschreibt darin ausführlich 

verschiedene Zellen und die je nach Status 

unterschiedlichen Haftbedingungen. 

Die Gefangenen erhielten eine Pension des Königs. 

Das Gefängnis selbst funktionierte 

als vom Staat verpachtetes kommerzielles Unternehmen. 

Wenn bei längerer Haft Gefangene verarmten 

oder von ihren Familien nicht mehr unterstützt wurden, 

wurden sie in immer tiefer gelegenen Zellen untergebracht. 

Die unmenschlichsten Haftbedingungen 

herrschten in den Kellern. 

Haftstrafen in der Bastille waren gefürchtet, 

da mit ihnen der Entzug jedweder Öffentlichkeit 

verbunden war. Eine größere Chance, 

sich zu verteidigen 

und in der Außenwelt um Sympathien zu werben, 

hatten Straftäter am Pranger.


Anne-Marguerite Petit du Noyer zugeschrieben 

wird der Bericht einer spektakulären Flucht 

aus der Bastille, der 1719 als 

Die Hölle der Lebendigen erschien.


Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 

wurde zum Symbol für die französische Revolution. 

Teilweise wird dieses Ereignis auch 

als Beginn der Revolution interpretiert. 

Eine wirkliche Erstürmung 

hat es aber nicht gegeben, 

da ihr Kommandant der Aufforderung 

zur Übergabe nachkam. 

Zudem saßen hierin nur noch sieben Häftlinge, 

bewacht von einem Kommandanten, 

dem 80 Kriegsveteranen 

und 32 Soldaten assistierten.


Im Juli 1789 befand sich das Volk von Paris in Unruhe: 

Einerseits setzte es große Hoffnungen 

in die Generalstände, andererseits 

war es durch die hohen Brotpreise 

vom Hunger bedroht. 

Seit dem 10. Juli wurden Zollhäuser 

rund um Paris in Brand gesteckt, 

in der Hoffnung, dass die Waren 

in der Stadt billiger würden, 

wenn keine Akzise erhoben würde.


Am 11. Juli entließ der König 

den Finanzminister Jacques Necker, 

der beim Volk beliebt war. 

Außerdem hatte er Truppen 

in Versailles zusammengezogen, 

eine deutliche Drohung 

für die Nationalversammlung.


Am 12. Juli erreichte die Nachricht 

von der Entlassung Neckers Paris. 

Agitatoren im Palais Royal heizten 

die Stimmung weiter an; 

der berühmteste Redner war hier Camille Desmoulins, 

der die Patrioten aufforderte, 

sich als Erkennungszeichen Kastanienblätter 

an die Hüte zu stecken.


Am Tag darauf kam es zu ersten gewalttätigen

Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten 

und dem Kavallerieregiment „Royal Allemand“. 

In den darauf folgenden Tagen 

wurden Waffenhandlungen geplündert 

und am 14. Juli belagerte eine Menschenmenge, 

die sich zuvor im Hôtel des Invalides 

Waffen beschafft hatte, die Bastille, 

um an die dort gelagerten 

Munitionsvorräte zu gelangen. 

Der Kommandant ließ bei der ersten Ansammlung 

der Menschenmenge vor der Zugbrücke 

auf die bewaffnete Menschenmenge schießen. 

Mehr als 90 Personen fanden den Tod. 

Nach erneutem Aufmarsch 

mit verbesserter Bewaffnung (Kanonen) 

und nach der Kapitulation der Wachmannschaft 

stürmte die Menge das Gefängnis 

und befreite die Gefangenen: 

vier Urkundenfälscher, zwei Geisteskranke 

und den adligen Schriftsteller Marquis de Sade, 

den seine Familie wegen seines wüsten 

Lebenswandels in der Bastille 

hatte festsetzen lassen (andere Quellen berichten, 

dass er einige Tage zuvor in die Irrenanstalt 

in Charenton-le-Pont verlegt wurde, 

da er von seiner Zelle aus 

einer demonstrierenden Menschenmenge zurief: 

Sie töten die Gefangenen hier drinnen!“).


Der Kommandant wurde auf dem Weg zum Rathaus 

trotz Zusicherung des freien Geleits 

wegen seines Schießbefehls 

von einem Metzger geköpft, 

ein Wachsoldat wurde ebenfalls umgebracht. 

Ein Adeliger, Jacques de Flesselles, 

Oberhaupt des Pariser Magistrats, 

der den Kommandanten retten wollte, 

wurde ebenfalls geköpft. 

Die Köpfe trug man anschließend 

unter dem Jubel der Bevölkerung 

auf Heugabeln durch die Straßen der Hauptstadt. 

Es waren die ersten adligen Opfer der Revolution.


Der Sturm auf die Bastille 

war Anlass zur Aufstellung einer Nationalgarde 

unter Marquis de La Fayette, 

damit die Nationalversammlung 

ergebene Truppen zur Verfügung hatte. 

Außerdem wurde der königliche Gouverneur 

von Paris abgesetzt; 

an seine Stelle trat der Generalrat der Commune, 

ein Gremium, das bei der Radikalisierung 

der Revolution eine Rolle spielte.


Obwohl keine bedeutenden Gefangenen 

befreit wurden und die militärische Bedeutung 

des Sieges über die aus Veteranen 

und Invaliden bestehende Wachmannschaft 

gering war, wurde der Sturm auf die Bastille 

in der Folge zum Mythos 

und zu einem einschneidenden Ereignis verklärt, 

was vermutlich auf die hohe Symbolwirkung 

eines ersten Sieges 

über eine Befestigung der Monarchie 

zurückzuführen ist.


So ist der 14. Juli noch heute der Nationalfeiertag 

in Frankreich, allerdings nicht 

wegen des Sturmes auf die Bastille, 

sondern vor allem wegen des ein Jahr später 

gefeierten Föderationsfestes, 

als der König und Vertreter aller Stände 

und aller Departemente einen feierlichen Treueeid 

auf die Nation leisteten.


Von der Bastille ist heute nichts mehr zu sehen. 

Unter der Leitung eines Bauunternehmers 

begann bereits zwei Tage nach dem Sturm, 

am 16. Juli 1789, der Abriss der Festung 

als Symbol des Ancien Régime, 

der sich bis in den Oktober 1790 hinzog. 

Man ließ nur einen 50 Zentimeter hohen 

Mauerrest stehen, der später 

komplett entfernt wurde.


Aus Steinen der Bastille ließ der Bauunternehmer 

detailgetreue Modelle 

des ehemaligen Gefängnisses meißeln, 

die in die 83 neuen Departement-Hauptstädte 

geliefert und dort mit Pomp 

als Trophäen eingeweiht wurden. 

Aus den eisernen Schlössern der Zellen 

und den Ketten und Fußkugeln der Gefangenen 

ließ er 60.000 Medaillen 

mit Freiheitsmotiven prägen. 

Der „patriote“ verbreitete auch ungezählte 

eigene und fremde Lieder, 

Pamphlete, Plakate, Zeitungen, 

Bilder (überwiegend Karikaturen) 

und Flugblätter zum revolutionären Geschehen. 

Jährlich richtete er zur Hinrichtung 

des ehemaligen Königs Ludwig XVI. 

ein Schweinekopfessen aus.



FÜNFTER GESANG


Marat wurde am 24. Mai 1743 

als zweites von acht Kindern 

in Boudry im Fürstentum Neuenburg geboren, 

das als zugewandter Ort 

mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft 

assoziiert war und zu dieser Zeit 

von der preußischen Königsfamilie 

der Hohenzollern regiert wurde. 

Sein Vater wurde bei der Registrierung 

seines Sohnes als „Jean Mara“ eingetragen, 

in den Bibliographien wird er auch 

Jean-Baptiste Mara“ genannt. 

1753 zog die Familie nach Yverdon, 

wo der Vater in einer Tuchfabrik 

als Zeichner arbeitete. 

1755 zog man nach Neuchâtel weiter, 

wo der Vater nunmehr 

als Fremdsprachenlehrer tätig wurde. 

Hier fügte er seinem Namen das Schluss-„t“ an. 

Den dadurch französisch klingenden Nachnamen 

Marat“ übernahm nun auch der Sohn Jean Paul. 

In der Literatur wird der Vater 

je nach Sprache Giovanni Mara, 

Juan Salvador Mara 

oder Jean Marat genannt. 

Er war in Cagliari auf Sardinien geboren; 

seine Mutter, Louise Cabrol, stammte 

aus der ebenfalls mit der Eidgenossenschaft 

verbundenen Stadtrepublik Genf.


Durch eine Hautkrankheit 

(mit einem heftigen Juckreiz verbunden) 

bedingt, litt Marat unter Entstellungen. 

Als er sechzehn Jahre alt wurde, 

verließ er die Schweiz und wanderte allein 

nach Bordeaux nahe der französischen Atlantikküste aus, 

wo er Medizin studierte. 

Um sein Auskommen zu sichern, 

arbeitete er für den vornehmen Reeder Jean-Paul Nairac. 

1762 zog er nach Paris, 

wo er drei Jahre blieb 

und an der Universität Vorlesungen 

in Medizin, Physik und Philosophie besuchte. 

Wegen seiner Erfolge bei der Heilung 

von Gonorrhoe konnte er sich 

als Arzt einen Namen machen.


Danach zog es ihn nach England. 

Zehn Jahre lang praktizierte er als Arzt 

in London, Newcastle und Dublin. 

In England wurde er Freimaurer; 

am 15. Juli 1774 stellte man ihm 

ein Großlogen-Zertifikat aus, 

das von James Heseltine, dem Großsekretär, 

unterzeichnet war. Später wurde er Mitglied 

der Loge La Bien Aimee in Amsterdam. 

Etwa im Jahr 1762 schrieb Jean Paul Marat 

sein erstes Buch „Polnische Briefe“, 

das aber nicht veröffentlicht wurde. 

Auch der 1771 in London fertiggestellte Roman 

Die Abenteuer des jungen Grafen Potowski – 

ein Herzensroman“ blieb 

zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht. 

Der Roman enthält auch Gedanken zum Strafrecht, 

die Marat später in seinem „Plan 

einer Strafgesetzgebung“ wieder aufgriff.


Marats erstes veröffentlichtes Werk 

erschien 1772 als „Eine Untersuchung 

über die menschliche Seele“. 

Es wurde 1773 erneut publiziert 

als Teil seiner Abhandlung 

Eine Philosophische Studie über den Menschen“. 

Ein Jahr später veröffentlichte Marat in England 

eines seiner berühmtesten Werke: 

Ketten der Sklaverei“. 

Am 30. Juni 1775 erhielt Marat 

einen akademischen Titel in Medizin 

an der St. Andrews University in Schottland.


Im Juni 1777 kehrte er wieder nach Frankreich zurück 

und wurde Arzt bei der Leibgarde 

des Grafen von Artois, 

des jüngsten Bruders Ludwigs XVI.


Dort führte er einige Experimente 

mit Feuer, Licht und Elektrizität durch. 

Er schrieb Bücher über die Elektrizität, 

das Feuer, das Licht, die Optik, 

wobei er mit seinem hitzköpfigen Stil 

so heftige Gegenkritiken auf sich zog, 

dass Johann Wolfgang von Goethe 

sich veranlasst sah, ihn in Schutz zu nehmen. 

1779 veröffentlichte er ein Buch 

über seine neuen Erkenntnisse 

im Bereich der Physik. 

Weitere Bücher über Physik, 

Theorie der Politik, Recht und Physiologie 

folgten in den folgenden Jahren. 

Im Jahre 1783 beendete Marat 

seine medizinische Laufbahn und widmete sich 

ganz den Naturwissenschaften.


Gleichzeitig mit seinen naturwissenschaftlichen 

Studien befasste er sich mit Politik und Recht 

und beteiligte sich an einem 1777 

von der Société économique de Berne 

veranstalteten Wettbewerb 

zur Reform des Strafrechts 

mit einem 1780 herausgegebenen Plan 

einer Kriminalgesetzgebung. 

Die erste Auflage wurde durch die Zensurbehörde 

beschlagnahmt, die weiteren Auflagen 

blieben unbeachtet.


Im Juli 1788 fühlte sich Marat sterbenskrank 

und schrieb deshalb sein Testament. 

Er bat einen Freund, 

den Uhrmacher Abraham Louis Breguet, 

ihn am Totenbett seelisch zu unterstützen 

und alle seine Manuskripte 

an eine Akademie für Wissenschaften zu schicken. 

Angeblich erzählte ihm Abraham 

am Totenbett von den revolutionären Ereignissen. 

Dies soll bei ihm einen so großen Eindruck 

hinterlassen haben, so sagt der Mythos, 

dass sich sein Gesundheitszustand besserte 

und er fortan die Revolution 

mit voller Kraft und allen Mitteln unterstützte. 

Im Februar 1789 veröffentlichte er 

eine „Opfergabe an das Volk“, 

in der er sich an den Dritten Stand richtet, 

um dessen Position gegenüber 

unseren Feinden“ mit einer neuen 

Verfassung zu stärken. 

Die Schrift blieb unbeachtet, 

eine Ergänzung wurde beschlagnahmt.


Im Juli oder August 1789 versuchte er es erfolglos 

mit einer ersten Zeitung, dem Moniteur patriote 

(„Patriotischer Anzeiger“). 

Mehr Erfolg hatte er mit der 

ab 12. September 1789 herausgegebenen Zeitung 

Publiciste Parisien („Pariser Blatt“), 

die er von der 6. Nummer an 

in Ami du Peuple („Freund des Volkes“) umbenannte. 

Diese Zeitung war eine stark beachtete Zeitung 

Frankreichs, die manchmal zweimal am Tag erschien, 

und sich als die Stimme des revolutionären 

Volkes verstand. Marat griff darin 

mit scharfen Worten alle gemäßigten Girondisten 

in der Nationalversammlung an.


Er bezeichnete alle wirklichen 

oder angeblichen Gegner der Revolution 

als Verräter und Volksfeinde, 

veröffentlichte deren Namen in seiner Zeitung 

und lieferte sie damit der Rache des Volkes aus. 

Dies führte dazu, dass am 6. Oktober 1789 

ein Haftbefehl des Châtelet-Gerichts 

gegen ihn erlassen wurde. 

Man versuchte, ihn zu verhaften, 

was am 12. Dezember 1789 auch gelang; 

jedoch wurde er nach einem Verhör 

wieder freigelassen. Als man im Januar 1790 

zweimal erneut – teils unter Aufbietung 

hunderter von Soldaten – versuchte, 

ihn zu verhaften, floh er nach England, 

kehrte aber im Mai 1790 

wieder nach Frankreich zurück. 

Nun befürwortete er die Enthauptung 

von 600 Gegnern. Im September 1790 

forderte er 10.000 Opfer, 

im Januar 1791 sogar 100.000. 

Er wurde von den Behörden gesucht, 

schaffte es aber, seine Zeitung 

weiter herauszugeben und sich trotzdem 

in Paris verborgen zu halten. 

Erst im Dezember 1791 nahm er „endgültig“ 

Abschied von seinen Lesern, 

um nach London abzureisen, 

wurde aber schon im Februar 1792 

wieder in Paris gesehen. 

Nach dem Sturz der Monarchie 

im August 1792 schloss sich Marat 

den Jakobinern an und wurde, 

mit großer Unterstützung des Volkes, 

ein einflussreicher Delegierter 

im Nationalkonvent wie auch 

für eine Wahlperiode der Präsident 

des Klubs der Jakobiner.


Die Septembermassaker 1792 

an Unabhängigen und Royalisten 

hat er in seinem Ami du Peuple 

publizistisch gefördert.


Nachdem die jakobinische Bergpartei 

die gemäßigten Girondisten verdrängt hatte, 

beschloss Charlotte Corday, 

eine Anhängerin der Girondisten, 

Marat zu ermorden. 

Sie fuhr in einer Postkutsche nach Paris, 

wo sie ein Küchenmesser erstand. 

Eigentlich wollte sie Marat 

am 14. Juli, dem Jahrestag 

des Sturms auf die Bastille, 

in aller Öffentlichkeit erstechen. 

Doch Marat war wegen seiner Hautkrankheit 

an das Haus gebunden. 

Unter dem Vorwand, dass sie einige Girondisten 

aus ihrer Heimatstadt Caen, 

einer Hochburg der Konterrevolution, 

denunzieren wolle, suchte sie Marat 

am 13. Juli 1793 auf. 

Marats Lebensgefährtin Simone Évrard 

ließ sie jedoch nicht ein. 

Sie fuhr zurück in ihr Hotel, 

kündigte ihren Besuch schriftlich an 

und kehrte noch am selben Tag zurück 

zu Marats Wohnung, 

ohne Antwort erhalten zu haben.


Im Badezimmer stach sie ihm 

nach einem kurzen Gespräch 

heftig in Hals und Brust, 

wobei sie so stark zustieß, 

dass eine große Schlagader riss 

und Marat sofort bewusstlos wurde. 

Der Komponist Guillaume Pierre Antoine Gatayes 

hatte den Leblosen aufgefunden, 

und einen herbeieilenden Redakteur 

des Ami du Peuple hatte 

Charlotte Corday niedergeschlagen, 

woraufhin sie festgenommen wurde. 

Zu keinem Zeitpunkt leistete sie Widerstand. 

Am 17. Juli 1793 wurde sie guillotiniert. 

Durch ihre Tat wurde Marat zunächst 

zu einem noch größeren Helden und Märtyrer. 

Seine Mörderin erlangte durch ihre Hinrichtung 

den Status einer Märtyrerin der Konterrevolution.


Jean Paul Marat wurde am 16. Juli 1793 

unter den Bäumen des Kreuzganges 

des ehemaligen Couvent des Cordeliers 

beigesetzt, Ende September 1794 exhumiert 

und im Panthéon bestattet.


Das Attentat bildet den Stoff 

des schrecklichen Dramas „Die Verfolgung 

und Ermordung Jean Paul Marats 

dargestellt durch die Schauspielgruppe 

des Hospizes zu Charenton 

unter Anleitung des Herrn de Sade“ 

vom schwedischen Kommunisten Peter Weiss.



SECHSTER GESANG


Robespierre wurde als erstes 

von vier Kindern des angesehenen Advokaten 

Maximilien-Barthélémy-François de Robespierre 

im heutigen Département Pas-de-Calais 

am 6. Mai 1758 geboren. 

Seine Geschwister waren Charlotte, Henriette Robespierre 

und Augustin. Die Familie väterlicherseits 

stammte ursprünglich aus dem katholischen Irland, 

war aber aufgrund religiöser Verfolgung 

unter dem Protestanten Heinrich VIII. 

nach Frankreich ausgewandert. 

Seine Mutter war Jacqueline Margarethe Carrault, 

die Tochter eines wohlhabenden Brauers. 

Im Juli 1764, als er gerade sechs Jahre alt war, 

verstarb seine Mutter im Kindbett. 

Am 6. November 1777 starb sein Vater in München; 

einige Jahre zuvor hatte er Arras 

aus ungeklärten Gründen verlassen 

und war nur noch sporadisch 

in den Ort zurückgekehrt. 

Am Collège von Arras galt Robespierre 

als Musterschüler und erlangte 

eines von vier Stipendien 

für das renommierte Pariser Collège Louis le Grand, 

das er ab 1769 besuchte. 

Nach zwölf Jahren des Studiums, 

aufgeteilt in sieben Jahre allgemeiner Studien 

und vier Jahre rechtswissenschaftlicher Studien, 

legte Robespierre 1780 sein Examen als Anwalt ab 

und wurde 1781 Lizenziat. 

In den Jahren 1772 und 1774 galt Robespierre 

als Klassenbester, 1775 wurde er zudem 

als bester Schüler der Universität 

ausgezeichnet und ausgewählt, 

die Begrüßungsrede beim Besuch 

von Ludwig XVI. zu halten. 

Noch als Student hatte er den von ihm verehrten 

Jean-Jacques Rousseau in dessen Sterbejahr 1778 

besucht und gesprochen.


1781 ließ sich Robespierre 

in seiner Heimatstadt Arras als Anwalt nieder. 

Hier übernahm Robespierre verschiedenste Fälle 

und erarbeitete sich währenddessen 

einen Ruf als „Anwalt der Armen“. 

Widersprüchlich zu dieser Position 

steht Robespierres juristische Karriere in Arras, 

die er mit Gutheißen 

und fortwährender Unterstützung 

der Mächtigen machte. 

Nationale Bekanntheit erreichte er 1783 

durch den sogenannten „Blitzableiterfall“, 

in welchem er einen Mann, 

der sein Haus mit einem Blitzableiter versehen hatte, 

gegen Vorurteile der Gefährdung 

der Allgemeinheit verteidigte 

und ihn stattdessen als Förderer 

der wissenschaftlichen Erkenntnis darstellte. 

Kurze Zeit war Robespierre auch als Richter 

an einem bischöflichen Patrimonialgericht tätig, 

legte sein Amt jedoch bald nieder, 

da er einen Verbrecher zum Tode verurteilen sollte, 

er jedoch zum damaligen Zeitpunkt noch 

ein strikter Gegner der Todesstrafe war.


Nach seiner Aufnahme in die Akademie von Arras 

1783 publizierte Robespierre 

Flugschriften und Pamphlete, 

in denen er sich gegen die Privilegien des Adels 

und der Geistlichkeit aussprach, 

gleichzeitig Sippenhaft verurteilte 

und sich für die Rechte unehelich geborener Kinder 

und von Frauen sowie Menschenrechte 

im Allgemeinen einsetzte. 1786 

wurde er zum Vorsitzenden der Akademie gewählt.


Schließlich sah er in Paris die Möglichkeit, 

durch sein politisches Engagement 

die Gesellschaftsform des monarchistischen Frankreichs 

nach der Staatstheorie seines geistigen Mentors 

Jean-Jacques Rousseau umzugestalten: 

31-jährig wurde er gleich zum Delegierten 

des dritten Standes für die Stadt Arras 

in die Versammlung der Generalstände gewählt, 

die von Ludwig XVI. 1789 ursprünglich 

dazu einberufen worden war, das Steuerproblem 

des Staates zu lösen.


Am 17. Juni 1789 erklärten sich die Vertreter 

des dritten Standes (Bürger und Bauern) 

zur Nationalversammlung. 

Nach dem Beitritt der Vertreter 

des Klerus und des Adels 

schafften die Vertreter der drei Stände 

die Privilegien der Priester und Adligen ab. 

Dies war die Geburtsstunde 

der Französischen Revolution.


In der Nationalversammlung fiel Robespierre 

mit radikalen Forderungen auf, 

die aber zunächst von der gemäßigteren Mehrheit 

nicht geteilt wurden. So setzte er sich 

unter anderem für Pressefreiheit, 

die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien, 

die Aufhebung der Todesstrafe, 

die Beseitigung der Privilegien des Klerus 

sowie die Abschaffung des Zölibats ein. 

Außerdem war er gegen das aufschiebende 

Veto-Recht des Königs 

in der ersten Verfassung von 1791 

und sprach sich für das allgemeine Wahlrecht 

für alle Männer aus. Für die Wahl 

der Volksvertreter dürften keine anderen Kriterien gelten 

als „die der Tugend und der Begabung“. 

Zudem forderte er eine Beschränkung 

von deren Amtszeit. Im August 1789 

hatte Robespierre bereits einen Gesetzesentwurf 

ausgearbeitet, welcher eine „ruhige Beratung“ 

in der Versammlung garantieren sollte, 

so dass „ein jeder ohne Furcht vor Störungen 

seine Meinung darlegen“ könne.


Bald galt Robespierre als radikaler Demokrat 

und trat dem linken „Club der Jakobiner“ bei, 

der sich regelmäßig in Paris traf. 

Im März 1790 wurde er zu deren Präsident 

und zum stellvertretenden Sekretär 

der Nationalversammlung gewählt. 

Im Oktober wurde er auch zum Richter 

am Distriktgericht von Versailles gewählt.


Bis 1791 war Robespierre 

trotz seiner radikalen Forderungen 

ein Anhänger der konstitutionellen Monarchie. 

Allerdings war er gleichwohl der Ansicht, 

dass der König nicht das Recht haben sollte, 

über Krieg und Frieden zu entscheiden. 

Dieser würde nämlich im Zweifel 

immer ein Interesse daran haben, 

seine eigenen Machtbefugnisse zu erweitern, 

die Vertreter der Nation würden hingegen 

ein Interesse daran haben, 

den Krieg zu verhindern. 

Er änderte jedoch seine Meinung im Juni 1791, 

als Ludwig XVI. mit der Flucht 

nach Varennes heimlich versuchte, 

Frankreich zu verlassen, 

um die Revolution von außen zu zerstören. 

Ludwig wurde nach Paris zurückgebracht 

und blieb König. 

Er bemühte sich jedoch weiterhin, 

die Revolution mit Hilfe der anderen Königreiche 

rückgängig zu machen, wodurch er 

sowohl Robespierre und die Jakobiner 

als auch die Girondisten weiter 

gegen sich aufbrachte. Allerdings 

war für Robespierre die Revolution weniger 

durch einen Krieg mit den anderen 

europäischen Nationen gefährdet 

als durch die Helfer des Königs in Paris 

und die Konterrevolutionäre. 

Im Juni 1791 wurde Robespierre 

zum öffentlichen Ankläger 

am Kriminalgericht von Paris gewählt. 

Ende des Jahres war er nicht mehr Abgeordneter 

der Nationalversammlung, 

da er zuvor die Begrenzung der Amtszeit 

durchgesetzt hatte. Im April 1792 

legte Robespierre auch sein Amt 

als Ankläger am Kriminalgericht von Paris nieder, 

um sich seinen Ruf als 

der Unbestechliche“ zu bewahren.


Nach dem Tuileriensturm am 10. August 1792 

wurde der König von der Nationalversammlung 

für abgesetzt erklärt. Am selben Tag 

wurde Robespierre Mitglied der Kommune von Paris. 

Im September 1792 befanden sich 

die Armeen der Preußen und der Österreicher 

auf dem Vormarsch. Paris war bedroht 

und die zum Kampf bereiten Pariser 

fühlten sich von den Anhängern des Königs bedroht. 

Unter den in den Gefängnissen einsitzenden 

Königstreuen und jenen, 

die dafür gehalten wurden, 

richteten sie daher ein Blutbad an. 

Diesem Septembermassaker fielen 

über tausend Menschen zum Opfer.


In dieser aufgeheizten Stimmung 

wurde Robespierre mit 338 von 525 Stimmen 

zum Mitglied der neuen Volksvertretung, 

des Nationalkonvents, gewählt. 

Gegen den König wurde Anklage 

wegen Hochverrats erhoben. 

Während die Girondisten und Danton 

Partei für den König ergriffen, 

schloss sich Robespierre in einer Rede 

der Forderung von Louis Antoine de Saint-Just 

nach des Königs Hinrichtung an, 

da der König eine zu große Gefahr 

für die Revolution darstelle. 

Er erklärte den König zum Verräter Frankreichs 

und zum Verbrecher an der Menschheit. 

Der Nationalkonvent sprach sich am 18. Januar 1793 

bei 361 zu 334 Stimmen 

für die sofortige Hinrichtung Ludwigs XVI. aus. 

Am 21. Januar wurde Ludwig XVI. 

durch die Guillotine enthauptet.


Robespierre war es, der 1792 

in einem Brief verkündete, dass es darum gehe, 

auf den Trümmern des Thrones 

die heilige Gleichheit einzurichten. 

Die Gleichheit des Vermögens, 

von der die Armen träumten, meinte er nicht. 

Dies erklärte er im April 1793 

vor dem Nationalkonvent und versicherte 

den Reichen, dass er ihre Schätze 

auf keinen Fall anrühren wolle. 

Diese Gleichheit war auch nicht für Frauen vorgesehen. 

Olympe de Gouges wurde 1793 verhaftet 

und unter anderem für ihre Erklärung 

der Rechte der Frau und Bürgerin, 

in der sie die volle rechtliche, politische 

und soziale Gleichstellung 

beider Geschlechter forderte, hingerichtet.


Am 27. Juli 1793 wurde Robespierre 

vom Nationalkonvent zum Mitglied 

des zwölfköpfigen Wohlfahrtsausschusses berufen. 

In der Folgezeit unterstützte Robespierre 

alle Maßnahmen gegen sogenannte 

Feinde der Revolution“, 

was ihm seinen Ruf als „Blutrichter“ 

der Französischen Revolution eintrug.


Am 30. März 1794 ließ der Wohlfahrtsausschuss 

Danton und dessen Anhänger verhaften 

und am 5. April auf der Guillotine hinrichten, 

weil sie angeblich Teil einer 

Verschwörung des Auslands“ seien 

mit dem Ziel, die Monarchie wiederherzustellen. 

Im Nationalkonvent war zunächst Kritik 

an den Verhaftungen laut geworden, 

die Robespierre aber mit Drohungen 

zum Schweigen brachte:


Ich behaupte, dass, wer immer 

in diesem Augenblick zittert, schuldig ist, 

denn die Unschuld hat von der öffentlichen 

Überwachung nichts zu befürchten.“


Insgesamt waren es in jenem April 

258 Hinrichtungen auf Geheiß des Ausschusses. 

Im Juni 1794 gab es 688 Hinrichtungen, 

denn der von Robespierre 

und Saint-Just dominierte Wohlfahrtsausschuss 

erließ am 10. Juni 1794 ein neues Gesetz, 

nach dem Angeklagten kein Rechtsbeistand 

zukommen durfte und jeder 

ohne einen Mehrheitsbeschluss des Konvents 

vor das Revolutionstribunal 

gebracht werden konnte. 

Ihn unterstützten dabei seine engsten Vertrauten, 

unter anderem Couthon und Saint-Just, 

der allerdings zunächst gegen dieses Gesetz gewesen war. 

Jedoch überzog Robespierre 

im Wohlfahrtsausschuss seinen Machtanspruch 

und verlor endgültig seinen Rückhalt im Konvent.


In seiner gesamten politischen Tätigkeit 

bemühte sich Robespierre, 

die Ideale Rousseaus zu verwirklichen. 

Gemäß Jean-Jacques Rousseau erzeugen 

alle Mitglieder einer Gemeinschaft 

in freiwilliger Übereinkunft einen Gemeinwillen. 

Der Gemeinwille orientiert sich am Gemeinwohl 

und hat dabei immer Recht. 

Er gilt absolut, auch wenn Einzelne ihn ablehnen. 

Er ist nicht einfach der Wille der Mehrheit, 

sondern derjenigen, die tugendhaft 

und im Besitz der Wahrheit sind. 

Jeder, der den Gemeinwillen angreift, 

stellt sich außerhalb der aufgeklärten Gemeinschaft.


Für Robespierre bedeutete dies, 

dass die Gegner der Republik nur die Wahl 

zwischen einer Änderung ihrer Überzeugungen 

und dem Tod haben durften. 

Je grausamer die Regierung 

gegenüber den Verrätern auftrete, 

desto wohltätiger sei sie gegenüber 

den braven Bürgern, 

ließ Robespierre 1793 verlauten. 

Die Terrorherrschaft war demzufolge 

ein notwendiges Übel, um das Volk 

für den von Rousseau empfohlenen 

Gesellschaftsvertrag bereit zu machen. 

Ohne Tugend, meinte Robespierre, 

sei Terror verhängnisvoll, 

ohne Terror die Tugend machtlos.


In den 15 Monaten zwischen dem 10. März 1793, 

der Gründung des Revolutionstribunals, 

und dem 10. Juni 1794 hatte das Revolutionstribunal 

1579 Todesurteile verhängt. 

In den nur 49 Tagen zwischen der Einführung 

des Dekretes zur Verurteilung ohne Rechtsbeistand 

und dem Sturz Robespierres am 27. Juli 1794 

wurden 1376 Personen verurteilt. 

Seit dem Frühjahr 1794 propagierte Robespierre 

auch den „Kult des Höchsten Wesens“, 

der im Mai 1794 in der Verfassung verankert wurde.


Am 26. Juli erschien Robespierre 

für eine Rede vor dem Parlament. 

Diese Rede dauerte etwa zwei Stunden. 

Robespierre bekräftigte seine Überzeugung, 

nur der Terror gegen das Verbrechen 

verschaffe der Unschuld Sicherheit. 

Er konnte aber keinen programmatischen Entwurf 

für einen Weg aus der politischen Krise aufzeigen. 

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich 

die militärische Lage stabilisiert, 

die Wirtschaft erholte sich, 

der Wohlfahrtsausschuss hatte sich 

als faktische Zentralgewalt etabliert. 

Terror war gerade in den letzten Monaten 

nur noch als Mittel der Machterhaltung 

und teilweise zur Beseitigung 

persönlicher Gegner und Rivalen 

gebraucht worden. Robespierres Programm 

lief aber auf eine immer weitere Verschärfung 

des Terrors hinaus. Er spielte auf Verräter an, 

die mit aller Härte bestraft werden müssten. 

Er kenne sie, doch Namen nennen wolle er nicht. 

Damit kündigte er eine neue „Säuberungswelle“ an.


Nun konnte jeder im Konvent betroffen sein. 

Nach dem Dekret, welches auch Konvents-Mitglieder 

der ungeschützten Willkür des Terrors aussetzte, 

waren nach dieser Ankündigung kaum noch 

Befürworter für die Erhaltung der Macht 

Robespierres zu finden. 

In der folgenden Nacht traf eine Koalition 

von unterschiedlichen Politikern zusammen. 

Viele befürchteten, als Verräter bezeichnet 

und hingerichtet zu werden. 

Andere strebten selbst nach der Macht 

und wollten die Politik 

nach ihren Vorstellungen gestalten. 

Manche sahen durch ihn die Revolution verraten. 

Robespierre selbst hatte mit seiner zunehmend 

irrationalen Politik 

zu dieser Koalition beigetragen.


Am nächsten Tag, dem „9. Thermidor“, 

debattierte das Parlament 

über den Wohlfahrtsausschuss. 

Man wollte dem blindwütigen Terror 

ein Ende setzen und seinen Führer entmachten. 

Robespierre wollte sich verteidigen, 

doch seine Worte gingen im Stimmentumult unter. 

Schließlich wurde die Verhaftung 

von Robespierre, Saint-Just und Georges Couthon 

gefordert und einstimmig beschlossen. 

Robespierre wurde abgeführt, 

die von Robespierre und seinen Anhängern 

etablierten Maßnahmen, die „Verdächtige“ 

weitgehend rechtlos stellten, 

wandten sich gegen sie selbst. 

Es gelang ihm jedoch, sich zu befreien 

und sich mit aus dem Kerker befreiten Freunden 

im Rathaus zu versammeln.


Nach dem von Léonard Bourdon geführten Sturm 

der Nationalgarde auf das Stadthaus 

wurde Robespierres Unterkiefer 

von einer Kugel zerschmettert. 

Einige seiner Kameraden, die sich 

mit ihm verschanzt hatten, 

begingen Selbstmord, 

indem sie sich erschossen 

oder aus dem Fenster sprangen. 

Der schwerverletzte Robespierre 

wurde notdürftig ärztlich behandelt. 

Ob er versucht hatte, sich durch einen Schuss 

in den Mund das Leben zu nehmen, 

oder ob er von einer verirrten Kugel getroffen wurde, 

ließ sich nie eindeutig klären.


Am 28. Juli 1794 wurden Robespierre 

und 21 seiner Anhänger ohne vorherigen Prozess 

durch die Guillotine enthauptet; 

in den Tagen darauf 

folgten noch 83 weitere Anhänger.



SIEBENTER GESANG


Mirabeaus Vater war der französische Volkswirt 

und Schriftsteller Victor Riquetti, 

Marquis de Mirabeau.


Mit drei Jahren erlitt Mirabeau 

einen heftigen Pockenanfall, 

der sein Gesicht entstellte. 

Von seinem Vater erhielt er weder Zuwendung 

noch finanzielle Unterstützung 

und ging als junger Mann zum Militär. 

Er wohnte seit 1771 in Paris, 

wo er 1772 Marie Emilie de Marignane heiratete. 

Auf Anzeige seines Vaters wurde er 

von Ludwig XV. von seinen Besitzungen verbannt 

und 1775 verhaftet.


In der Haftzeit – während der er das Gefängnis 

Château de Joux verlassen durfte – 

lernte er Marie Thérèse de Monniers kennen. 

Beide verliebten sich ineinander 

und flüchteten in die Schweiz. 

Er wurde wegen Ehebruchs in Abwesenheit 

zum Tode verurteilt 

und 1777 wiederum verhaftet. 

Es gelang ihm, sein Todesurteil 

annullieren zu lassen. 

Er musste aber bald wieder ins Exil gehen, 

nachdem er sich in einen Prozess 

zwischen seinen Eltern eingeschaltet hatte. 

Vom Januar 1786 bis zum Januar 1787 

hielt er sich zweimal für mehrere Monate 

in Potsdam und Berlin auf. 

In Braunschweig ist er Mitglied der Illuminaten 

mit dem Ordensnamen Adramelech 

oder Leonidas geworden. 

Danach hielt er sich in Holland auf, 

wo er in Amsterdam Freimaurer wurde. 

Später zog er nach London.


Während der Anfangszeit 

der Französischen Revolution 

war Mirabeau Abgeordneter 

und Wortführer des Dritten Standes 

in den Generalständen. 

1790 wurde er Präsident des Jakobinerclubs 

und hielt 1791 den präsidialen Vorsitz 

der Nationalversammlung.


Mirabeau starb am 2. April 1791 plötzlich, 

sodass man einen Giftmord vermutet. 

Er wurde in einem Staatsbegräbnis 

im Panthéon beigesetzt.


Heinrich von Kleist schildert Mirabeau 

in seinem Essay „Über die allmähliche Verfertigung 

der Gedanken beim Reden“ sehr anschaulich:


Mir fällt jener Donnerkeil des Mirabeau ein, 

mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte, 

der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung 

des Königs am 23. Juni, 

in welcher dieser den Ständen auseinanderzugehen 

anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, 

in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, 

und sie befragte, ob sie den Befehl 

des Königs vernommen hätten? 

Ja, antwortete Mirabeau, 

wir haben des Königs Befehl vernommen. – 

Ich bin gewiss, dass er, bei diesem humanen Anfang, 

noch nicht an die Bajonette dachte, 

mit welchen er schloss: Ja, mein Herr, 

wiederholte er, wir haben ihn vernommen. – 

Man sieht, dass er noch gar nicht recht weiß, 

was er will. Doch was berechtigt Sie 

(fuhr er fort, und nun plötzlich 

geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf) 

uns hier Befehle anzudeuten? 

Wir sind die Repräsentanten der Nation. – 

Das war es, was er brauchte! 

Die Nation gibt Befehle und empfängt keine. – 

Um sich gleich auf den Gipfel 

der Vermessenheit zu schwingen: 

Und damit ich mich ihnen ganz deutlich erkläre 

(und erst jetz findet er, was den ganzen Widerstand, 

zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt) 

so sagen Sie Ihrem Könige, 

dass wir unsere Plätze anders nicht, 

als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden. – 

Worauf er sich, selbstzufrieden, 

auf einen Stuhl niedersetzte.“



ACHTER GESANG


Sie erblickte am 2. November 1755 

als letzte Tochter und fünfzehntes Kind 

von Kaiserin Maria Theresia 

und Kaiser Franz I. Stefan von Lothringen 

in Wien das Licht der Welt 

und erhielt die Namen Maria Antonia Josepha Johanna,

Erzherzogin von Österreich. 

Sie wurde nach der Jungfrau Maria, 

dem heiligen Antonius von Padua, 

dem heiligen Josef 

und dem heiligen Johannes benannt.


Kaiserin Maria Theresia hatte 

bis zu der Entbindung des vorletzten Kindes 

nie unter Problemen während 

und nach den Geburten ihrer Kinder gelitten. 

Doch während der Geburt von Maria Antonia 

traten zum ersten Mal Komplikationen auf, 

so dass um das Leben der Mutter 

gefürchtet werden musste. 

Die schwere Entbindung 

und das Erdbeben von Lissabon, 

das am 1. November 1755 stattgefunden 

und zahlreiche Menschenleben gefordert hatte, 

wurden als schlechte Vorzeichen 

für den weiteren Lebensweg 

der Erzherzogin gedeutet, 

zumal der König und die Königin von Portugal 

die Taufpaten des Kindes waren. 

Maria Antonia (die französische Version 

ihres Namens erhielt sie erst bei ihrer Hochzeit) 

entwickelte sich zu einem Mädchen, 

die mit ihrem fröhlichen Verhalten 

die Erzieher beeindruckte. 

Schon sehr früh zeigte sie einen Hang zur Unruhe 

und mied oft die Unterrichtsstunden, 

um sich zu zerstreuen. 

Die Erzherzogin zeigte keinerlei Neigung, 

sich zu konzentrieren 

oder sich ihren Aufgaben zu widmen.


Maria Antonia verbrachte ihre Kindheit 

im Kreis einer großen Familie, 

die liebevoll und sittlich war. 

Sie musste schon mit drei Jahren 

genauso wie die anderen weiblichen 

Familienmitglieder engste Korsetts tragen, 

die ihr oft schwere Atemprobleme bereiteten. 

Die Erziehung beruhte wie bei ihren Geschwistern 

von frühester Kindheit an 

auf einem Schulungsprogramm, 

das Maria Theresia speziell 

für ihre Kinder ausgearbeitet hatte. 

Der Stundenplan für Maria Antonia 

enthielt Tanz- und Musikunterricht

(Cembalo, Harfe und Gesang − 

ihr Gesangslehrer war Gluck), 

Theateraufführungen, Geschichte, Malen, 

Rechtschreibung, Staatskunde, Mathematik 

und Fremdsprachen. Die Mädchen 

wurden zudem in Handarbeiten 

und in der klugen und höflichen 

Konversation unterwiesen.


Maria Theresia verfolgte das ehrgeizige Ziel, 

die politischen Beziehungen Österreichs 

zu den ausländischen Staaten 

und die Stellung Österreichs 

in Europa zu verbessern, und versuchte, 

die kaiserlichen Kinder vorteilhaft zu verheiraten. 

Sie schmiedete sehr früh Heiratspläne 

für ihre 14 Kinder. 

In ständiger Furcht vor Friedrich II. von Preußen 

und vor Russland konzentrierte sie sich 

bei diesen Eheplänen vor allem 

auf die Erweiterung der familiären Verbindungen 

zu den damals in Frankreich, Spanien, 

Neapel-Sizilien und Parma regierenden Bourbonen. 

Sowohl Maria Antonia wie auch ihre Geschwister 

heirateten Personen, die ihre Mutter 

für sie ausgesucht hatte.


Als erstes Heiratsprojekt 

aus einer Reihe von geplanten Verbindungen 

zwischen Bourbonen und Habsburgern 

fand die Vermählung zwischen Erzherzog Joseph, 

dem späteren Kaiser Joseph II., 

mit Maria Isabella von Bourbon-Parma statt. 

Als Nächstes ehelichte Josephs Bruder Leopold, 

der spätere Kaiser Leopold II., 

Prinzessin Maria Ludovika von Spanien. 

Der dritte Sohn, Erzherzog Ferdinand Karl, 

wurde mit der Erbin von Modena, 

Herzogin Beatrix von Modena-Este, verheiratet.


Im Vergleich zu der reibungslosen Realisierung 

der Heiratsprojekte ihrer Söhne 

wurde Maria Theresia 

bei den Eheverhandlungen ihrer Töchter 

mit zahlreichen Problemen konfrontiert. 

Die älteste Tochter, Erzherzogin Maria Anna, 

blieb aufgrund ihrer schlechten Gesundheit 

unverheiratet. Das kurz vor der Verwirklichung 

stehende Heiratsprojekt zwischen 

der hübschen Erzherzogin 

Marie Elisabeth von Österreich 

und dem französischen König Ludwig XV. 

von Frankreich scheiterte 

an einer Pockenerkrankung der Erzherzogin. 

Während sich Erzherzogin Maria Christine 

von Österreich ihren Ehemann, 

Herzog Albert von Sachsen-Teschen, 

selbst wählen durfte, wurde 

Erzherzogin Maria Amalia von Österreich 

gegen ihren Willen mit Herzog Ferdinand I. 

von Bourbon-Parma verheiratet. 

Erzherzogin Johanna Gabriele 

und ihre Schwester Erzherzogin Maria Josepha 

starben beide an den Pocken, 

sodass Erzherzogin Maria Karolina von Österreich 

den Platz als Braut von König Ferdinand I. 

von Neapel-Sizilien einnahm.


Im Zuge dieser traditionellen Heiratspolitik 

der Habsburger wurde frühzeitig 

eine Eheschließung zwischen Maria Antonia 

und dem Dauphin Louis-Auguste ins Auge gefasst. 

Die Vermählung zwischen der österreichischen 

Erzherzogin und dem französischen Dauphin 

sollte das letzte und zugleich ehrgeizigste 

Heiratsprojekt aus einer Reihe 

von Eheschließungen zwischen Habsburgern 

und Bourbonen sein und den Frieden 

zwischen Frankreich und Österreich besiegeln. 

Nach langwierigen Verhandlungen 

ersuchte 1769 König Ludwig XV. von Frankreich 

um die Hand der Erzherzogin Maria Antonia 

für seinen Enkel und Erben, den Dauphin. 

Nachdem der Heiratsvertrag unterzeichnet worden war, 

analysierte Maria Theresia die Erziehung 

ihrer Tochter Maria Antonia und bemerkte 

gravierende Mängel in der Allgemeinbildung 

und in der Beherrschung der französischen Sprache. 

Erst jetzt wurden Erzieher, 

Tanz- und Sprachlehrer engagiert, 

die die österreichische Erzherzogin 

innerhalb kürzester Zeit 

auf das Amt einer französischen Königin 

vorbereiten sollten. Von nun an bestand 

die Kaiserin darauf, dass ihre Tochter 

bis zu ihrer Abreise das Schlafgemach 

mit der Mutter teilte. 

Ihr Französischlehrer lobte ihre Freundlichkeit, 

ihre Intelligenz und ihre musikalischen Fertigkeiten, 

jedoch sei sie ansonsten weitgehend ungebildet. 

Die Faulheit und insbesondere die Leichtfertigkeit 

der Prinzessin mache es ihm schwer, 

sie zu unterrichten.


Am 19. April 1770 fand die Vermählung 

in der Augustinerkirche in Wien statt. 

In den folgenden Tagen wurde die Abreise 

von Maria Antonia vorbereitet, 

und Maria Theresia versuchte, 

das weinende Kind mit den Worten zu beruhigen: 

Seien Sie gut zu dem französischen Volk, 

damit man sagen kann, 

ich hätte ihm einen Engel geschickt.“


Das vierzehnjährige Mädchen 

verabschiedete sich am 21. April 1770 

von ihrer Mutter und von den Geschwistern in Wien 

und trat mit einem imponierenden Brautzug 

seine Reise nach Frankreich an. 

Sie fuhr die Donau entlang, 

und über München und Augsburg gelangte sie 

unter anderem nach Ulm und Freiburg im Breisgau. 

Danach erfolgte am 7. Mai die „Übergabe“ 

auf „neutralem Gebiet“, 

einer unbewohnten Rheininsel vor Straßburg. 

Im Rahmen dieser Übergabe 

musste sich das junge Mädchen 

von allen österreichischen Freunden 

und Bekannten trennen 

und vollständig entkleiden. 

Anschließend wurde sie mit französischen 

Gewändern bekleidet. 

An diesem Tag wurde aus der österreichischen 

Erzherzogin Maria Antonia 

die französische Dauphine Marie Antoinette.


In Straßburg und in Saverne 

war Marie Antoinette Gast 

von Kardinal Louis de Rohan, 

der später eine wichtige Rolle 

in der Halsbandaffäre spielen sollte. 

Erst am 16. Mai 1770 fand die eigentliche Vermählung 

von Marie Antoinette und dem Dauphin 

im Schloss Versailles statt, 

und die Dauphine wurde offiziell 

am französischen Hof eingeführt. 

Ein Fest anlässlich der Hochzeit folgte dem anderen, 

Empfänge, Bälle, Theaterveranstaltungen. 

Als Abschlussveranstaltung war am 30. Mai 1770 

ein riesiges Volksfest geplant, 

das auf der Place Louis Quinze stattfand: 

mit Musik, Feuerwerk, Wein, Brot und Fleisch 

auf Staatskosten. Die Menschenmassen 

drängten sich auf dem und rund um den Platz, 

wo sich riesige, unzulänglich abgesicherte 

Baugruben für Prachtbauten befanden. 

Feuerwerkskörper, die krachend und zischend 

in der Menschenmenge explodierten, 

lösten eine Panik aus. 

Die Festbesucher flüchteten nach allen Seiten, 

stießen und drängten, viele stürzten 

in die Baugruben oder wurden zu Tode getrampelt. 

Das mangelhaft organisierte Fest 

forderte 139 Tote und hunderte Verletzte. 

Die Toten wurden auf dem Friedhof 

cimetière de la Madeleine bestattet – 

23 Jahre später wurde hier der Leichnam 

der Königin in einem Massengrab verscharrt.


Am französischen Hof 

fiel die junge und unerfahrene Marie Antoinette 

meist negativ auf. Als erste Hofdame 

wurde ihr die sittenstrenge 

Madame Noailles zugewiesen, 

doch Marie Antoinette fühlte sich 

von der älteren Dame bevormundet 

und bezeichnete sie zumeist als Madame l’Étiquette. 

Der Prinzessin waren die französischen Sitten fremd, 

und sie stützte sich fast ausschließlich 

auf den österreichischen Botschafter, 

den Grafen von Mercy-Argenteau. 

Dieser war ihr von Maria Theresia 

als Mentor beigegeben 

und sollte zugleich Maria Theresia 

auf dem Laufenden halten. 

So entstand die berühmte Korrespondenz 

Mercy-Argenteaus, eine wertvolle Chronik 

von Marie Antoinettes Leben, 

ihrer Heirat 1770, bis zum Tode 

Maria Theresias im Jahr 1780.


In ihren ersten drei Ehejahren 

stand sie nicht nur unter dem Einfluss von Mercy, 

sondern auch unter dem von drei 

unverheirateten Töchtern des Königs, 

Adelaide, Madame Victoire und Madame Sophie. 

Diese benutzten die naive und gutmütige Dauphine 

für ihre diversen Ränkespiele, 

die vornehmlich gegen die Mätresse 

des Königs gerichtet waren, 

die für die drei Damen eine Persona non grata war. 

Beeinflusst durch die sogenannten Tanten 

hegte Marie Antoinette eine große Abneigung 

gegen die Mätresse Ludwigs XV., 

Madame Dubarry. Obwohl diese 

viele Verbindungen am Hofe hatte, 

weigerte sich die Dauphine, mit ihr zu sprechen, 

und der Dubarry war es nicht gestattet, 

das Wort an die künftige Königin zu richten. 

Erst nachdem die Kronprinzessin 

dem schriftlichen Rat ihrer Mutter folgte, 

sich bei Hofe anzupassen, 

sprach sie nach zwei Jahren 

der Dubarry gegenüber die berühmten Worte 

Il y a bien du monde aujourd’hui à Versailles“. 

Das waren die ersten und die letzten Worte, 

die die Dauphine an Gräfin Dubarry richtete.


Nachdem Marie Antoinette 

die Prinzessin Lamballe kennengelernt 

und einen Zirkel eigener Freunde 

um sich geschart hatte, wandte sie sich langsam 

vom Einfluss der „Tanten“ ab, 

was diese ihr mit zunehmender Missgunst dankten. 

Die Dauphine begann die Möglichkeiten 

ihrer Stellung auszunutzen und besuchte 

Bälle oder die Pariser Oper, 

auch protegierte sie den Komponisten Gluck, 

ihren ehemaligen Gesangslehrer. 

Eine ihrer Leidenschaften war das Pharo-Spiel, 

bei dem sie immer wieder große Summen verspielte. 

Sie gab monatlich etwa 15.000 Livres aus. 

Ein Großteil der Franzosen hungerte 

und diese Verschwendung trug 

nicht zur Beliebtheit Marie Antoinettes bei.


Die Thronbesteigung des jungen Königspaars 

nach dem Tod Ludwigs XV. im Mai 1774 

wurde enthusiastisch begrüßt. 

Ihre ersten Schritte brachten Marie Antoinette 

aber bereits in offene Konflikte 

mit der anti-österreichischen Partei. 

So drängte sie hartnäckig auf die Entlassung 

des Herzogs von Aiguillon und tat alles, 

was in ihrer Macht stand, 

um den früheren Außenminister Choiseul zu berufen, 

der aufgrund einer Intrige der Madame Dubarry 

sein Amt hatte aufgeben müssen. 

Daher hatte sie alle Feinde Choiseuls 

und der österreichischen Allianz gegen sich. 

Die Tanten Ludwigs XVI. 

nannten Marie Antoinette verächtlich 

l’Autrichienne, „die Österreicherin“. 

Dabei handelte es sich um ein Wortspiel, 

da es im Französischen beinahe wie 

l’autre chienne („die andere Hündin“) 

ausgesprochen wird. Ihr legerer Umgang 

mit der ihr verhassten Hofetikette 

schockierte viele Höflinge, 

und ihr Hang zu Vergnügungen 

ließ sie die Gesellschaft des Bruders des Königs, 

des späteren Königs Karl X., 

und seines jungen und ausschweifenden Zirkels suchen.


Marie Antoinette gehörte schon in Wien 

zu den Schülerinnen des von ihr 

an der Pariser Oper protégierten Gluck. 

In Versailles nahm sie weiter Harfenunterricht 

bei Philipp Joseph Hinner, 

ihrem ursprünglich aus Wetzlar stammenden 

Harfenlehrer („maître de harpe de la reine“). 

Nach 1760 nahm die Harfenliteratur 

in Paris deutlich zu. Dies wurde speziell 

durch ihr Beispiel, unter anderem 

durch ihre Harfenkonzerte 

in ihrem Salon, begünstigt.


Ihre dynastische Hauptaufgabe – 

Mutter eines Thronfolgers zu werden – 

erfüllte Marie-Antoinette dagegen lange nicht. 

Für das jahrelange Ausbleiben 

eines männlichen Erben 

machten die Öffentlichkeit und der Hof 

die Königin selbst verantwortlich, 

der in Schmähschriften statt Interesse an ihrem Mann 

eine immer größere Anzahl an Affären 

nachgesagt wurde. Ab dem Herbst 1774 

wurden ihr in Pamphleten 

auch lesbische Neigungen vorgeworfen.


Ihr verschwenderischer Lebensstil – 

ihr Interesse galt Modefragen 

und extravaganten Frisuren – 

brachte sie ebenso in Misskredit 

wie ihre freundschaftlich-geschäftliche Beziehung 

zur Modistin Rose Bertin. 

Über die Ausgaben für ihr kleines Schloss 

Le Petit Trianon, das sie von Ludwig 1774 

als Ort der Erholung abseits der Versailler Etikette 

zum Geschenk erhielt, wurden 

überzogene Berichte verbreitet. 

Indem sie den Zugang zum Petit Trianon 

auf ihre Freunde und Gönner reduzierte, 

beleidigte sie die ausgeschlossenen 

Mitglieder des Hofes.


Marie Antoinettes Freundschaft 

zur Prinzessin Lamballe verlor an Intensität 

und deren Stellung wurde zunehmend 

von der Gräfin Polignac eingenommen. 

Der Gräfin gelang es, mehr und mehr 

Mitglieder ihrer eigenen Familie 

an den Hof zu holen und durch Marie Antoinettes 

Einflussnahme mit Ämtern und Titeln zu versehen, 

was der Versailler Hof schlichtweg 

als skandalös empfand. 

Die Zahl ihrer Feinde und Neider wuchs. 

Unter ihnen waren die Tanten des Königs, 

der Graf von Provence, 

der Herzog von Orléans 

und seine Anhänger im Palais Royal.


In dieser kritischen Zeit besuchte ihr Bruder, 

Kaiser Joseph II., Frankreich. 

Er hinterließ der Königin ein Memorandum, 

das ihr in unmissverständlichen Worten 

die Gefahren ihres Verhaltens aufzeigte. 

Joseph drängte das Königspaar zudem, 

sich endlich der Frage der Nachkommenschaft 

anzunehmen. Im Dezember 1778 wurde darauf – 

nach acht Jahren Ehe 

und vier Jahren auf dem französischen Thron – 

die Tochter Marie Thérèse Charlotte, 

Madame Royale, geboren, 

die spätere Herzogin von Angoulême. 

Nach der Geburt des Kindes, 

das nicht der erhoffte männliche Erbe war, 

lebte die Königin zurückgezogener.


Mit dem Tod ihrer Mutter Maria Theresia 

am 29. November 1780 

verlor Marie Antoinette eine strenge, 

aber umsichtige Beraterin. 

Die Stellung der Königin wurde 

durch die lang erwartete Geburt des Dauphins 

Louis Joseph Xavier François 

am 22. Oktober 1781 gestärkt. 

Auch hätte sie nach dem Tode des Ersten Ministers, 

des Grafen von Maurepas, 

erheblichen Einfluss auf die öffentlichen 

Angelegenheiten ausüben können.


Der Einfluss der Familie Polignac 

erreichte nun einen weiteren Höhepunkt. 

Madame de Polignac gelang 

die Ernennung Calonnes 

zum Generalkontrolleur der Finanzen, 

und sie folgte Madame de Guise 

nach dem Konkurs des Prinzen Guise 

als Gouvernante der Kinder. 

Sie unterstützte auf Anraten Mercys 

die Bestellung von Loménie de Brienne 

zum Generalkontrolleur; eine Ernennung, 

die zwar allgemein gutgeheißen wurde, 

aber nach dessen Scheitern 

der Königin zur Last gelegt wurde.


Von ihr war die Anekdote im Umlauf, 

sie habe auf die Vorhaltung, 

die Armen könnten sich kein Brot kaufen, 

geantwortet: „Wenn sie kein Brot haben, 

dann sollen sie Gebäck essen.“ 

Dieser Ausspruch wurde allerdings bereits 

Jahre vor Marie Antoinettes Thronbesteigung 

1774 von Jean-Jacques Rousseau um 1766 zitiert. 

Im sechsten Buch seiner 1770 vollendeten 

und 1782 veröffentlichten Autobiografie 

Die Bekenntnisse findet sich die Stelle: 

Endlich erinnerte ich mich des Notbehelfs 

einer großen Prinzessin, der man sagte, 

die Bauern hätten kein Brot, 

und die antwortete: Dann sollen sie Gebäck essen!“ 

Es könnte sich um eine Wanderanekdote handeln, 

die auch schon der ersten Frau 

von Ludwig XIV. zugeschrieben wurde.


Wie unpopulär Marie Antoinette nun war, 

zeigte sich 1785 in einem Betrugsskandal, 

der sogenannten Halsbandaffäre. 

An dieser Affäre war Marie Antoinette 

nicht aktiv beteiligt, doch ihr Lebenswandel 

machte es dem Volk nahezu unmöglich, 

an ihre Unschuld zu glauben.


Mit ihrem Weiler beim Petit Trianon, 

in dem sie spielerisch das Leben 

einer einfachen Bauersfrau nachahmte, 

brüskierte sie den Hochadel 

ebenso wie das Landvolk. 

Marie Antoinette war aber oft auch 

ein Opfer der Umstände, 

die ihr häufig keine Wahl 

zu umsichtigem Handeln ließen. 

Als sie sich, mit den ewigen 

Verschwendungsvorwürfen konfrontiert, 

im Jahr 1783 in einem schlichten Leinenkleid 

porträtieren ließ, gingen die Seidenweber 

auf die Straßen und beklagten, 

eine Königin, die sich so schlecht kleide, sei schuld, 

wenn die Seidenweber verhungerten“.


Am Tag nach Allerheiligen 1783 

erlitt Marie Antoinette erneut eine Fehlgeburt 

im dritten Monat ihrer Schwangerschaft. 

Marie Antoinette gebar in den folgenden Jahren 

zwei weitere Kinder, 

am 27. März 1785 Louis-Charles, 

Herzog der Normandie, später Dauphin 

und von den Royalisten 

als König Ludwig XVII. bezeichnet, 

sowie am 9. Juli 1786 Sophie-Beatrix, 

die allerdings elf Monate später verstarb.


Bei einem Theaterbesuch 

kurz nach der Halsbandaffäre 

wurde sie vom Publikum ausgebuht. 

Nun erst wurde ihr klar, 

was sich über Monate und Jahre 

an Hass und Feindschaft gegenüber 

dem Herrscherhaus beim Volke aufgestaut hatte. 

Sie war nun bereit, ihren Lebensstil zu ändern, 

und verzichtete auf kostspielige Annehmlichkeiten. 

Es gab keine Hasardspiele mehr in ihren Salons, 

Günstlinge in Trianon verloren ihre Positionen. 

Sie mied das Theater, Bälle und Empfänge. 

Sie zog sich in den Kreis ihrer Familie zurück, 

wo sie sich mit den Kindern beschäftigte, 

und versuchte ein neues, stilleres Leben zu führen. 

Diese Einsicht kam jedoch zu spät.


Das Jahr 1789 stellte einen Wendepunkt 

im Leben Marie Antoinettes dar. 

Am 4. Juni 1789 starb ihr ältester Sohn. 

Die schlechte Finanz- und Wirtschaftslage Frankreichs 

sollte durch die Generalstände beraten werden. 

Mit der Erklärung des dritten Standes, 

sich als Nationalversammlung zu betrachten, 

begann die Französische Revolution. 

Am 5. und 6. Oktober 1789 

zwangen die Revolutionäre 

die königliche Familie, 

von Versailles nach Paris 

in den Tuilerienpalast umzuziehen. 

Da Marie Antoinette sich in Paris hilflos 

und isoliert vorkam, stützte sie sich 

auf ihre Freunde außerhalb Frankreichs.


Am 20. Juni 1791 versuchte die königliche Familie, 

ins Ausland zu fliehen. 

Marie Antoinettes langjähriger Freund 

Graf Hans Axel von Fersen 

spielte bei der Flucht nach Varennes 

eine führende Rolle. In Varennes 

wurde der König erkannt und verhaftet. 

Die königliche Familie wurde daraufhin 

unter Bewachung nach Paris zurückgebracht. 

Am 25. Juli 1792 veröffentlichte 

der Oberbefehlshaber der gegen Frankreich 

alliierten Truppen, Karl Wilhelm Ferdinand, 

Herzog von Braunschweig-Lüneburg, 

auf Bitten Marie Antoinettes 

das sogenannte Manifest des Herzogs von Braunschweig. 

In diesem wurde Gewalt samt der Zerstörung 

von Paris für den Fall angedroht, 

dass der königlichen Familie etwas zustoße. 

Daraufhin stürmte das Volk am 10. August 

die Tuilerien und brachte die königliche Familie 

in den Temple, eine ehemalige Festung 

des Templerordens. Dort wurde 

die Königsfamilie zwar streng bewacht, 

aber es gab immer noch Möglichkeiten, 

mit der Außenwelt zu kommunizieren.


Die Teilnahmslosigkeit des Königs 

führte dazu, dass die Königin 

in den Verhandlungen mitwirkte. 

Wegen ihrer Unerfahrenheit und Unkenntnis 

sowie unsicherer Informationen aus dem Ausland, 

war es schwierig für sie, 

eine klare Politik zu verfolgen. 

Ihre Haltung bei der Rückkehr 

aus Varennes hatte Antoine Barnave beeindruckt, 

der im Namen der Feuillants 

und der konstitutionellen Partei 

Kontakt mit ihr aufnahm.


Ungefähr ein Jahr verhandelte sie mit Mercy 

und dem Kaiser Leopold II., ihrem Bruder. 

In geheimen Botschaften versuchte sie 

die Herrscher Europas 

zu einer bewaffneten Intervention 

zur Niederschlagung der Revolution zu bewegen. 

Da sie merkte, dass Barnaves Partei 

bald machtlos gegen die radikalen 

Republikaner sein würde, 

wurden ihre Appelle immer dringlicher. 

Aber die Verhandlungen dauerten an. 

Am 1. März 1792 starb Leopold II., 

ihm folgte Franz II. 

Marie Antoinette fürchtete nicht zu Unrecht, 

dass der neue Kaiser keine Intervention 

zu ihren Gunsten wagen würde. 

Während der Gefangenschaft 

erkrankte Marie Antoinettes Sohn.


Am 21. Jänner 1793 wurde Ludwig XVI. 

nach einem Schauprozess hingerichtet. 

Durch Marie Antoinettes Freunde 

wurden mehrere Versuche unternommen, 

sie und ihre Kinder zu retten. 

Auch mit Danton wurden Verhandlungen 

über ihre Freilassung 

oder einen Austausch geführt. 

Man hatte ihr bereits ihren Sohn weggenommen 

und trennte sie jetzt auch von ihrer Tochter 

und von Madame Élisabeth, 

der Schwester des Königs. 

Am 1. August 1793 überstellte man sie 

in das Conciergerie-Gefängnis.


Am 14. Oktober 1793 begann der Prozess 

gegen die „Witwe Capet“. 

Man beschuldigte sie des Hochverrats 

und der Unzucht. Ihre Haltung 

angesichts der Anschuldigungen 

nötigte selbst manchen ihrer Feinde Respekt ab, 

und ihre Antworten während der langen Verhöre 

waren klar und durchdacht. 

Die Geschworenen entschieden einstimmig 

auf schuldig und verurteilten sie zum Tode.


Die Hinrichtung fand am 16. Oktober statt. 

Um 12 Uhr wurde Marie Antoinette 

auf dem Revolutionsplatz, 

dem heutigen Place de la Concorde, enthauptet. 

Eine Zeichnung des Malers Jacques-Louis David 

zeigt die Verurteilte auf dem Henkerskarren 

bei ihrer Fahrt zur Guillotine. 

Er stand am Fenster, als sie unten 

auf der Straße vorbeigefahren wurde.


Marie Antoinette wurde in einem Massengrab 

in der Nähe der heutigen Kirche 

La Madeleine verscharrt. 

Mehr als 20 Jahre nach ihrem Tod 

wurde ihr Leichnam exhumiert, 

und Marie Antoinette wurde nun 

in der Basilika Saint-Denis in Saint-Denis, 

der traditionellen Grablege 

der französischen Könige, 

an der Seite ihres Gatten beigesetzt.



NEUNTER GESANG


Nach der Eröffnung der Generalstände 

durch König Ludwig XVI. am 5. Mai 1789 

kam es in Frankreich und insbesondere in Paris 

zur Gründung politischer Klubs. 

Als sich am 17. Juni 1789 

die Nationalversammlung konstituierte 

und drei Tage später schwor, 

erst dann wieder auseinanderzugehen, 

wenn sie eine Verfassung geschaffen hätte 

(Ballhausschwur), bildeten sich 

ausgehend von den Klubs politische Lager 

mit unterschiedlichen Auffassungen.


Ursprünglich wurde der Klub 

am 30. April 1789 als Bretonischer Klub gegründet. 

Dieser stellte seine Aktivitäten im August 1789 ein, 

da keine Einigung über das Vetorecht 

des Königs zustande kam. 

Nach einer Anregung von Sieyès im Oktober 

gründete Claude-Christophe Gourdan 

im Dezember des Jahres unter dem Namen 

Gesellschaft der Freunde der Verfassung“ 

den Klub neu. Als Versammlungsort 

hatte er die ehemalige Bücherei 

des Jakobinerklosters in Paris gefunden. 

In den folgenden Monaten entstanden 

in ganz Frankreich eine Vielzahl 

von Revolutionsklubs, 

in denen in den wirren Monaten bis 1791 

die als Cordeliers bezeichneten 

radikalen Demokraten wie 

Louis-Antoine-Léon de Saint-Just, 

Jean Paul Marat und Georges Danton 

immer mehr dominierten. 

Die meisten der gemäßigten „Feuillants“, 

die das Modell einer konstitutionellen 

Monarchie vertraten, waren 

bis zum Sommer 1791 aus dem Klub ausgeschieden.


Durchdrungen von den Gedanken 

Jean-Jacques Rousseaus wollten sie 

die in der Französischen Revolution erreichte 

konstitutionelle Monarchie 

durch eine Republik ersetzen. 

Durch Flugblätter, Zeitungsartikel 

und demagogische Reden 

beeinflussten sie zunehmend die Massen 

und fanden im ganzen Land Anhänger. 

Vor allem das einfache Volk, die Arbeiter 

und Kleinbürger, Sansculotten genannt, 

waren auf Seiten der Jakobiner. 

Diese waren fester organisiert 

als andere politische Klubs 

und unterhielten ein Netz von Filialgesellschaften 

in den Provinzen, so dass sie auch dort 

durch Flugblätter, Zeitungsartikel 

und demagogische Reden 

auf die öffentliche Meinung einwirken konnten. 

Die Französische Revolution war ein Prozess, 

weshalb auch langjährige Klubmitglieder 

ihre ursprünglichen politischen Meinungen änderten. 

So war Maximilien de Robespierre 

ursprünglich Monarchist, 

den soziale Fragen nicht interessierten. 

Die Jakobiner machten Politik für das einfache Volk. 

Arbeiter und Kleinbürger waren ursprünglich 

gegen den Krieg, forderten den Verkauf 

der Nationalgüter – das war der enteignete Besitz 

der Kirche und von Emigranten – 

in kleinen Parzellen, wollten ein geeintes, 

zentralistisches Frankreich 

und forderten eine Plan-Wirtschaft.


1792 erzwangen die Jakobiner 

gegen den Willen ihrer gemäßigten Gegenspieler, 

der Girondisten, einen Prozess gegen den König. 

Unter der Führung von Maximilien de Robespierre 

errichteten sie ab 1793 ein Schreckensregime, 

die Terrorherrschaft, 

die hauptsächlich durch Massenhinrichtung 

politischer Gegner, energische und blutige 

Unterdrückung von konterrevolutionären 

Bewegungen in den Provinzen 

und durch eine Zwangswirtschaft 

gekennzeichnet war. 1793 ließen 

die Jakobiner eine von den Ideen Rousseaus 

beeinflusste Verfassung verabschieden, 

die die direkte Demokratie stärkte, 

ein verpflichtendes Staatsziel 

(das „allgemeine Glück“) annahm 

und soziale Rechte (auf Arbeit 

und Bildung) enthielt. Diese Verfassung 

wurde aber nicht in Kraft gesetzt; 

bis zum Sieg über die Feinde 

müsse die Terror nach Robespierres Meinung 

fortgesetzt werden. Während die Jakobiner 

damit ihr eigenes Ideal von Freiheit verrieten, 

gelang es ihnen, die inneren und äußeren 

Gegner der Revolution zu besiegen.


Allerdings verloren sie durch den Terror 

mehr und mehr Anhänger. 

Im Sommer 1794 wurden 

zu den Höchstpreisen auch Höchstlöhne eingeführt, 

weshalb sich auch das Interesse der Sansculotten 

an der jakobinischen Politik verringerte. 

Im Juli siegte die Revolutionsarmee 

bei Fleurus entscheidend. 

Zwangsmaßnahmen schienen jetzt 

nicht mehr so dringend nötig. 

Durch die Hinrichtung einstiger Gefährten 

verlor Robespierre seinen Rückhalt im Konvent. 

Am 27. Juli 1794 wurde er gestürzt 

und am 28. Juli 1794 hingerichtet. 

Das war das Ende des Terrors. 

Am 11. November 1794 wurde 

der Pariser Jakobinerklub geschlossen.


In der Folgezeit musste das Direktorium 

aber noch immer mit jakobinischen 

Aufständen rechnen. So sammelten sich 

1796 ehemalige Jakobiner, 

Sansculotten und Sozialrevolutionäre 

um die von François Noël Babeuf 

initiierte Verschwörung der Gleichen 

mit dem Ziel, das Direktorium zu stürzen 

und eine kommunistische Gesellschaft 

in Frankreich durchzusetzen. 

In den von Frankreich besetzten 

oberitalienischen Regionen Piemont 

und Lombardei versuchte Filippo Buonarroti, 

einer der Wortführer der Gleichen, 

mit Hilfe italienischer Jakobiner, 

Aufstände anzuzetteln. 

Die Pläne und Maßnahmen 

der Verschwörung der Gleichen 

wurden jedoch schon relativ früh verraten, 

ihre Anführer im Mai 1796 verhaftet 

und im darauffolgenden Jahr 

entweder zum Tode (Babeuf) 

oder zur Verbannung (Buonarroti) verurteilt.


Von ihren Gegnern wird der Name „Jakobiner“ 

beleidigend genutzt: Wer so bezeichnet wurde, 

wird öffentlich als Königsmörder gebrandmarkt.



ZEHNTER GESANG


Danton stammte aus einer kleinbürgerlichen Familie. 

Sein Vater war der Steuerbevollmächtigte 

Jacques Danton, seine Mutter Madeleine 

war eine geborene Camut. 

Er war das sechste von sieben überlebenden 

Kindern der Eheleute. Als er zwei Jahre alt war, 

starb sein Vater. 1770 heiratete seine Mutter 

den Besitzer einer Baumwollspinnerei 

Jean Recordain. Als Junge hatte er 

zwei Unfälle mit Rindern, 

von denen er eine gespaltene, wulstige Oberlippe 

und eine eingedrückte Nase davontrug. 

Außerdem hatten die Pocken 

Narben in seinem Gesicht hinterlassen. 

Er besuchte zunächst die Schule in Sézanne 

und verließ dann dreizehnjährig sein Elternhaus, 

um in das Priesterseminar in Troyes einzutreten; 

zusätzlich nahm er am Schulunterricht 

der dortigen Oratorianer teil. 

Im Juli 1775 wanderte er auf eigene Faust nach Reims, 

um an der Königsweihe Ludwigs XVI. teilzunehmen. 

1775 verließ er Schule und Seminar.


1780 ging er nach Paris und wurde Schreiber 

bei einem Anwalt beim Parlament. 

Hier lernte er die Praxis des französischen 

Rechtswesens kennen und las auch 

die gängige aufklärerische Literatur seiner Zeit. 

1784 legte er in Reims das juristische Examen ab 

und durfte sich fortan Advokat nennen. 

Für das Jahr 1788 wird er in den Registern 

der Freimaurerloge Neuf Soeurs erwähnt.


1787 kaufte er dem Anwalt Charles-Nicolas Huet 

für 68.000 Livres die Klientel 

und den Titel eines der 73 Rechtsanwälte 

bei den Conseils du Roi ab. 

Das Geld musste er sich großenteils leihen, 

wobei ihm Verwandte aus Arcis 

und sein künftiger Schwiegervater halfen. 

Außerdem musste Danton eine weitere 

juristische Prüfung einer lateinisch 

gehaltenen Rede über ein vorgegebenes Thema ablegen, 

was ihm im Juli 1787 gelang. 

Anschließend konnte er sich als Anwalt installieren. 

Bis zum Rückkauf aller gekauften Ämter 

im Jahre 1791 führte „maitre d'Anton“, 

wie er sich nun nannte 

(das eingefügte Apostroph sollte 

einen Adelstitel suggerieren) 22 Prozesse. 

Diese Tätigkeit erlaubte ihm und seiner Familie – 

er hatte im Juni 1787 geheiratet – 

ein auskömmliches Leben 

in einer Sechszimmerwohnung 

in der rue des Cordeliers, nur wenige Häuser entfernt 

von Jean-Paul Marat.


Im Juli 1789 meldete er sich freiwillig 

zur Garde nationale im Pariser Distrikt 

der Cordeliers, zu dessen Präsidenten er 

im Oktober gewählt wurde. 

Nach der Aufhebung der Distrikte 1790 

engagierte er sich gemeinsam 

mit Camille Desmoulins und Jean Paul Marat 

im radikalen Club des Cordeliers, 

wenig später begann er auch 

den Jakobinerclub zu besuchen.


Danton beteiligte sich nach der misslungenen Flucht 

des Königs Ludwig XVI. 

als engagierter Befürworter einer Republik 

an einer Versammlung auf dem Marsfeld, 

die am 17. Juli 1791 

in einer Unterschriftensammlung 

den Sturz des Königs sowie 

die Einführung der Republik forderte. 

Dabei feuerten Soldaten der Regierung in die Menge. 

Als Mitorganisator des Protestes wurde Danton 

polizeilich gesucht, entzog sich aber seiner Verhaftung 

durch eine Flucht, zunächst nach Arcis-sur-Aube, 

dann nach London, von wo er anlässlich 

der Wahlen zur Gesetzgebenden Nationalversammlung 

im September 1791 zurückkehrte. 

Danton wurde als Wahlmann 

der Pariser Sektion Théâtre Français gewählt. 

Im gleichen Jahr wurde er zum Stellvertreter 

des Staatsanwalts der Kommune von Paris gewählt.


Nach eigenen Angaben spielte Danton 

durch diese Propaganda 

eine wesentliche Rolle beim Sturm 

auf die Tuilerien und der Inhaftierung 

der königlichen Familie am 10. August 1792. 

Im selben Jahr übernahm er den Posten 

des Justizministers im mehrheitlich 

girondistischen Exekutivrat, wo er bald 

eine dominierende Rolle spielte. 

Während des Ersten Koalitionskriegs 

trat er für entschlossenen Widerstand 

gegen die Invasionstruppen ein. 

Gegen Innenminister Jean-Marie Roland de La Platière 

setzte er durch, dass die Regierung in Paris blieb 

und nicht in das sicherer scheinende Gebiet 

südlich der Loire floh. 

Während der Septembermorde des Jahres 1792 

schritt er nicht ein. Laut Madame Roland 

erklärte er, das Schicksal der Gefängnisinsassen 

sei ihm vollkommen gleichgültig. 

Im September 1792 wurde Danton 

als Abgeordneter für Paris 

in den Nationalkonvent gewählt, 

woraufhin er sein Ministeramt niederlegte.


Im Nationalkonvent suchte Danton 

zunächst den Ausgleich zwischen den Parteien, 

der jakobinischen Bergpartei 

und den regierenden Girondisten. 

Diese jedoch versuchten die Opposition 

zu vernichten und erhoben 

Korruptionsvorwürfe

gegen den ehemaligen Minister Danton, 

weshalb dieser sich der demokratischen 

Opposition annäherte. An der Debatte darüber, 

ob der ehemalige König Ludwig XVI. 

hingerichtet werden sollte, nahm Danton nicht teil, 

weil er sich auf Truppenbesuch 

bei General Charles-François Dumouriez 

in Belgien aufhielt. Bei der Abstimmung im Konvent 

votierte er für die Todesstrafe.


Am 31. Januar 1793 sprach sich Danton 

für die Annexion Belgiens 

und weiterer Gebiete aus:


Frankreichs Grenzen sind 

von der Natur vorgezeichnet. 

Wir werden sie in vier Richtungen erreichen: 

Am Ozean, am Rhein, an den Alpen, an den Pyrenäen.“


Nach Dumouriez‘ Misserfolgen und Verrat 

rief er wie schon im Jahr zuvor 

zu verstärkten militärischen Anstrengungen auf. 

Am 9. März 1793 machte er sich 

die Forderung mehrerer Sektionen 

nach einem außerordentlichen Gerichtshof 

zur Aburteilung feindlicher Agenten 

im Innern zu eigen: In Anspielung 

auf die Septembermorde rief er aus: 

Wir müssen das tun, was die gesetzgebende 

Versammlung nicht getan hat: 

wir müssen schrecklich sein, 

um dem Volk zu ersparen, es zu sein“. 

Am 10. März wurden vom Konvent 

gegen die Stimmen der Girondisten, 

die Danton vorwarfen, er strebe 

nach der Diktatur, 

die Revolutionstribunale beschlossen. 

Sein weiterer Vorschlag, ein Komitee 

mit weitreichenden Exekutivvollmachten 

einzurichten, wurde zunächst zurückgewiesen. 

Weil Danton kurz zuvor als Abgesandter 

des Konvents zu Dumouriez geschickt worden war, 

bezichtigten ihn die Girondisten, 

mit dem General gemeinsame Sache zu machen; 

Danton drehte den Vorwurf am 1. April geschickt um 

und trug so zum Niedergang der Girondisten bei.


Am 6. April 1793 wurde der von Danton 

vorgeschlagene Wohlfahrtsausschuss 

schließlich eingerichtet, in dem Danton 

ein dominierendes Mitglied wurde. 

Nach dem gewaltsamen Sturz der Girondisten 

durch die Erhebung der Pariser Sansculotten 

vom 31. Mai bis 2. Juni 1793 verbündete er sich 

endgültig mit der jakobinischen Bergpartei. 

Ohne die Kanonen vom 31. Mai, 

ohne den Aufstand, würden 

die Verschwörer triumphieren“, 

rief er am 13. Juni 1793 aus. 

Trotz seiner wirkungsvollen Rhetorik 

blieben die konkreten Abwehrmaßnahmen 

von Dantons Wohlfahrtsausschuss kraftlos 

und ohne große Erfolge. Seine Versuche, 

durch diplomatische Verhandlungen 

mit dem britischen Außenminister Lord Grenville 

eine Lösung der Krise zu finden, 

scheiterten rasch und trugen ihm 

Verdächtigungen von Cordeliers ein, 

er plane, die gefangene Königin 

Marie Antoinette freizulassen 

oder sogar die radikalen Demokraten 

wiedereinzuführen. Dies führte zum Bruch 

zwischen Danton und seinen Anhängern 

und den Cordeliers. Bei der Neuwahl 

des Wohlfahrtsausschuss am 10. Juli 1793 

wurde er nicht wiedergewählt. 

Stattdessen übernahm er am 25. Juli 

den Vorsitz des Nationalkonvents. 

In dieser Position forderte Danton 

in einer Rede am 1. August 1793, 

angesichts der Bedrohungen der Revolution 

durch den Koalitionskrieg und den Aufstand 

der Vendée 

den Wohlfahrtsausschuss des Nationalkonvents 

als Notstandsregierung einzusetzen. 

Darin rief er erneut zu Terrormaßnahmen 

gegen die Feinde der Revolution 

und einer verstärkten Anstrengung im Krieg auf. 

Nachdem der Wohlfahrtsausschuss 

am 10. Oktober tatsächlich die 

von ihm geforderten unbeschränkten 

Vollmachten erhalten hatte, 

zog sich Danton für mehrere Wochen 

nach Arcis-sur-Aube zurück.


Als Danton im November 1793 

nach Paris zurückkehrte, 

war die Kampagne der Hébertisten 

für eine radikale Entchristlichung 

In vollem Gange. 

Danton solidarisierte sich mit Robespierre, 

der gegen diese Bewegung vorging. 

Unter Wortführung Camille Desmoulins‘, 

des Herausgebers des Vieux cordelier, 

polemisierten die Dantonisten 

gegen die Hébertisten 

und die radikalen Revolutionäre, 

denen sie unterstellten, allesamt Agenten 

des britischen Premierministers William Pitt zu sein. 

Am 1. Dezember 1793 erklärte Danton, 

die Sansculotten, die wiederholt 

mit Piken bewaffnet in die Politik eingegriffen hatten, 

hätten nun ausgespielt:


Wir müssen uns bewusst sein, 

dass man mit der Pike wohl den Umsturz schafft, 

dass man aber das Gebäude der Gesellschaft 

nur mit dem Kompass der Vernunft 

und des Geistes erreichen und fest verankern kann.“


Deswegen wurden Danton und seine Anhänger 

von Robespierre abschätzig 

die Nachgiebigen“ genannt.


Im März 1794 beendete der Wohlfahrtsausschuss 

die Polemik zwischen den Dantonisten, 

die für eine Mäßigung des Terrors eintraten, 

und den Hébertisten, die seine Verschärfung verlangten, 

indem er letztere zum Tode verurteilen ließ. 

Noch vor der Hinrichtung Jacques-René Héberts 

beschloss der Wohlfahrtsausschuss 

auch die Verhaftung Dantons und seiner Anhänger. 

Ihr Sprachrohr, der Vieux cordelier, 

durfte nicht mehr erscheinen. 

Robespierre erklärte, gemeinsam 

mit den von ihnen bekämpften Hébertisten 

seien die Dantonisten Teil 

der „Verschwörung des Auslands“, 

deren Ziel eine Niederlage Frankreichs 

im Koalitionskrieg sei. 

Trotz wiederholter Warnungen kehrte Danton, 

der sich zu einem Kurzurlaub in Sèvres aufhielt, 

am 29. März nach Paris zurück, 

weil er sich nicht vorstellen konnte, 

dass sich der Terror gegen ihn selbst richten würde: 

Sie werden es nicht wagen“, 

hatte er wiederholt gesagt.


Am 30. März 1794 wurde Danton 

gemeinsam mit Desmoulins, 

Jean-François Delacroix und Pierre Philippeaux 

verhaftet und zunächst 

in das Luxembourg-Gefängnis verbracht. 

Im Nationalkonvent wurde am gleichen Tag 

zunächst Kritik an den Verhaftungen laut, 

die Robespierre mit Drohungen 

zum Schweigen brachte:


Ich behaupte, dass, wer immer in diesem Augenblick 

zittert, schuldig ist, denn die Unschuld 

hat von der öffentlichen Überwachung 

nichts zu befürchten.“


Saint-Just trug die Vorwürfe 

gegen die Dantonisten 

im Zusammenhang vor: 

Beide Fraktionen, Héberts „falsche Patrioten“ 

und Dantons „Nachgiebige“, 

würden bei aller Gegensätzlichkeit 

in Wahrheit dasselbe Ziel verfolgen, 

nämlich die Revolution rückgängig zu machen. 

Es gebe nur zwei politische Richtungen 

in Frankreich, die wahren Patrioten 

und die bestechlichen 

Komplizen des Auslands“. 

Ausführlich ließ Saint-Just die nicht immer 

konsequenten Handlungen und Unterlassungen 

Dantons und seine persönlichen Beziehungen 

seit 1790 Revue passieren und deutete sie alle 

als Belege für konterrevolutionäre 

Konspiration und Korruption:


Ich bin davon überzeugt, dass diese Fraktion 

der Nachsichtigen mit allen anderen verbunden ist, 

dass sie immer scheinheilig war, 

zunächst an die neue Dynastie verkauft, 

dann an alle Fraktionen. 

Es ist klar, dass sie das Ziel verfolgten, 

das Ende des gegenwärtigen Regimes herbeizuführen, 

und es ist offensichtlich, dass es die Monarchie war, 

die man an seine Stelle setzen wollte!“


Der Konvent stimmte daraufhin einstimmig dafür, 

Danton und seine Freunde als royalistische 

Verschwörer anzuklagen.


Die Verhafteten wurden nun in die Conciergerie überstellt. 

Gegen seine erklärte Absicht, sich selbst zu verteidigen, 

bekam Danton einen Pflichtverteidiger zugewiesen. 

Im Prozess vor dem Revolutionstribunal, 

der am 2. April unter dem Vorsitz 

von Martial Joseph Armand Herman 

in der Salle de la Liberté des Justizpalastes 

eröffnet wurde, pflichtete er zumeist 

dem Ankläger Antoine Quentin Fouquier-Tinville bei. 

Unter den insgesamt vierzehn Angeklagten 

befanden sich neben Danton 

und seinen oben erwähnten Anhängern 

auch Fabre d’Eglatine, 

General François-Joseph Westermann, 

der den Vendée-Aufstand niedergeschlagen hatte, 

der Abgeordnete Marie-Jean Hérault de Séchelles 

sowie einige bestechliche Konventsabgeordnete, 

angebliche Agenten des Auslands und Spekulanten. 

Diese Kombination politischer und finanzieller 

Delikte sollte einen Schuldspruch garantieren. 

Die Richter waren für den Fall, dass sie Milde zeigten, 

mit Bestrafung bedroht worden, 

und statt der üblichen zwölf 

gab es nur sieben Geschworene, 

da man für die heikle Aufgabe, 

den beliebten Revolutionär abzuurteilen, 

sonst niemand fand.


Während des Prozesses gab Danton 

sarkastische Bonmots zum Besten. 

So erwiderte er zu Beginn auf die Frage 

nach seinem Wohnort: „Bald im Nichts, 

danach im Pantheon der Geschichte! 

Was macht es mir schon aus!“ 

Er forderte, Entlastungszeugen vorzuladen 

und im Konvent einen Ausschuss zu bilden, 

der das diktatorische System 

des Wohlfahrtsausschusses untersuchen solle. 

Am 3. April hielt er eine großangelegte 

Verteidigungsrede, in der er alle Vorwürfe 

der Anklage zurückwies und sich 

als konsequenten und uneigennützigen 

Kämpfer für die Revolution darstellte. 

Da das Protokoll des Prozesses 

als unzuverlässig gilt, besteht 

über den genauen Inhalt seiner Ausführungen 

keine Sicherheit. Es scheint ihm jedoch 

gelungen zu sein, das Publikum 

auf seine Seite zu ziehen. Richter Herman 

unterbrach nach einigen Stunden Dantons Rede 

und schlug vor, den Rest auf den Folgetag 

zu verschieben. Danton willigte ein, 

bekam am folgenden Tag das Wort 

aber nicht wieder erteilt. Zunächst wurden 

die Aussagen anderer Angeklagter gehört, 

dann brachte ein Bote einen Beschluss des Konvents, 

wonach „jeder Verschwörer, 

der sich Gerichtsbarkeit der Nation widersetzt 

oder sie beschimpft, von der Sitzung 

ausgeschlossen werden“ könne. 

Dieser Beschluss, um den Fouquier-Tinville 

und Herman dringlich gebeten hatten, 

war von Saint-Just ohne Aussprache 

durchs Parlament beschlossen worden. 

Herman wendete ihn am 5. April an, 

als die Angeklagten heftig 

gegen Fouquier-Tinvilles Vorschlag protestierten, 

die Anhörung vorzeitig zu beenden, 

falls die Geschworenen sich für hinreichend 

informiert erklärten. Alle Angeklagten 

wurden zurück in die Conciergerie gebracht. 

Im Gerichtssaal wurde anschließend 

ein angebliches Beweisstück präsentiert: 

Ein in Dantons Wohnung gefundener Brief 

eines englischen Agenten vom September 1793, 

der einen Bankier anwies, „C.D.“ 

für konterrevolutionäre Dienste zu entlohnen. 

Das konnte „citoyen Danton“ heißen, 

aber auch „Camille Desmoulins“, 

die Zuordnung ist nicht sicher. 

Die Geschworenen erklärten sich nun 

für hinreichend informiert und sprachen 

alle vierzehn Angeklagten schuldig; 

ein klarer Justizmord.


Das Todesurteil wurde den Angeklagten 

von einem Gerichtsdiener im Gefängnis vorgelesen, 

anschließend wurden sie auf Karren 

zur Place de la Révolution transportiert, 

wo die Guillotine stand. 

Danton bestieg als letzter der Vierzehn das Schafott. 

Seine letzten Worte waren an den Henker gerichtet: 

Vergiss vor allem nicht, 

dem Volk meinen Kopf zu zeigen; 

er ist gut anzusehen“. 

Sein Leichnam wurde in einem Massengrab 

auf dem Cimetière des Errancis bestattet.



ELFTER GESANG


Der Wohlfahrtsausschuss diente 

als Exekutivorgan des Nationalkonvents. 

Hatte er anfangs 25 Mitglieder, 

so änderte sich die Organisation bereits 

mit dem 6. April, als der Wohlfahrtsausschuss 

vom eigentlichen Sicherheitsausschuss 

getrennt wurde und nun neun 

(später zwölf) Mitglieder hatte. 

Seine Hauptaufgabe bestand ursprünglich 

in der Kontrolle des Konvents und der Regierung. 

Die Koordination der Verteidigung 

der Revolution nach innen und außen 

gehörte auch zu seinen Aufgaben. 

In dringenden Fällen konnte er auch 

die Verfügungen der Minister suspendieren 

und selbständig nötige Maßregeln ergreifen. 

Seine Vollmacht war auf einen Monat beschränkt 

und musste dann erneuert werden, 

wie auch die Mitglieder nur 

auf einen Monat gewählt waren.


Nachdem die weniger radikalen Girondisten 

Mitte 1793 beseitigt worden waren, 

gelang es den Führern der Jakobiner 

(Robespierre, Danton und Saint-Just), 

den Ausschuss unter ihre Kontrolle zu bringen. 

Sie bauten den Wohlfahrtsausschuss 

bis Ende 1793 zur zentralen Schaltstelle der Macht um. 

Am 10. Oktober erhielt das Gremium 

unbeschränkte Vollmachten zugebilligt. 

Vor allem unter dem Einfluss Robespierres 

wurde der Wohlfahrtsausschuss, 

ausgestattet mit diktatorischen Vollmachten, 

zum Organ der jakobinischen Schreckensherrschaft.


Die Terrormaßnahmen durch den Wohlfahrtsausschuss 

und das Revolutionstribunal 

führten letztlich zu Sturz und Hinrichtung Robespierres 

und seiner Anhänger am 27./28. Juli 1794.


Die Einflussmöglichkeiten des Ausschusses 

wurden danach auf die Leitung 

der militärischen und diplomatischen 

Geschäfte begrenzt. Im Oktober 1795 

wurde er schließlich ganz aufgelöst.



ZWÖLFTER GESANG


Marie Anne Charlotte Corday d’Armont 

wird meist kurz als Charlotte Corday bezeichnet, 

obwohl sie selbst ihre Korrespondenz 

stets mit Marie Corday 

oder nur mit Corday signierte. 

Einer verarmten Familie 

des alten normannischen Kleinadels entstammend 

war sie die zweite Tochter 

von Jacques-François de Corday d’Armont 

und seiner Gattin Charlotte-Jacqueline-Marie 

de Gautier des Authieux de Mesnival. 

Sie wurde in der ehemaligen Ortschaft Les Ligneries 

im Weiler Ronceray geboren 

und in der Kirche Saint-Saturnin katholisch getauft. 

Sie hatte zwei Brüder, 

Jacques-François-Alexis

und Charles-Jacques-François, 

sowie zwei Schwestern, 

Marie-Charlotte-Jacqueline, die als Kind verstarb, 

und Jacqueline-Jeanne-Éléonore. 

In den 1770er Jahren zog sie mit ihren Eltern 

in die nächste größere Stadt Caen um. 

Ihr Vater, sechstes Kind von Jacques-Adrien de Corday 

und Marie de Belleau, 

hatte als Leutnant in der Armee 

des französischen Königs gedient 

und war um 1763 aus dem Militärdienst ausgeschieden. 

Er war Opfer der Erstgeburtsgesetze, 

da er ihretwegen in für seinen Stand sehr bescheidenen

finanziellen Verhältnissen leben musste. 

In einer Schrift L’égalité des partages, fille de la justice 

wandte er sich 1790 gegen das Erstgeburtsrecht.


Die Mutter von Charlotte Corday 

starb bereits am 8. April 1782 im Kindbett. 

Nachdem sich der Vater vergeblich 

um einen Platz für seine Töchter 

in dem prestigeträchtigen Maison de Saint-Cyr 

bemüht hatte, konnte er die damals 13-jährige 

Charlotte und ihre jüngere Schwester 

in Caen in der römisch-katholischen Abtei 

Sainte-Trinité unterbringen, 

in der eine von Charlotte Cordays Tanten, 

Madame de Louvagny, als Nonne lebte. 

Indessen war die Abtei keine Erziehungsanstalt 

und nur der König hatte das Recht, 

hier fünf dem armen normannischen Adel angehörige 

Mädchen beherbergen zu lassen. 

Die Gunst, seine Töchter aufzunehmen, 

wurde Jacques-François de Corday wohl 

dank der Vermittlung von Madame de Pontécoulant, 

der Stellvertreterin der Äbtissin 

Madame de Belsunce, gewährt.


Charlotte Corday freundete sich 

mit zwei Mitschülerinnen an, 

Mademoiselle de Faudois 

und Mademoiselle de Forbin. 

Laut einem Brief von Madame de Pontécoulant 

ließ sie sich nicht anmerken, 

wenn sie einmal krank war. 

Sie genoss relativ viele Freiheiten 

und entwickelte einen stolzen, energischen 

und selbständigen Charakter. 

Royalistisch gesinnte Autoren 

dichteten ihr eine Liebesbeziehung 

zum jungen de Belsunce, 

dem Neffen der Äbtissin, an. 

Früh wurde sie mit den Ideen der Aufklärung vertraut. 

In der Klosterbibliothek las sie die Bibel 

sowie Werke von Guillaume Thomas François Raynal, 

Jean-Jacques Rousseau und Voltaire. 

Sie wurde bei ihrem späteren Attentat auf Marat 

durch die Figur der alttestamentlichen 

Judith inspiriert. 

Beispielhaft dürften für sie auch 

in Plutarchs Viten beschriebene, 

republikanisch gesinnte antike Helden gewesen sein.


Die Abtei wurde am 1. März 1791 

im Zuge der Französischen Revolution aufgelöst 

und die nunmehr 22-jährige Charlotte Corday 

kehrte zu ihrem Vater zurück. 

Dieser war ein gemäßigter Royalist, 

während seine Tochter die 1789 ausgebrochene 

Französische Revolution zunächst begrüßte. 

Im Juni 1791 zog sie nach Caen 

zu einer reichen, einsamen, verwitweten Tante, 

Madame Le Coustellier de Bretteville-Gouville, 

deren Gesellschafterin sie wurde. 

Die zwei Brüder von Charlotte Corday 

waren eifrige Royalisten 

und emigrierten Ende 1791. 

Beim Abschiedsessen für ihren älteren Bruder, 

der nach Koblenz aufbrach, weigerte sie sich, 

auf die Gesundheit Ludwigs XVI. zu trinken, 

da er ein schwacher König sei.


In der Anfangsphase der Französischen Revolution 

hatten die gemäßigten Republikaner, 

die Girondisten, das politische Übergewicht. 

Diese Partei, mit der Charlotte Corday sympathisierte, 

verlor ihren Einfluss aber immer mehr 

an die radikale jakobinische Bergpartei. 

In Caen erlebte Charlotte Corday 

die politischen Kämpfe aus der Sicht der Provinz, 

die zu den Girondisten tendierte 

und den extremen Jakobinern abgeneigt war. 

Sie las gemäßigte Journale 

wie den Courrier français 

und das Journal von Charles Frédéric Perlet. 

Im Laufe der immer gewaltsamer werdenden 

Ausschreitungen sah sie ihre aufklärerischen 

Ideale verraten. 

Ende Mai/Anfang Juni 1793 wurde 

der Nationalkonvent von bewaffneten Sansculotten 

umstellt und durch diese Machtdemonstration 

die Girondisten gestürzt. 

18 ihrer geächteten Vertreter flohen nach Caen, 

wo sie vorerst sicher waren. 

Dort hielten sie politische Versammlungen ab 

und planten, bewaffneten Widerstand 

gegen die Jakobiner zu leisten.


Einigen Treffen der in Caen versammelten Girondisten 

wohnte die als attraktive, braunhaarige Frau 

geschilderte Charlotte Corday bei 

und war über die Wirren, 

die ihr Vaterland erschütterten, tief bewegt. 

Sie entschied sich dazu, selbst 

und allein zu versuchen, das Blutregime 

der Jakobiner zu beenden. 

Einen Führer der Jakobiner, Jean Paul Marat, 

betrachtete sie als den Hauptübeltäter, 

der durch seine Nähe zum Volk 

dieses manipuliere 

und es zu unzivilisierten Gräueltaten 

und Morden aufhetze, so etwa 

in seiner verbreiteten Zeitschrift L’Ami du Peuple. 

Nun wollte sie Marat, die in ihren Augen 

treibende Kraft hinter den Septembermorden 

und der Vernichtung der Girondisten, 

damit also den Hauptverantwortlichen 

für die Schreckensherrschaft, töten. 

Offenbar glaubte sie, dass die alleinige 

Beseitigung des ohnehin bereits sehr kranken Marat, 

dessen Einfluss sie überschätzte, genüge, 

um eine Konterrevolution einzuleiten 

und Frankreich so zu retten. 

Sie hielt ihre vielleicht schon seit längerem 

geplante Mordtat nicht für einen kriminellen, 

sondern – wie sie in ihrem anschließenden Prozess 

betonte – patriotischen Akt, 

um einen Beitrag zur Wiederherstellung 

des Friedens in ihrem Vaterland zu leisten. 

Dafür war sie bereit, ihr Leben zu opfern. 

Ihren Mitbürgern warf sie in einem 

im Gefängnis verfassten Brief 

mangelnde Zivilcourage vor.


Um möglichst große Aufmerksamkeit zu erzielen 

und anderen Patrioten als Beispiel zu dienen, 

hatte Charlotte Corday vor, 

Marat am 14. Juli, dem Jahrestag 

des Sturms auf die Bastille, 

in der Öffentlichkeit zu erstechen. 

Sie wandte sich am 7. Juli 1793 

an den in Caen weilenden Girondisten 

Charles Barbaroux und erhielt von ihm 

ein Empfehlungsschreiben 

für dessen noch im Konvent sitzenden Freund, 

den Deputierten Claude Romain Lauze de Perret. 

Durch diesen erhoffte sie, 

Einlass in den Konvent zu erhalten, 

wo sie Marat inmitten von dessen Genossen 

zu ermorden beabsichtigte. 

Sie gab gegenüber Barbaroux vor, 

sich für ihre Jugendfreundin, 

Mademoiselle de Forbin, einsetzen zu wollen, 

die als einstige Kanonikerin ihre Rente nicht erhielt. 

Ihren mittlerweile in der Rue du Beigle 

in Argentan lebenden, nichtsahnenden Vater 

suchte sie nicht persönlich auf, 

um ihm Lebewohl zu sagen, 

sondern schrieb ihm stattdessen brieflich, 

dass sie nach England auswandere, 

da sie sich in Frankreich schon seit langem 

nicht mehr ruhig und glücklich fühle. 

Als Grund für diesen Schwindel 

gab sie bei späteren Befragungen an, 

dass sie geglaubt habe, nach dem von ihr 

geplanten öffentlichen Mord an Marat 

sofort von dessen Anhängern 

in Stücke gerissen zu werden, 

ohne dass ihr Name je bekannt geworden wäre; 

so hätte sie ihre Familie heraushalten können.


Bereits im April 1793 hatte sich Charlotte Corday 

einen Reisepass für Paris besorgt. 

Am 9. Juli desselben Jahres fuhr sie von Caen, 

wo sie bei ihrer Tante gelebt hatte, 

in einer Postkutsche nach Paris. 

Laut ihrer Darstellung soll ihr ein junger Mann 

während der Reise einen von ihr abgelehnten 

Heiratsantrag gemacht haben. 

Nach ihrer Ankunft in Paris 

am Mittag des 11. Juli 

bezog sie im Hôtel de la Providence 

in der Rue des Vieux-Augustins Nr. 17 Quartier. 

Mit Barbaroux’ Empfehlungsbrief 

begab sie sich am nächsten Tag 

zu Lauze de Perret, der ihr mitteilte, 

dass Marat wegen seines Hautleidens 

stets daheim blieb und nicht mehr 

im Konvent erschien. 

So musste sie ihren ursprünglichen Mordplan aufgeben 

und stattdessen versuchen, in Marats Wohnung 

zu gelangen und ihn dort zu erdolchen.


Am Morgen des 13. Juli 1793 

erstand Charlotte Corday unter den Arkaden 

des Palais Royal um 40 Sous 

ein Küchenmesser 

mit einer 20 cm langen Klinge und einer Scheide. 

In ihrem Hotelzimmer schrieb sie die Adresse 

An Frankreichs Freunde von Recht und Frieden“, 

in der sie Marat als Urheber 

aller damals in Frankreich herrschender Übel 

beschuldigte und ihre geplante Tat erklärte. 

Unter dem Vorwand, dass sie einige Girondisten 

aus ihrer Heimatstadt Caen, 

einer Hochburg der Konterrevolution, 

denunzieren wolle, suchte sie Marat 

am Mittag des 13. Juli in dessen Domizil 

in der Rue des Cordeliers Nr. 20 auf, 

wurde aber zweimal von Simone Évrard, 

Marats ihr gegenüber misstrauischen Lebensgefährtin, 

nicht eingelassen. Sie fuhr zurück in ihr Hotel, 

bat Marat schriftlich um eine Unterredung 

und fuhr noch am Abend desselben Tages 

zurück zu Marats Wohnung, 

ohne Antwort erhalten zu haben.


So kam die ein weißes Kleid 

und eine schwarze Haube tragende Charlotte Corday 

am 13. Juli etwa eine halbe Stunde nach 19 Uhr 

wieder in der Rue des Cordeliers an. 

Unter dem Gewand hatte sie das Messer versteckt. 

Außerdem hatte sie ein vorbereitetes Billet bei sich, 

in dem sie ihre Hoffnung ausdrückte, 

von Marat empfangen zu werden, 

da sie ihm wichtige Dinge zu enthüllen habe. 

Die Pförtnerin wollte die Fremde abweisen, 

doch konnte diese sich an der Angestellten vorbei 

ins Haus drängen. 

Simone Évrard öffnete auf den Lärm hin 

die Wohnungstür, suchte aber Charlotte Corday 

erneut den Eintritt zu verwehren. 

Marat saß gerade in einer Wanne im Badezimmer, 

weil das Wasser, in dem sich Heilkräuter befanden, 

den durch seine Hautkrankheit ausgelösten 

Juckreiz linderte. 

Er hörte den lauten Wortwechsel am Eingang 

und befahl, dass die Besucherin 

zu ihm geführt werden solle. 

Daraufhin ließ Simone Évrard sie zu Marat vor 

und ließ die beiden allein.


Der Revolutionsführer hatte ein feuchtes Handtuch 

um seine ungepflegten Haare gewickelt 

und seinen Oberkörper mit einem Tuch bedeckt; 

nur seine Schultern, sein Gesicht 

und sein rechter Arm waren sichtbar. 

Es kam zwischen ihm und seiner Besucherin 

zu einem etwa viertelstündigen Gespräch, 

dessen Ablauf nur aus den Aussagen 

der Attentäterin vor dem Revolutionstribunal 

bekannt ist. Demnach berichtete sie 

dem Präsidenten der Jakobiner 

von einem in Caen geplanten Aufstand. 

In der Wanne sitzend notierte er 

auf einem Schreibbrett die Namen 

der nach Caen geflüchteten Girondisten, 

die sie ihm angab. Als Marat äußerte, 

alle Genannten innerhalb weniger Tage 

auf der Guillotine hinrichten zu lassen, 

zog Charlotte Corday das Messer 

aus ihrem Dekolleté 

und stach ihn so heftig in die Brust, 

dass die Lunge, die linke Herzkammer 

und die Aorta zerrissen wurden. 

Nur noch der Holzgriff der Mordwaffe 

ragte aus seinem Brustkorb. 

Marat rief nach seiner Freundin um Hilfe, 

die herbei hastete. 

Charlotte Corday konnte zunächst 

aus dem Badezimmer flüchten. 

Es kam zwischen ihr 

und einigen Bediensteten zu einem Gerangel. 

Ein Falzer des Journals Ami du Peuple, 

Laurent Bas, schlug sie mit einem Sessel nieder, 

woraufhin sie bald festgenommen wurde. 

Marat war noch am Leben, 

als er aus der Wanne gezogen wurde, 

starb aber kurz danach.


Noch in der Wohnung des Ermordeten 

unterzogen die Polizei und Abgeordnete 

des Komitees für Öffentliche Sicherheit 

die Attentäterin einem ersten Verhör. 

Bei ihrer Durchsuchung wurde ihr Brief 

an das französische Volk in ihrem Korsett gefunden. 

Sie blieb gelassen und sagte aus, 

dass sie die Tat aus eigenem Entschluss 

und allein ausgeführt habe. 

Gleichzeitig bestritt sie, 

unter den Girondisten Komplizen gehabt zu haben. 

In der Nacht auf den 14. Juli 1793 

fand ihre Überführung in das Prison de l‘Abbaye statt, 

wobei sie von der Polizei davor geschützt werden musste, 

sofort von aufgebrachten, sie schmähenden Bürgern 

gelyncht zu werden.


Noch am Tag von Charlotte Cordays Überstellung 

in das Abbaye-Gefängnis verfügte der Konvent, 

dass ihre Mordtat vor das Revolutionstribunal 

gebracht werden solle. Als ihre angeblichen 

Komplizen standen der konstitutionelle 

Bischof Claude Fauchet 

und der Abgeordnete Lauze de Perret 

ebenfalls unter Anklage. 

Fauchet wurde der Unterstützung 

der Aufstandsbewegung der Girondisten 

in Caen beschuldigt; 

außerdem habe er Marats Mörderin 

den Zugang zum Konvent ermöglicht. 

Zu diesem Zweck soll sie sich gleich 

nach ihrer Ankunft in Paris, 

da sie dort niemanden kannte, 

an den Bischof gewandt haben. 

Dieser bestritt die auf einer sehr zweifelhaften 

Zeugenaussage beruhenden Vorwürfe energisch. 

Auch die Hauptangeklagte 

blieb bei ihrer Darstellung, 

dass sie keinerlei Mithelfer gehabt hatte. 

Brieflich gab sie die Auskunft, 

dass sie Fauchet kaum gekannt 

und nicht geschätzt habe. 

Fauchet und Lauze de Perret 

wurden zunächst freigelassen, 

später aber wegen ihrer politischen Tätigkeit 

als Girondisten erneut verhaftet 

und am 31. Oktober 1793 hingerichtet.


In einem Brief an das Komitee 

für Öffentliche Sicherheit 

beklagte sich Charlotte Corday 

über ihre allzu strenge Überwachung, 

die ihr keinerlei Privatsphäre lasse. 

Am Morgen des 16. Juli 1793 

erfolgte ihre Verlegung in eine andere Haftanstalt, 

die Conciergerie. 

Am Abend desselben Tages 

verfasste sie einen Brief 

an den Deputierten Barbaroux, 

in dem sie den Mord am „Ami du Peuple“ 

rechtfertigte; dieses Schreiben 

wurde freilich nicht an den Adressaten weitergeleitet, 

sondern den Prozessakten beigefügt. 

Ebenfalls noch am 16. Juli schrieb sie 

ihrem Vater und bat ihn um Vergebung, 

dass sie ohne seine Erlaubnis 

über ihr Leben verfügt habe; 

er solle sich über ihr Los freuen, 

dessen Ursache so schön sei, 

und folgenden Vers von Corneille nicht vergessen: 

Verbrechen macht Schmach und nicht das Blutgericht.“


Am Morgen des 17. Juli 1793 erschien 

die Angeklagte zur Verhandlung ihres Falles 

vor dem Revolutionstribunal. 

Zu ihrem Verteidiger hatte sie sich 

den Girondisten Louis-Gustave Doulcet 

de Pontécoulant gewünscht, 

doch kam der an diesen gerichtete Brief zu spät an. 

An seiner Stelle bestellte der Präsident des Tribunals, 

Jacques Bernard Marie Montané, 

den Jakobiner Claude François Chauveau-Lagarde 

zu ihrem Verteidiger, der später auch 

Marie Antoinette vertreten sollte. 

Als öffentlicher Ankläger 

trat Antoine Quentin Fouquier-Tinville auf. 

Marats Lebensgefährtin Simone Évrard 

wurde als erste Zeugin einvernommen. 

Während des Prozesses zeigte Charlotte Corday 

große Ruhe und Gelassenheit. 

Sie glorifizierte die Ermordung Marats 

als patriotische Tat, 

und ihre kurzen, unerschrockenen Antworten 

auf die Fragen der Richter 

riefen unter den Zuhörern Erstaunen 

und Bewunderung hervor. 

Wohl in Anspielung auf eine Äußerung Robespierres 

vor der Hinrichtung König Ludwigs XVI. sagte sie: 

Ich habe einen Mann getötet, 

um hunderttausend zu retten.“ 

Als ein Gerichtsdiener ihr aber 

die blutbefleckte Mordwaffe überreichte, 

reagierte sie erschreckt, stieß das Messer zurück 

und bestätigte mit unsicherer Stimme, 

dass sie es wiedererkenne.


Um jeden Anschein von patriotischem Idealismus 

zu vertuschen, wünschte der Ankläger 

Fouquier-Tinville, dass Chauveau-Lagarde 

im Namen seiner Mandantin 

auf Geisteskrankheit plädierte. 

Der für die Tat viel Verständnis aufbringende 

Verteidiger weigerte sich jedoch. 

Gegen 13 Uhr erfolgte die Urteilsverkündung, 

laut der über Charlotte Corday 

die Todesstrafe verhängt wurde. 

Die Verurteilte war mit ihrem Anwalt sehr zufrieden 

und bedankte sich bei ihm für seine Bemühungen.


Während der Verhandlung 

hatte der Maler Johann Jakob Hauer 

auf Wunsch Charlotte Cordays 

ein Porträt von ihr begonnen, 

das er während ihrer letzten Stunden 

in ihrer Gefängniszelle 

in der Conciergerie fertigstellte. 

Auf diesem Bild erscheint sie völlig ruhig. 

Sie bat den Künstler anschließend, 

eine kleine Kopie davon herzustellen, 

die ihre Familie erhalten sollte.


Bis zum Schluss blieb Charlotte Corday 

äußerst gefasst und unerschütterlich. 

Die Ablegung der Beichte 

vor einem zu ihr gesandten Priester 

lehnte sie höflich ab, 

da sie Marats Ermordung nicht als Sünde betrachtete. 

Der Scharfrichter erschien mit seinen Helfern 

in ihrer Zelle. Ihr langes Haar 

wurde bis zum Nacken abgeschnitten 

und sie musste wie alle verurteilten Mörder 

ein rotes Hemd anziehen. 

Am Abend des 17. Juli 1793, 

vier Tage nach ihrem Attentat, 

machte sie sich gemeinsam mit ihrem Henker 

in einem offenen Karren auf den Weg 

von der Conciergerie zu ihrem Hinrichtungsort, 

der Place de la Révolution. 

Unterwegs wurde sie von zahlreichen 

Schaulustigen beschimpft; 

sie ließ die Schmähungen 

gleichmütig über sich ergehen. 

Während der Fahrt zum Schafott 

ging ein Gewitterregen nieder, 

doch noch vor dem Erreichen der Enthauptungsstätte 

machten die Wolken wieder der Sonne Platz. 

Gegen 19 Uhr wurde Corday schließlich guillotiniert, 

nachdem sie noch selbst ihren Kopf 

unter dem Beil zurechtgelegt hatte. 

Nach der Exekution der erst 25-jährigen 

Delinquentin hob ein Henkersknecht 

ihren abgeschlagenen Kopf aus dem Korb, 

zeigte ihn der Menge 

und versetzte ihm einen Schlag. 

Augenzeugen berichteten, 

dass die Wangen der Toten 

vor Empörung errötet seien. 

Der Schlag wurde als inakzeptable Verletzung 

der selbst bei Hinrichtungen geltenden 

Etikette betrachtet und der Henkersknecht 

mit drei Monaten Gefängnis bestraft.


Charlotte Cordays Leiche 

wurde in einem Massengrab 

nahe Ludwig XVI. beerdigt; 

unklar ist, ob auch ihr Kopf mit ihr bestattet 

oder als Kuriosität zurückbehalten wurde. 

Angeblich soll sich der Schädel 

bis ins 20. Jahrhundert 

im Besitz der Familie Bonaparte 

und ihrer Nachkommen befunden haben.



DREIZEHNTER GESANG


Die Vorfahren von Louis Antoine de Saint-Just 

sind väterlicherseits Bauern in der Picardie, 

einem fruchtbaren Gebiet 

im Norden Frankreichs, gewesen. 

Sein Vater, Louis Jean de Saint-Just de Richebourg, 

der schon 1777 starb, 

war Kavalleriehauptmann bei den Soldaten 

des Herzogs von Berry. 

Seine Mutter, Marie Anne, geborene Robinot, 

stammte aus dem Nivernais, 

einem waldreichen Gebiet im Osten Frankreichs. 

Seine Jugend verbrachte Louis Antoine 

in Verneuil, Decize und Blérancourt. 

Von 1777 bis 1785 besuchte er 

die Schule Saint-Nicolas der Oratorianer in Soissons. 

Um sich für das Rechtsstudium zu qualifizieren, 

war er 1786 zweiter Gehilfe 

beim öffentlichen Ankläger in Soissons. 

Im Oktober 1787 begann er an der Universität 

in Reims zu studieren 

und schloss das Studium bereits im April 1788 

mit dem Hochschulgrad 

für die Rechtswissenschaften ab.


Wie jeder bildungsbeflissene Mensch 

im damaligen Frankreich 

hat auch Saint-Just die griechischen 

und römischen Dichter und Denker gelesen. 

Neben Platons Staat 

werden ihm dabei wohl einige Biografien, 

wie die des spartanischen Gesetzgebers Lykurg, 

in Plutarchs Lebensbeschreibungen 

die ersten Anregungen 

für sein eigenes republikanisches 

Denken gegeben haben. 

Plutarchs Lebensbeschreibungen 

wurden damals überall in Europa gelesen, 

aber am stärksten hatten sie sich 

in Frankreich verbreitet. 

Weitere Ideen und Gedanken 

fand er bei französischen Denkern 

wie Montesquieu oder Rousseau, 

die von verschiedenen Ebenen aus 

den Zustand der Gesellschaft 

und des Staates betrachtet haben.


Im Mai 1789 erschien von Saint-Just 

ein erster literarischer Versuch: 

der Organt, ein erzählendes Gedicht 

in zwanzig Gesängen, 

über das die meisten Forscher abfällig geurteilt haben, 

was ihm aber wohl nicht ganz gerecht wird. 

Es ist das Werk eines blutjungen Menschen, 

der noch um Form und Stoff ringt, 

und die wenigen schlüpfrigen Stellen in dem Gedicht, 

die ihm mit Vorliebe vorgehalten werden, 

waren üblich zu jener Zeit, 

auch in reiferen Werken. 

Ein zweiter literarischer Versuch 

ist nur noch in Bruchstücken vorhanden: 

Arlequin Diogène, ein einaktiges Theaterstück, 

ein Schäferspiel, an dem nur bemerkenswert ist, 

dass es wohl Saint-Justs eigene Haltung 

zur Liebe wiedergibt: „Die Liebe 

ist nichts als ein eitler Wunsch; 

einem großen Herzen bedeutet sie nichts.“


Am 14. Juli 1789 erlebte Saint-Just in Paris 

die Erstürmung der Bastille mit. 

Der Organt war schon im Juni 

wegen Majestätsbeleidigung verboten worden, 

und so war der junge Autor, 

um polizeilichen Nachstellungen zu entgehen, 

bei Bekannten in Paris untergetaucht. 

Ende Juli wagte er sich wieder 

nach Blérancourt zurück, 

wo er sich politisch stark zu betätigen begann. 

Trotz seiner Jugend war er hier angesehen 

und erhielt auch bald ehrenhafte Anerkennungen. 

So wurde er im Juni 1790 

von der Kommune zum Oberstleutnant 

der Nationalgarde in Blérancourt ernannt 

und im Juli zum Ehrenbefehlshaber 

der Nationalgarden im ganzen Kanton. 

Am 10. August 1790 schrieb er 

seinen ersten Brief an Robespierre, 

der später unter dessen nachgelassenen 

Papieren gefunden worden ist: 

Sie, der Sie das wankende Vaterland 

gegen den Ansturm von Gewaltherrschaft 

und verräterische Umtriebe behaupten; 

Sie, den ich nur wie Gott kenne, 

nämlich aus Wundern; 

ich wende mich an Sie, mein Herr, 

helfen Sie mir bitte bei der Rettung 

meiner beklagenswerten Heimat.“


Bei den Wahlen zur Gesetzgebenden 

Nationalversammlung im Jahre 1791 

wurde er von seiner Gemeinde 

als Abgeordneter gewählt, 

aber ein Gegner, der Notar Gellé, 

focht auf dem Rechtsweg diese Wahl an, 

weil Saint-Just noch zu jung war 

und deshalb nicht Abgeordneter werden konnte. 

Dem wurde stattgegeben 

und der Wahlbeschluss der Gemeinde 

vom Distrikt aufgehoben. 

Ein Jahr später aber wurde er rechtmäßig 

als Abgeordneter des Departments Aisne 

in den Nationalkonvent gewählt 

und am 18. September 1792 traf 

der junge Abgeordnete Louis Antoine de Saint-Just 

in Paris ein.


Zuvor war von ihm am 20. Juni 1791 

in Paris die Schrift „Der Geist der Revolution 

und der Verfassung in Frankreich“ erschienen. 

In diesem Werk, das aus fünf Abschnitten bestand, 

machte er sich Gedanken über die Vergangenheit, 

Gegenwart und Zukunft Frankreichs, 

und er war dabei noch lange nicht so radikal wie später. 

So konnte er sich darin zum Beispiel 

das Königtum als eine mögliche Regierungsform 

immer noch vorstellen. 

Das Buch war sogar ein Erfolg; 

die erste Auflage war schnell vergriffen 

und wurde von hellsichtigen Politikern 

in der verfassungsgebenden Versammlung sehr geschätzt. 

Das Buch endete mit den Worten: 

Wenn alle Menschen frei sind, sind alle gleich; 

wenn sie gleich sind, sind sie gerecht.“


Europa soll erfahren, 

dass ihr auf französischem Territorium 

weder einen Unglücklichen 

noch einen Unterdrücker mehr sehen wollt, 

dass dieses Beispiel auf der Erde Früchte trage 

und die Liebe zur Tugend und das Glück ausbreite! 

Das Glück ist ein neuer Gedanke in Europa!“


In Paris wurde Saint-Just zum ersten Mal 

öffentlich wahrgenommen, 

als er am 22. Oktober 1792 

im Jakobiner-Klub sprach. 

Die Rede fand große Beachtung 

und unter dem Vorsitz von Danton 

beschlossen die Jakobiner, den Text drucken zu lassen 

und an die einzelnen Verbände weiterzuleiten. 

Unter dem Eindruck einer zweiten Rede, 

die er am 13. November im Konvent 

in der Debatte, ob Ludwig XVI. 

angeklagt werden sollte oder nicht, gehalten hatte, 

wurde er in den Ausschuss im Jakobiner-Klub gewählt, 

der die neue Verfassung für Frankreich vorbereiten sollte. 

In der großen Abstimmung am 15. Januar 1793 

im Konvent über das Schicksal des Königs 

stimmte er für den Tod ohne Aufschub und Appellation. 

Die Gründe bezog er aus Rousseaus Contrat social, 

einem Werk über die Legitimität der Macht. 

Saint-Just hat die Ideen Rousseaus 

in die Geschichte eingeführt. 

Das Wesentliche seiner Beweisführung daraus war, 

dass der König nicht durch das Urteil eines Gerichts, 

sondern durch das Urteil der gesetzgebenden Versammlung

gefasst werden müsse, da der König 

außerhalb des „Contrat social“ stehe.


Sein leidenschaftliches Denken, 

mit dem er all das verwirklichen wollte, 

was er für das Glück der Menschen hielt, 

spiegelte sich wohl in allen seinen öffentlichen Reden wider, 

am umfassendsten aber in den Institutionen, 

an denen er irgendwann in dieser Zeit 

zu arbeiten begann. Wo auch immer, 

ob im Konvent, auf Reisen, bei der Armee, 

überall schrieb er Gedanken auf, 

die er sich über einen zukünftigen Staat machte, 

Einfälle dazu, wie sie ihm kamen. 

Alles wollte er in diesem neuen Frankreich reglementieren, 

sogar Kindheit und Alter; Hochzeit und Beerdigung. 

Die Institutionen sind voller Gegensätze: 

klarem Denken stehen naive Träume gegenüber. 

Dabei macht sich Saint-Just auch Gedanken 

über die Freundschaft und schreibt dazu: 

Jeder Mann mit einundzwanzig Jahren ist gehalten, 

im Tempel zu erklären, welches seine Freunde sind. 

Wenn ein Mann einen Freund aufgibt, ist er gehalten, 

die Gründe dafür vor dem Volke im Tempel darzulegen.“


Nachdem Saint-Just im April 1793 

mehrmals im Konvent 

über eine neue Verfassung gesprochen hatte, 

wurde er im Mai zusammen mit Hérault de Séchelles 

und Georges Couthon dem Wohlfahrtsausschuss 

beigeordnet, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. 

Die alte Verfassung aus dem Jahre 1791 

hatte noch eine gewisse Macht dem König zugestanden, 

aber nach Abschaffung des Königtums 

war nun eine neue nötig geworden. 

Schon im Juni war das neue Gesetzeswerk, 

das hauptsächlich von Saint-Just stammte, 

fertig und wurde vom Konvent angenommen 

und im Juli mit großer Mehrheit 

in einer Volksabstimmung bestätigt. 

Wegen des kirchlichen Sprachgebrauchs im Text 

nannte man diese neue Verfassung 

im Jahre I der Republik später scherzweise 

L’évangile selon Saint-Just“. 

Die Verfassung des Jahres I wurde allerdings 

vom Konvent nicht in Kraft gesetzt, 

weil man meinte, dass sie der augenblicklichen 

Lage Frankreichs nicht entspreche. 

Wegen des herrschenden Krieges 

wurde der Missbrauch der verfassungsmäßig 

gewährten Freiheit befürchtet. 

Nach Beendigung des Krieges 

sollte die Verfassung ihre Rechtsgültigkeit erlangen; 

aber dazu ist es nie gekommen. 

Nur die Tafeln der Menschenrechte 

wurden überall in den öffentlichen Gebäuden angebracht 

und wie es heißt, soll Saint-Just 

während seiner Verhaftung 

auf solch eine Tafel gezeigt und gesagt haben, 

dass das immerhin sein Werk sei.


Im Herbst 1793 wurde Saint-Just 

zusammen mit Philippe-François-Joseph Le Bas 

in das Elsass zur Überwachung der Truppen gesandt. 

Am 22. Oktober 1793 trafen die beiden 

Volksvertreter mit außerordentlicher Vollmacht 

bei der Rheinarmee“ in Saverne, 

Département Bas-Rhin, ein, 

zwei Tage später waren sie in Straßburg. 

Sie begannen sofort mit ihrer Arbeit 

und gaben unzählige Erlasse und Befehle heraus, 

deren deutliche Sprache verkündete, 

dass jetzt andere und nicht die üblichen Abgeordneten 

des Konvents erschienen waren. 

Ihr Auftrag verlangte eigentlich nur, 

dass sie die Ereignisse im Raum Wissembourg 

und Lauterbourg beobachten 

und ihnen nötig erscheinende Maßnahmen 

für das öffentliche Wohl ergreifen sollten, 

aber sie kümmerten sich überall um alles. 

Mit unmissverständlichen Befehlen und Aufrufen 

reorganisierten sie die Armee, 

wendeten sich an die Zivilverwaltungen 

und auch direkt an die Bürger. 

So hieß es zum Beispiel in einem Befehl 

an den Oberbefehlshaber der Rheinarmee: 

General, sie befehlen allen Offizieren im Generalsrang 

an der Spitze Ihrer Divisionen und Brigaden, 

in ihren Zelten zu schlafen und zu essen.“ 

Am 31. Oktober verordneten sie, 

dass die Reichen Straßburgs 

9 Millionen zu zahlen hatten, 

von denen zwei Millionen 

für die Unterstützung bedürftiger Patrioten 

verwendet werden sollten. Und in einem Aufruf 

wurden die Straßburgerinnen aufgefordert, 

das Tragen der deutschen Tracht aufzugeben, 

da sie in ihren Herzen doch französisch seien. 

Am 3. Dezember 1793 kehrten 

die beiden Volksvertreter kurzzeitig 

nach Paris zurück. 

Zwischendurch waren am 31. Oktober 

die Girondisten, deren Sturz er mit betrieben hatte, 

hingerichtet worden. Am 9. Dezember 

waren sie wieder im Elsass 

und haben dort an verschiedenen Stellen 

der Ostfront gewirkt. 

Nachdem die französischen Truppen 

am 28. Dezember 1793 siegreich 

in Landau eingezogen waren, 

hatten die beiden Volksvertreter ihre Aufgabe erfüllt 

und kehrten nach Paris zurück.


Bereits am 26. Januar 1794 

verließen Saint-Just und Le Bas wieder Paris, 

um zur Nordarmee zu gehen. 

Dort trafen sie auf ähnliche Zustände, 

wie sie sie schon im Elsass 

bei der Rheinarmee vorgefunden hatten 

und gingen in erprobter Manier dagegen vor. 

Mit ihren Maßnahmen trugen sie nicht unwesentlich 

zum Erfolg des kommenden Feldzuges bei. 

Aber Saint-Just wartete den Abschluss 

der wichtigsten Vorgänge diesmal nicht ab 

und kehrte am 12. Februar 1794 schon wieder 

nach Paris zurück, wo er am 19. Februar 

vom Konvent zum Vorsitzenden gewählt wurde. 

Am 26. Februar 1794 hielt er eine Rede 

über die Verdächtigen in Haft, 

die als eine seiner besten Reden gilt. 

In dieser und einer weiteren Rede 

am 3. März 1794 legte er dann dem Konvent 

die sogenannten „Ventose-Gesetze“ vor, 

die vorsahen, dass alle Schuldigen enteignet wurden 

und ihr Besitz an die armen und verdienten Bürger fiel. 

Wenige Tage später sprach Saint-Just dann 

über umstürzlerische Bemühungen des Auslandes 

und entsprechende Pläne in Frankreich, 

womit er einen Angriff gegen Hébert vorbereitete. 

Vom Konvent forderte er dann schließlich 

einen Erlass, der ermöglichte, 

die Verschwörer in den Reihen 

der Revolutionäre zu verhaften. 

Der Konvent stimmte zu, 

und Hébert und seine Anhänger 

wurden noch in der folgenden Nacht verhaftet 

und am 24. März 1794 verurteilt und hingerichtet.


Am 17. März 1794 folgte eine weitere Rede, 

diesmal gegen Hérault de Séchelles, 

der geheime Unterlagen an den Feind 

geliefert haben sollte. Er wurde später 

gemeinsam mit Danton und anderen 

verurteilt und hingerichtet. 

Am 31. März 1794 hielt Saint-Just dann 

eine Anklagerede gegen Danton und Desmoulins. 

Das Kernstück dieser Rede 

soll Robespierre verfasst haben. 

Gegen diese beiden herausragenden Gestalten 

der Revolution war es nicht schwer, 

Anklagepunkte zu finden. 

Besonders Danton mit seinem oftmaligen Wechseln 

der Seiten und seiner Bestechlichkeit 

war gut angreifbar. Saint-Just forderte, 

die Angeklagten vor das Revolutions-Tribunal zu stellen, 

weil sie das Königtum wieder hatten einführen wollen. 

Dem wurde stattgegeben, 

und am 5. April 1794 wurden 

Danton und Desmoulins verurteilt und hingerichtet. 

Seine letzte große Rede vor dem Konvent, 

die wahrscheinlich von ihm zusammen 

mit dem Ausschuss ausgearbeitet wurde, 

hielt Saint-Just am 15. April 1794, 

in der es um Recht und Ordnung ging. 

In einem der wesentlichsten Punkte 

beantragte er, das Wirken 

der allgemeinen Polizei neu zu regeln. 

Sie sollte ab sofort ihre eigentliche Aufgabe 

in der Überwachung der Amtsträger sehen. 

Nach langer Debatte wurde der Vorschlag angenommen, 

und fortan war die allgemeine Polizei 

beim Wohlfahrtsausschuss vertreten. 

Diese Einrichtung von Saint-Just, 

die die Mitglieder des Konvents ja fürchten mussten, 

hatte wesentlich zu seinem Sturz beigetragen.


Im 29. April 1794 verließ Saint-Just Paris 

und ging zur Nordarmee, 

wo er die zu Anfang des Jahres begonnenen 

Vorbereitungen für einen Angriff weiter fortsetzte. 

Er stellte dazu auch strategische Überlegungen an, 

die er mit dem Oberbefehlshaber, 

Jean-Baptiste Jourdan, besprach und durchsetzte. 

Tatkräftig hat er sich dann 

an verschiedenen Gefechten beteiligt. 

So an der östlichen Flanke der Front von Fleurus, 

wo der Übergang über die Sambre 

erst im siebten Versuch gelang, 

und danach Charleroi, die größte Festung, 

die ein Weiterkommen an dieser Stelle blockiert hatte, 

endlich eingeschlossen werden konnte 

und sich sieben Tage später, 

am Morgen des 25. Juni 1794, ergeben musste. 

Die Übergabe von Charleroi 

hat Saint-Just selbst entgegengenommen. 

Sein Verhalten dabei ist von einem hohen 

französischen Offizier 

in einem Bericht beschrieben worden. 

Als ein österreichischer Offizier 

einen Brief überbrachte, 

öffnete ihn Saint-Just nicht und sagte, 

dass er nicht die Übergabe eines Blattes Papier, 

sondern die der Stadt erwarte. 

Der Parlamentär meinte dazu, dass seine Truppen 

entehrt wären, wenn sie sich bedingungslos 

ergeben würden. Darauf antwortete Saint-Just 

wörtlich: „Wir können Sie weder ehren 

noch entehren, ebenso wenig wie Sie 

die französische Nation ehren oder entehren können. 

Zwischen Ihnen und uns gibt es nichts Gemeinsames.“ 

Danach forderte er schroff, 

die Festung bedingungslos zu übergeben, 

dem der österreichische Befehlshaber 

dann bald darauf nachkam. 

Auch in der eigentlichen Schlacht bei Fleurus 

am nächsten Tag, hat er tatkräftig mitgewirkt 

und die Kolonnen unablässig zum Angriff 

und damit zum Sieg geführt, 

durch den in der Folge die Engländer nach Holland 

und die Österreicher bis an den Rhein 

zurückgehen mussten und ein anhaltender Erfolg 

der Revolutionsarmee gesichert war. 

Es ist oft behauptet worden, 

dass der Sieg von Fleurus der Sieg 

von Louis Antoine de Saint-Just gewesen ist. 

Sogar sein Gegner, der französische Schriftsteller 

Lamartine, hat in diesem Zusammenhang 

höchst anerkennend von ihm gesprochen.


Während dieser Zeit tat Robespierre in Paris 

einen entscheidenden Schritt 

zum Sturz des Regimes hin, 

als er die Annahme der Prairial-Gesetze

im Konvent durchsetzte, 

durch die sich die Abgeordneten 

mit dem Tode bedroht fühlen mussten. 

Sie genossen jetzt keinen Schutz mehr 

und konnten jederzeit vor das Tribunal geladen werden. 

Einer von Saint Justs Freunde hatte später 

den Kommentar von Saint-Just 

zu dem Gesetzestext so wiedergegeben: 

Man kann kein hartes 

und heilsames Gesetz vorschlagen, 

dessen sich nicht nach Laune 

und Leidenschaft Ränkespiel, 

Verbrechen und Raserei bemächtigen, 

um daraus ein Werkzeug des Todes zu machen.“


Am 30. Juni 1794 traf Saint-Just 

wieder in Paris ein, 

das er dann nicht mehr verlassen hat. 

Den Sieg von Fleurus vor dem Konvent zu verkünden, 

wurde von ihm abgelehnt und so kommentiert: 

Ich halte sehr viel davon, 

Siege zu verkünden, 

aber ich möchte nicht, 

dass sie zum Vorwand für Eitelkeit werden. 

Man hat den Tag von Fleurus angekündigt, 

und andere, die nichts darüber gesagt haben, 

sind dabei gewesen; 

man hat von Belagerungen gesprochen, 

und andere, die nichts dazu gesagt haben, 

waren in den Gräben.“ 

An seiner Stelle hat dann Barère 

diese Aufgabe übernommen 

und die Begeisterungsstürme 

der Abgeordneten entgegengenommen. 

Aber solche Einmütigkeit war ansonsten 

im politischen Leben nicht vorhanden. 

Die Lage war verworren, 

und im Konvent und in den Ausschüssen 

standen sich Gruppen und Personen 

unversöhnlich gegenüber. 

Seit Inkrafttreten der Prärial-Gesetze 

gab es zahllose Verhaftungen 

und Hinrichtungen. Robespierre, 

jetzt verhasster und gefürchteter denn je, 

zeigte sich nicht mehr in der Öffentlichkeit. 

Über einen Monat lang nahm er 

an keiner Sitzung im Ausschuss 

und im Konvent teil. 

Erst wieder am 26. Juli 1794 erschien er im Konvent 

und hielt dort eine zweistündige Rede, 

in der er anklagte, verdächtigte, 

aber auch nach Aufforderung keine Namen nannte, 

wodurch sich jeder Abgeordneter 

bedroht fühlen musste und viele 

für ein Komplott bereit machte. 

Am Abend sprach Robespierre zum letzten Mal 

im Jakobiner-Club. 

Zur gleichen Zeit arbeitete Saint-Just 

im Arbeitsraum des Wohlfahrtsausschusses 

an einer Rede, die er, 

um die prekäre Lage zu bereinigen, 

am nächsten Tag vor dem Konvent halten wollte.


Die Sitzung des Konvents 

am 27. Juli 1794 wurde um 11 Uhr eröffnet, 

und um 12 Uhr ergriff Saint-Just das Wort. 

Dass er einen neutralen Standpunkt hatte 

und keine bestimmte Ansicht 

oder Richtung bevorzugen wollte, 

wird schon aus den wenigen 

und berühmt gewordenen Worten deutlich, 

die er noch sprechen konnte, 

bevor er unterbrochen wurde: 

Ich gehöre keiner der rivalisierenden Parteien an; 

ich werde sie alle bekämpfen. 

Sie werden jedoch nur durch Verfassungen 

ganz verschwinden, die dem Menschen 

seine Rechte garantieren, 

der Herrschaft ihre Grenzen setzen 

und den menschlichen Stolz 

ohne die Möglichkeit einer Umkehr 

unter das Joch 

der öffentlichen Freiheit beugen werden.“ 

Dann wurde er am Weitersprechen 

durch die Verschwörer gehindert. 

Es gab einen großen Tumult, 

und schließlich wurden Robespierre, 

Saint-Just, Couthon und andere 

festgenommen und abgeführt. 

Ein Aufstandsversuch der Kommune von Paris 

brachte ihnen noch einmal kurz die Freiheit zurück, 

die sie zu einem gewaltsamen Vorgehen 

gegen den Konvent hätten nutzen können, 

womit auch dort gerechnet wurde. 

Aber sie waren wie gelähmt 

und warteten den Gnadenstoß ab, 

anstatt zur Place de Grève hinunterzueilen 

und sich an die Spitze 

der aufständischen Kämpfer zu stellen. 

So aber nahm Barras um 2 Uhr morgens 

mit einem Überraschungsangriff das Rathaus ein, 

und alles war für sie aus.


Am Abend des 28. Juli 1794 

wurden Robespierre, Saint-Just, Couthon 

und 19 ihrer Anhänger 

auf dem Platz der Revolution 

unter dem Fallbeil hingerichtet. 

Die letzten Augenblicke im Leben 

von Louis Antoine de Saint-Just 

hat der Henker von Paris so geschildert: 

Als Saint-Just an der Reihe war, hinaufzusteigen, 

umarmte er Couthon, 

und bei Robespierre vorübergehend, 

sagte er nur: „Lebe wohl.“ 

Seine Stimme verriet keine Aufregung.


Friedrich Nietzsche nennt Saint-Just 

in seinem gleichnamigen Gedicht „teuflisch“.



VIERZEHNTER GESANG


Jeanne-Marie Roland war die Tochter 

des Pariser Graveurs Gratien Philipon, 

Angehörige und Freunde nannten sie Manon. 

Das intelligente und wissbegierige Mädchen 

konnte früh lesen und interessierte sich 

schon bald auch für geschichtliche, 

philosophische und religiöse Themen. 

Im Alter von neun Jahren entdeckte sie 

Plutarchs vergleichende Biographien 

berühmter Griechen und Römer. 

Plutarch gehörte immer zu den 

von ihr geschätzten Autoren; 

er begeisterte sie für die Idee der Republik.


In ihrem elften Lebensjahr hatte Jeanne-Marie 

den ernsten Wunsch, Nonne zu werden, 

und mit dem Einverständnis ihrer Eltern 

lebte sie vom Mai 1765 bis ins Frühjahr 1766 

in einer religiösen Ordensgemeinschaft 

in der Pariser Vorstadt Saint-Michel. 

Vom Klosterleben dann doch nicht überzeugt, 

verbrachte sie ein Jahr bei ihrer Großmutter Phlipon 

auf der Seine-Insel Saint-Louis. 

Bei einem ihrer gelegentlichen Ausflüge 

in die Pariser Gesellschaft wurde sie 

einer wohlhabenden adligen Dame vorgestellt, 

deren anmaßendes und arrogantes Verhalten 

sie ein Leben lang nicht vergaß. 

Dieser Eindruck bestärkte das Kind 

aus dem bürgerlichen Mittelstand 

in ihrer kritischen Haltung gegenüber 

der Aristokratie des Ancien régime. 

Zurück im elterlichen Haushalt, 

gehörte Voltaire zu ihren beliebtesten Autoren. 

Sie las aber in dieser Zeit auch Shakespeare 

und englische Romane und Gedichte; 

sie sprach neben englisch auch italienisch. 

Als Jeanne-Marie vierzehn Jahre alt wurde, 

kamen ihr Zweifel am katholischen Glauben 

ihrer Kindheit, und sie wandte sich, 

wie viele Aufklärer, 

der deistischen Gottesauffassung zu: 

Gott schuf die Welt, 

aber er übt keinen Einfluss mehr auf sie aus. 

Gleichzeitig beschäftigte sie sich 

mit den Schriften der berühmten Prediger 

Jacques-Bénigne Bossuet 

und Jean-Baptiste Massillon.


Im Juni 1775 starb Jeanne-Maries Mutter, 

und sie musste sich nun um den Haushalt 

des Vaters kümmern, 

der in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war. 

Sie zog sich mit ihren Büchern zurück 

und beschloss, niemals zu heiraten. 

Junge Verehrer wies sie ab, 

sie bevorzugte die ihr geistigen Gewinn 

bringende Gesellschaft älterer gebildeter Männer. 

In dieser Zeit las sie Rousseau, 

der sie ebenso beeindruckte wie Plutarch; 

seine Ideen bestimmten ihr künftiges 

politisches Denken und Handeln.


Im Januar 1776 begegnete Jeanne-Marie Phlipon 

dem zwanzig Jahre älteren 

Jean-Marie Roland de La Platière, 

dem Inspektor des Handels 

und der Manufakturen in Amiens. 

Sie schätzte seine vielfältigen Interessen 

und seinen scharfen Verstand. 

Trotz der Einwände ihrer Familien 

heiratete das ungleiche Paar 

im Februar 1780. 

Während der ersten sechs Monate ihrer Ehe 

wohnten die Rolands in Paris, 

obwohl Monsieur Roland sein Büro in Amiens hatte. 

Madame Roland assistierte ihrem Mann 

bei der Publizierung seiner Schriften. 

Sie machte die Bekanntschaft 

von Schriftstellern und Wissenschaftlern 

der Aufklärung, und mit Bedauern verließ sie 

im Herbst 1780 die Hauptstadt, 

um nach Amiens zu ziehen. 

Dort wurde im Oktober 1781 

ihre Tochter Eudora geboren.


Im Mai 1784 reiste Madame Roland nach Paris, 

um für ihren Mann als Anerkennung 

für seine langjährigen Dienste 

die Ausstellung eines Adelspatents 

der höheren Rangstufe zu erreichen. 

Sie hatte keinen Erfolg, erwirkte aber 

seine Beförderung zum Generalinspektor 

und die Versetzung nach Lyon. 

Die Rolands zogen in das von Lyon nicht weit entfernte

Villefranche-sur-Saone auf den ärmlichen 

alten Landsitz der Familie.


Mit dem Ausbruch der Revolution 1789 

fand das ruhige Leben ein Ende. 

Von Anfang an unterstützten die Rolands 

die revolutionäre Bewegung. 

Sie waren überzeugt, dass die Abschaffung 

des Königtums notwendig sei. 

Madame Roland schrieb unter dem Namen 

ihres Mannes Artikel im Courrier de Lyon, 

die auch in der Hauptstadt beachtet wurden. 

Daraus ergab sich eine Korrespondenz, 

unter anderem mit Jacques Pierre Brissot de Warville, 

den die Rolands seit 1787 kannten. 

In der Folgezeit schrieb Madame Roland 

auch Artikel für den Le Patriote Français, 

eine von Brissot herausgegebene revolutionäre Zeitung. 

Im November 1790 dominierten die Anhänger 

der Revolution den Stadtrat von Lyon, 

und Jean-Marie Roland wurde 

mit öffentlichen Aufgaben betraut: 

Der städtischen Schulden wegen reiste er 

im Februar 1791 zu Verhandlungen 

mit dem Parlament nach Paris. 

Madame Roland begleitete ihren Mann 

und eröffnete ihren ersten politischen Salon 

im Hôtel Britannique in der rue Guénégaud. 

Viele Führungspersönlichkeiten der Revolution 

waren ihre Gäste: Jacques-Pierre Brissot, 

Jérôme Pétion de Villeneuve, 

Maximilien de Robespierre, 

François Buzot und andere.


Im September 1791 kehrten die Rolands 

nach Lyon zurück, da der Auftrag erfüllt war. 

Das Amt des Inspektors der Manufakturen 

war inzwischen abgeschafft worden, 

und Monsieur Roland konnte 

seiner beruflichen Tätigkeit nicht länger nachgehen. 

Um nach fast vierzig Dienstjahren 

einen Anspruch auf Pension durchzusetzen, 

reisten die Rolands schon im Dezember 

wieder nach Paris, wo sie sofort 

aufs Neue in das revolutionäre 

Geschehen verwickelt wurden.


Roland wurde Mitglied 

im Pariser Klub der Jakobiner, 

in dem die künftigen Girondisten, 

die Männer um Brissot, 

und die künftigen Jakobiner 

noch gemeinsam debattierten. 

Im März 1792 wurde Jean-Marie Roland 

vom König als Innenminister 

in das neue Kabinett berufen. 

Seine Ehefrau, die ihm schon immer 

eine geschickte Helferin war, 

wurde ihm nun unentbehrlich. 

Madame Roland erledigte einen Teil 

seiner Korrespondenz und stand ihm 

auch in politischen Fragen 

mit Rat und Tat zur Seite. 

Mit der Wiedereröffnung ihres Salons 

in ihrem neuen Domizil 

in der rue Neuve des Petits Champs 

stand Madame Roland im gesellschaftlichen 

und politischen Zentrum der neuen Regierung. 

Zweimal wöchentlich lud sie zum Diner: 

Brissot, Pétion, Charles-Jean-Marie Barbaroux, 

Jean-Baptiste Louvet de Couvray und François Buzot, 

mit dem sie eine gegenseitige Zuneigung verband, 

und andere waren die Gäste 

"einer empfindsamen und leidenschaftlich 

für die Gerechtigkeit eintretenden Frau. 

Madame Roland war die Seele der Gironde.“


Am 10. Juni 1792 sandte Innenminister Roland 

einen Brief an den König, 

weil dieser die Gesetzgebung 

durch Vetos behinderte. 

Madame Roland, die den Brief redigiert hatte, 

forderte vom König neben der Rücknahme 

seines Einspruchs gegen zwei Dekrete 

auch größeren Patriotismus. 

Dieser Brief löste die Entlassung Rolands 

und seiner girondistischen Kollegen aus 

und damit auch die Massendemonstration 

gegen den König am 20. Juni in den Tuilerien.


Nach der Absetzung König Ludwigs XVI. 

am 10. August 1792 

war Jean-Marie Roland im neu gebildeten 

provisorischen Vollzugsrat 

und nach dem Zusammentritt 

des Nationalkonvents am 21. September 

wieder für die Innenpolitik zuständig. 

Bestürzt über den Verlauf 

der revolutionären Ereignisse, 

geriet er bald in Opposition zum Jakobinerklub, 

der ihn immer wieder heftig attackierte. 

Wegen seiner Haltung im Prozess gegen den König 

warf man ihm Royalismus vor. 

Die Angriffe richteten sich auch gegen seine Frau. 

Am 7. Dezember wurde Madame Roland 

vor den Nationalkonvent geladen, 

um sich dort gegen alle Vorwürfe zu verteidigen. 

Nach einer leidenschaftlich vorgetragenen Rechtfertigung 

der Politik ihres Ehemanns wurde sie 

nicht nur in allen Punkten freigesprochen, 

sondern auch in Ehren verabschiedet. 

Sie erhielt die Ehrenbezeugungen der Versammlung, 

die honneurs de la séance, 

und verließ unter dem Beifall 

aller Abgeordneten den Saal.


Zwei Tage nach der Hinrichtung 

König Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 

trat Jean-Marie Roland resignierend 

von seinem Ministeramt zurück. 

Trotz wiederholter Petitionen 

durften die Rolands Paris nicht verlassen. 

Nach der Verhaftung führender Girondisten 

am 31. Mai gelang Jean-Marie Roland 

die Flucht nach Rouen. 

Madame Roland blieb auf eigenen Wunsch zurück 

und wurde am 1. Juni verhaftet. 

Sie kam in das Gefängnis der Abbaye, 

dann nach Sainte-Pélagie 

und schließlich in die Conciergerie. 

Von ihren Wächtern respektiert, 

erhielt sie Schreibmaterial 

und konnte gelegentlich auch Besuch empfangen. 

Im Gefängnis schrieb sie ihren 

Appel à l’impartiale postérité, 

ihre der Tochter Eudora gewidmeten Memoiren.


Nach der Hinrichtung von 21 Girondisten 

am 31. Oktober 1793 fand ihr Prozess 

vor dem Revolutionstribunal am 8. November statt. 

Zum Tode verurteilt, starb Madame Roland 

noch am selben Abend 

auf der Place de la Révolution, 

der heutigen Place de la Concorde 

unter dem Fallbeil der Guillotine. 

Bevor sie ihr Haupt auf den Block legte, 

rief sie beim Anblick der Freiheitsstatue 

die berühmt gewordenen Worte: 

Oh Freiheit, welche Verbrechen 

begeht man in deinem Namen!“



FÜNFZEHNTER GESANG


Marianne ist die Nationalfigur 

der Französischen Republik. 

Der Name Marianne kann als Metonym 

für die französische Nation stehen.


In der Französischen Revolution 

wurde Marianne – bis dahin lediglich 

ein im Volke weit verbreiteter Name – 

zum Symbol der Freiheit 

und damit gleichzeitig der französischen Republik. 

Sie trat also in die Nachfolge 

der Francia oder Gallia, 

der Allegorie des Königreichs Frankreich, 

die in höfischen Bilddarstellungen 

den französischen König begleitete. 

Auf Bildern der Marianne 

ist ihr Kopf gewöhnlich 

mit der phrygischen Mütze bedeckt, 

meist eine oder beide Brüste nackt. 

Berühmt ist die Verherrlichung der Freiheit, 

die Eugène Delacroix 

in der Julirevolution 1830 gemalt hat. 

Marianne schmückt als Büste 

praktisch alle französischen Rathäuser, 

als Statue viele Plätze. 

Erste schriftliche Erwähnung des Namens Marianne 

als Bezeichnung für die französische Republik 

datiert vom Oktober 1792 

in Puylaurens im Département Tarn. 

Man sang seinerzeit im provenzalischen Dialekt 

das Lied „La garisou de Marianno“ 

(„Mariannes Erholung“) 

des Dichters Guillaume Lavabre.


Die Büste der Marianne 

wird von Zeit zu Zeit wechselnd regelmäßig 

nach dem Vorbild prominenter Französinnen 

neu gefertigt 

und in den örtlichen Rathäusern ausgestellt:


1968 war Brigitte Bardot das Modell für Marianne. 

Im Jahr 2000 war die schöne Laetitia Casta 

das Model für die Göttin Frankreichs.






DER DEUTSCHE KOMMUNISMUS



ERSTER GESANG


Karl Marx wurde 1818 

als drittes Kind des Anwaltes Heinrich Marx 

und von Henriette Marx in Trier geboren. 

Karl Marx war mütterlicherseits 

Cousin dritten Grades von Heinrich Heine, 

der auch aus einer jüdischen Familie stammte 

und mit dem Marx während seiner Pariser Zeit 

in engem Kontakt stand. 

Heinrich Marx stammte mütterlicherseits 

aus einer bedeutenden Rabbinerfamilie. 

1812 schloss er sich dort 

der französischen Freimaurerloge 

L’Etoile Hanséatique“ 

(Der Hanseatische Stern) an. 

Zwischen 1816 und 1822 konvertierte der Vater 

zum Protestantismus, da er als Jude 

unter der preußischen Obrigkeit 

sein unter napoleonischer Regierung angetretenes Amt 

als Advokat nicht hätte weiterführen dürfen. 

Die Mutter von Karl 

ließ sich erst am 20. November 1825 taufen, 

da sie fürchtete, ihre Familie, 

allen voran ihr Vater, würde dies missbilligen.


Von 1830 bis 1835 besuchte Karl Marx 

das Gymnasium zu Trier, 

wo er mit 17 Jahren das Abitur 

mit einem Durchschnitt von 2,4 ablegte. 

1836 verlobte sich Marx in Trier 

mit Jenny von Westphalen.


1835 ging er zum Studium der Rechtswissenschaften 

und der Kameralistik nach Bonn. 

Dort trat er der „Landsmannschaft der Treveraner“ bei. 

Bekannt ist, dass er wegen „nächtlichen Lärmens 

und Trunkenheit“ verurteilt wurde 

und gegen ihn wegen „Tragens eines Säbels“ 

ermittelt wurde. In Bonn besuchte er 

unter andrem Vorlesungen August Wilhelm Schlegels. 

Marx schloss sich einem poetischen Kränzchen an, 

dem unter andren Emanuel Geibel angehörte.


Ein Jahr später wechselte er 

an die Friedrich-Wilhelms-Universität nach Berlin 

und besuchte juristische Vorlesungen. 

Er ließ aber das Jura-Studium 

gegenüber Philosophie und Geschichte 

in den Hintergrund treten. 

Hier stieß Marx zum Kreis der Jung- 

oder Linkshegelianer („Doctorclub“). 

Hegel, der 1831 starb, hatte zu seiner Zeit 

einen starken Einfluss auf das geistige Leben 

in Deutschland. Das hegelianische Establishment 

(„Alt- oder Rechtshegelianer“) 

sah den preußischen Staat als Abschluss 

einer Serie von dialektischen Entwicklungen: 

eine effiziente Bürokratie, gute Universitäten, 

Industrialisierung und ein hoher Beschäftigungsgrad. 

Die Linkshegelianer, zu denen Marx gehörte, 

erwarteten weitere dialektische Änderungen, 

eine Weiterentwicklung der preußischen Gesellschaft, 

die sich mit Problemen wie Armut, 

staatlicher Zensur und der Diskriminierung 

der Menschen, die sich nicht 

zum lutherischen Glauben bekannten, 

zu befassen hatte.


Nach dem Tod seines Vaters Heinrich Marx 

am 10. Mai 1838 bekam Marx, 

weil er erst mit 25 Jahren volljährig wurde, 

einen gesetzlichen Vormund.


Am 15. April 1841 wurde Marx in absentia 

an der Universität Jena mit einer Arbeit 

zur Differenz der demokritischen 

und epikureischen Naturphilosophie 

zum Doktor der Philosophie promoviert. 

Auf eine Professur rechnend, 

zog Marx hierauf nach Bonn; 

doch verwehrte die Politik 

der preußischen Regierung ihm – 

wie Ludwig Feuerbach und anderen – 

die akademische Laufbahn, 

galt Marx doch als ein führender Kopf 

der oppositionellen Linkshegelianer. 

Unter seinem Namen veröffentlichte er 

im Januar 1841 in der junghegelianischen Zeitschrift 

Athenäum zwei Gedichte 

unter dem Titel Wilde Lieder.


Um diese Zeit gründeten liberale Bürger in Köln 

die Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe 

als gemeinsames Organ der verschiedenen 

oppositionellen Strömungen 

von monarchistischen Liberalen 

bis zu radikalen Demokraten. 

Marx wurde ein Hauptmitarbeiter des Blattes, 

das 1842 erstmals erschien. 

Marx übernahm die Redaktion der Zeitung, 

welche von da an einen noch radikaleren 

oppositionellen Standpunkt vertrat. 

Marx, Arnold Ruge und Georg Herwegh 

gerieten zu dieser Zeit 

in einen politischen Dissens 

zu dem Kreis um ihren Berliner Korrespondenten 

Bruno Bauer, dem Marx vorwarf, 

das Blatt „vorwiegend als ein Vehikel 

für theologische Propaganda 

und Atheismus, statt für politische 

Diskussion und Aktion“ zu benutzen. 

Als Friedrich Engels, der als ein Freund 

und Parteigänger der Berliner Linkshegelianer galt, 

am 16. November 1842 die Kölner Redaktion besuchte 

und erstmals mit Marx zusammentraf, 

verlief die Begegnung daher relativ kühl.


Aufgrund der Karlsbader Beschlüsse 

unterlag das gesamte Pressewesen der Zensur, 

die hinsichtlich der Rheinischen Zeitung 

besonders streng war. 

Die preußische Obrigkeit schickte zunächst 

einen Spezialzensor aus Berlin. 

Als dies nicht half, musste jede Ausgabe 

in zweiter Instanz dem Kölner 

Regierungspräsidenten vorgelegt werden. 

Weil Marx’ Redaktion auch diese doppelte Zensur 

regelmäßig unterlief, wurde schließlich 

das Erscheinen der Zeitung 1843 untersagt. 

Marx trat als Mitarbeiter und Redakteur zurück, 

weil die Eigentümer hofften, 

durch Änderung der Linie des Blattes 

bei der Zensurbehörde eine Aufhebung 

des Verbotes erreichen zu können.


1843 heiratete Marx seine vier Jahre ältere 

Verlobte Jenny von Westphalen in Kreuznach. 

Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, 

von denen nur die drei Töchter Jenny, Laura 

und Eleanor das Kindesalter überlebten.


Im Oktober 1843 trafen Marx und seine Frau 

in Paris ein. Marx begann dort, 

zusammen mit Arnold Ruge, 

die Zeitschrift Deutsch-Französische Jahrbücher 

herauszugeben. Aufgrund seiner Tätigkeit 

begann auch der briefliche Kontakt 

mit Friedrich Engels, der zwei Artikel 

beigetragen hatte. Von der Zeitschrift erschien 

allerdings nur ein Doppelheft 

und dies auch nur in deutscher Sprache, 

weil Louis Blanc und Proudhon 

keine Artikel lieferten. 

Die Fortsetzung scheiterte aus verschiedenen Gründen. 

Marx begann, sich mit politischer Ökonomie 

zu beschäftigen und durch Kritik 

an den französischen Sozialisten 

einen eigenständigen Standpunkt zu entwickeln.


Ende 1843 lernte Marx in Paris 

Heinrich Heine kennen. 

Zeitlebens blieben sie freundschaftlich verbunden.


Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte 

aus dem Jahre 1844 

sind Marx’ erster Entwurf 

eines ökonomischen Systems, der zugleich 

die philosophische Richtung deutlich macht. 

Marx entwickelt dort erstmals ausführlich 

seine an Hegel angelehnte Theorie 

der „entfremdeten Arbeit“.


Allerdings beendete Marx 

diese sogenannten „Pariser Manuskripte“ nicht, 

sondern verfasste kurz darauf zusammen 

mit Friedrich Engels das Werk 

Die heilige Familie. 

Über die gemeinsame Arbeit 

an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern 

hatte sich mit Engels 

ein reger Briefwechsel entwickelt, 

der schließlich zu einer lebenslangen Freundschaft 

sowie einer engen politischen 

und publizistischen Zusammenarbeit führte. 

Deren erstes Ergebnis war die im März 1845 

veröffentlichte Schrift 

Die heilige Familie, 

die sich als Streitschrift verstand, 

zu der Engels allerdings nur zehn Seiten 

beigetragen hat. Marx polemisiert hier 

gegen die Berliner Junghegelianer; 

einen wichtigen Angehörigen dieser Gruppe 

erwähnt er zunächst aber nicht: Max Stirner, 

dessen Buch Der Einzige und sein Eigentum 

im Oktober 1844 erschienen war 

und von Engels in einem Brief an Marx 

zunächst vorwiegend positiv eingeschätzt wurde.


Marx sah Stirners Buch kritischer als Engels 

und überzeugte diesen in einer Antwort 

auf den genannten Brief von seiner Auffassung. 

Gleichwohl schien er sich Stirners Kritik 

an Feuerbach partiell zu eigen zu machen 

und verfasste im Frühjahr 1845 

seine berühmten, aber erst postum veröffentlichten 

Thesen über Feuerbach. 

Erst im Herbst 1845, nachdem Marx 

die Verteidigung Feuerbachs 

gegen die Kritik Stirners an ihm 

sowie Stirners Replik darauf gesehen hatte, 

entschloss er sich, selbst eine Kritik Stirners zu verfassen: 

das Kapitel „Sankt Max“ in der gemeinsam 

verfassten Streitschrift 

Die deutsche Ideologie, 

das aber erst nach Marx’ Tod veröffentlicht wurde.


Im ersten, der Kritik des junghegelianischen 

Religionskritikers Ludwig Feuerbach 

gewidmeten Kapitel der Deutschen Ideologie 

entwickeln Marx und Engels 

ein Modell des „praktischen Entwicklungsprozesses“ 

der menschlichen Geschichte, 

die sie im Gegensatz zu den Hegelianern 

nicht als Entwicklungsgang des Geistes, 

sondern als Geschichte menschlicher Praxis 

und der sozialen Beziehungen verstehen: 

Es wird von den wirklich tätigen Menschen 

ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess 

auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe 

und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt“. 

Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei 

der Moment der Teilung der Arbeit 

als des bestimmenden Faktors 

der geschichtlichen Entwicklung. 

Dem ebenfalls materialistisch 

argumentierenden Feuerbach werfen sie dabei vor, 

den Menschen als etwas Wesenhaftes, 

nicht aber als Subjekt sinnlich-praktischer Tätigkeit 

verstanden zu haben.


Die weiteren Kapitel der Deutschen Ideologie 

beinhalten eine scharfe Kritik 

der übrigen Junghegelianer als Vertreter einer – 

so Marx und Engels – wesentlich 

idealistischen Gesellschaftskritik. 

Auch den Vertretern des sogenannten 

wahren Sozialismus“ ist ein Kapitel gewidmet. 

Zu Lebzeiten Marx’ wurde allerdings 

nur dieses Kapitel abgedruckt..


Marx’ und Engels’ in Abgrenzung 

gegen die zeitgenössischen 

sozialistischen und junghegelianischen 

Strömungen entworfene Grundlegung 

eines „historischen Materialismus“ 

stellt durch die Betonung der sozialen 

und materiellen Triebkräfte der Geschichte 

einen unmittelbaren Vorläufer der Soziologie dar.


Marx hatte sich außerdem an der Redaktion 

des in Paris erscheinenden deutschen Wochenblattes 

Vorwärts! beteiligt, das den Absolutismus 

der deutschen Länder – besonders Preußens – angriff, 

unter Marx’ Einfluss bald mit deutlich 

sozialistischer Ausrichtung. 

Die preußische Regierung setzte deswegen 

seine Ausweisung aus Frankreich durch, 

so dass Marx 1845 nach Brüssel übersiedeln musste, 

wohin Engels ihm folgte. 

Bei einer gemeinsamen Studienreise nach England 

1845 knüpften sie Verbindungen 

zum revolutionären Flügel der Chartisten. 

Marx gab Anfang Dezember 1845 

die preußische Staatsbürgerschaft auf 

und wurde staatenlos, nachdem er erfahren hatte, 

dass die preußische Regierung 

vom belgischen Staat 

seine Ausweisung erwirken wolle. 

Spätere Gesuche, seine Staatsbürgerschaft 

wiederherzustellen, blieben erfolglos.


In Brüssel veröffentlichte Marx 1847 die Schrift 

Misère de la philosophie. 

Réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon, 

eine Kritik der ökonomischen Theorie 

Pierre-Joseph Proudhons und darüber hinausgehend 

der kapitalistischen Gesellschaft selbst. 

Außerdem schrieb er gelegentlich Artikel 

für die Deutsche-Brüsseler-Zeitung.


Anfang 1846 gründeten Marx und Engels 

in Brüssel das Kommunistische Korrespondenz-Komitee, 

dessen Ziel die inhaltliche Einigung 

und der organisatorische Zusammenschluss 

der revolutionären Kommunisten 

und Arbeiter Deutschlands und anderer Länder war; 

so wollten sie den Boden für die Bildung 

einer proletarischen Partei bereiten. 

Schließlich traten Marx und Engels in Verbindung 

mit Wilhelm Weitlings sozialistischem Bund 

der Gerechten, in dem sie 1847 Mitglieder wurden. 

Noch im selben Jahr setzte Marx 

die Umgründung zum Bund der Kommunisten durch 

und erhielt den Auftrag, dessen Manifest zu verfassen. 

Es wurde im Revolutionsjahr 1848 veröffentlicht 

und ging als Kommunistisches Manifest 

(Manifest der Kommunistischen Partei) 

in die Geschichte ein. 

Am 15. September 1850 stellte Marx den Antrag, 

die Zentralbehörde nach Köln zu verlegen 

und in London zwei Kreise des Bundes zu bilden. 

Der Beschluss wurde gegen eine einzige Gegenstimme

angenommen. Am 17. September 1850 

traten Marx, Engels, Liebknecht und andere 

aus dem Londoner Arbeiterbildungsverein aus.


Kurz darauf löste die französische Februarrevolution 1848 

in ganz Europa politische Erschütterungen aus; 

als diese Brüssel erreichten, wurde Marx verhaftet 

und aus Belgien ausgewiesen. 

Da ihn inzwischen die neu eingesetzte 

provisorische Regierung der Französischen Republik 

wieder nach Paris eingeladen hatte, 

kehrte er dorthin zurück; 

nach Ausbruch der deutschen Märzrevolution 

ging Marx nach Köln. 

Dort war er einer der Führer 

der revolutionären Bewegung 

in der preußischen Rheinprovinz 

und gab die Neue Rheinische Zeitung, 

Organ der Demokratie, heraus, 

in der unter anderen erstmals 

die unvollendet gebliebene Schrift 

Lohnarbeit und Kapital abgedruckt wurde. 

Die Zeitung konnte am 19. Mai 1849 

zum letzten Mal erscheinen, bevor 

die preußische Reaktion ihr Erscheinen unterband.


Marx kehrte zunächst nach Paris zurück, 

wurde aber schon einen Monat später 

vor die Wahl gestellt, sich entweder 

in der Bretagne internieren zu lassen 

oder Frankreich zu verlassen. 

Marx ging daraufhin mit seiner Familie 

ins Exil nach London, 

wo er vor allem anfangs in dürftigen Verhältnissen 

von journalistischer Tätigkeit 

sowie finanzieller Unterstützung 

vor allem von Engels überlebte, 

der Marx nach England folgte. 

Politisch widmete er sich 

der internationalen Agitation für den Kommunismus, 

theoretisch entwickelte er wesentliche Elemente 

seiner Analyse und Kritik des Kapitalismus.


In London erschien zunächst Marx’ Werk 

Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“; 

daran anknüpfend „Der achtzehnte Brumaire 

des Louis Bonaparte“ 

zur Machtergreifung Napoleons III.


Von 1852 an war Marx Londoner Korrespondent 

der New York Daily Tribune 

und jahrelang deren Korrespondent für Europa. 

Die Artikel sind keine gewöhnlichen Berichte, 

sondern umfassende Analysen 

der politischen und ökonomischen Lage 

einzelner europäischer Länder, 

oft als ganze Artikelreihe.


Die Mitarbeit an der Tribune endete, 

als Charles Anderson Dana die Mitarbeit 

von Marx wegen inneramerikanischer Angelegenheiten 

am 28. März 1862 kündigte. 

1859 schrieb Marx zahlreiche Artikel 

für die Arbeiterzeitung „Das Volk“. 

Marx wurde Korrespondent der Wiener Presse 

und stürzte sich in das Studium 

der politischen Ökonomie. 

1861 versuchte er, auch mit gerichtlichen Mitteln 

und unterstützt von Ferdinand Lassalle, 

seine preußische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen, 

doch die preußische Regierung verweigerte dies. 

Während des Januaraufstands 1863 

nahm Marx Kontakt zu polnischen Aufständischen auf 

und veranlasste den Deutschen Arbeiterbildungsverein 

in London, sich an der Unterstützung 

der Polen zu beteiligen.


In der Folge entstanden Marx’ 

ökonomische Hauptwerke. 

Als erste systematische Darstellung 

der marxschen ökonomischen Grundgedanken 

erschien 1859 Zur Kritik der politischen Ökonomie, 

das ursprünglich als erstes Heft 

zur Fortsetzung bestimmt war. 

Doch Marx war mit der Detailausführung 

des Gesamtplans noch nicht zufrieden, 

und so begann er seine Arbeit von neuem. 

Erst 1867 erschien der erste der drei Bände 

seines Hauptwerks Das Kapital.


Während er das Kapital ausarbeitete, 

bot sich Marx auch wieder Gelegenheit 

zu praktischer Tätigkeit in der Arbeiterbewegung: 

1864 beteiligte er sich federführend 

an der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation 

(„Erste Internationale“) 

und leitete sie bis zur faktischen Auflösung 1872. 

Marx entwarf die Statuten 

und das grundlegende Programm, 

die „Inauguraladresse 

der Internationalen Arbeiter-Assoziation“, 

das so disparate Sektionen wie deutsche Kommunisten, 

englische Gewerkschafter, Schweizer Anarchisten 

und französische Proudhonisten zusammenführte.


In den deutschen Staaten trieb Marx zunächst 

die Schaffung einer revolutionären 

sozialistischen Partei voran; 

dies geschah in Abgrenzung 

zum sozialreformerisch ausgerichteten 

Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein 

des früheren Marx-Schülers Ferdinand Lassalle, 

mit dem er sich in den politischen Zielen entzweit hatte. 

Wilhelm Liebknecht stand 

seit seiner Übersiedlung nach Berlin 1862 

in Kontakt mit Marx und Engels. 

Beide unterstützten ihn durch Beiträge 

in den Zeitungen Demokratisches Wochenblatt 

und Der Volksstaat. Wilhelm Liebknecht 

war 1869 Mitbegründer der Sozialdemokratischen 

Arbeiterpartei, die sich 1875 mit den Lassalleanern 

zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands vereinigte, 

der späteren Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).

Auch nach der Auflösung der Ersten Internationale 

blieb Marx in ständiger Verbindung 

mit fast allen wichtigen Personen 

der europäischen und amerikanischen Arbeiterbewegung, 

die sich oft mit ihm persönlich berieten.


An der Vollendung seiner stetig vorangetriebenen 

ökonomischen Arbeiten hinderte Marx 

seine zunehmende Kränklichkeit. 

In den Jahren von 1862 bis 1874 

litt er an einer Hautkrankheit, die ihn stark behinderte. 

Um sicher nach dem Kontinent zu reisen, 

stellte Marx am 1. August 1874 einen Antrag 

auf die britische Staatsbürgerschaft, 

der aber am 17. August abgelehnt wurde 

mit der Begründung, er sei ein “notorius agitator, 

the head of the International Society, 

and an advocate of Communistic principles. 

This man has not been loyal 

to his own King and Country”.


Am 2. Dezember 1881 starb seine Frau Jenny Marx, 

am 11. Januar 1883 „die vom Mohr 

am meisten geliebte Tochter“ Jenny. 

Marx verstarb am 14. März 1883 

im Alter von 64 Jahren in London 

und wurde am 17. März 1883 

auf dem Highgate Cemetery beigesetzt. 

Friedrich Engels hielt eine Trauerrede. 

Die wissenschaftlichen Leistungen von Karl Marx 

hat Engels in seiner Grabrede 

in zwei wesentliche Entdeckungen zusammengefasst:


Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung 

der organischen Natur, so entdeckte Marx 

das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: 

dass also die Produktion der unmittelbaren 

materiellen Lebensmittel 

und damit die jedesmalige ökonomische 

Entwicklungsstufe eines Volkes 

oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, 

aus der sich die Staatseinrichtungen, 

die Rechtsanschauungen, die Kunst 

und selbst die religiösen Vorstellungen 

der betreffenden Menschen entwickelt haben, 

und aus der sie daher auch erklärt werden müssen – 

nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.

Damit nicht genug. 

Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz 

der heutigen kapitalistischen Produktionsweise 

und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. 

Mit der Entdeckung des Mehrwerts 

war hier plötzlich Licht geschaffen.“




ZWEITER GESANG


Engels war das erste von neun Kindern 

des erfolgreichen Baumwollfabrikanten 

Friedrich Engels und dessen Frau 

Elisabeth Franziska Mauritia Engels. 

Engels’ Vater entstammte einer angesehenen, 

seit dem 16. Jahrhundert im Bergischen Land 

ansässigen Familie 

und stand dem Pietismus nahe. 

Seine Mutter stammte aus einer Philologenfamilie. 

In seiner Geburtsstadt Barmen 

besuchte er die Städtische Schule. 

Im Herbst 1834 schickte ihn sein Vater 

auf das liberale Gymnasium zu Elberfeld. 

Der äußerst sprachbegabte Schüler 

begeisterte sich für humanistische Ideen 

und geriet in zunehmende Opposition 

zu seinem Vater. 

Auf dessen Drängen musste Engels 

zum 25. September 1837 das Gymnasium, 

ein Jahr vor dem Abitur, verlassen, 

um als Handlungsgehilfe im Handelsgeschäft 

seines Vaters in Barmen zu arbeiten. 

Im Juli 1838 reiste er nach Bremen, 

um dort im Hause des Großhandelskaufmanns 

und sächsischen Konsuls Heinrich Leupold 

seine Ausbildung bis April 1841 fortzusetzen. 

Er wohnte im Haushalt von Georg Gottfried Treviranus, 

Pastor an der Martini-Kirche.


Im weltoffenen Bremen hatte Engels Gelegenheit, 

neben seiner kaufmännischen Ausbildung 

die durch Presse und Buchhandel 

verbreiteten liberalen Ideen zu verfolgen. 

Er fühlte sich vor allem von den liberalen Dichtern 

und Publizisten des „Jungen Deutschland“ 

angesprochen und unternahm selbst 

literarische Versuche.


Noch im Frühjahr 1839 begann Engels, 

mit dem radikalen Pietismus 

seiner Geburtsstadt abzurechnen. 

In seinem Artikel Briefe aus dem Wuppertal, 

der 1839 im Telegraph für Deutschland erschien, 

schilderte er, wie der religiöse Mystizismus 

im Wuppertal alle Bereiche des Lebens durchdrang, 

und machte auf den Zusammenhang 

zwischen der pietistischen Lebenseinstellung 

und dem sozialen Elend aufmerksam.


Engels betätigte sich als Bremer Korrespondent 

des Stuttgarter Morgenblatts für gebildete Leser, 

ab 1840 bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung. 

Er schrieb zahlreiche Literaturkritiken, 

Gedichte, Dramen und verschiedene Prosaarbeiten. 

Darüber hinaus verfasste er Berichte 

zur Auswanderungsfrage 

und über die Schraubendampfschifffahrt. 

Wichtige Förderer seiner literarisch-politischen 

Interessen waren zu dieser Zeit Ludwig Börne, 

Ferdinand Freiligrath und insbesondere Karl Gutzkow. 

In dessen Telegraph für Deutschland 

erschienen von 1839 bis 1841 

unter dem Pseudonym „Friedrich Oswald“ 

zahlreiche Beiträge von Engels.


Ab September 1841 leistete Engels 

seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger 

bei der Garde-Artillerie-Brigade in Berlin ab 

und besuchte dort Vorlesungen zur Philosophie 

an der Universität. Er näherte sich 

dem Kreis der Junghegelianer 

und schloss sich der Gruppe um Bruno und Edgar Bauer, 

den sogenannten „Freien“, an. 

Zur Jahreswende 1841/42 veröffentlichte Engels – 

unter dem Eindruck von Schellings 

Berliner Hegel-Vorlesungen – 

einen Artikel und zwei Broschüren, 

die sich gegen die Philosophie Schellings richteten.


Seit seinen Streitschriften gegen Schelling 

widmete Engels der Philosophie 

immer größere Aufmerksamkeit. 

Er studierte die Werke Hegels, 

beschäftigte sich ausführlich mit dem Stand 

der religionskritischen Forschungen 

und wandte sich zum ersten Mal 

der Philosophie der französischen Materialisten zu. 

Ab Mitte 1842 begann er, 

sich mit Ludwig Feuerbach 

(Das Wesen des Christentums) 

auseinanderzusetzen, der in seinen Werken 

die Religion sowie den Hegelschen Idealismus verwarf. 

Unter dem Eindruck dieser Studien 

entfernte sich Engels zunehmend 

vom Junghegelianismus und fing an, 

Positionen des Materialismus einzunehmen. 

Damit bekamen für ihn politische Tagesfragen 

ein immer stärkeres Gewicht. 

Seit April 1842 veröffentlichte er 

gegen den reaktionären Kurs 

des preußischen Staates gerichtete Artikel 

in der Rheinischen Zeitung, 

dem damals führenden Organ der oppositionellen 

bürgerlichen Bewegung in Deutschland.


Engels interessierte sich schon sehr früh 

für die prekäre Lage der Arbeiterschaft. 

Im bereits 1839 im Telegraph für Deutschland 

veröffentlichten Aufsatz 

Briefe aus dem Wuppertal 

beschreibt er unter anderem 

die Degenerationserscheinungen 

deutscher Industriearbeiter – 

wie die Verbreitung des Mystizismus 

und der Trunkenheit – 

und die Kinderarbeit in den Fabriken.


Daneben beschäftigte sich Engels 

in der Folgezeit stark mit den Junghegelianern, 

insbesondere mit David Friedrich Strauß. 

In den Jahren 1842/43 erschienen – 

unter dem Eindruck von Schellings 

Hegel-Vorlesungen in Berlin – 

Artikel und Broschüren zu Schelling 

und dessen Hegel-Kritik. 

Engels kritisiert darin den Versuch Schellings, 

die christliche Religion zu rechtfertigen, 

und verteidigt die Hegelsche Dialektik. 

Schellings Philosophie stelle einen Rückfall 

in die Scholastik und Mystik dar 

und sei der Versuch, die Philosophie wieder 

zur „Magd der Theologie“ zu erniedrigen.


Im November 1842 reiste Engels über Köln – 

wo er bei einem Redaktionsbesuch 

der Rheinischen Zeitung erstmals 

Karl Marx persönlich begegnete – 

nach Manchester, wo er im Stadtteil 

Chorlton-on-Medlock wohnte, 

um seine kaufmännische Ausbildung 

in der seinem Vater und dessen Partner Ermen 

gehörenden Baumwollspinnerei 

Ermen & Engels zu vollenden.


Im industriell viel weiter entwickelten England 

lernte Engels die Realität der dortigen 

Arbeiterklasse kennen, 

was seine politische Haltung veränderte 

und auf Lebenszeit prägte. 

Der Feudalismus war dort bereits überwunden, 

und die Widersprüche zwischen Bourgeoisie 

und Arbeiterklasse traten für Engels offen zutage. 

Er suchte den Kontakt mit der sich formierenden 

englischen Arbeiterbewegung 

und lernte deren Kampfformen 

wie Streiks, Meetings und Gesetzesinitiativen kennen. 

Die irische Arbeiterin Mary Burns, 

Engels’ Lebensgefährtin, 

spielte dabei eine wichtige Rolle.


1843 nahm Engels in London 

Kontakt mit der ersten revolutionären 

deutschen Arbeiterorganisation, 

dem „Bund der Gerechten“, auf 

und begegnete dort führenden Mitgliedern. 

Gleichzeitig trat er mit den englischen 

Chartisten in Leeds in Verbindung 

und schrieb erste Artikel, die in den Zeitungen 

der Owenisten (The New Moral World) 

und Chartisten (The Northern Star) erschienen. 

In den Herbst 1843 geht seine Freundschaft 

mit dem Chartistenführer Julian Harney 

und dem Handelsgehilfen 

und Dichter Georg Weerth zurück, 

der später das Feuilleton 

der Neuen Rheinischen Zeitung 

in den Revolutionsjahren 1848/49 leiten sollte.


Bewegt von den zähen Kämpfen 

des englischen Proletariats, 

vertiefte sich Engels in das Studium 

der bestehenden Theorien 

der kapitalistischen Gesellschaft. 

Er griff zu den Werken der englischen 

und französischen Utopisten 

(Robert Owen, Charles Fourier, 

Claude-Henri de Saint-Simon) 

und der klassischen bürgerlichen 

politischen Ökonomie (Adam Smith, 

David Ricardo). Die Resultate seiner Studien 

veröffentlichte er in der Rheinischen Zeitung, 

in englischen Arbeitsblättern 

und in einer Schweizer Zeitschrift. 

Im Februar 1844 entstanden dann die Schriften 

Die Lage Englands und Umrisse 

zu einer Kritik der Nationalökonomie 

in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, 

die von Karl Marx und Arnold Ruge 

in Paris herausgegeben wurden. 

Er versuchte darin eine erste Antwort 

auf die Frage zu geben, welche Rolle 

die ökonomischen Bedingungen und Interessen 

für die Entwicklung 

der menschlichen Gesellschaft spielen.


Kurz nach seiner Ankunft in Manchester 

hatte Engels die irischen Arbeiterinnen 

Mary und Lizzie Burns kennengelernt, 

mit denen er zeitlebens in Liebe verbunden war; 

einen Tag vor Lizzies Tod ging er 

noch offiziell die Ehe mit ihr ein.


Mit Marx stand Engels seit seiner Mitarbeit 

an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern 

im regelmäßigen Briefwechsel. 

Bei seiner Rückreise nach Deutschland, 

Ende August 1844, besuchte er ihn 

in Paris für zehn Tage. 

Die beiden stellten fest, 

dass ihre Ansichten übereinstimmten, 

und beschlossen, weiterhin eng zusammenzuarbeiten.


Mit seiner Ankunft in England 1842, 

der Konfrontation mit dem Chartismus 

und den ersten historischen Auseinandersetzungen 

der Arbeiterbewegung verlagerte sich 

Engels’ Interesse auf die Analyse 

der sozialen und politischen Situation 

der Arbeiterschaft. Er kam zu der Überzeugung, 

dass der Kampf der materiellen Interessen 

der Hauptantrieb der gesellschaftlichen Entwicklung ist, 

welcher seinen politischen Ausdruck 

im Klassenkampf findet. 

Seine theoretischen Ansichten zu dieser Zeit 

kommen am besten in der Schrift 

Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie 

zum Ausdruck. Engels formuliert darin 

seine Kritik an der idealistischen 

und materialistischen Philosophie. 

Als zentrale Kategorie des Kapitalismus 

stellt er das Privateigentum heraus, 

das den Grund für die Entfremdung der Arbeit, 

für die Bildung von Monopolen 

und für die wiederkehrenden Krisen darstelle. 

Die Lösung der Probleme des Kapitalismus 

sieht Engels in einer rationellen 

Organisation der Produktion.


Nach seiner Rückkehr nach Barmen 

fand Engels veränderte Verhältnisse vor. 

Der Aufstand der schlesischen Weber im Juni 1844 

hatte auch in anderen Teilen Deutschlands 

Arbeiterstreiks ausgelöst. 

Diese beeinflussten auch die bürgerlichen Kräfte 

in Rheinpreußen zur Opposition 

gegen die preußische Regierung. 

Um die oppositionellen Kräfte zu unterstützen, 

bemühte sich Engels, Verbindung 

zu den im Rheinland wirkenden 

Sozialisten aufzunehmen, deren führender 

Theoretiker Moses Hess war. 

Mit ihm und dem Maler und Dichter 

Gustav Adolf Koettgen entfaltete er 

ab dem Herbst 1844 in Elberfeld 

eine rege agitatorische Tätigkeit. 

In den Elberfelder Reden vom Februar 1845 

propagierte Engels eine kommunistische Gesellschaft, 

worauf ihm von der Provinzialregierung 

alle öffentlichen Versammlungen 

verboten wurden. Er konzentrierte sich 

nun darauf, die Verbindungen 

zwischen den illegal arbeitenden 

sozialistischen Gruppen zu festigen, 

und pflegte seine internationalen Beziehungen, 

vor allem zu den englischen Sozialisten 

und Chartisten. Für die sozialistische 

Zeitschrift The New Moral World, 

an der er bereits in England mitgearbeitet hatte, 

schrieb er mehrere Artikel, in denen er 

über die Entwicklung sozialistischer 

Strömungen in Deutschland berichtete. 

Darüber hinaus bemühte er sich, 

die verschiedenen Gruppen für die von Marx 

und ihm vertretenen Ideen zu gewinnen 

und die vorherrschenden idealistischen 

und utopisch-sozialistischen 

Vorstellungen zu überwinden. 

Ein wichtiges Ereignis war dabei 

das Erscheinen der Heiligen Familie, 

ein Gemeinschaftswerk mit Marx, im Februar 1845. 

Die wissenschaftliche Öffentlichkeit in Deutschland 

reagierte darauf mit zumeist heftigen Angriffen 

auf das darin enthaltene 

materialistisch-sozialistische Ideengut. 

Um die Theorie vom Klassenkampf 

weiter voranzutreiben, arbeitete Engels 

seit seiner Ankunft in Barmen 

intensiv an seinem Werk 

Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 

das im März 1845 erschien. 

Es wurde von den wichtigsten deutschen 

Zeitungen und Zeitschriften besprochen 

und fand bei den demokratischen Kräften 

des Bürgertums großes Interesse.


Im April 1845 übersiedelte Engels nach Brüssel, 

um Marx zu unterstützen, 

der unter dem Druck der preußischen Reaktion 

von der französischen Regierung 

aus Frankreich ausgewiesen worden 

und in das junge Königreich Belgien gezogen war. 

Noch im gleichen Jahr folgte ihm Mary Burns 

aus England. Marx und Engels bauten in Brüssel 

einen gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreis auf. 

Marx und Engels stellten fest, 

dass sich in der kommunistischen Bewegung 

Ideen ausbreiteten, die die Aufnahme 

ihrer neuen Erkenntnisse hemmten. 

Sie begannen daher mit der Arbeit an der Schrift 

Die deutsche Ideologie, 

die eine Kritik an Feuerbach und dem 

seitherigen deutschen Sozialismus“ umfasste. 

Nach sechs Monaten beendeten sie 

im Mai 1846 ihr Werk. Engels bemühte sich 

bis 1847 vergeblich um einen Verleger 

und verfasste als Ergänzung Anfang 1847 

noch die Arbeit Die wahren Sozialisten. 

Nachdem sie aus ihrer Sicht 

die theoretischen Grundlagen 

für die künftige Umgestaltung der Gesellschaft 

gelegt hatten, sahen Marx und Engels 

ihre wichtigste Aufgabe darin, das europäische 

und zunächst das deutsche Proletariat 

für ihre Überzeugungen zu gewinnen. 

Sie widmeten sich nach 1846 immer stärker 

der praktischen Tätigkeit für die Bildung 

einer proletarischen Partei. 

Im Februar 1846 gründeten sie in Brüssel 

das Kommunistische Korrespondenz-Komitee, 

das die Verbindung zwischen den Kommunisten 

in den verschiedenen Ländern herstellen sollte. 

Im Laufe des Jahres 1846 kam es 

zur Gründung weiterer Komitees 

in zahlreichen europäischen Städten. 

Marx und Engels hielten diese zumeist kleinen Gruppen 

für die Basis, um ihre Ideen 

in die Arbeiterbewegung hineinzutragen 

und sich mit jenen weltanschaulichen Konzepten

auseinanderzusetzen, die bis dahin 

die Vorstellungswelt der Arbeiter bestimmten. 

Dazu gehörten vor allem der utopische Kommunismus, 

die Lehren des französischen Sozialisten Proudhon 

und die Auffassungen des wahren Sozialismus.


Ende Januar 1847 traten Marx und Engels 

dem „Bund der Gerechten“ bei, 

der sich ihren Ideen inzwischen angenähert hatte. 

Sie arbeiteten nun energisch darauf hin, 

den „Bund“ in eine Partei 

der Arbeiterklasse umzuwandeln. 

Währenddessen schrieb Marx in Brüssel 

an seiner theoretischen Streitschrift 

Misère de la philosophie (Das Elend der Philosophie), 

die im Juli 1847 in Frankreich herauskam 

und eine Kritik an den Reformplänen 

Proudhons enthielt. Engels propagierte in Paris 

die in dem Buch behandelten theoretischen Fragen 

unter den deutschen Kommunisten 

und den Führern der französischen Sozialisten. 

Im Juni 1847 fand der erste der beiden Bundeskongresse 

des „Bundes der Gerechten“ statt, 

der sich nun in den „Bund der Kommunisten“ 

umbenannte, da für deren Mitglieder 

nicht mehr die „Gerechtigkeit“, 

sondern der Angriff auf „die bestehende 

Gesellschaftsordnung und das Privateigentum“ 

im Vordergrund stand. An die Stelle 

der alten Bundesdevise „Alle Menschen sind Brüder“ 

trat nun die revolutionäre Klassenlosung 

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ 

In Form von 22 Fragen und Antworten 

beschloss der Kongress 

den „Entwurf eines Kommunistischen 

Glaubensbekenntnisses“.


Im August 1847 gründete Engels 

gemeinsam mit Marx 

den Brüsseler Deutschen Arbeiterverein. 

Anfang November 1847 verfasste Engels, 

beauftragt von den Pariser Mitgliedern 

des „Bundes der Kommunisten“, 

die Grundsätze des Kommunismus. 

Noch im selben Monat nahmen Marx und Engels 

am zweiten Kongress des „Bundes 

der Kommunisten“ in London teil, 

wo sie beauftragt wurden, das Programm 

des Bundes weiter auszuarbeiten, woraus 

Das Kommunistische Manifest entstand, 

das im Februar 1848 in London erschien. 

Im Hintergrund ihrer Arbeit stand die Erwartung, 

dass die bürgerliche Revolution von 1848 

den proletarischen Umsturz der bestehenden 

gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland 

nach sich ziehen werde. Aktiv wurde Engels 

auch in der Auseinandersetzung 

mit dem wahren Sozialismus.


Nach seiner Rückkehr von England 

nach Deutschland verfasste Engels 

Die Lage der arbeitenden Klasse in England. 

Das 1845 erschienene Werk stellt Engels’ 

erste größere eigenständige Veröffentlichung dar. 

Es fiel in eine Zeit besonderer sozialer Spannungen 

in Deutschland (Weberaufstand). 

Engels wendet sich hier der sozialen Frage zu, 

ausgehend von den Verhältnissen in England, 

die er aus eigener Anschauung kannte. 

Er beschreibt die elenden Wohnquartiere der Arbeiter 

in den englischen Industriestädten 

und schildert die Arbeitssituation des Proletariats, 

weist auf Kinderarbeit, Berufskrankheiten 

und Sterblichkeitsraten hin. 

Schließlich informiert er über die zusätzliche 

Knebelung der Arbeiterfamilien 

durch den Zwang, bei den Unternehmern 

Lebensmittel einzukaufen 

und in den von ihnen bereitgestellten 

Wohnungen zu wohnen.


Die im September 1844 geschlossene Freundschaft 

mit Marx führte zunächst 

zu einer gemeinsamen Aufarbeitung 

ihrer philosophischen Vergangenheit. 

Ihre erste gemeinsame Schrift 

Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik 

markiert ihren Übergang vom Idealismus 

zum Materialismus. Marx und Engels 

rechnen darin mit ihren früheren 

junghegelianischen Gesinnungsgenossen ab. 

Bauers „kritischer Kritik“ werfen sie vor, 

dass in ihrem Zentrum nicht Menschen, 

sondern „Kategorien“ – Geist und Selbstbewusstsein – 

stehen und sie hinter das von Feuerbach 

erreichte Niveau zurückfalle, 

die den spekulativen Idealismus der Hegelschen 

Philosophie längst überwunden habe.


Als Antwort auf polemische Beiträge 

Bruno Bauers und Max Stirners 

in Wiegands Vierteljahresschrift entstand 

bis Mai 1846 die wohl wichtigste Schrift 

dieser Periode, Die deutsche Ideologie. 

Kritik der neuesten deutschen Philosophie 

in ihren Repräsentanten, Feuerbach, 

Bruno Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus 

in seinen verschiedenen Propheten. 

In der Schrift fassen Marx und Engels 

ihre Kritik an der junghegelianischen 

Philosophie zusammen, deren Forderung 

nach Bewusstseinsveränderung darauf hinauslaufe, 

das Bestehende nur anders zu interpretieren, 

es aber ansonsten anzuerkennen. 

Feuerbachs Materialismus, 

Bauers Philosophie des Selbstbewusstseins 

und Stirners individualistischer Anarchismus 

ließen trotz aller theoretischen Radikalität 

die praktischen Verhältnisse unangetastet bestehen. 

Daneben kritisieren sie den deutschen Sozialismus, 

der sich zwar kosmopolitisch gebe, 

aber „nationale Borniertheit“ zeige. 

Er sei von einer sozialen zu einer 

nur noch literarischen Bewegung verkommen 

und befriedige so einzig die Bedürfnisse 

des deutschen Kleinbürgertums.


Mit der Trennung von den Junghegelianern 

und Sozialisten radikalisierten sich 

die Positionen von Marx und Engels. 

1847 wurden sie vom zweiten Kongress 

des Bundes der Kommunisten mit der Ausarbeitung 

des Manifests der Kommunistischen Partei beauftragt. 

Das Werk formuliert den Klassenkampf als Prinzip 

der bisherigen Geschichte 

und begreift den Aufstieg der modernen Bourgeoisie 

als Sieg einer revolutionären Klasse. 

Mit ihrem Sieg verliere aber die Bourgeoisie 

ihre revolutionäre Rolle und hemme 

die weitere Entwicklung der Produktivkräfte. 

Die Bourgeoisie habe in ihrem Kampf 

gegen den Feudalismus sämtliche 

überkommenden Verhältnisse der Menschen 

untereinander zerstört und an deren Stelle 

das reine Geldverhältnis gesetzt. 

Bedingung der von ihr geschaffenen 

kapitalistischen Gesellschaft sei die Lohnarbeit, 

ihre Konsequenz das Proletariat, 

das durch seine Arbeit das Kapital vermehre, 

ohne sich selbst Eigentum beschaffen zu können. 

Die Bourgeoisie produziere so „vor allem 

ihre eignen Totengräber“. 

Das Manifest schließt mit dem Kampfaufruf 

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ 

Es erlangte zwar keine unmittelbare 

politische Wirksamkeit, wurde jedoch später 

zur Grundlage sozialistischer 

und kommunistischer Parteiprogramme.


Nach dem Ausbruch der Märzrevolution in Wien 

und Barrikadenkämpfen in Berlin (März 1848) 

trafen sich Marx und Engels in Paris 

und arbeiteten dort die Forderungen 

der Kommunistischen Partei in Deutschland aus, 

die als Flugblatt gedruckt wurden. 

Danach verließen beide Paris 

und trafen im April in Köln ein, 

um mit den Vorbereitungen zur Gründung 

der Neuen Rheinischen Zeitung zu beginnen; 

unter den Bedingungen der eben erkämpften 

Pressefreiheit erschien eine große Tageszeitung 

als das wirksamste Mittel, die politischen Ziele 

in aller Öffentlichkeit zu vertreten. 

Marx wurde Chefredakteur der neuen Zeitung, 

Engels sein Stellvertreter. 

Wegen drohender Verhaftung musste Engels 

im September 1848 Köln verlassen 

und fuhr in die Schweiz, um dort 

an der Organisation der Arbeitervereine mitzuwirken. 

Im Januar 1849 kehrte er nach Köln zurück, 

wo er in dem Presseprozess 

gegen die Neue Rheinische Zeitung 

vom Kölner Geschworenengericht 

freigesprochen wurde.


Im Mai 1849 unterstützte Engels zeitweise 

aktiv den Elberfelder Aufstand. 

Einen Monat später trat er 

in die badisch-pfälzische Armee ein 

und nahm als Adjutant Willichs 

an den revolutionären Kämpfen 

gegen Preußen in Baden im Gefecht in Gernsbach 

und der Pfalz teil. Hier begegnete er 

erstmals Johann Philipp Becker, 

dem Kommandeur der badischen Volkswehr, 

mit dem ihn später eine enge Freundschaft verband. 

Seine Kritik an der halbherzigen Politik 

der badischen Revolutionsregierung 

und dem letztlich unglücklichen Feldzug 

legte er später in seinem Werk 

Die deutsche Reichsverfassungskampagne nieder. 

Nach der Niederlage der Märzrevolution 

flüchtete Engels wie viele revolutionäre Emigranten 

über die Schweiz nach England.


Im September 1850 spaltete sich 

der Bund der Kommunisten. 

Zwei Monate später arbeitete Engels wieder 

bei Ermen & Engels in Manchester 

und übernahm später den Anteil seines Vaters, 

den er schließlich 1870 an Ermen verkaufte. 

Engels begann, Militärwesen zu studieren; 

aufgrund seiner praktischen militärischen Erfahrungen 

im Wehrdienst sowie den Kämpfen in Baden 

entwickelte er sich zum Militärexperten, 

was ihm den Spitznamen „General“ einbrachte. 

Ende 1850 begann er zudem, die russische 

und andere slawische Sprachen zu erlernen, 

und beschäftigte sich mit der Geschichte und Literatur 

der slawischen Völker. 

Seine Sprachstudien setzte er im Jahre 1853 

mit dem Erlernen des Persischen fort. 

Engels beherrschte zwölf Sprachen aktiv 

und zwanzig passiv, darunter Altgriechisch, 

Altnordisch, Arabisch, Bulgarisch, Dänisch, 

Englisch, Französisch, Friesisch, Gotisch, Irisch, 

Italienisch, Latein, Niederländisch, Norwegisch, 

Persisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch, 

Schottisch, Schwedisch, Serbokroatisch, 

Spanisch, Tschechisch.


Auf das Jahr 1850 geht auch der Beginn 

des ständigen brieflichen Gedankenaustauschs 

mit Marx zurück. Unter dem Namen 

seines Freundes schrieb er ab 1851 bis 1862 

regelmäßig für die Zeitschrift New York Daily Tribune. 

Von 1853 bis 1856 veröffentlichte er diverse Artikel 

über den Krimkrieg und andere 

internationale Ereignisse 

in der New York Daily Tribune 

und in der Neuen Oder-Zeitung.


Von 1857 bis 1860 arbeitete Engels 

an der von Charles Anderson Dana in New York 

herausgegebenen New American Cyclopaedia mit 

und erstellte eine Reihe von Militärartikeln 

sowie biographische und geographische Artikel. 

Zudem verfasste er zahlreiche Zeitungsartikel, 

unter anderem zu dem Krieg in Italien von 1859 

auch für die Arbeiterzeitung Das Volk.


Ende der 1850er und Anfang der 1860er Jahre 

befasste sich Engels in zwei Schriften 

mit dem aufkommenden europäischen Nationalismus. 

Im April 1859 erschien in Berlin 

als anonyme Broschüre die Arbeit Po und Rhein, 

in der er sich gegen die österreichische 

Vorherrschaft in Italien wandte 

und die Überzeugung vertrat, dass nur 

ein unabhängiges Italien 

im Interesse Deutschlands liege. 

Für die Deutschen forderte er die „Einheit, 

die allein uns nach innen und außen 

stark machen kann“. Anfang 1860 

veröffentlichte er ebenfalls anonym die Schrift 

Savoyen, Nizza und der Rhein, 

in der er sich gegen die Annexion Savoyens und Nizzas 

durch Napoleon III. aussprach 

und vor einer russisch-französischen Allianz warnte.


Während Engels zu Beginn der 1860er Jahre 

von einer Reihe von privaten Vorkommnissen 

erschüttert wurde – dem Tod seines Vaters, 

dem seiner Ehefrau Mary Burns 

und seines langjährigen Kampfgenossen Wilhelm Wolff, 

zogen zwei politische Ereignisse die Aufmerksamkeit 

von Engels und Marx auf sich. 

Den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) 

betrachteten beide als ein „Schauspiel 

ohne Parallele in den Annalen der Kriegsgeschichte“. 

Engels forderte von den Nordstaaten, 

den Krieg auf revolutionäre Weise zu führen 

und die Volksmassen stärker einzubeziehen. 

Er betonte, dass der Kampf für die Befreiung 

der Schwarzen die ureigenste Sache 

der Arbeiterklasse sei und auch die weißen Arbeiter 

so lange nicht frei sein könnten, 

wie die Sklaverei existiere. 

Im polnischen Aufstand gegen das zaristische Russland 

(1863) sah Engels eine wichtige Voraussetzung, 

den reaktionären Einfluss des Zarismus 

in Europa zu schwächen 

und die demokratische Bewegung in Preußen, 

Österreich und Russland selbst zu entfalten.


Nach dem Tod Ferdinand Lassalles 1864 

arbeitete Engels nach Vorschlag Marx’ 

an der Zeitung des Social-Demokrat mit, 

um deren Mitglieder für eine revolutionäre 

Politik zu gewinnen. Im Februar 1865 

stellten beide ihre Mitarbeit ein, 

da das Blatt immer deutlicher Bismarcks Nähe suchte. 

1865 erschien in Hamburg die Broschüre 

Die preußische Militärfrage 

und die deutsche Arbeiterpartei, 

in der es Engels primär darum ging, 

gegen die Lassalleaner und den Allgemeinen 

Deutschen Arbeiterverein 

eine revolutionäre Position in Erinnerung zu rufen.


Nachdem Marx seit den 1850er Jahren 

an der Erstellung des Kapitals gearbeitet hatte, 

erschien der erste Band im September 1867. 

Engels hatte die langjährigen ökonomischen Studien 

von Marx überhaupt erst ermöglicht, 

indem er den „hündischen Commerce“ 

auf sich nahm und den Lebensunterhalt 

der Familie Marx zu einem großen Teil bestritt. 

Engels vermochte Marx auf allen Gebieten 

der ökonomischen Theorie zu beraten. 

Von größtem Wert war auch sein Rat 

in praktischen Fragen. 

Da für die Verbreitung der im Kapital 

enthaltenen Ideen zunächst 

noch keine Arbeiter-Zeitungen zur Verfügung standen,

veröffentlichte Engels unter dem Deckmantel 

der Kritik in der bürgerlichen Presse 

mehrere Rezensionen zu Marx’ Werk. 

Im Jahr 1868 konnte er dann im von Wilhelm Liebknecht 

neu herausgegebenen Demokratischen Wochenblatt 

ohne die vorherigen Beschränkungen 

das Werk als das wichtigste Buch 

für die Arbeiterschaft würdigen.


Im Oktober 1870 zog Engels mit Lizzie Burns 

nach London in die Nähe der Marxschen Wohnung. 

Unterdessen war in Mitteleuropa 

der Deutsch-Französische Krieg ausgebrochen. 

Marx und Engels fiel es schwer, 

sich mit dem Gedanken zu versöhnen, 

dass, anstatt für die Zerstörung des Kaiserreichs zu kämpfen, 

das französische Volk sich für seine Vergrößerung opfert“. 

Sie vertraten die Ansicht, dass der Krieg 

von Seiten Frankreichs ein dynastischer Krieg war, 

der die persönliche Macht Bonapartes sichern sollte. 

Die deutschen Arbeiter müssten daher 

den Krieg unterstützen, solange er 

ein Verteidigungskrieg gegen Napoleon III., 

den Hauptfeind der nationalstaatlichen 

Einigung Deutschlands, bliebe. 

Von Ende Juli 1870 bis Februar 1871 

verfasste Engels über den Verlauf des Krieges 

anonym 59 Artikel für die Londoner Tageszeitung 

Pall Mall Gazette, die aufgrund 

ihres militärischen Sachverstands in London 

großes Aufsehen erregten. 

Hatte Engels bis zur Niederlage Napoleons III. 

in seinen Artikeln noch die Ansicht vertreten, 

dass Deutschland sich gegen den französischen 

Chauvinismus verteidigte, so verwandelte sich 

danach der Krieg für ihn „langsam aber sicher 

in einen Krieg für die Interessen 

eines neuen deutschen Chauvinismus“.


Im Oktober 1870 wurde Engels 

auf Vorschlag von Marx zum Mitglied 

des Generalrats der Internationalen 

Arbeiterassoziation gewählt. 

In der Folgezeit war er als korrespondierender 

Sekretär für Belgien, Spanien, Portugal, 

Italien und Dänemark tätig. 

Nach der Niederlage der Kommunarden 

der Pariser Kommune bildete 

der Generalrat ein Flüchtlingskomitee 

für die Pariser Flüchtlinge, 

die meist nach London strömten. 

Auf Engels’ Anstoß verfasste Marx die Schrift 

Der Bürgerkrieg in Frankreich, 

die für alle Mitglieder der „Internationale“ 

die Bedeutung des Pariser Kampfes herausstellen sollte; 

Engels übersetzte diese Schrift Mitte 1871 

aus dem Englischen ins Deutsche.


Seit 1873 beschäftigte sich Engels intensiv 

mit philosophischen Problemen 

der Naturwissenschaften. 

Seine Absicht war, nach gründlichen Vorarbeiten 

ein Buch zu schreiben, in dem er eine 

dialektisch-materialistische Verallgemeinerung 

der theoretischen Erkenntnisse 

der Naturwissenschaften geben wollte. 

Inmitten dieser Studien erging von Liebknecht 

und Marx an ihn die Bitte, 

der „Dühringsseuche“ in Deutschland 

entgegenzuwirken. Dieser Aufgabe 

kam er 1876 bis 1878 mit der Schrift 

Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft 

(Anti-Dühring) nach. 

Sie erschien zuerst im Vorwärts, 

dem Zentralorgan der Sozialistischen 

Arbeiterpartei Deutschlands, 

1878 in Buchform. 

1878 verstarb seine Ehefrau Lydia Burns.


Nach dem Rückzug aus der Firma 1869 

zielten Engels’ Veröffentlichungen 

auf die „begriffliche Präzisierung, 

historische Vertiefung und methodische 

Abgrenzung des wissenschaftlichen Sozialismus“. 

Von 1873 bis 1882 entstand das Fragment 

Dialektik der Natur. 

Engels wurde zu dem Werk motiviert 

durch die Kritik der aufkommenden 

Naturwissenschaften an der Philosophie Hegels 

und die Übertragung naturwissenschaftlicher Theorien 

auf die Gesellschaft. Engels will nachweisen, 

dass sich in der Natur dieselben Bewegungsgesetze 

entdecken lassen, die auch in der Geschichte gelten. 

Neben den Thesen von der Ewigkeit der Materie 

und der Bewegung formuliert er 

die drei Grundgesetze der Dialektik. 

Der Dialektik stellt Engels 

das „metaphysische“ Denken gegenüber, 

das sich an starren Kategorien 

statt an widersprüchlichen Prozessen orientiere. 

Anhand vieler Beispiele will Engels zeigen, 

dass die Natur nicht „metaphysisch“, 

sondern dialektisch strukturiert ist. 

In großer Detailtreue verarbeitet er dabei 

fast alle naturwissenschaftlichen Einsichten 

und Entdeckungen seiner Zeit.


In dem 1877/78 als Artikelserie im Vorwärts 

unter Mitarbeit von Karl Marx erschienenen Werk 

Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft 

(„Anti-Dühring“) setzt sich Engels kritisch 

mit einigen Werken von Eugen Dühring auseinander. 

Seine Kritik richtet sich dabei 

gegen den dogmatisch-metaphysischen Charakter 

von Dührings Wirklichkeitsphilosophie 

und dessen Unfähigkeit, den „dialektischen“ 

Entwicklungsprozess der Welt zu verstehen. 

Gleichzeitig ist das Werk ein erster Versuch 

einer enzyklopädischen Zusammenfassung 

sowohl der Geschichte des Sozialismus 

als auch der Lehrmeinungen 

des Marxschen Kommunismus.


Der auf den Anti-Dühring aufbauende 

und 1880 zuerst erschienene Aufsatz 

Die Entwicklung des Sozialismus 

von der Utopie zur Wissenschaft 

entwickelt die Grundsätze 

des Historischen Materialismus. 

Für Engels war der Frühsozialismus 

(Saint-Simon, Fourier, Owen) „utopisch“, 

weil er undialektisch 

an zeitlose Vernunftwahrheiten appellierte. 

Diesen Mangel habe Hegel behoben, 

indem er die gesamte Wirklichkeit 

als einen dialektischen Entwicklungsprozess ansah – 

allerdings in verkehrter Weise 

als die Entfaltung der „Idee“. 

Erst Marx machte durch seine Auffassung der Geschichte 

als Geschichte von Klassenkämpfen 

und der Entdeckung des „Mehrwerts“ 

als des „Geheimnisses der kapitalistischen Produktion“ 

den Sozialismus zur Wissenschaft. 

Er wies nach, dass die bürgerliche Gesellschaft 

an der Logik ihres Grundwiderspruchs 

von gesellschaftlicher Produktion 

und privater Aneignung notwendig scheitern müsse. 

Während es die historische Aufgabe der Bourgeoisie war, 

die Produktivkräfte zu entwickeln, 

sei es jetzt die Aufgabe des Proletariats, 

deren gesellschaftliche Aneignung durchzusetzen.


Nach dem Tode von Marx 1883 

wurde Engels zum Hauptberater 

des marxistisch beeinflussten Teils 

der internationalen, besonders 

der deutschen Arbeiterbewegung. 

Er nahm Einfluss auf die Entwicklung 

der deutschen Sozialdemokratie 

und deren Erfurter Programm 1891.


Außerdem übernahm er die Bearbeitung 

und Herausgabe von Marx’ Werken 

sowie die Aufsicht neuer Übersetzungen. 

Unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes 

in Deutschland (1878–1890) 

brachte Engels noch im Jahre 1883 

eine neue Auflage des ersten Bandes des Kapitals heraus. 

1884 veröffentlichte er die unter anderem 

auf Marxschen Manuskripten basierende Schrift 

Der Ursprung der Familie, 

des Privateigentums und des Staats, 

in der er die Gesellschaftsformation der Urgesellschaft 

und den Übergang zur Klassengesellschaft analysierte.


Dann begann Engels, die Marxschen Manuskripte 

zu ordnen und zu entziffern. 

1885 veröffentlichte er Marx’ 

Das Elend der Philosophie 

und den zweiten Band des Kapitals. 

Es folgte die englische Übersetzung 

des ersten Bandes, die er gemeinsam 

mit seinem Freund Samuel Moore 

und Marx’ Schwiegersohn Edward Aveling vorbereitete. 

1890 erschien die vierte, von Engels 

nochmals redigierte Fassung des ersten Bandes 

des Kapitals, worin er einige Fußnoten ergänzte, 

die den veränderten geschichtlichen 

Umständen Rechnung tragen sollten. 

Sehr schwierig gestaltete sich die Edition 

des dritten Bandes, für die Engels 

neun Jahre benötigte. Er nahm 

das Marxsche Manuskript von 1865 zur Grundlage, 

das er stark redigierte.


Neben der Edition des Kapitals 

publizierte Engels 1886 die Schrift 

Ludwig Feuerbach und der Ausgang 

der klassischen deutschen Philosophie, 

1891 die 1875 von Marx verfasste Kritik 

des Gothaer Programms. Daneben führte er 

regen Schriftverkehr mit Sozialisten 

und Kommunisten in ganz Europa.


Engels starb am 5. August 1895 in London 

im Alter von 74 Jahren an Kehlkopfkrebs. 

Da seine Vorliebe für das Seebad Eastbourne 

bekannt war, wurde die Urne mit seiner Asche 

am 27. September 1895 fünf Seemeilen 

vor der dortigen Küste bei Beachy Head 

ins Meer versenkt.




DRITTER GESANG


Karl Liebknecht wurde 1871 in Leipzig geboren. 

Er war der zweite von fünf Söhnen 

Wilhelm Liebknechts 

und dessen zweiter Ehefrau Natalie. 

Sein älterer Bruder war Theodor Liebknecht, 

sein jüngerer Otto Liebknecht. 

Der Vater gehörte ab den 1860er Jahren 

mit August Bebel zu den Gründern 

und bedeutendsten Anführern der SPD 

und ihrer Vorläuferparteien. 

Karl wurde in der Thomaskirche 

evangelisch getauft. Seine Taufpaten 

waren Karl Marx und Friedrich Engels.


In den 1880er Jahren verbrachte Karl Liebknecht 

einen Teil seiner Kindheit in Borsdorf, 

am östlichen Stadtrand von Leipzig. 

Dort hatte sein Vater mit August Bebel 

eine Vorstadt-Villa bezogen, 

nachdem sie aufgrund des kleinen Belagerungszustandes, 

einer Bestimmung des zwischen 1878 und 1890 

gegen die Sozialdemokratie gerichteten 

Sozialistengesetzes, aus Leipzig 

ausgewiesen worden waren.


1890 machte er an der Alten Nikolaischule 

in Leipzig sein Abitur 

und begann am 16. August 1890 

an der Universität Leipzig Rechtswissenschaften 

und Kameralwissenschaften zu studieren. 

Als die Familie nach Berlin zog, 

setzte er dort am 17. Oktober 1890 

an der Friedrich-Wilhelms-Universität 

sein Studium fort. Aus dieser Zeit 

stammt das sozialkritische Gedicht 

Hüte dich! Sein Abgangszeugnis 

datiert vom 7. März 1893. 

Am 29. Mai 1893 bestand er sein Referendarexamen.


Von 1893 bis 1894 leistete Liebknecht 

seinen Wehrdienst bei den Gardepionieren 

in Berlin ab. Er verkürzte die Zeit 

durch die Meldung als Einjährig-Freiwilliger.


Nach langer Suche nach einer Referendarstelle 

schrieb er seine Doktorarbeit 

Compensationsvorbringen nach gemeinem Rechte“, 

die von der Juristischen 

und Staatswissenschaftlichen Fakultät 

der Julius-Maximilians-Universität Würzburg 

1897 mit dem Prädikat magna cum laude 

ausgezeichnet wurde. Am 5. April 1899 

bestand er seine Assessorprüfung mit „gut“.


Zusammen mit seinem Bruder Theodor 

und Oskar Cohn eröffnete er 1899 

in der Berliner Chausseestraße 121 

eine Rechtsanwaltskanzlei.


Im Mai 1900 heiratete er Julia Paradies, 

mit der er zwei Söhne (Wilhelm und Robert) 

und eine Tochter (Vera) hatte.


1904 wurde er gemeinsam mit seinem Kollegen 

Hugo Haase als politischer Anwalt 

auch im Ausland bekannt, 

als er neun Sozialdemokraten 

im „Königsberger Geheimbundprozess“ verteidigte. 

In anderen aufsehenerregenden Strafprozessen 

prangerte er die Klassenjustiz des Kaiserreichs 

und die brutale Behandlung 

von Rekruten beim Militär an.


1900 wurde Karl Liebknecht Mitglied 

der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 

1902 sozialdemokratischer Stadtverordneter 

in Berlin. Dieses Mandat behielt er bis 1913.


Er war aktives Mitglied der Zweiten Internationale 

und zudem einer der Gründer 

der Sozialistischen Jugendinternationale. 

Er wurde 1907 im Rahmen der ersten 

Internationalen Konferenz der sozialistischen

Jugendorganisationen zum Vorsitzenden 

des Verbindungsbüros gewählt.


Für die Jugendarbeit der SPD 

veröffentlichte er 1907 die Schrift 

Militarismus und Antimilitarismus, 

für die er noch im selben Jahr 

wegen Hochverrats verurteilt wurde. 

In dieser Schrift führte er aus, 

der äußere Militarismus brauche 

gegenüber dem äußeren Feind 

chauvinistische Verbohrtheit 

und der innere Militarismus benötige 

gegen den inneren Feind 

Unverständnis und Hass 

gegenüber jeder fortschrittlichen Bewegung. 

Der Militarismus brauche außerdem 

den Stumpfsinn der Menschen, 

damit er die Masse 

wie eine Herde Vieh treiben könne. 

Die antimilitaristische Agitation 

müsse über die Gefahren des Militarismus aufklären, 

jedoch müsse sie dies im Rahmen der Gesetze tun. 

Letzteren Hinweis nahm ihm später 

das Reichsgericht im Hochverratsprozess nicht ab. 

Den Geist des Militarismus charakterisierte Liebknecht 

in dieser Schrift mit einem Hinweis 

auf eine Bemerkung des damaligen preußischen 

Kriegsministers General Karl von Einem, 

wonach diesem ein königstreuer 

und schlecht schießender Soldat lieber sei 

als ein treffsicherer Soldat, 

dessen politische Gesinnung fraglich 

und bedenklich sei. Am 17. April 1907 

beantragte Karl von Einem 

bei der Reichsanwaltschaft, 

wegen der Schrift Militarismus und Antimilitarismus 

gegen Karl Liebknecht ein Strafverfahren einzuleiten.


Im Oktober 1907 fand bei großem Publikumsandrang 

der Hochverratsprozess gegen Liebknecht 

vor dem Reichsgericht unter dem Vorsitz 

des Richters Ludwig Treplin statt. 

Am ersten Verhandlungstag sagte Liebknecht, 

dass kaiserliche Befehle null und nichtig seien, 

wenn sie einen Bruch der Verfassung bezweckten. 

Dagegen betonte das Reichsgericht später 

in seinem Urteil, die unbedingte Gehorsamspflicht 

der Soldaten gegenüber dem Kaiser 

sei eine zentrale Bestimmung 

der Verfassung des Kaiserreichs. 

Als Liebknecht auf eine entsprechende Frage 

des Vorsitzenden antwortete, 

dass diverse Zeitungen sowie 

der ultrakonservative Politiker 

Elard von Oldenburg-Januschau 

den gewaltsamen Bruch der Verfassung 

fordern würden, schnitt dieser ihm 

das Wort mit der Bemerkung ab, 

das Reichsgericht könne unterstellen, 

dass Äußerungen gefallen seien, 

die er als Aufforderung 

zum Verfassungsbruch verstanden habe. 

Am dritten Verhandlungstag wurde er 

wegen Vorbereitung zum Hochverrat 

zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt.


Kaiser Wilhelm II., der ein Exemplar der Schrift 

Militarismus und Antimilitarismus besaß, 

wurde über diesen Prozess mehrfach 

telegrafisch informiert. Dem Kaiser 

wurde nach der Urteilsverkündung 

ein ausführlicher Prozessbericht übersandt, 

dagegen wurde Liebknecht das schriftliche Urteil 

erst am 7. November 1907 zugestellt. 

Seine Selbstverteidigung im Prozess 

brachte ihm große Popularität 

bei den Berliner Arbeitern ein, 

so dass er in einem Pulk 

zum Haftantritt geleitet wurde.


Um Karl Liebknecht in seiner wirtschaftlichen 

Existenz zu treffen, wurde 

beim Anwaltsgerichtshof der Provinz Brandenburg 

in Berlin beantragt, ihn aufgrund seiner Verurteilung 

wegen Vorbereitung zum Hochverrat 

durch das Reichsgericht 

aus der Anwaltschaft auszuschließen. 

Am 29. April 1908 lehnte der Anwaltsgerichtshof 

unter seinem Vorsitzenden Dr. Krause 

diesen Antrag ab. Zur Begründung 

führte er unter anderem aus, 

dass zwar die tatsächlichen Feststellungen 

des Reichsgerichts im Hochverratsprozess 

bindend seien, jedoch dies nicht zwingend 

eine ehrengerichtliche Bestrafung nach sich ziehe. 

Gegen dieses Urteil legte der Oberreichsanwalt 

am 7. Mai 1908 Einspruch ein. 

Am 10. Oktober 1908 lehnte daraufhin 

der Ehrengerichtshof in Anwaltssachen 

unter dem Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten 

Rudolf von Seckendorff es ab, 

Liebknecht aus der Rechtsanwaltschaft 

auszuschließen. Zur Begründung hieß es, 

dass schon das Reichsgericht 

in diesem Strafurteil eine ehrlose Gesinnung 

des Angeklagten verneint habe.


Im Jahr 1908 wurde er Mitglied 

des Preußischen Abgeordnetenhauses, 

obwohl er noch nicht aus der Festung 

Glatz in Schlesien entlassen worden war. 

Er gehörte zu den ersten acht 

Sozialdemokraten überhaupt, 

die trotz des Dreiklassenwahlrechts 

Mitglied im Preußischen Landtag wurden. 

Dem Landesparlament 

gehörte Liebknecht bis 1916 an.


Seine erste Frau Julia starb am 22. August 1911 

nach einer Gallenoperation. Liebknecht heiratete 

im Oktober 1912 Sophie.


Im Januar 1912 zog er als einer der jüngsten 

SPD-Abgeordneten in den Reichstag ein. 

Liebknecht gewann – nach zwei vergeblichen 

Anläufen 1903 und 1907 – 

den „Kaiserwahlkreis“ Potsdam-Spandau-Osthavelland, 

der bis dahin eine sichere Domäne 

der Deutschkonservativen Partei gewesen war. 

Im Reichstag trat er sofort 

als entschiedener Gegner einer Heeresvorlage auf, 

die dem Kaiser Steuermittel 

für die Heeres- und Flottenrüstung bewilligen sollte. 

Er konnte außerdem nachweisen, 

dass die Firma Krupp durch die Bestechung 

von Mitarbeitern des Kriegsministeriums 

unerlaubterweise an wirtschaftlich 

relevante Informationen gekommen war.


In der ersten Julihälfte 1914 war Liebknecht 

nach Belgien und Frankreich gereist, 

mit Jean Longuet und Jean Jaurès zusammengetroffen 

und hatte auf mehreren Veranstaltungen gesprochen. 

Den französischen Nationalfeiertag 

verbrachte er in Paris. 

Über die unmittelbare Gefahr 

eines großen europäischen Krieges 

wurde er sich erst am 23. Juli – 

nach Bekanntwerden des österreichisch-ungarischen 

Ultimatums an Serbien – völlig klar. 

Ende Juli kehrte er über die Schweiz 

nach Deutschland zurück.


Als der Reichstag am 1. August, 

dem Tag der Verkündung der Mobilmachung 

und der Kriegserklärung an Russland, 

zum 4. August zusammengerufen wurde, 

stand für Liebknecht noch außer Frage, 

dass „die Ablehnung der Kriegskredite 

für die Mehrheit der Reichstagsfraktion 

selbstverständlich und zweifellos sei.“ 

Am Nachmittag des 4. August stimmte jedoch 

die sozialdemokratische Fraktion – 

nachdem es am Vortag 

in der vorbereitenden Fraktionssitzung 

zu „ekelhaften Lärmszenen“ gekommen war, 

weil sich Liebknecht und 13 weitere Abgeordnete 

entschieden gegen diesen Schritt aussprachen – 

geschlossen für die Bewilligung der Kriegskredite, 

die der Regierung die vorläufige Finanzierung 

der Kriegführung ermöglichten. 

Vor der Fraktionssitzung am 3. August 

hatten die Befürworter der Bewilligung 

nicht mit einem solchen Erfolg gerechnet 

und waren sich keineswegs sicher, 

überhaupt eine Mehrheit in der Fraktion zu erhalten; 

noch in der Sitzungspause nach der Rede 

des Reichskanzlers – unmittelbar 

vor der Abstimmung am 4. August – 

kam es in der Fraktion zu Tumulten, 

weil einige Bethmann Hollwegs Ausführungen 

demonstrativ beklatscht hatten. 

Liebknecht, der die ungeschriebenen Regeln 

der Partei- und Fraktionsdisziplin 

in den Jahren zuvor immer wieder 

gegen Vertreter des rechten Parteiflügels 

verteidigt hatte, beugte sich dem Beschluss 

der Mehrheit und stimmte 

der Regierungsvorlage im Plenum 

des Reichstags ebenfalls zu. 

Hugo Haase, der in der Fraktion wie Liebknecht 

gegen die Bewilligung aufgetreten war, 

erklärte sich aus ähnlichen Gründen 

sogar zur Verlesung der 

von den bürgerlichen Parteien 

mit Jubel aufgenommenen Erklärung 

der Fraktionsmehrheit bereit. 

Liebknecht hat den 4. August, 

den er als katastrophalen politischen 

und persönlichen Einschnitt empfand, 

privat und öffentlich immer wieder thematisiert 

und durchdacht. 1916 notierte er dazu:


Der Abfall der Fraktionsmehrheit 

kam selbst für den Pessimisten überraschend; 

die Atomisierung des bisher überwiegenden 

radikalen Flügels nicht minder. 

Die Tragweite der Kreditbewilligung 

für die Umschwenkung der gesamten Fraktionspolitik 

ins Regierungslager lag nicht auf der Hand: 

Noch bestand die Hoffnung, der Beschluss 

vom 3. August sei das Ergebnis 

einer vorübergehenden Panik 

und werde alsbald korrigiert, 

jedenfalls nicht wiederholt 

und gar übertrumpft werden. 

Aus diesen und ähnlichen Erwägungen, 

allerdings auch aus Unsicherheit und Schwäche 

erklärte sich das Misslingen des Versuchs, 

die Minderheit für ein öffentliches Separatvotum 

zu gewinnen. Nicht übersehen werden darf dabei 

aber auch, welche heilige Verehrung damals 

noch der Fraktionsdisziplin entgegengebracht wurde, 

und zwar am meisten vom radikalen Flügel, 

der sich bis dahin in immer zugespitzterer Form 

gegen Disziplinbrüche oder Disziplinbruchsneigungen

revisionistischer Fraktionsmitglieder 

hatte wehren müssen.“


Einer Erklärung Rosa Luxemburgs 

und Franz Mehrings, in der diese 

wegen des Verhaltens der Fraktion 

ihren Parteiaustritt androhten, 

schloss sich Liebknecht ausdrücklich nicht an, 

weil er sie „als Halbheit empfand: 

Dann hätte man schon austreten müssen.“ 

Rosa Luxemburg bildete am 5. August 1914 

die Gruppe Internationale, 

in der Liebknecht mit zehn weiteren 

SPD-Linken Mitglied war 

und die eine innerparteiliche Opposition 

gegen die SPD-Politik des Burgfriedens 

zu bilden versuchte. Im Sommer und Herbst 1914 

reiste Liebknecht mit Rosa Luxemburg 

durch ganz Deutschland, um – 

weitgehend erfolglos – Kriegsgegner 

zur Ablehnung der Finanzbewilligung 

für den Krieg zu bewegen. 

Er nahm auch Verbindung 

zu anderen europäischen Arbeiterparteien auf, 

um diesen zu signalisieren, dass nicht alle 

deutschen Sozialdemokraten für den Krieg seien.


In den ersten großen, von einer breiteren Öffentlichkeit 

beachteten Konflikt mit der neuen Parteilinie 

geriet Liebknecht, als er zwischen dem 4. 

und 12. September Belgien bereiste, 

dort mit einheimischen Sozialisten zusammentraf 

und sich über die von deutschen Militärs 

angeordneten Massenrepressalien informieren ließ. 

Liebknecht wurde daraufhin in der Presse – 

auch der sozialdemokratischen – 

des „Vaterlandsverrats“ und „Parteiverrats“ bezichtigt 

und musste sich am 2. Oktober 

vor dem Parteivorstand rechtfertigen.


Er war danach umso mehr entschlossen, 

bei der nächsten einschlägigen Abstimmung 

gegen die neue Kreditvorlage zu votieren 

und diese demonstrative Stellungnahme 

gegen die „Einigkeitsphrasen-Hochflut“ 

zur Grundlage einer Sammlung 

der Kriegsgegner zu machen. 

Im Vorfeld dieser Sitzung, 

zu der der Reichstag am 2. Dezember 1914 

zusammentrat, versuchte er 

in stundenlangen Gesprächen 

auch andere oppositionelle Abgeordnete 

für diese Haltung zu gewinnen, 

scheiterte aber. Otto Rühle, 

der Liebknecht zuvor zugesichert hatte, 

ebenfalls offen mit Nein zu stimmen, 

hielt dem Druck nicht stand 

und blieb dem Plenum fern, 

Fritz Kunert, der auch schon am 4. August 

so gehandelt hatte, verließ kurz 

vor der Abstimmung den Saal. 

Liebknecht stand schließlich als einziger 

Abgeordneter nicht auf, 

als Reichstagspräsident Kaempf 

das Haus aufforderte, dem Ergänzungshaushalt 

durch Erheben von den Sitzen zuzustimmen. 

Bei der nächsten Abstimmung 

am 20. März 1915 votierte Rühle 

gemeinsam mit Liebknecht. 

Eine Bitte von etwa 30 anderen Fraktionsmitgliedern, 

während der Abstimmung mit ihnen gemeinsam 

den Saal zu verlassen, 

hatten beide zuvor abgelehnt.


Im April 1915 gaben Franz Mehring 

und Rosa Luxemburg die Zeitschrift 

Die Internationale heraus, 

die nur einmal erschien und sofort 

von den Behörden beschlagnahmt wurde. 

Liebknecht konnte sich an diesem Vorstoß 

nicht mehr beteiligen. 

Nach dem 2. Dezember 1914 

hatten Polizei- und Militärbehörden 

darüber nachgedacht, wie Liebknecht 

das Handwerk gelegt“ werden könne. 

Das Oberkommando in den Marken 

berief ihn Anfang Februar 1915 

zum Dienst in ein Armierungs-Bataillon ein. 

Damit unterstand Liebknecht den Militärgesetzen, 

die ihm jegliche politische Betätigung 

außerhalb des Reichstages 

und des preußischen Landtages verboten. 

Er erlebte, jeweils beurlaubt zu Sitzungen 

des Reichstages und des Landtages, 

als Armierungssoldat den Krieg 

an der West- und Ostfront.


Es gelang ihm dennoch, die Gruppe Internationale 

zu vergrößern und die entschiedenen Kriegsgegner 

in der SPD reichsweit zu organisieren. 

Daraus ging am 1. Januar 1916 

die Spartakusgruppe hervor 

(nach der endgültigen Loslösung 

von der Sozialdemokratie 

im November 1918 umbenannt in Spartakusbund). 

Am 12. Januar 1916 schloss 

die SPD-Reichstagsfraktion 

mit 60 gegen 25 Stimmen 

Liebknecht aus ihren Reihen aus. 

Aus Solidarität mit ihm trat Otto Rühle 

zwei Tage später ebenfalls aus der Fraktion aus. 

Im März 1916 wurden weitere 18 

oppositionelle Abgeordnete ausgeschlossen 

und bildeten daraufhin 

die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft, 

der sich Liebknecht und Rühle 

allerdings nicht anschlossen.


Liebknecht hatte während des Krieges 

kaum eine Möglichkeit, sich im Plenum 

des Reichstages Gehör zu verschaffen. 

Die von ihm schriftlich eingereichte Begründung 

seiner Stimmabgabe am 2. Dezember 1914 

nahm der Reichstagspräsident entgegen 

der üblichen Gepflogenheiten nicht 

in das amtliche Protokoll auf 

und lehnte es in der Folge 

unter verschiedenen Vorwänden ab, 

Liebknecht das Wort zu erteilen. 

Erst am 8. April 1916 konnte Liebknecht 

zu einer untergeordneten Etatfrage 

von der Rednertribüne aus sprechen. 

Dabei kam es zu einer im Reichstag 

bis dahin nicht gesehenen „wüsten Skandalszene“: 

Liebknecht wurde von „wie besessen“ 

tobenden liberalen und konservativen 

Abgeordneten niedergeschrien, 

als „Lump“ und „englischer Agent“ beschimpft 

und aufgefordert, das „Maul zu halten“; 

der Abgeordnete Hubrich entriss ihm 

die schriftlichen Notizen 

und warf die Blätter in den Saal, 

der Abgeordnete Ernst Müller-Meiningen 

musste von Mitgliedern der Sozialisten-Fraktion 

daran gehindert werden, Liebknecht 

körperlich zu attackieren.


Zur „Osterkonferenz der Jugend“ 

sprach Liebknecht in Jena vor 60 Jugendlichen 

zum Antimilitarismus und zur Änderung 

der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland. 

Am 1. Mai 1916 trat er als Führer 

einer Antikriegsdemonstration, 

die von Polizei umzingelt war, 

auf dem Potsdamer Platz in Berlin auf. 

Er ergriff das Wort mit den Worten 

Nieder mit dem Krieg! 

Nieder mit der Regierung!“ 

Danach wurde er verhaftet 

und wegen Hochverrats angeklagt. 

Der erste Prozesstag, eigentlich gedacht 

als Exempel gegen die sozialistische Linke, 

geriet zum Fiasko für die kaiserliche Justiz: 

Organisiert von den Revolutionären Obleuten 

fand in Berlin ein spontaner Solidaritätsstreik 

mit über 50.000 Beteiligten statt. 

Statt die Opposition zu schwächen, 

gab Liebknechts Verhaftung 

dem Widerstand gegen den Krieg neuen Auftrieb. 

Am 23. August 1916 wurde Liebknecht 

zu vier Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt, 

die er von Mitte November 1916 

bis zu seiner Amnestierung und Freilassung 

am 23. Oktober 1918 

im brandenburgischen Luckau ableistete. 

Hugo Haase, bis März 1916 SPD-Vorsitzender, 

setzte sich vergeblich für seine Freilassung ein. 

In Liebknechts Haftzeit fiel die Spaltung 

der SPD und die Gründung der USPD 

im April 1917. Die Spartakusgruppe 

trat nun in diese ein, um auch dort 

auf revolutionäre Ziele hinzuwirken.


Neben dem katholischen Reichstagsabgeordneten 

Matthias Erzberger vom Zentrum, 

der wie Liebknecht später 

von Rechtsextremisten ermordet wurde, 

war Liebknecht der einzige deutsche Parlamentarier, 

der öffentlich die massiven Menschenrechtsverletzungen 

der türkisch-osmanischen Verbündeten 

im Nahen Osten anprangerte, insbesondere 

den Völkermord an den Armeniern 

und das brutale Vorgehen gegen weitere 

nicht-türkische Minderheiten, 

insbesondere in Syrien und dem Libanon. 

Von der SPD und den liberalen Parteien 

wurde diese Praxis stillschweigend gebilligt 

und zum Teil sogar öffentlich 

mit strategischen Interessen Deutschlands 

und der angeblichen existenziellen Bedrohung 

der Türkei durch armenischen 

und arabischen Terrorismus gerechtfertigt.


Im Zuge einer allgemeinen Amnestie 

wurde Liebknecht begnadigt 

und am 23. Oktober 1918 vorzeitig 

aus der Haft entlassen. 

Er reiste sofort nach Berlin, 

um dort den Spartakusbund zu reorganisieren, 

der nun als eigene politische Organisation hervortrat. 

Bei seinem Eintreffen gab die Gesandtschaft 

des seit Ende 1917 nach der Oktoberrevolution 

unter kommunistischer Führung stehenden Russlands 

ihm zu Ehren einen Empfang.


Liebknecht drängte nun auf eine 

von den Revolutionären Obleuten, 

die den Januarstreik organisiert hatten, 

der USPD und dem Spartakusbund 

gemeinsam koordinierte Vorbereitung 

einer reichsweiten Revolution. 

Man plante einen gleichzeitigen Generalstreik 

in allen Großstädten und Aufmarsch 

von bewaffneten Streikenden 

vor den Kasernen von Heeresregimentern, 

um diese zum Mitmachen 

oder Niederlegen ihrer Waffen zu bewegen. 

Die Obleute, die sich an der Arbeiterstimmung 

in den Fabriken orientierten 

und eine bewaffnete Konfrontation 

mit Heerestruppen fürchteten, 

verschoben mehrfach den festgelegten Termin dafür, 

zuletzt auf den 11. November 1918.


Am 8. November griff die unabhängig 

von diesen Plänen vom Kieler Matrosenaufstand 

ausgelöste Revolution auf das Reich über. 

Daraufhin riefen die Berliner Obleute 

und die USPD ihre Anhänger für den Folgetag 

zu den geplanten Umzügen auf.


Am 9. November 1918 strömten Bevölkerungsmassen 

von allen Seiten ins Zentrum Berlins. 

Dort rief Liebknecht mittags im Berliner Tiergarten 

und nachmittags nochmals 

vor dem Berliner Stadtschloss 

eine „Freie Sozialistische Republik Deutschland“ aus 

und schwor die Kundgebungsteilnehmer 

auf die internationale Revolution ein. 

Kurz zuvor hatte der SPD-Politiker 

Philipp Scheidemann 

die Abdankung des Kaisers verkündet 

und eine „deutsche Republik“ ausgerufen, 

um Liebknecht zuvorzukommen.


Liebknecht wurde nun zum Sprecher 

der revolutionären Linken. 

Um die Novemberrevolution 

in Richtung einer sozialistischen 

Räterepublik voranzutreiben, 

gab er mit Rosa Luxemburg täglich die Zeitung 

Die Rote Fahne heraus. 

Bei den folgenden Auseinandersetzungen 

stellte sich jedoch bald heraus, 

dass die meisten Arbeitervertreter in Deutschland 

eher sozialdemokratische 

als sozialistische Ziele verfolgten. 

Eine Mehrheit trat auf dem Reichsrätekongress 

vom 16. bis 20. Dezember 1918 

für baldige Parlamentswahlen 

und damit Selbstauflösung ein. 

Liebknecht und Luxemburg wurden 

von der Teilnahme am Kongress ausgeschlossen.


Seit Dezember 1918 versuchte Ebert, 

die Rätebewegung gemäß seinem Geheimabkommen 

mit dem General Wilhelm Groener 

mit Hilfe von kaiserlichem Militär zu entmachten, 

und ließ dazu immer mehr Militär 

in und um Berlin zusammenziehen. 

Am 6. Dezember 1918 versuchte er, 

den Reichsrätekongress militärisch zu verhindern, 

und, nachdem dies missglückte, 

Resolutionen zur Entmachtung des Militärs 

beim Kongress zu entschärfen. 

Am 24. Dezember 1918 setzte er 

kaiserliches Militär 

gegen die den revolutionären Kieler Matrosen 

nahestehende Volksmarinedivision ein, 

die eigentlich die Reichskanzlei schützen sollte 

und nicht ohne Sold zum Abrücken bereit war. 

Daraufhin traten die drei USPD-Vertreter 

am 29. Dezember aus dem Rat 

der Volksbeauftragten aus, 

so dass dieser gemäß der Vereinbarung 

bei seiner Gründung keine Legitimation mehr besaß. 

Er wurde dennoch von den drei SPD-Vertretern 

allein weitergeführt.


Daraufhin planten die reichsweit Zulauf 

erhaltenden Spartakisten 

die Gründung einer neuen, 

linksrevolutionären Partei 

und luden ihre Anhänger 

zu deren Gründungskongress 

Ende Dezember 1918 nach Berlin ein. 

Am 1. Januar 1919 stellte sich 

die Kommunistische Partei Deutschlands 

der Öffentlichkeit vor.


Ab dem 8. Januar nahm Liebknecht 

zusammen mit anderen KPD-Vertretern 

am Spartakusaufstand teil, 

mit dem die Revolutionären Obleute 

auf die Absetzung des zuvor rechtmäßig 

eingesetzten Berliner Polizeipräsidenten 

Emil Eichhorn (USPD) reagierten. 

Sie versuchten, die Übergangsregierung 

Friedrich Eberts mit einem Generalstreik zu stürzen, 

und besetzten dazu mehrere Berliner Zeitungsgebäude. 

Liebknecht trat in die Streikleitung ein 

und rief gegen den Rat von Rosa Luxemburg 

zusammen mit der USPD zur Volksbewaffnung auf. 

KPD-Abgesandte versuchten erfolglos, 

einige in Berlin stationierte Regimenter 

zum Überlaufen zu bewegen. 

Nach zweitägigen ergebnislosen Beratungen 

trat die KPD aus dem Führungsgremium aus, 

dann brachen die USPD-Vertreter 

parallele Verhandlungen mit Ebert ab. 

Daraufhin setzte dieser das Militär 

gegen die Streikenden ein. 

Es kam zu blutigen Straßenkämpfen 

und Massenexekutionen hunderter Personen.


Nach den führenden Köpfen der jungen KPD 

wurde durch „zahlreiche Spitzeldienste 

diverser staatstragender Verbände“ 

intensiv gefahndet. Schon im Dezember 

waren in Berlin zahlreiche großformatige 

rote, gegen den Spartakusbund gerichtete 

Plakate angeschlagen worden, 

die in der Aufforderung 

Schlagt ihre Führer tot! 

Tötet Liebknecht!“ gipfelten. 

Handzettel gleichen Inhalts 

wurden hunderttausendfach verbreitet. 

Verantwortlich dafür war unter anderem 

die Antibolschewistische Liga Eduard Stadtlers. 

Im Vorwärts wurde Liebknecht wiederholt 

als „geisteskrank“ dargestellt. 

Der gesamte Rat der Volksbeauftragten 

unterzeichnete am 8. Januar ein Flugblatt, 

in dem angekündigt wurde, 

dass „die Stunde der Abrechnung naht“. 

Am 13. Januar druckte der Vorwärts ein Gedicht 

Artur Zicklers ab, das die Verszeilen enthielt:


Vielhundert Tote in einer Reih –

Proletarier!

Karl, Rosa, Radek und Kumpanei –

Es ist keiner dabei, es ist keiner dabei!“


Unter Zivilisten und Militärangehörigen 

kursierten Gerüchte, die besagten, 

dass auf die „Spartakistenführer“ 

regelrechte Kopfgelder ausgesetzt worden seien. 

Am 14. Januar erschien in einem Mitteilungsblatt 

für die sozialdemokratischen Regimenter 

Reichstag und Liebe ein Artikel, 

in dem es hieß, dass „schon die nächsten Tage“ 

zeigen würden, dass nunmehr auch 

mit den „Häuptern der Bewegung 

Ernst gemacht wird.“


Liebknecht und Luxemburg hatten sich – 

da ihr Leben nun offenkundig in Gefahr war – 

nach dem Einmarsch der Noske-Truppen 

zunächst in Neukölln verborgen, 

waren nach zwei Tagen aber 

in ein neues Quartier 

in der Mannheimer Straße in Wilmersdorf 

ausgewichen. Der Wohnungsinhaber 

war Mitglied der USPD 

und gehörte dem Arbeiter- und Soldatenrat 

Wilmersdorf an, seine Frau 

war mit Rosa Luxemburg befreundet. 

In dieser Wohnung schrieb Liebknecht 

am 14. Januar seinen Artikel Trotz alledem!, 

der tags darauf in der Roten Fahne erschien. 

Am frühen Abend des 15. Januar 

drangen fünf Angehörige der Wilmersdorfer Bürgerwehr – 

einer von Zivilisten gebildeten bürgerlichen Miliz – 

in die Wohnung ein 

und nahmen Liebknecht und Luxemburg fest. 

Sicher ist, dass es sich nicht um eine mehr 

oder weniger zufällige Durchsuchung, 

sondern um einen gezielten Zugriff handelte. 

Gegen 21 Uhr wurde auch Wilhelm Pieck verhaftet, 

der die Wohnung nichtsahnend betreten hatte.


Liebknecht wurde zunächst 

zur Wilmersdorfer Cäcilienschule transportiert. 

Von dort aus rief ein Angehöriger der Bürgerwehr 

direkt in der Reichskanzlei an 

und informierte deren stellvertretenden 

Pressechef Robert Breuer 

(Mitglied der Wilmersdorfer SPD) 

über die Ergreifung Liebknechts. 

Breuer kündigte einen Rückruf an, 

der aber nicht erfolgte. 

Angehörige der Bürgerwehr lieferten Liebknecht 

gegen 21.30 Uhr per Automobil 

bei ihrer vorgesetzten Dienststelle ab – 

dem Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division 

im Eden-Hotel an der Ecke Budapester Straße/Kurfürstenstraße,

worauf unter anwesenden Hotelgästen 

und Militärs ein „kollektiver Erregungszustand“ 

ausbrach. Liebknecht, 

der bis zu diesem Zeitpunkt seine Identität 

geleugnet hatte, wurde in Anwesenheit 

des faktischen Kommandeurs der Division 

anhand der Initialen auf seiner Kleidung identifiziert. 

Der Kommandeur entschied 

nach wenigen Minuten des Nachdenkens, 

Liebknecht und die gegen 22 Uhr 

eintreffende Rosa Luxemburg „erledigen“ zu lassen. 

Er rief in der Reichskanzlei an, 

um mit Noske das weitere Vorgehen zu besprechen. 

Noske forderte ihn auf, noch mit General von Lüttwitz

Rücksprache zu halten und von diesem 

nach Möglichkeit eine formelle Anordnung zu erwirken. 

Der Kommandeur hielt das für ausgeschlossen. 

Daraufhin erwiderte Noske: 

Dann müssen Sie selbst wissen, was zu tun ist.“


Mit der Ermordung Liebknechts 

beauftragte der Kommandeur 

eine Gruppe ausgewählter Marineoffiziere. 

Diese verließen gegen 22.45 Uhr 

mit Liebknecht das Hotel. 

Beim Verlassen des Gebäudes 

wurde Liebknecht von Hotelgästen bespuckt, 

beschimpft und geschlagen. 

Das Automobil fuhr in den nahegelegenen Tiergarten. 

Hier täuschte der Fahrer an einer Stelle, 

wo ein völlig unbeleuchteter Fußweg abging“ 

eine Panne vor. Liebknecht wurde 

aus dem Auto geführt und nach wenigen Metern 

am Ufer des Neuen Sees 

aus nächster Nähe“ von hinten erschossen.


Die Täter lieferten den Toten um 23.15 Uhr 

als „unbekannte Leiche“ 

in der dem Eden-Hotel gegenüberliegenden 

Rettungswache ein 

und erstatteten anschließend Meldung. 

Eine halbe Stunde später wurde die 

in einem offenen Wagen abtransportierte 

Rosa Luxemburg etwa 40 Meter 

vom Eingang des Eden-Hotels entfernt erschossen. 

Ihren Leichnam warf man zwischen 

Lichtenstein- und Corneliusbrücke 

in den Landwehrkanal. 

Ein Presseoffizier verbreitete anschließend 

ein Kommuniqué, in dem behauptet wurde, 

dass Liebknecht „auf der Flucht erschossen“ 

und Luxemburg „von der Menge getötet“ worden sei.


Liebknecht wurde am 25. Januar 

zusammen mit 31 weiteren Toten 

der Januartage beigesetzt. 

Die von der KPD zunächst geplante Bestattung 

auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain 

wurde sowohl von der Regierung 

als auch dem Berliner Magistrat untersagt. 

Stattdessen verwies man die Beisetzungskommission 

an den an der städtischen Peripherie gelegenen 

Armenfriedhof in Friedrichsfelde. 

Der Trauerzug entwickelte sich 

zu einer Massendemonstration, 

an der trotz massiver Militärpräsenz 

mehrere zehntausend Menschen teilnahmen.




VIERTER GESANG


Rosa Luxemburgs Geburtsdatum ist unsicher. 

Ihren Vornamen Rosalia verkürzte sie 

umgangssprachlich zu Rosa.


Sie war das fünfte und letzte Kind 

des Holzhändlers Eliasz Luxenburg 

und seiner Frau Line. 

Die Eltern waren Juden 

in der ländlichen Mittelstadt Zamość 

im von Russland kontrollierten Teil Polens. 

Die väterlichen Vorfahren waren 

als Landschaftsarchitekten, 

die mütterlichen Vorfahren 

als Rabbiner und Hebraisten 

nach Zamość gekommen. 

Über ein Drittel der Einwohner 

waren polnische Juden, 

meist Haskala-Vertreter 

mit hohem Bildungsstand. 

Die Eltern gehörten zu keiner Religionsgemeinschaft 

und politischen Partei, sympathisierten aber 

mit der polnischen Nationalbewegung 

und förderten die lokale Kultur. 

Sie besaßen ein Haus am Rathausplatz 

und bescheidenen Wohlstand, 

den sie vor allem für die Bildung 

ihrer Kinder einsetzten. 

Die Söhne besuchten wie der Vater 

höhere Schulen in Deutschland. 

Die Familie sprach und las zu Hause 

Polnisch und Deutsch, nicht Jiddisch. 

Besonders die Mutter vermittelte den Kindern 

die klassische und romantische 

deutsche und polnische Dichtung.


Rosa erhielt eine umfassende humanistische Bildung 

und lernte neben Polnisch, Deutsch und Russisch 

auch Latein und Altgriechisch. 

Sie beherrschte Französisch, konnte Englisch lesen 

und Italienisch verstehen. 

Sie kannte die bedeutenden Literaturwerke Europas, 

rezitierte Gedichte, war eine gute Zeichnerin, 

interessierte sich für Botanik und Geologie, 

sammelte Pflanzen und Steine und liebte Musik, 

besonders die Oper und die Lieder von Hugo Wolf. 

Zu ihren zeitlebens geachteten Autoren 

gehörte Adam Mickiewicz.


1873 zog die Familie nach Warschau. 

1874 wurde ein Hüftleiden der Tochter 

irrtümlich als Tuberkulose diagnostiziert 

und falsch behandelt. 

Dadurch blieb ihre Hüfte deformiert, 

sodass sie fortan leicht hinkte. 

Mit fünf Jahren, während der vom Arzt verordneten 

fast einjährigen Bettruhe, 

lernte sie autodidaktisch Lesen und Schreiben. 

Mit neun Jahren übersetzte sie deutsche Geschichten 

ins Polnische, schrieb Gedichte und Novellen. 

Mit 13 Jahren schrieb sie in polnischer Sprache 

ein sarkastisches Gedicht über Kaiser Wilhelm I., 

der damals Warschau besuchte. 

Darin duzte sie ihn und forderte:


Sage deinem listigen Lumpen Bismarck,

Tue es für Europa, Kaiser des Westens,

Befiehl ihm, dass er die Friedenshose

Nicht zuschanden macht“.


Ab 1884 besuchte Rosa 

das Zweite Frauengymnasium in Warschau, 

das nur in Ausnahmefällen polnische, 

noch seltener jüdische Mädchen aufnahm 

und in dem nur Russisch gesprochen werden durfte. 

Auch deshalb engagierte sie sich ab 1886 

in einem geheimen Fortbildungskreis. 

Dort lernte sie die 1882 gegründete 

marxistische Gruppe „Proletariat“ kennen, 

die sich vom antizaristischen Terror 

der russischen Narodnaja Wolja abgrenzte, 

aber wie diese staatlich verfolgt 

und aufgelöst wurde. Nur im Untergrund 

arbeiteten einige Teilgruppen weiter, 

darunter die 1887 von Martin Kasprzak 

gegründete Warschauer Gruppe „Zweites Proletariat“. 

Dieser trat Rosa Luxemburg bei, 

ohne dies zu Hause und in der Schule zu verbergen. 

Dort las sie erstmals Schriften von Karl Marx, 

die damals illegal nach Polen gebracht 

und ins Polnische übersetzt wurden. 

1888 bestand sie das Abitur als Klassenbeste 

und mit der höchsten Note „ausgezeichnet“. 

Die ihr zustehende Goldmedaille 

verweigerte die Schulleitung 

wegen oppositioneller Haltung 

gegenüber den Behörden“. 

Im Dezember 1888 floh sie vor der Zarenpolizei, 

die ihre Mitgliedschaft im verbotenen „Proletariat“ 

entdeckt hatte, aus Warschau 

und schließlich mit Hilfe Kasprzaks 

aus Polen in die Schweiz.


Im Februar 1889 zog Rosa Luxemburg 

nach Oberstrass bei Zürich, 

weil im deutschsprachigen Raum 

nur an der Universität Zürich 

Frauen und Männer gleichberechtigt studieren durften. 

Ab Oktober 1889 belegte sie Philosophie, 

Mathematik, Botanik und Zoologie. 

1892 wechselte sie in die Rechtswissenschaft, 

wo sie Völkerrecht, allgemeines Staatsrecht 

und Versicherungsrecht belegte. 

1893 schrieb sie sich zudem 

in Staatswissenschaften ein. 

Dort belegte sie Volkswirtschaftslehre 

mit den Schwerpunkten Finanzwissenschaft, 

Wirtschafts- und Börsenkrisen. 

Ferner studierte sie allgemeine Verwaltungslehre 

und Geschichtswissenschaft, 

hier vor allem Mittelalter 

und Diplomatie-Geschichte seit 1815. 

Sie studierte vor allem Adam Smith, David Ricardo 

und Das Kapital von Karl Marx. 

Sie war schon vor Studienbeginn 

überzeugte Marxistin.


Zürich war attraktiv 

für viele politisch verfolgte 

ausländische Sozialisten. 

Rosa Luxemburg fand rasch Kontakt 

zu deutschen, polnischen und russischen 

Emigrantenvereinen, die vom Schweizer Exil aus 

den revolutionären Sturz 

ihrer Regierungen vorzubereiten versuchten. 

Sie wohnte im Haus der Familie Carl Lübecks (SPD), 

der nach seiner Verurteilung 

im Leipziger Hochverratsprozess 1872 emigriert war. 

Durch ihn gewann sie Einblick 

in die Entwicklung der SPD. 

Sie lernte unter anderen die russischen Marxisten 

Pawel Axelrod und Georgi Plechanow kennen 

und bildete einen Freundes- und Gesprächskreis, 

der regelmäßige Kontakte zwischen emigrierten 

Studenten und Arbeitern pflegte.


Ab 1891 hatte sie eine Liebesbeziehung 

zu dem polnischen Marxisten Leo Jogiches. 

Er war bis 1906 ihr Partner 

und blieb ihr zeitlebens politisch eng verbunden. 

Er brachte ihr seine konspirativen Methoden bei 

und finanzierte ihr Studium mit. 

Sie half ihm beim Übersetzen marxistischer Texte 

ins Russische, die er in Konkurrenz 

zu Plechanow nach Polen 

und Russland schmuggelte. 

Plechanow isolierte Jogiches daraufhin 

in der russischen Emigrantenszene. 

Rosa Luxemburgs anfängliche Vermittlungsversuche 

schlugen fehl.


1892 gründeten mehrere illegale 

polnische Splitterparteien, 

darunter auch ehemalige „Proletariat“-Angehörige, 

die Polnische Sozialistische Partei (PPS), 

die Polens nationale Unabhängigkeit 

und Umwandlung in eine bürgerliche Demokratie anstrebte. 

Das Programm war ein Kompromiss 

aus verschiedenen Interessen, 

die aufgrund der Verfolgungssituation 

nicht ausdiskutiert worden waren. 

Im Juli 1893 gründeten Rosa Luxemburg, 

Leo Jogiches, Julian Balthasar Marchlewski 

und Adolf Warski die Pariser Exilzeitung 

Arbeitersache“. Darin vertraten sie 

gegen das PPS-Programm 

einen streng internationalistischen Kurs: 

Die polnische Arbeiterklasse könne sich nur 

gemeinsam mit der russischen, deutschen 

und österreichischen emanzipieren. 

Nicht das Abschütteln der russischen Vorherrschaft 

in Polen, sondern die solidarische Zusammenarbeit 

zum Sturz des Zarismus, sodann des Kapitalismus 

und der Monarchie in ganz Europa 

müssten Vorrang erhalten.


Rosa Luxemburg war federführend für diese Linie. 

Als Zeitungsredakteurin durfte sie 

als polnische Delegierte am Kongress 

der 2. Internationale (1893) 

in der Tonhalle Zürich teilnehmen. 

In ihrem Bericht über die Entwicklung 

der Sozialdemokratie in Russisch-Polen 

seit 1889 betonte sie, Polens drei Teile 

seien ökonomisch mittlerweile so stark 

in die Märkte der Besatzerstaaten integriert, 

dass eine Wiederherstellung 

eines unabhängigen polnischen Nationalstaats 

ein anachronistischer Rückschritt wäre. 

Daraufhin focht der PPS-Delegierte Ignacy Daszyński 

ihren Delegiertenstatus an. 

Ihre Verteidigungsrede machte sie international bekannt: 

Sie erklärte, hinter dem innerpolnischen Streit 

stehe eine prinzipielle, alle Sozialisten 

betreffende Richtungsentscheidung. 

Ihre Gruppe vertrete den genuin marxistischen Standpunkt 

und somit das polnische Proletariat. 

Doch eine Kongressmehrheit erkannte die PPS 

als einzige legitime polnische Delegation an 

und schloss Rosa Luxemburg aus.


Daraufhin gründete sie mit ihren Freunden 

im August 1893 die Partei Sozialdemokratie 

des Königreiches Polen (SDKP). 

Der illegale Gründungsparteitag in Warschau 

vom März 1894 nahm ihren Leitartikel 

vom Juli 1893 als Parteiprogramm 

und die Arbeitersache als Presseorgan an. 

Die SDKP sah sich als direkte Nachfolgerin 

des „Proletariats“ und strebte 

in striktem Gegensatz zur PPS als Nahziel 

eine liberaldemokratische Verfassung 

für das ganze Russische Kaiserreich 

mit einer Gebietsautonomie für Polen an, 

um so eine gemeinsame polnisch-russische 

sozialistische Partei aufbauen zu können. 

Dazu sei eine enge, gleichberechtigte Zusammenarbeit 

mit den russischen Sozialdemokraten, 

deren Einigung und die Einbindung 

in die Zweite Internationale unerlässlich. 

Ein unabhängiges Polen 

sei eine illusorische Fata Morgana, 

die das polnische Proletariat 

vom internationalen Klassenkampf ablenken solle. 

Die polnischen Sozialisten sollten 

den sozialdemokratischen Parteien 

der drei Teilungsmächte beitreten 

oder sich eng an sie anschließen. 

Es gelang ihr, die SDKP in Polen zu etablieren 

und später viele PPS-Anhänger 

zu ihr hinüberzuziehen.


Rosa Luxemburg leitete die „Arbeitersache“ 

bis zu deren Einstellung im Juli 1896 

und verteidigte das SDKP-Programm im Ausland 

auch mit besonderen Aufsätzen. 

In Das unabhängige Polen und die Sache der Arbeiter 

schrieb sie: Sozialismus und Nationalismus 

seien nicht nur in Polen, sondern überhaupt 

miteinander unvereinbar. 

Nationalismus sei eine Ausflucht des Bürgertums: 

Bänden sich die Arbeiter daran, 

würden sie ihre eigene Befreiung gefährden, 

da das Bürgertum sich bei einer drohenden 

Sozialrevolution eher mit den jeweiligen Herrschern 

gegen die eigenen Arbeiter verbünden werde. 

Dabei verknüpfte sie polnische Erfahrungen 

stets mit denen anderer Länder, 

berichtete häufig über ausländische Streiks 

und Demonstrationen und versuchte so, 

ein internationales Klassenbewusstsein zu fördern. 

Seitdem war sie bei politischen Gegnern 

inner- und außerhalb der Sozialdemokratie 

verhasst und oft antisemitischen Angriffen ausgesetzt. 

So schrieben Angehörige der Gruppe 

Schwarze Hundert, ihr Gift rede 

den polnischen Arbeitern Hass 

auf das eigene Vaterland ein; 

dieser „jüdische Auswurf“ leiste 

ein „teuflisches Zerstörungswerk“ 

mit dem Ziel der „Ermordung Polens“.


Für den Kongress der Zweiten Internationale 

1896 in London verteidigte Rosa Luxemburg 

ihre Linie in sozialdemokratischen Zeitungen 

wie dem Vorwärts und der Neuen Zeit. 

Sie erreichte eine Debatte darüber 

und fand unter anderen Robert Seidel, 

Jean Jaurès und Alexander Parvus als Unterstützer. 

Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht 

und Victor Adler dagegen lehnten ihre Position ab. 

Adler, Vertreter des Austromarxismus, 

beschimpfte sie als „doktrinäre Gans“ 

und versuchte, eine Gegendarstellung 

in der SPD zu verbreiten. 

Beim Kongress wollte die PPS Polens Unabhängigkeit 

als notwendiges Ziel der Internationale festlegen lassen 

und verdächtigte mehrere SDKP-Vertreter 

als zaristische Geheimagenten. 

Rosa Luxemburg und die SDKP wurden diesmal jedoch 

als eigenständige Vertreter der polnischen Sozialdemokratie

zugelassen. Sie überraschte den Kongress 

mit einer Gegenresolution, wonach 

nationale Unabhängigkeit kein möglicher Programmpunkt 

einer sozialistischen Partei sein könne. 

Die Mehrheit stimmte einer Kompromissfassung zu, 

die das Selbstbestimmungsrecht der Völker 

allgemein bejahte, 

ohne Polen zu erwähnen.


Nach dem Kongress schrieb Rosa Luxemburg 

Artikel für die Sächsische Arbeiterzeitung 

über Organisationsprobleme der deutschen 

und österreichischen Sozialdemokratie 

und die Chancen der Sozialdemokratie 

im Osmanischen Reich. 

Sie plädierte für die Auflösung dieses Reichs, 

um so den Türken und weiteren Nationen 

zunächst eine kapitalistische Entwicklung zu gestatten. 

Marx und Engels hätten zwar zu ihrer Zeit recht gehabt, 

dass das zaristische Russland 

der Hort der Reaktion 

und mit allen Mitteln zu schwächen sei, 

doch die Bedingungen hätten sich geändert. 

Erneut widersprachen ihr führende Sozialdemokraten 

wie Kautsky, Plechanow und Adler öffentlich. 

So wurde sie weit über Polen hinaus 

als sozialistische Denkerin bekannt, 

mit deren Ansichten man sich auseinandersetzte.


Im Mai 1897 wurde Rosa Luxemburg 

in Zürich mit dem Prädikat magna cum laude 

zum Thema Polens industrielle Entwicklung promoviert. 

Mit empirischem Material aus Bibliotheken 

und Archiven von Berlin, Paris, Genf und Zürich 

suchte sie nachzuweisen, dass Russisch-Polen 

seit 1846 in den russischen Kapitalmarkt eingebunden 

und sein Wirtschaftswachstum vollständig 

von diesem abhängig sei. 

Damit wollte sie die Ansicht, die Wiederherstellung 

der nationalen Unabhängigkeit Polens sei illusorisch, 

mit ökonomischen Fakten untermauern, 

ohne explizit marxistisch zu argumentieren. 

Nach der Veröffentlichung wollte Rosa Luxemburg 

darauf aufbauend eine Wirtschaftsgeschichte 

Polens verfassen; das von ihr öfter erwähnte Manuskript 

dazu ging verloren, wurde aber nach ihrer Aussage 

in Erläuterungen von Franz Mehring 

zu von ihm herausgegebenen Marx-Texten 

teilweise verarbeitet. Sie setzte ihren 

kompromisslosen Kampf gegen den Nationalismus 

in der Arbeiterbewegung zeitlebens fort. 

Diese Haltung isolierte sie anfangs fast völlig 

und brachte ihr viele erbitterte Konflikte ein, 

unter anderem seit 1898 in der SPD 

und seit 1903 mit Lenin.


Um die SPD und die Arbeiter 

im deutsch besetzten Teil Polens 

wirksamer für die SDKP zu gewinnen, 

beschloss Rosa Luxemburg 1897 

gegen den Willen von Leo Jogiches, 

nach Deutschland zu ziehen. 

Um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, 

heiratete sie am 19. April 1898 

den 24-jährigen Schlosser Gustav Lübeck, 

den einzigen Sohn ihrer Züricher Gastfamilie. 

Ab 12. Mai 1898 wohnte sie in der Cuxhavener Straße 2 

und trat sofort in die SPD ein, 

die in der Arbeiterbewegung 

als fortschrittlichste sozialistische Partei Europas galt. 

Sie bot dem SPD-Bezirksvorsteher Ignaz Auer an, 

Wahlkampf für die SPD bei polnischen 

und deutschen Arbeitern in Schlesien zu machen. 

Durch ihre Sprachgewandtheit 

und erfolgreiche Wahlkampfreden 

erwarb sie rasch Ansehen in der SPD 

als gefragte Spezialistin 

für polnische Angelegenheiten. 

Bei den folgenden Reichstagswahlen 

errang die SPD in Schlesien erstmals Mandate 

und brach so die bisherige Alleinherrschaft 

der katholischen Zentrumspartei.


1890 waren im Kaiserreich 

nach zwölf Jahren die Sozialistengesetze 

aufgehoben worden. Dadurch gewann die SPD 

bei Wahlen weitere Reichstagssitze. 

Die meisten SPD-Abgeordneten 

wollten die neue Legalität der SPD bewahren 

und setzten sich immer weniger 

für einen revolutionären Umsturz, 

immer mehr für die allmähliche Erweiterung 

parlamentarischer Rechte und Sozialreformen 

im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung ein. 

Das Erfurter Programm von 1891 

hielt die Sozialrevolution nur noch 

als theoretisches Fernziel fest 

und trennte den Alltagskampf für Reformen davon. 

Eduard Bernstein, Autor des praktischen Programmteils, 

rückte ab 1896 mit einer Artikelserie 

über „Probleme des Sozialismus“ in der Neuen Zeit 

vom Marxismus ab und begründete 

die später Reformismus genannte Theorie: 

Interessenausgleich und Reformen 

würden die Auswüchse des Kapitalismus mildern 

und den Sozialismus evolutionär herbeiführen, 

so dass die SPD sich auf parlamentarische Mittel 

beschränken könne. Kautsky, 

enger Freund Bernsteins und Redakteur der Neuen Zeit, 

ließ keine Kritiken an dessen Thesen abdrucken. 

Alexander Parvus, inzwischen Chefredakteur 

der Sächsischen Arbeiterzeitung, 

eröffnete daraufhin im Januar 1898 

den Revisionismusstreit mit einer polemischen 

Artikelserie gegen Bernstein.


Am 25. September 1898 wurde Parvus 

des Landes verwiesen. 

Auf seinen dringenden Wunsch zog Rosa Luxemburg 

nach Dresden und übernahm die Chefredaktion 

der Sächsischen Arbeiterzeitung. 

Daher durfte sie beim folgenden SPD-Parteitag 

in Stuttgart (1898) zu allen Tagesthemen, 

nicht nur zum Thema Polen reden. 

Erstmals griff sie dort in die Bernsteindebatte ein, 

positionierte sich auf dem marxistischen Parteiflügel, 

betonte dessen Übereinstimmung 

mit dem Parteiprogramm 

und wies den Debattenstil zurück: 

Persönliche Polemik zeige nur 

das Fehlen von Sachargumenten. 

Der Parteivorstand um August Bebel 

vermied eine programmatische Entscheidung. 

In den Folgewochen veröffentlichte sie 

eine eigene Artikelserie gegen Bernsteins Theorie, 

die später in ihr Buch Sozialreform 

oder Revolution? einging. 

Darin vertrat sie eine konsequent 

klassenkämpferische Haltung: 

Echte Sozialreformen müssten das Ziel 

der sozialen Revolution stets 

im Auge behalten und ihm dienen. 

Sozialismus sei nur durch die Machtübernahme 

des Proletariats und Umwälzung 

der Produktionsverhältnisse zu erreichen.


Sie zog wieder nach Berlin 

und schrieb von dort aus regelmäßig gegen Entgelt 

anonyme Artikel für verschiedene SPD-Zeitungen 

über wichtige wirtschaftliche 

und technische Entwicklungen in aller Welt. 

Dafür recherchierte sie täglich in Bibliotheken, 

worauf sie ab Dezember 1898 zeitweise 

polizeilich überwacht wurde. 

Zu ihren engen Freunden gehörten Clara Zetkin, 

die inner- und außerhalb der SPD 

für eine selbstbestimmte 

internationale Frauenbewegung eintrat, 

und Bruno Schönlank, Chefredakteur 

der Leipziger Volkszeitung. 

Dort wies sie mit der Artikelserie Miliz und Militarismus 

im Februar 1899 die Thesen von Max Schippel zurück: 

Dieser wollte das SPD-Ziel einer Volksmiliz 

als Alternative zum kaiserlichen Militär aufgeben 

und sah die vorhandenen stehenden Heere 

als unentbehrliche ökonomische Entlastung 

und Übergang zu einem künftigen „Volksheer“ an. 

Sie kritisierte Schippels Annäherung 

an den kaiserlichen Militarismus 

als logische Folge des Bernstein’schen Revisionismus 

und dessen mangelnder Bekämpfung in der SPD. 

Sie schlug vor, die internen Protokolle 

der SPD-Reichstagsfraktion zu veröffentlichen 

und beim nächsten Parteitag 

über Schippels Thesen zu diskutieren. 

Diesmal fand sie ein positives Echo 

beim Parteivorstand. Kautsky lud sie 

im März 1899 zu sich nach Hause ein 

und schlug ihr ein Bündnis 

gegen militaristische Tendenzen in der SPD vor. 

Wilhelm Liebknecht erlaubte ihr 

ein Referat über den aktuellen Kurs 

der Regierung und der SPD in Berlin. 

Bebel traf sich mit ihr, unterstützte ihre Forderungen, 

lehnte aber eine eigene Stellungnahme weiterhin ab, 

weil er Wahleinbußen für die SPD fürchtete. 

Damit hatte die Parteiführung sie 

als Dialogpartnerin anerkannt. 

Sie nutzte dies, um für mehr Akzeptanz 

der SDKP-Positionen zu werben.


Vom 4. bis 8. April 1899 antwortete Rosa Luxemburg 

auf Bernsteins neues Buch 

Die Voraussetzungen des Sozialismus 

und die Aufgaben der Sozialdemokratie 

mit einer zweiten Artikelserie zum Thema 

Sozialreform oder Revolution? 

in der Leipziger Volkszeitung. 

Darin bejahte sie den Alltagskampf der SPD 

um Reformen als notwendiges Mittel 

zum Zweck der Abschaffung 

des ausbeuterischen Lohnsystems. 

Bernstein habe diesen Zweck aufgegeben 

und das Mittel des Klassenkampfs, 

die Reformen, zum Selbstzweck gemacht. 

Damit habe er im Grunde die Mission der SPD 

für historisch überholt erklärt. 

Die SPD gäbe sich selbst auf, würde sie dem folgen. 

Die Marx’sche Krisentheorie bleibe aktuell, 

da das Wachstum der Produktivkräfte 

im Kapitalismus zwangsläufig 

periodische Absatzkrisen erzeuge und Kredite 

und Unternehmerorganisationen diese Krisen 

nur auf zwischenstaatliche Konkurrenz verlagerten, 

aber nicht aufhöben. Sie forderte 

die „Revisionisten“ auf, die SPD zu verlassen, 

weil sie das Parteiziel aufgegeben hätten. 

Dafür fand sie viel Zustimmung in der SPD. 

Mehrere SPD-Wahlkreise beantragten 

den Ausschluss der Revisionisten.


Beim Reichsparteitag in Hannover (1899) 

bekräftigte Bebel als Hauptredner 

das Erfurter Programm, 

die freie und kritische Diskussion 

über die Marx’sche Theorie 

und lehnte den Ausschluss der Revisionisten ab. 

Rosa Luxemburg stimmte ihm weitgehend zu: 

Da die Revisionisten die SPD-Position 

ohnehin nicht bestimmten, 

sei ihr Ausschluss nicht notwendig. 

Es genüge, sie ideologisch in die Schranken zu weisen. 

Eine proletarische Revolution bedeute 

die Aussicht auf ein Geringstmaß an Gewalt; 

wieweit diese notwendig werde, 

bestimme der Gegner. 

Seit dieser innerparteilichen Auseinandersetzung 

war Rosa Luxemburg als scharfzüngige 

und intelligente Gegnerin 

der „Revisionisten“ bekannt, 

geachtet und zum Teil auch gefürchtet. 

Sie erfuhr als Jüdin aus dem Ausland 

viel Ablehnung in der SPD.


1900 starb ihr Vater. 

Auf ihr Verlangen zog Leo Jogiches zu ihr nach Berlin. 

Sie löste ihre Ehe mit Gustav Lübeck auf. 

1903 wurde sie Mitglied 

im Internationalen Sozialistischen Bureau. 

Im Reichstagswahlkampf 1903 

behauptete Kaiser Wilhelm II., 

er verstehe die Probleme der deutschen Arbeiter 

besser als jeder Sozialdemokrat. 

Darauf antwortete Rosa Luxemburg 

in einer Wahlkampfrede: 

Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz 

der deutschen Arbeiter spricht, 

hat keine Ahnung von den Tatsachen.“ 

Dafür wurde sie im Juli 1904 

wegen „Majestätsbeleidigung“ 

zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, 

von denen sie sechs Wochen verbüßen musste. 

1904 kritisierte sie in der russischen Zeitung Iskra 

erstmals Lenins zentralistisches Parteikonzept

(Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie). 

Als Vertreterin der SPD und der SDKP 

setzte sie beim Kongress der Zweiten Internationale 

in Amsterdam klassenkämpferische 

gegen reformistische Positionen durch. 

1905 wurde sie Redakteurin 

bei der SPD-Parteizeitung Vorwärts. 

Im Dezember 1905 reiste sie unter dem Pseudonym 

Anna Matschke“ mit Leo Jogiches nach Warschau, 

um die russische Revolution 1905 zu unterstützen 

und die SDKP zur Teilnahme daran zu bewegen. 

Im März 1906 wurde sie verhaftet. 

Es gelang ihr, ein Kriegsgerichtsverfahren 

mit drohender Todesstrafe abzuwenden. 

Nach ihrer Freilassung gegen eine hohe Kaution 

reiste sie nach Petersburg und traf dort 

russische Revolutionäre, darunter Lenin.


In diesem Zusammenhang 

warfen polnische Nationalisten ihr öffentlich vor, 

sie lenke den „jüdischen“ internationalistischen Flügel 

der Sozialdemokratie, der eine Verschwörung 

zur Zerstörung Kongresspolens betreibe. 

Der Antisemit Niemojewski machte das Judentum 

für den Sozialismus verantwortlich. 

Rosa Luxemburg erreichte daraufhin, 

dass führende westeuropäische Sozialdemokraten 

(der Franzose Jean Jaurès sowie 

August Bebel, Karl Kautsky, Franz Mehring) 

gemeinsam den Antisemitismus als Ideologie 

des reaktionären Bürgertums verwarfen.


Sie warnte frühzeitig vor einem kommenden Krieg 

der europäischen Großmächte, 

griff immer stärker den deutschen Militarismus 

und Imperialismus an und versuchte, 

ihre Partei zu einem energischen 

Gegenkurs zu verpflichten. 

1906 wurde sie auf Antrag der Staatsanwaltschaft Weimar 

wegen „Anreizung verschiedener Klassen 

der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten“ 

in einer SPD-Parteitagsrede 

zu zwei Monaten Haft verurteilt, die sie voll verbüßte. 

Ihre Erfahrungen mit der russischen Revolution 

verarbeitete sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 

in der Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. 

Um die „internationale Solidarität der Arbeiterklasse“ 

gegen den Krieg einzuüben, 

forderte sie darin von der SPD die Vorbereitung 

des Generalstreiks nach polnisch-russischem Vorbild. 

Zugleich setzte sie ihr internationales Engagement fort 

und nahm 1907 mit Leo Jogiches 

am fünften Parteitag der russischen Sozialdemokraten 

in London teil. Beim folgenden Kongress 

der Zweiten Internationale in Stuttgart 

brachte sie erfolgreich eine Resolution ein, 

die gemeinsames Handeln aller europäischen 

Arbeiterparteien gegen den Krieg vorsah.


Ab 1907 unterhielt sie eine mehrjährige 

Liebesbeziehung zu Kostja Zetkin, 

aus der etwa 600 Briefe erhalten sind.


Ebenfalls ab 1907 lehrte sie als Dozentin 

für Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie 

an der SPD-Parteischule in Berlin, 

1911 kam noch das auf ihre Anregung hin 

eingeführte Unterrichtsfach 

Geschichte des Sozialismus“ hinzu. 

Einer ihrer Schüler war der spätere KPD-Gründer 

und DDR-Präsident Wilhelm Pieck. 

Als die SPD sich beim Aufstand 

der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, 

dem heutigen Namibia, klar 

gegen den Kolonialismus und Imperialismus 

des Kaiserreichs aussprach, 

verlor sie bei der Reichstagswahl 1907 – 

den sogenannten „Hottentotten-Wahlen“ – 

rund ein Drittel ihrer Reichstagssitze. 

Doch den Generalstreik als politisches Kampfmittel 

lehnten SPD- und Gewerkschaftsführung 

weiterhin strikt ab. Darüber zerbrach 1910 

Rosa Luxemburgs Freundschaft mit Karl Kautsky. 

Damals machten Berichte der New York Times 

über den Sozialistenkongress in Magdeburg 

sie auch in den USA bekannt.


1912 reiste sie als Vertreterin der SPD 

zu europäischen Sozialistenkongressen, 

darunter dem in Paris, wo sie und Jean Jaurès 

die europäischen Arbeiterparteien 

zu einer feierlichen Verpflichtung brachten, 

beim Kriegsausbruch zum Generalstreik aufzurufen. 

Als der Balkankrieg 1913 

fast schon einen Weltkrieg auslöste, 

organisierte sie Demonstrationen gegen den Krieg. 

In zwei Reden in Frankfurt-Bockenheim 

am 25. September und in Fechenheim 

bei Frankfurt am Main am 26. September 1913 

rief sie eine Menge von Hunderttausenden 

zu Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung auf: 

Wenn uns zugemutet wird, 

die Mordwaffen gegen unsere französischen 

oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, 

so erklären wir: Nein, das tun wir nicht!“ 

Daher wurde sie der „Aufforderung 

zum Ungehorsam gegen Gesetze 

und Anordnungen der Obrigkeit“ angeklagt 

und im Februar 1914 zu insgesamt 14 Monaten 

Gefängnis verurteilt. Ihre Rede 

vor der Frankfurter Strafkammer 

wurde später unter dem Titel 

Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse veröffentlicht. 

Vor dem Haftantritt konnte sie Ende Juli 

noch an einer Sitzung des Internationalen 

Sozialistischen Büros teilnehmen. 

Dort erkannte sie ernüchtert: 

Auch in den europäischen Arbeiterparteien, 

vor allem den deutschen und französischen, 

war der Nationalismus stärker 

als das internationale Klassenbewusstsein.


Am 2. August, in Reaktion auf die Kriegserklärung 

des Deutschen Reiches an Russland und Frankreich 

vom Vortag, erklärten die deutschen Gewerkschaften 

einen Streik- und Lohnverzicht 

für die gesamte Dauer des bevorstehenden Krieges. 

Am 4. August 1914 stimmte die SPD-Reichstagsfraktion

einstimmig und gemeinsam 

mit den übrigen Reichstagsfraktionen 

für die Aufnahme der ersten Kriegskredite 

und ermöglichte damit die Mobilmachung. 

Rosa Luxemburg erlebte diesen Bruch 

der SPD-Vorkriegsbeschlüsse 

als schweres, folgenreiches Versagen der SPD 

und dachte deswegen an Selbstmord. 

Aus ihrer Sicht hatte der Opportunismus, 

den sie immer bekämpft hatte, gesiegt 

und das Ja zum Krieg nach sich gezogen.


Am 5. August gründete sie 

mit Hermann Duncker, Hugo Eberlein, 

Julian Marchlewski, Franz Mehring, 

Ernst Meyer und Wilhelm Pieck 

die „Gruppe Internationale“, 

der sich wenig später auch Karl Liebknecht anschloss. 

Darin sammelten sich diejenigen Kriegsgegner der SPD, 

die deren Stillhaltepolitik komplett ablehnten. 

Sie versuchten, die Partei zur Rückkehr 

zu ihren Vorkriegsbeschlüssen 

und zur Abkehr von der Burgfriedenspolitik zu bewegen, 

einen Generalstreik für einen Friedensabschluss 

vorzubereiten und so auch einer internationalen 

proletarischen Revolution näherzukommen. 

Daraus ging 1916 die reichsweite 

Spartakusgruppe“ hervor, deren Spartakusbriefe 

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 

gemeinsam herausgaben.


Rosa Luxemburg musste am 18. Februar 1915 

die Haftstrafe im Berliner Weibergefängnis antreten, 

die sie für ihre in Frankfurt am Main gehaltene Rede 

erhalten hatte. Ein Jahr später wurde sie entlassen. 

Schon drei Monate später wurde sie 

nach dem damaligen Schutzhaft-Gesetz 

zur „Abwendung einer Gefahr 

für die Sicherheit des Reichs“ 

zu insgesamt zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. 

Im Juli 1916 begann ihre „Sicherungsverwahrung“. 

Drei Jahre und vier Monate verbrachte sie 

zwischen 1915 und 1918 im Gefängnis. 

Sie wurde zweimal verlegt, 

zuerst nach Wronke nahe Posen, 

dann nach Breslau. 

Dort sammelte sie Nachrichten aus Russland 

und verfasste einige Aufsätze, 

die ihre Freunde herausschmuggelten 

und illegal veröffentlichten. 

In ihrem Aufsatz Die Krise der Sozialdemokratie, 

erschienen im Juni 1916 unter dem Pseudonym Junius, 

rechnete sie mit der „bürgerlichen Gesellschaftsordnung“ 

und der Rolle der SPD ab, 

deren reaktionäres Wesen der Krieg offenbart habe. 

Lenin kannte diese Schrift und antwortete positiv darauf, 

ohne zu ahnen, wer sie verfasst hatte.


Im Februar 1917 weckte der revolutionäre Sturz 

des Zaren in Russland Hoffnungen 

auf ein baldiges Kriegsende. 

Die Provisorische Regierung setzte den Krieg 

gegen Deutschland jedoch fort. 

Dort kam es im März in vielen Städten 

zu monatelangen Protesten und Massenstreiks: 

zuerst gegen die Mangelwirtschaft, 

dann gegen Lohnverzicht 

und schließlich gegen den Krieg und die Monarchie. 

Im April 1917 erfolgte der Kriegseintritt der USA. 

Nun gründeten die Kriegsgegner, 

die die SPD ausgeschlossen hatte, 

die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, 

die rasch Zulauf gewann. 

Obwohl der Spartakusbund die Parteispaltung 

bis dahin abgelehnt hatte, 

trat er nun der neuen Linkspartei bei. 

Er behielt seinen Gruppenstatus, 

um weiterhin konsequent 

für eine internationale sozialistische Revolution 

werben zu können. Diesem Ziel folgten 

nur wenige USPD-Gründer.


Während die SPD-Führung erfolglos versuchte, 

die Oberste Heeresleitung (OHL) 

zu Friedensverhandlungen 

mit US-Präsident Woodrow Wilson zu gewinnen, 

ermöglichte diese Lenin die Durchreise 

aus seinem Schweizer Exil 

nach Sankt Petersburg. 

Dort gewann er die Führung der Bolschewiki 

und bot den Russen einen sofortigen Separatfrieden 

mit Deutschland an. 

Damit gewannen die Bolschewiki 

eine Mehrheit im Volkskongress, 

doch nicht in der Duma, 

dem russischen Nationalparlament. 

In der Oktoberrevolution besetzten sie es, 

lösten es auf und setzten die Arbeiterräte 

(Sowjets) als Regierungsorgane ein.


Rosa Luxemburg ließ sich fortlaufend 

über diese Ereignisse informieren 

und schrieb dazu den Aufsatz 

Zur russischen Revolution. 

Darin begrüßte sie Lenins Revolution, 

kritisierte aber zugleich scharf seine Strategie 

und warnte vor einer Diktatur der Bolschewiki. 

In diesem Zusammenhang formulierte sie 

den berühmten Satz: „Freiheit 

ist immer Freiheit des Andersdenkenden.“ 

Erst 1922 veröffentlichte ihr Freund 

Paul Levi diesen Aufsatz. 

Trotz ihrer Vorbehalte rief sie nun unermüdlich 

zu einer deutschen Revolution 

nach russischem Vorbild auf 

und forderte eine „Diktatur des Proletariats“, 

grenzte diesen Begriff aber gegen Lenins 

Avantgardekonzept ab. 

Sie verstand darunter die demokratische 

Eigenaktivität der Arbeiter 

im Revolutionsprozess, 

Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung 

und politische Streiks 

bis zur Verwirklichung 

sozialistischer Produktionsverhältnisse.


Im Januarstreik 1918 bildeten sich 

in vielen bestreikten Betrieben 

eigenständige Arbeitervertreter heraus, 

die revolutionären Obleute. 

Immer mehr Deutsche lehnten 

die Fortsetzung des Krieges ab. 

Nach dem Durchbruch der Triple Entente 

an der Westfront am 8. August 1918 

beteiligte die kaiserliche Regierung 

auf Verlangen der Obersten Heeresleitung (OHL) 

am 5. Oktober erstmals den Reichstag 

an ihren Entscheidungen. 

Max von Baden wurde Reichskanzler, 

mehrere Sozialdemokraten traten 

in die Regierung ein. 

Diese bat die Entente um Waffenstillstandsverhandlungen. 

Die Spartakisten sahen diese Verfassungsänderung 

als Täuschungsmanöver zur Abwehr 

der kommenden Revolution 

und stellten am 7. Oktober reichsweit 

ihre Forderungen nach einem grundlegenden 

Umbau der Gesellschafts- und Staatsordnung.


Die Novemberrevolution erreichte am 9. November 

Berlin, wo Philipp Scheidemann 

eine deutsche, der vorzeitig 

aus dem Gefängnis entlassene Karl Liebknecht 

eine sozialistische Republik ausriefen. 

Rosa Luxemburg wurde am 8. November 

aus der Breslauer Haft entlassen 

und traf am 10. November in Berlin ein. 

Karl Liebknecht hatte bereits 

den Spartakusbund reorganisiert. 

Beide gaben gemeinsam die Zeitung 

Die Rote Fahne heraus, 

um täglich auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. 

In einem ihrer ersten Artikel forderte Rosa Luxemburg 

eine Amnestie für alle politischen Gefangenen 

und die Abschaffung der Todesstrafe. 

Am 18. November schrieb sie: 

Der Bürgerkrieg, den man aus der Revolution 

mit ängstlicher Sorge zu verbannen sucht, 

lässt sich nicht verbannen. 

Denn Bürgerkrieg ist nur ein anderer Name 

für Klassenkampf, und der Gedanke, 

den Sozialismus ohne Klassenkampf, 

durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluß 

einführen zu können, ist eine lächerliche 

kleinbürgerliche Illusion.“ 

Sie trat damals für den Schutz der Berliner Kulturgüter 

gegen Plünderer ein und sorgte dafür, 

dass eine Wache für die Berliner 

Museumsinsel abgestellt wurde.


Ebert hatte sich am Abend des 10. November 

mit Ludendorffs Nachfolger, 

General Wilhelm Groener, 

im Ebert-Groener-Pakt heimlich 

auf eine Zusammenarbeit gegen Versuche 

einer Entmachtung der kaiserlichen Offiziere 

und weitergehenden Revolution verständigt 

und beorderte Anfang Dezember 

ehemalige Fronttruppen nach Berlin. 

Diese sollten unerwünschte Ergebnisse 

des geplanten Reichsrätekongresses vereiteln, 

der eine neue Verfassung und Wahlen 

vorbereiten sollte. Am 6. Dezember 

erschossen Soldaten dieser Truppen 

bei Straßenkämpfen demonstrierende Arbeiter. 

Am 10. Dezember zog 

die Garde-Kavallerie-Schützen-Division 

in Berlin ein. Rosa Luxemburg vermutete, 

dass Ebert diese Reichswehreinheiten 

gegen Berliner Arbeiter einzusetzen vorhatte, 

und forderte daraufhin im Artikel 

Was will der Spartakusbund? 

am 14. Dezember in der Roten Fahne 

alle Macht für die Räte, 

die möglichst gewaltlose Entwaffnung 

und die Umerziehung 

der heimgekehrten Soldaten.


Beim Reichsrätekongress 

vom 16. bis zum 20. Dezember 

waren nur zehn Spartakisten vertreten. 

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 

erhielten kein Rederecht. 

Eine Mehrheit stimmte gemäß 

dem breiten Bevölkerungswillen 

für parlamentarische Wahlen 

zur Weimarer Nationalversammlung 

am 19. Januar 1919 

und die Selbstauflösung der Arbeiterräte. 

Eine Kontrollkommission sollte das Militär überwachen, 

eine Sozialisierungskommission sollte 

die vielfach geforderte Enteignung 

kriegswichtiger Großindustrie beginnen.


Infolge der Weihnachtskämpfe vom 24. Dezember 

verließen die Mitglieder der USPD 

am 29. Dezember den Rat der Volksbeauftragten. 

Am 1. Januar 1919 gründeten die Spartakisten 

und andere linkssozialistische Gruppen 

aus dem ganzen Reich die KPD. 

Diese nahm Rosa Luxemburgs Spartakusprogramm 

kaum verändert als Parteiprogramm an. 

Darin betonte sie, dass Kommunisten 

die Macht niemals ohne erklärten 

mehrheitlichen Volkswillen ergreifen würden. 

Ihre dringende Empfehlung, 

an den kommenden Parlamentswahlen teilzunehmen, 

um auch dort für eine Fortsetzung 

der Revolution zu werben, 

lehnte eine deutliche Parteitagsmehrheit ab.


Als Ebert am 4. Januar 1919 

den Berliner Polizeipräsidenten 

Emil Eichhorn (USPD) absetzte, 

Gustav Noske mit der Aufstellung 

und Herbeirufung von Freikorps beauftragte 

und dieser immer mehr Militär 

um Berlin zusammenzog, 

riefen Revolutionäre Obleute am 5. Januar 

zu einem Generalstreik auf 

und besetzten das Berliner Zeitungsviertel, 

um zum Sturz der restlichen Übergangsregierung 

aufzurufen. Während Karl Liebknecht 

sie unterstützte und die KPD erfolglos 

Berliner Regimenter zur Teilnahme 

zu bewegen versuchte, 

hielt Rosa Luxemburg 

diesen zweiten Revolutionsversuch 

für mangelhaft vorbereitet und verfrüht 

und kritisierte Liebknecht deswegen intern scharf. 

In Zeitungen kursierten seit Anfang Dezember 

Mordaufrufe gegen die Spartakusführer; 

Eduard Stadtler hatte damals mit Geldern 

der Deutschen Bank und von Friedrich Naumann 

eine „Antibolschewistische Liga“ gegründet, 

deren Antibolschewistenfonds 

ab 10. Januar 1919 Gelder 

der deutschen Wirtschaft erhielt. 

Damit wurden unter anderem die Anwerbung 

und Ausrüstung der Freikorps 

sowie Belohnungen zur Festsetzung 

und Ermordung von Spartakisten bezahlt. 

Der Vorwärts rief zur „Stunde der Abrechnung“ 

mit ihnen auf. Vermittlungsgespräche 

zwischen dem Revolutionskomitee 

und der Übergangsregierung scheiterten. 

Von Noske befehligte kaiserliche Truppen 

schlugen den sogenannten Spartakusaufstand 

vom 8. bis 12. Januar gewaltsam nieder 

und erschossen Hunderte von Aufständischen, 

darunter auch viele Unbewaffnete, 

die sich schon ergeben hatten. 

Die Spartakusführer mussten untertauchen, 

blieben aber in Berlin.


In ihren letzten Lebenstagen ging es 

Rosa Luxemburg gesundheitlich sehr schlecht, 

trotzdem verfolgte sie noch aktiv 

das revolutionäre Geschehen. 

In ihrer letzten Veröffentlichung 

in der Roten Fahne bekräftigte sie nochmals 

ihr unbedingtes Vertrauen in die Arbeiterklasse; 

sie werde aus ihren Niederlagen lernen 

und sich bald wieder zum „Endsieg“ erheben.


Am 15. Januar 1919 nahm eine „Bürgerwehr“, 

die über genaue Steckbriefe verfügte, 

sie und Karl Liebknecht 

in einer Wohnung der Mannheimer Straße 27 

in Wilmersdorf fest und brachte sie 

in das Eden-Hotel. 

Dort residierte der Stab 

der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, 

der die Verfolgung von Spartakisten 

in Berlin organisierte. 

Die Gefangenen wurden nacheinander verhört 

und dabei schwer misshandelt. 

Kommandant Waldemar Pabst 

beschloss mit seinen Offizieren, 

sie zu ermorden; der Mord 

sollte nach einer spontanen Tat 

Unbekannter aussehen. 

Der am Haupteingang bereitstehende Jäger 

Otto Wilhelm Runge schlug Rosa Luxemburg 

beim Verlassen des Hotels 

mit einem Gewehrkolben zweimal, 

bis sie bewusstlos war. 

Sie wurde in einen bereitstehenden Wagen geworfen. 

Der Freikorps-Leutnant Hermann Souchon 

sprang bei ihrem Abtransport 

auf das Trittbrett des Wagens auf 

und erschoss sie 

mit einem aufgesetzten Schläfenschuss 

etwa an der Ecke Nürnberger Straße/Kurfürstendamm. 

Kurt Vogel ließ ihre Leiche 

in den Berliner Landwehrkanal 

in der Nähe der Lichtensteinbrücke werfen.




FÜNFTER GESANG


Clara wurde als älteste Tochter 

von Josephine Vitale, 

deren Vater Jean Dominique 

durch die Französische Revolution 1789 

und seine Teilnahme an Napoleons Kriegen geprägt war, 

und Gottfried Eißner, 

Sohn eines Tagelöhners 

und Dorfschullehrers von Wiederau, geboren. 

Ihre Mutter stand mit Pionierinnen 

der damals entstandenen bürgerlichen Frauenbewegung 

in Kontakt, insbesondere Louise Otto-Peters 

und Auguste Schmidt, las Bücher von George Sand 

und gründete in Wiederau einen Verein 

für Frauengymnastik. 

Die Familie siedelte 1872 nach Leipzig über, 

um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen.

Ab 1874 hatte die in Leipziger Privatseminaren ausgebildete

Volksschullehrerin Kontakte zur Frauen- und Arbeiterbewegung.

Clara Eißner trat 1878 der Sozialistischen Arbeiterpartei

Deutschlands bei, die 1890 in SPD umbenannt wurde. 

Wegen des Sozialistengesetzes (1878–1890), 

das sozialdemokratische Aktivitäten 

außerhalb der Landtage und des Reichstags verbot, 

ging sie 1882 zuerst nach Zürich, 

dann nach Paris ins Exil. 

Dort nahm sie den Namen ihres Lebenspartners, 

des russischen Revolutionärs Ossip Zetkin an, 

mit dem sie zwei Söhne hatte, 

Maxim Zetkin und Kostja Zetkin.


In ihrer Zeit in Paris hatte sie 1889 

während des Internationalen Arbeiterkongresses 

einen bedeutenden Anteil an der Gründung 

der Sozialistischen Internationale.


Im Herbst 1890 kehrte die Familie 

nach Deutschland zurück 

und ließ sich in Sillenbuch bei Stuttgart nieder. 

Dort arbeitete Clara Zetkin als Übersetzerin 

und seit 1892 als Herausgeberin 

der Frauenzeitschrift Die Gleichheit.


Nach dem Tode Ossip Zetkins heiratete sie 1899 

42-jährig in Stuttgart den 24-jährigen 

Kunstmaler Friedrich Zundel aus Wiernsheim. 

Nach zunehmender Entfremdung 

wurde die Ehe 1927 geschieden.


1907 lernte Clara Zetkin 

anlässlich des Internationalen Sozialistenkongresses 

in Stuttgart den russischen Kommunisten Lenin kennen, 

mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband.


In der SPD gehörte sie zusammen 

mit ihrer engen Vertrauten, Freundin 

und Mitstreiterin Rosa Luxemburg 

wortführend zum revolutionären linken Flügel der Partei 

und wandte sich mit ihr um die Jahrhundertwende 

zum 20. Jahrhundert in der Revisionismusdebatte 

entschieden gegen die reformorientierten 

Thesen Eduard Bernsteins.


Einer ihrer politischen Schwerpunkte 

war die Frauenpolitik. 

Hierzu hielt sie beim Gründungskongress 

der Zweiten Internationalen 

am 19. Juli 1889 ein berühmt gewordenes Referat, 

in dem sie die Forderungen 

der bürgerlichen Frauenbewegung 

nach Frauenwahlrecht, freier Berufswahl 

und besonderen Arbeitsschutzgesetzen für Frauen, 

wie sie um Helene Lange und Minna Cauer 

vertreten wurden, im Rahmen 

des herrschenden Systems kritisierte:


Wir erwarten unsere volle Emanzipation 

weder von der Zulassung der Frau zu dem, 

was man freie Gewerbe nennt, 

und von einem dem männlichen gleichen Unterricht – 

obgleich die Forderung dieser beiden Rechte 

nur natürlich und gerecht ist – 

noch von der Gewährung politischer Rechte. 

Die Länder, in denen das angeblich allgemeine, 

freie und direkte Wahlrecht existiert, 

zeigen uns, wie gering der wirkliche Wert desselben ist. 

Das Stimmrecht ohne ökonomische Freiheit 

ist nicht mehr und nicht weniger 

als ein Wechsel, der keinen Kurs hat. 

Wenn die soziale Emanzipation 

von den politischen Rechten abhinge, 

würde in den Ländern mit allgemeinem Stimmrecht 

keine soziale Frage existieren. 

Die Emanzipation der Frau 

wie die des ganzen Menschengeschlechtes 

wird ausschließlich das Werk der Emanzipation 

der Arbeit vom Kapital sein. 

Nur in der sozialistischen Gesellschaft 

werden die Frauen wie die Arbeiter 

in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen.“


Damit erklärte Zetkin die fehlende Gleichberechtigung 

der Geschlechter zu einem Nebenwiderspruch 

der herrschenden sozialen und ökonomischen Bedingungen, 

den sie dem Hauptwiderspruch zwischen Kapital 

und Arbeit unterordnete. 

Ihre Verschiebung der formalpolitischen Emanzipation 

der Frau auf die Zeit nach der Revolution 

vertiefte die Konflikte der deutschen Frauenbewegung 

vor dem Ersten Weltkrieg 

und führte zu langwierigen Auseinandersetzungen 

mit anderen, gemäßigteren Protagonistinnen 

auch innerhalb der sozialdemokratischen Frauenbewegung, 

etwa mit Lily Braun oder Luise Zietz.


Zetkin war von 1891 bis 1917 

Herausgeberin der SPD-Frauenzeitung Die Gleichheit, 

in deren programmatischer Eröffnungsnummer 

sie sich erneut gegen die reformistische Vorstellung wandte, 

durch rechtliche Gleichstellung mit den Männern 

unter Beibehaltung des Kapitalismus einen Fortschritt 

für die Frauen erreichen zu wollen:


Die Gleichheit geht von der Überzeugung aus, 

dass der letzte Grund der jahrtausendealten 

niedrigen gesellschaftlichen Stellung 

des weiblichen Geschlechts nicht 

in der jeweils von Männern gemachten Gesetzgebung, 

sondern in den durch wirtschaftliche Zustände 

bedingten Eigentumsverhältnisse zu suchen ist. 

Mag man heute unsere gesamte Gesetzgebung 

dahin abändern, dass das weibliche Geschlecht 

rechtlich auf gleichen Fuß mit dem männlichen gestellt wird, 

so bleibt nichtsdestoweniger für die große Masse 

der Frauen die gesellschaftliche Versklavung 

in härtester Form weiterbestehen: 

ihre wirtschaftliche Abhängigkeit 

von ihren Ausbeutern.“


Später revidierte sie diese rigide Haltung 

und trat nun ebenfalls für das Frauenwahlrecht ein, 

das bereits seit 1891 zentraler Bestandteil 

des Parteiprogramms der SPD war.


1907 wurde ihr die Leitung 

des neu gegründeten Frauensekretariats 

der SPD übertragen. 

Beim Internationalen Sozialistenkongress, 

der im August 1907 in Stuttgart stattfand, 

wurde die Gründung der Sozialistischen 

Fraueninternationale beschlossen, 

mit Clara Zetkin als Internationaler Sekretärin. 

Auf der Zweiten Internationalen 

Sozialistischen Frauenkonferenz 

am 27. August 1910 in Kopenhagen 

initiierte sie gegen den Willen 

ihrer männlichen Parteikollegen, 

gemeinsam mit Käte Duncker, 

den Internationalen Frauentag, 

der erstmals im folgenden Jahr 

am 19. März 1911 begangen werden sollte 

(ab 1921 am 8. März).


Zusammen mit Franz Mehring, 

Rosa Luxemburg und sehr wenigen weiteren 

SPD-Politikern stimmte Zetkin 1914 

kurz vor Beginn des Krieges 

gegen die Bewilligung der Kriegskredite. 

Sie blieb damit dem Grundsatz 

der Zweiten Internationale treu, 

keinen Angriffskrieg zu unterstützen 

und stand fortan im Widerspruch 

zur großen Mehrheit der im Reichstag vertretenen SPD. 

In der Zeit des Ersten Weltkriegs 

lehnte Zetkin mit Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, 

Franz Mehring und wenigen anderen 

einflussreichen SPD-Politikern 

die Burgfriedenspolitik ihrer Partei ab. 

Neben anderen Aktivitäten gegen den Krieg 

organisierte sie 1915 in Bern 

die Internationale Konferenz sozialistischer Frauen 

gegen den Krieg. 

In diesem Zusammenhang entstand 

das maßgeblich von ihr ausformulierte 

Anti-Kriegs-Flugblatt „Frauen des arbeitenden Volkes!“, 

das außerhalb der Schweiz polizeilich gesucht wurde. 

Wegen ihrer Antikriegshaltung 

wurde Clara Zetkin während des Krieges 

mehrfach inhaftiert, ihre Post beschlagnahmt 

und ihre Söhne, beide Ärzte im Militärdienst, schikaniert.


Sie war ab 1916 an der ursprünglich 

von Rosa Luxemburg gegründeten 

revolutionären innerparteilichen Oppositionsfraktion 

der SPD, der Gruppe Internationale 

oder Spartakusgruppe beteiligt, 

die am 11. November 1918 

in Spartakusbund umbenannt wurde. 

1917 schloss sich Clara Zetkin der USPD 

unmittelbar nach deren Konstituierung an. 

Diese neue linkssozialdemokratische Partei 

hatte sich aus Protest 

gegen die kriegsbilligende Haltung der SPD 

von der Mutterpartei abgespalten, 

nachdem die größer gewordene Gruppe 

der Kriegsgegner aus der SPD-Reichstagsfraktion 

und der Partei ausgeschlossen worden war. 

Nach der Novemberrevolution wurde – 

ausgehend vom Spartakusbund 

und anderen linksrevolutionären Gruppen – 

am 1. Januar 1919 die Kommunistische 

Partei Deutschlands (KPD) gegründet, 

der auch Zetkin beitrat.


Von 1919 bis 1920 war Zetkin Mitglied 

der Verfassunggebenden Landesversammlung 

Württembergs und dort eine 

unter den ersten 13 weiblichen Abgeordneten. 

Sie beteiligte sich ab dem 25. Juli 1919 

am Sonderausschuss für den Entwurf 

eines Jugendfürsorgegesetzes. 

Am 25. September 1919 stimmte Zetkin 

gegen die Annahme der Verfassung 

des freien Volksstaates Württemberg.


Von 1920 bis 1933 war sie für die KPD 

im Reichstag der Weimarer Republik 

als Abgeordnete vertreten. 

Ab 1919 gab Clara Zetkin die Zeitschrift 

Die Kommunistin heraus. 

Von 1921 bis zu ihrem Tode war sie 

Präsidentin der Internationalen Arbeiterhilfe. 

In der KPD war Zetkin bis 1924 

Angehörige der Zentrale, 

und von 1927 bis 1929 des Zentralkomitees der Partei. 

Des Weiteren war sie von 1921 bis 1933 

Mitglied des Exekutivkomitee 

der Kommunistischen Internationale.

1925 wurde Zetkin außerdem zur Vorsitzenden 

der Roten Hilfe Deutschlands gewählt.


In der KPD saß Zetkin 

im Lauf ihrer politischen Tätigkeit, 

während der die dominierenden innerparteilichen Flügel 

mehrfach wechselten, oft zwischen den Stühlen, 

behielt jedoch zeitlebens einen bedeutenden 

Einfluss in der Partei. 

Im Allgemeinen wird sie von namhaften Historikern 

eher dem „rechten“ Flügel der KPD zugeordnet, 

vor allem, weil sie den ideologischen Vorgaben 

der Komintern und aus der Sowjetunion 

teilweise kritisch gegenüberstand.


So lehnte sie 1921 zusammen mit dem damaligen 

von März 1919 bis Februar 1921 amtierenden 

innerparteilich umstrittenen KPD-Vorsitzenden 

Paul Levi (Parteiausschluss Mitte 1921) 

die vom Komintern-Chef Sinowjew 

befürwortete „Offensivstrategie“ als „Putschismus“ ab. 

Bei der entsprechenden von der KPD mehrheitlich 

unterstützten Kampagne war eine revolutionär 

ausgerichtete Arbeiterrevolte, die Märzaktion 

in der Provinz Sachsen, blutig gescheitert, 

wobei über hundert Menschen 

ums Leben gekommen waren. 

Anders als die Parteivorsitzenden Levi und Ernst Däumig 

blieb sie jedoch in der KPD 

und schloss sich nicht der Kommunistischen 

Arbeitsgemeinschaft an.


Am 21. Januar 1923, kurz nach dem Beginn 

der Besetzung des Ruhrgebietes 

durch französische und belgische Truppen 

infolge der von Deutschland nicht erfolgten 

Reparationszahlungen laut den Bestimmungen 

des Versailler Vertrags von 1919, 

warf Zetkin unter der Überschrift 

Um das Vaterland der Großbourgeoisie vor, 

ihr „Verrat“ sei schuld an der krisenhaften Zuspitzung 

der Situation der Weimarer Republik 

infolge von Hyperinflation und Reparationen. 

Mit dem Flugblatt „Zur Befreiung 

des deutschen Vaterlandes“ 

rief sie zum Sturz der Regierung 

und zur Bildung einer Arbeiterregierung auf. 

Diese nationalistisch anmutenden Töne, 

die kurzzeitig dazu führten, dass Zetkin 

von einigen Parteigenossen 

der Versuch vorgeworfen wurde, 

die bürgerlichen Parteien 

mit nationalen Parolen rechts überholen zu wollen, 

wurden zwei Tage später von der Parteizentrale korrigiert. 

Darauf rief die KPD zur Solidarität der Proletarier 

in Deutschland und in Frankreich auf 

und bekräftigte damit die internationalistische 

Ausrichtung der KPD.


Im Juni 1923 erregte Zetkin 

auf der Tagung des Exekutivkomitees 

der Komintern in Moskau mit ihren Thesen 

zum Klassencharakter des Faschismus, 

der im Jahr zuvor in Italien 

an die Macht gekommen war, Aufsehen. 

Der bei vielen Marxisten verbreiteten These, 

Mussolinis Diktatur sei als „bloßer bürgerlicher Terror“ 

und als Angstreaktion der Kapitalisten 

auf die Bedrohung durch die Oktoberrevolution zu verstehen,

erteilte sie eine scharfe Absage. 

In Wahrheit habe der Faschismus

eine andere Wurzel. Es ist das Stocken, 

der schleppende Gang der Weltrevolution 

infolge des Verrats der reformistischen Führer 

der Arbeiterbewegung. Ein großer Teil 

der proletarisierten und von der Proletarisierung 

bedrohten klein- und mittelbürgerlichen Schichten, 

der Beamten und bürgerlichen Intellektuellen 

hatte die Kriegspsychologie 

mit einer gewissen Sympathie 

für den reformistischen Sozialismus ersetzt. 

Sie erhofften vom reformistischen Sozialismus 

dank der Demokratie eine Weltwende. 

Diese Erwartungen sind bitter enttäuscht worden. 

So kam es, dass sie nicht bloß den Glauben 

an die reformistischen Führer verloren, 

sondern an den Sozialismus selbst.“


Den Nationalsozialismus bezeichnete sie 

als „Strafe“ für das Verhalten 

der deutschen Sozialdemokratie 

in der Novemberrevolution.


Im April 1925 polemisierte Zetkin 

auf einer weiteren Tagung in Moskau 

gegen die zu der Zeit aktuelle KPD-Führung 

unter Ruth Fischer und Arkadi Maslow, 

denen sie „sektiererische Politik“ vorwarf. 

Damit half sie deren Absetzung vorzubereiten. 

Nachfolger wurde im Herbst 1925 Ernst Thälmann, 

den Stalin protegierte.


Zetkin lehnte die parlamentarische Demokratie 

der Weimarer Republik strikt ab, 

die sie als „Klassendiktatur der Bourgeoisie“ 

bezeichnete. Zugleich stand sie jedoch 

auch der stalinschen Sozialfaschismusthese 

kritisch gegenüber, die ein Bündnis 

mit der Sozialdemokratie 

gegen den Nationalsozialismus verhinderte. 

Als Alterspräsidentin des Deutschen Reichstages 

führte sie den Vorsitz auf der konstituierenden Sitzung 

des Reichstages am 30. August 1932 

in der Hoffnung trotz meiner jetzigen Invalidität 

das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin 

den ersten Rätekongreß Sowjetdeutschlands zu eröffnen.“ 

Trotz des vorausgehenden Wahlerfolgs für die KPD 

erkannte sie gleichwohl die Gefahr, 

die von der inzwischen stärksten Fraktion des Reichstags, 

der NSDAP, ausging, und rief in derselben Rede 

zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten auf:


Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit 

müssen alle fesselnden und trennenden politischen,

gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen

Einstellungen zurücktreten.“


Nach der Machtergreifung durch die NSDAP 

unter Adolf Hitler und dem Ausschluss der KPD 

aus dem Reichstag infolge des Reichstagsbrands 1933 

ging Clara Zetkin noch einmal, 

das letzte Mal in ihrem Leben, ins Exil, 

diesmal in die Sowjetunion, 

wo sie bereits von 1924 bis 1929 

ihren Hauptwohnsitz gehabt hatte. 

Nach Angaben von Maria Reese, 

einer KPD-Abgeordneten des Reichstags, 

die sie dort unter Schwierigkeiten besuchte, 

lebte sie bereits parteipolitisch isoliert. 

Sie starb wenig später am 20. Juni 1933 

im Alter von fast 76 Jahren. 

Ihre Urne wurde in der Nekropole 

an der Kremlmauer in Moskau beigesetzt. 

Stalin selbst trug die Urne zur Beisetzung.



SECHSTER GESANG


Von 1893 bis 1900 besuchte Thälmann 

die Volksschule. Rückblickend beschrieb er später 

Geschichte, Naturgeschichte, Volkskunde, Rechnen, 

Turnen und Sport als seine Lieblingsfächer. 

Religion hingegen mochte er nicht. 

Mitte der 1890er Jahre eröffneten seine Eltern 

ein Gemüse-, Steinkohlen- und Fuhrwerksgeschäft 

in Eilbek, einem Stadtteil von Hamburg. 

In diesem Geschäft musste er nach der Schule aushelfen. 

Seine Schularbeiten erledigte er am frühen Morgen 

vor dem Unterrichtsbeginn. Seine Erfahrungen 

im elterlichen Geschäft beschrieb er später so:


Beim Einkaufen der Kunden im Geschäft 

bemerkte ich schon die sozialen Unterschiede 

im Volksleben. Bei den Arbeiterfrauen 

Elend, Not und teilweise Hunger bei ihren Kindern 

und geringe Einkäufe, 

bei den bemittelten Kunden größere Einkäufe.“


Trotz dieser Belastung war Thälmann 

ein guter Schüler, dem das Lernen 

viel Freude bereitete. Sein Wunsch, 

Lehrer zu werden oder ein Handwerk zu erlernen, 

erfüllte sich nicht, da seine Eltern ihm 

die Finanzierung verweigerten. 

Er musste daher weiter im Kleinbetrieb 

seines Vaters arbeiten, was ihm, 

nach eigenen Aussagen, großen Kummer bereitete. 

Durch das frühzeitige „Schuften“ 

im elterlichen Betrieb kam es zu vielen 

Auseinandersetzungen mit seinen Eltern. 

Thälmann wollte für seine Arbeit 

einen richtigen Lohn und nicht nur ein Taschengeld. 

Darum suchte er sich eine Arbeit als „Ungelernter“ 

im Hafen. Hier kam Thälmann bereits als Zehnjähriger 

mit den Hafenarbeitern in Kontakt, 

als sie vom November 1896 bis Februar 1897 

im Hamburger Hafenarbeiterstreik 

die Arbeit niederlegten. Der Arbeitskampf 

wurde von allen Beteiligten erbittert geführt. 

Er selbst schrieb 1936 aus dem Gefängnis 

an seine Tochter, dass „der große Hafenarbeiterstreik 

in Hamburg vor dem Kriege 

der erste sozialpolitische Kampf“ gewesen sei, 

der sich für immer in sein Herz“ eingeprägt habe. 

Der sozialpolitische Inhalt der Gespräche 

der Hafenarbeiter soll ihn sehr geprägt haben.


Anfang 1902 verließ er im Streit das Elternhaus 

und kam zunächst in einem Obdachlosenasyl unter, 

später in einer Kellerwohnung. 

Ab 1904 fuhr er als Heizer 

auf dem Frachter AMERIKA zur See, 

unter anderem in die USA. 

Hier war er 1910 in der Nähe von New York 

für kurze Zeit als Landarbeiter tätig. 

In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg 

betätigte sich Thälmann als konsequenter Streiter 

für die Interessen der Hamburger Hafenarbeiter. 

Von 1913 bis 1914 arbeitete er 

als Kutscher für eine Wäscherei.


Anfang 1915 wurde er zum Kriegsdienst 

bei der Artillerie eingezogen 

und kam an die Westfront, 

an der er bis zum Kriegsende als Kanonier kämpfte. 

Zweimal kam er nach Verwundungen 

in Lazarette in Köln und Bayreuth. 

Er selbst gab an, an folgenden Schlachten 

und Gefechten teilgenommen zu haben: 

Schlacht in der Champagne, 

Schlacht an der Somme, Schlacht an der Aisne, 

Schlacht von Soissons, Schlacht von Cambrai 

und Schlacht bei Arras.


Thälmann erhielt im Krieg mehrere Auszeichnungen.

Die Eltern waren parteilos; 

im Unterschied zum Vater 

war die Mutter tief religiös. 

Nach der Geburt ihres Sohnes Ernst 

übernahmen die Eltern eine Kellerwirtschaft 

in der Nähe des Hamburger Hafens. 

Im März 1892 wurden die Eltern Thälmanns 

wegen Hehlerei zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, 

weil sie entwendete Waren gekauft 

oder für Schulden in Zahlung genommen hatten. 

Thälmann und seine jüngere Schwester 

wurden getrennt und in unterschiedliche Familien 

zur Pflege gegeben. Die Eltern wurden jedoch 

vorzeitig aus der Haft entlassen. 

Die Straftat seiner Eltern 

wurde noch 36 Jahre später im Wahlkampf 

gegen Ernst Thälmann verwendet. 

Den politischen Gegnern kam es gelegen, 

dass schon der Vater ein Zuchthäusler gewesen war.


Wenige Tage vor Beginn seines Kriegsdienstes 

heiratete er am 13. Januar 1915 Rosa Koch. 

Aus dieser Ehe ging die Tochter Irma Thälmann hervor. 

Irma war nicht die einzige Nachkommin ihres Vaters.


Thälmann wurde am 15. Mai 1903 Mitglied der SPD. 

Am 1. Februar 1904 trat er dem Zentralverband 

der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter 

Deutschlands bei, in dem er zum Vorsitzenden 

der Abteilung Fuhrleute aufstieg. 

1913 unterstützte er eine Forderung 

von Rosa Luxemburg nach einem Massenstreik 

als Aktionsmittel der SPD 

zur Durchsetzung politischer Forderungen. 

Im Oktober 1918 desertierte Thälmann 

gemeinsam mit vier befreundeten Soldaten, 

indem er aus dem Heimaturlaub nicht mehr 

an die Front zurückkehrte, 

und trat Ende 1918 der USPD bei.


In Hamburg beteiligte er sich am Aufbau 

des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates. 

Ab März 1919 war er Vorsitzender der USPD in Hamburg 

und Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. 

Gleichzeitig arbeitete er als Notstandsarbeiter 

im Hamburger Stadtpark, 

dann fand er eine gut bezahlte Stelle beim Arbeitsamt. 

Hier stieg er bis zum Inspektor auf. 

Ende November 1920 schloss sich 

der mitgliederstarke linke Flügel der USPD 

der Kommunistischen Internationale (Komintern) an 

und vereinigte sich damit mit deren deutscher Sektion, 

der KPD. Thälmann war der wichtigste Befürworter 

dieser Vereinigung in Hamburg. 

Auf sein Betreiben hin traten 98 Prozent der Mitglieder 

der Hamburger USPD der KPD bei.


Im Dezember wurde er in den Zentralausschuss 

der KPD gewählt. Am 29. März 1921 wurde er 

wegen seiner politischen Tätigkeit 

vom Dienst im Arbeitsamt fristlos entlassen, 

nachdem er unerlaubt seinem Arbeitsplatz 

ferngeblieben war. Er war einem Aufruf 

der KPD gefolgt, sich der März-Aktion anzuschließen. 

Im Sommer des Jahres 1921 

fuhr Thälmann als KPD-Vertreter 

zum III. Kongress der Komintern nach Moskau 

und lernte dort Lenin kennen. 

Am 17. Juni 1922 wurde ein rechtsradikales Attentat 

auf seine Wohnung verübt, 

um Thälmann zu ermorden.


Thälmann war Teilnehmer 

und einer der Organisatoren 

des Hamburger Aufstandes 

vom 23. bis 25. Oktober 1923. 

Der Aufstand scheiterte, 

und Thälmann musste für eine Weile untertauchen. 

Später urteilte er in der Berliner Ausgabe 

des Parteiorgans Die Rote Fahne:


Unsere Partei als Ganzes war noch viel zu unreif, 

um diese Fehler der Führung zu verhindern. 

So scheiterte im Herbst 1923 die Revolution 

am Fehlen einer ihrer wichtigsten Voraussetzungen: 

dem Bestehen einer bolschewistischen Partei.“


Das Scheitern des Aufstandes wurde vor allem 

den ehemaligen KPD-Vorsitzenden 

und „Rechtsabweichlern“ Heinrich Brandler 

und August Thalheimer vorgeworfen. 

Die fehlende Bolschewisierung sei schuld 

an der Niederlage gewesen. 

Zu einem ähnlichen Schluss kam Georgi Dimitrow 

nach dem gescheiterten „Antifaschistischen 

Septemberaufstand“ 1923 in Bulgarien.


Ab Februar 1924 war er stellvertretender Vorsitzender 

und ab Mai Reichstagsabgeordneter der KPD. 

Unter seiner Führung lehnte die Partei 

die Kritik Rosa Luxemburgs am Leninismus 

als Luxemburgismus ab, 

was sich in der unkritischen Solidarität 

mit Stalin bemerkbar machte. 

Die Entwicklung der bolschewistischen Partei 

in der Sowjetunion, die sich mehr auf Stalin 

und seine Interpretation des Kommunismus konzentrierte, 

machte sich auch unter ihm in der KPD bemerkbar. 

Den Posten im Reichstag hatte Thälmann 

bis zum Ende der Weimarer Republik inne. 

Im Sommer 1924 wurde er 

auf dem V. Kongress der Komintern 

in ihr Exekutivkomitee 

und kurze Zeit später ins Präsidium gewählt. 

Am 1. Februar 1925 wurde er Vorsitzender 

des Roten Frontkämpferbundes 

und am 1. September des Jahres 

Vorsitzender der KPD, 

als Nachfolger von Ruth Fischer, 

die kurze Zeit später als „ultralinke Abweichlerin“ 

aus der KPD ausgeschlossen wurde. 

Thälmann kandidierte bei der Reichspräsidentenwahl 1925 

auch für das Amt des Reichspräsidenten. 

Obwohl er im ersten Wahlgang 

nur sieben Prozent der Stimmen bekommen hatte, 

hielt er seine Kandidatur 

auch für den zweiten Wahlgang aufrecht. 

In diesem Zusammenhang wurde Thälmann vorgeworfen, 

dass sein Wahlergebnis von 6,4 Prozent 

dem Kandidaten der bürgerlichen Partei, 

Wilhelm Marx (45,3 Prozent), fehlten 

und den Sieg des Monarchisten 

Paul von Hindenburg mit 48,3 Prozent ermöglichten. 

Im Oktober 1926 unterstützte Thälmann in Hamburg 

den dortigen Hafenarbeiterstreik. 

Er sah dies als Ausdruck der Solidarität 

mit einem englischen Bergarbeiterstreik, 

der seit dem 1. Mai anhielt 

und sich positiv auf die Konjunktur 

der Unternehmen im Hamburger Hafen auswirkte. 

Thälmanns Absicht war, dieses „Streikbrechergeschäft“ 

von Hamburg aus zu unterbinden. 

Am 22. März 1927 beteiligte sich Ernst Thälmann 

an einer Demonstration in Berlin, 

wo er durch einen streifenden Säbelhieb 

über dem rechten Auge verletzt wurde. 

1928 fuhr Thälmann nach dem VI. Kongress 

der Komintern in Moskau nach Leningrad, 

wo er zum Ehrenmitglied der Besatzung 

des Kreuzers Aurora ernannt wurde.


Die Komintern setzte Thälmann am 6. Oktober 

nach innerparteilichen Streitigkeiten 

auf eine Intervention Stalins hin 

wieder in seine Parteifunktionen ein. 

Stalin verurteilte die Fraktionsbildung 

innerhalb der KPD, die Lenin schon 

in seinem Werk Was tun? kritisiert hatte 

und die bei den Mitgliedsparteien 

der Komintern verboten war, 

obgleich die Broschüre sich auf die besondere Rolle 

der Parteien im damaligen zaristischen System konzentrierte, 

da eine legale Parteiarbeit unmöglich erschien.


In den nachfolgenden Wochen 

wurde in den KPD-Bezirken in Sitzungen 

der Bezirksleitungen und Parteiarbeiterkonferenzen 

die Resolution der Komintern diskutiert 

und zur Abstimmung gestellt. 

Die parteiinterne Abstimmung ergab 

eine dominierende Majorität in der Partei.


Auf dem 12. Parteitag der KPD 

vom 9. bis 15. Juni 1929 in Berlin-Wedding 

ging Thälmann angesichts der Ereignisse des Blutmai, 

der sich dort zuvor zugetragen hatte, 

auf deutlichen Konfrontationskurs zur SPD. 

Neben innenpolitischem Engagement 

setzte er sich auch für außenpolitische 

und nationale Belange ein, 

insbesondere kritisierte er die Nationalsozialisten, 

die nicht für die Anträge der KPD stimmten, 

die einen Austritt aus dem Völkerbund 

und eine Beseitigung der Reparationslasten forderten. 

So schrieb er in einem Brief 

in der Neuen Deutschen Bauernzeitung 1931: 

Die nationalsozialistischen 

und deutschnationalen Betrüger 

versprachen euch Kampf zur Zerreißung 

des Youngplanes, Beseitigung der Reparationslasten, 

Austritt aus dem Völkerbund, 

aber sie wagten nicht einmal, im Reichstag 

für den kommunistischen Antrag 

auf Einstellung der Reparationszahlungen, 

Austritt aus dem Völkerbund zu stimmen.“ 

In dem Brief betont er auch seine nationalen 

Absichten mit „Vorwärts zur nationalen 

und sozialen Befreiung!“ 

Am 13. März 1932 kandidierte er neben Adolf Hitler 

und Theodor Duesterberg für das Amt 

des Reichspräsidenten gegen Hindenburg. 

Wahlspruch der KPD war: 

Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, 

wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ 

Gegen den stärker werdenden Nationalsozialismus 

propagierte er kurze Zeit später 

eine „Antifaschistische Aktion“ 

als „Einheitsfront von unten“, 

also unter Ausschluss der SPD-Führung. 

Dieses Vorgehen entsprach der Sozialfaschismusthese 

der Komintern. Die Zerschlagung der SPD 

blieb ein zentrales Ziel der KPD. 

Die Antifaschistische Aktion diente auch dazu, 

deren Führer als Verräter der Arbeiterklasse 

zu „entlarven“. Nach der Reichstagswahl 

im November 1932, bei der die NSDAP 

eine empfindliche Stimmeneinbuße verzeichnete, 

schienen die Nationalsozialisten 

auf einem absteigenden Ast. 

Thälmann verschärfte den Kampf der KPD 

gegen die Sozialdemokratie im Gegenzug abermals.


Als der NSDAP am 30. Januar 1933 

die Macht übertragen wurde, 

schlug Thälmann der SPD einen Generalstreik vor, 

um Hitler zu stürzen, 

doch dazu kam es nicht mehr. 

Am 7. Februar des Jahres fand im Sporthaus Ziegenhals 

bei Königs Wusterhausen eine vom ZK einberufene 

Tagung der politischen Sekretäre, ZK-Instrukteure 

und Abteilungsleiter der KPD statt. 

Auf dem von Herbert Wehner vorbereiteten Treffen 

sprach Thälmann zum letzten Mal 

vor leitenden KPD-Funktionären 

zu der am 5. März 1933 bevorstehenden Reichstagswahl 

und bekräftigte die Notwendigkeit 

eines gewaltsamen Sturzes Hitlers 

durch das Zusammengehen aller linken 

und liberalen Parteien zu einer Volksfront.


Am Nachmittag des 3. März 1933 

wurde Thälmann festgenommen. 

Dem war eine gezielte Denunziation vorausgegangen. 

In den Tagen zuvor hatten allerdings 

vier weitere Personen ihr Wissen über Thälmann 

an die Polizei weitergegeben. 

Die Unterkunftsmöglichkeit in der Lützower Straße 

hatte Thälmann schon seit einigen Jahren 

gelegentlich und nun wieder 

seit Januar 1933 genutzt; 

sie zählte zwar nicht zu den sechs illegalen Quartieren, 

die der Apparat für Thälmann vorbereitet hatte, 

galt aber nicht als polizeibekannt. 

Thälmann hatte am 27. Februar 

eine Sitzung des Politbüros 

in einem Lokal in der Lichtenberger Gudrunstraße geleitet 

und war bei seiner Rückkehr über den Brand 

des Reichstages und die schlagartig 

einsetzenden Massenverhaftungen 

kommunistischer Funktionäre informiert worden. 

In den nächsten Tagen verließ er die Wohnung nicht mehr 

und stand nur noch über Mittelsmänner 

mit der restlichen Parteiführung in Verbindung. 

Für den 3. März plante Thälmann 

den Wechsel in eines der vorbereiteten 

illegalen Quartiere, ein Forsthaus 

bei Wendisch Buchholz. Beim Packen der Koffer 

wurde er von der Polizei überrascht. 

Thälmanns Festnahme war rechtswidrig, 

da seine nach Artikel 40a der Reichsverfassung 

als Mitglied des Ausschusses zur Wahrung 

der Rechte der Volksvertretung 

gewährleistete Immunität 

auch durch die Reichstagsbrandverordnung 

nicht aufgehoben worden war. 

Erst am 6. März stellte ein Berliner Staatsanwalt 

im Interesse der öffentlichen Sicherheit“ 

einen – formell ebenfalls rechtswidrigen – 

Haftbefehl aus, der dann einfach rückdatiert wurde.


Einige Ungereimtheiten im Zusammenhang 

mit der die KPD stark verunsichernden 

Festnahme Thälmanns waren nach 1933 

bereits Gegenstand von parteiinternen Untersuchungen. 

Zu diesen Auffälligkeiten zählte etwa, 

dass Thälmann trotz der offenen Verfolgung 

der Partei wochenlang ein- und dieselbe, 

für eine derartige Situation nicht vorgesehene 

Wohnung genutzt hatte, vor allem aber 

der erstaunliche Umstand, dass weder das Gebäude 

noch die Wohnung selbst 

von Angehörigen des Parteiselbstschutzes 

gesichert worden war. Dadurch liefen 

nach einigen Stunden auch noch 

Erich Birkenhauer, Thälmanns politischer Sekretär, 

und Alfred Kattner, der persönliche Kurier 

des Parteichefs, in die Arme der Polizei. 

Bei den KPD-Ermittlungen geriet insbesondere 

Hans Kippenberger ins Zwielicht, 

der als Leiter des Apparats die Verantwortung 

für die Sicherheit des Parteichefs trug 

und mit Blick auf die Ereignisse des 3. März 

auch ausdrücklich übernahm 

(„eine Katastrophe und eine Schande 

vor der ganzen Internationale“). 

In den folgenden Jahren kam es dennoch 

wiederholt zu Vertuschungsversuchen 

und gegenseitigen Verdächtigungen 

der mittel- und unmittelbar beteiligten Personen, 

die noch durch gezielte Desinformation 

und vor allem durch weitere Verhaftungserfolge 

der Gestapo angeheizt wurden. 

Dieser war es gelungen, Kattner 

in der Haft „umzudrehen“ 

und mit dessen Hilfe am 9. November 1933 

den Thälmann-Nachfolger John Schehr 

sowie am 18. Dezember auch Hermann Dünow, 

der Kippenberger abgelöst hatte, festzunehmen. 

Kattner, dem von der Gestapo obendrein 

eine tragende Rolle im geplanten Prozess 

gegen Thälmann zugedacht worden war, 

wurde am 1. Februar 1934 in Nowawes 

von Hans Schwarz, einem Mitarbeiter des Apparats, 

erschossen. Birkenhauer, dem Thälmann 

die Schuld an der Verzögerung 

seines Quartierwechsels und damit 

an seiner Festnahme gegeben hatte, 

und Kippenberger wurden 

im sowjetischen Exil hingerichtet, 

Hirsch kam in sowjetischer Haft ums Leben.


Die nationalsozialistische Justiz plante zunächst, 

Thälmann einen Hochverrats-Prozess zu machen. 

Hierfür sammelte sie intensiv belastendes Material, 

das die behauptete „Putschabsicht“ 

der KPD beweisen sollte. 

Ende Mai 1933 wurde Thälmanns „Schutzhaft“ 

aufgehoben und eine formelle Untersuchungshaft 

angeordnet. In diesem Zusammenhang 

wurde er vom Polizeipräsidium am Alexanderplatz 

in die Untersuchungshaftanstalt Moabit verlegt. 

Dieser Ortswechsel durchkreuzte 

den ersten einer Reihe von unterschiedlich 

konkreten Plänen, Thälmann zu befreien.


Thälmann wurde 1933 und 1934 

mehrfach von der Gestapo 

in deren Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße verhört 

und dabei auch misshandelt. 

Bei einem Verhör am 8. Januar 

schlug man ihm vier Zähne aus, 

anschließend traktierte ihn ein Vernehmer 

mit einer Nilpferdpeitsche. 

Am 19. Januar suchte Hermann Göring 

den zerschundenen Thälmann auf 

und ordnete seine Rückverlegung 

in das Untersuchungsgefängnis Moabit an. 

Die in dieser Phase entstandenen Verhörprotokolle 

wurden bis heute nicht aufgefunden 

und gelten als verloren. 

Thälmann blieb unterdessen lange 

ohne Rechtsbeistand; der jüdische Anwalt 

Friedrich Roetter, der sich seiner angenommen hatte, 

wurde nach kurzer Zeit 

aus der Anwaltschaft ausgeschlossen 

und selbst in Haft genommen. 

1934 übernahmen die Rechtsanwälte 

Fritz Ludwig (ein NSDAP-Mitglied) 

und Helmut R. Külz die Verteidigung Thälmanns. 

Vor allem Ludwig, der für ihn Kassiber 

aus der Zelle und Zeitungen und Bücher 

in die Zelle schmuggelte 

sowie die als Geheime Reichssache deklarierte 

Anklageschrift an Unterstützer 

im Ausland weiterleitete, vertraute Thälmann sehr. 

Über die Anwälte – daneben auch über Rosa Thälmann – 

lief ein Großteil der verdeckten Kommunikation 

zwischen Thälmann und der KPD-Führung. 

Mit Rücksicht auf das Ausland, vor allem aber, 

weil die Beweisabsicht der Staatsanwaltschaft 

erkennbar wenig gerichtsfest war 

und ein mit dem Reichstagsbrandprozess 

vergleichbares Desaster vermieden werden sollte, 

einigten sich die beteiligten Behörden 

im Laufe des Jahres 1935, 

von einer „justizmäßigen Erledigung“ 

Thälmanns Abstand zu nehmen. 

Am 1. November 1935 hob der II. Senat 

des Volksgerichtshofes die Untersuchungshaft auf, 

ohne das Verfahren als solches einzustellen, 

und überstellte Thälmann gleichzeitig 

als „Schutzhäftling“ an die Gestapo.


1936 erreichte die internationale Protestbewegung 

gegen die Inhaftierung Thälmanns einen Höhepunkt. 

Zu seinem 50. Geburtstag am 16. April 1936 

bekam er Glückwünsche aus der ganzen Welt, 

darunter von Maxim Gorki, Heinrich Mann, 

Martin Andersen Nexö und Romain Rolland. 

Im selben Jahr begann der Spanische Bürgerkrieg. 

Die XI. Internationale Brigade 

und ein ihr untergliedertes Bataillon 

benannten sich nach Ernst Thälmann.


1937 wurde Thälmann von Berlin 

in das Gerichtsgefängnis Hannover 

als „Schutzhäftling“ überführt. 

Thälmann bekam später eine größere Zelle, 

in der er jetzt Besuch empfangen konnte. 

Dies war ein Vorwand, 

um Thälmann in der Zelle abzuhören. 

Allerdings wurde ihm die Information 

über das heimliche Abhören zugespielt. 

Um sich dennoch frei „unterhalten“ zu können, 

nutzten er und seine Besucher 

kleine Schreibtafeln und Kreide.


Als Deutschland und die Sowjetunion 1939 

ihre Beziehungen verbessert hatten 

(Hitler-Stalin-Pakt),

setzte Stalin sich offenbar nicht 

für Thälmanns Freilassung ein. 

Nach der Befreiung seiner Familie 

durch die Rote Armee erfuhren 

die Angehörigen sogar, 

dass Thälmanns Rivale Walter Ulbricht 

alle ihre Bitten ignoriert und nicht für die Befreiung 

von Thälmann Position bezogen hatte.


Anfang 1944 schrieb Ernst Thälmann 

in Bautzen seine heute noch erhaltene Antwort 

auf die Briefe eines Kerkergenossen.


Die genauen Umstände von Thälmanns Tod sind unklar.



SIEBENTER GESANG


Pieck war der Sohn eines Kutschers. 

Er wuchs in Guben auf; 

sein Elternhaus stand im östlichen Teil der Stadt, 

dem nach 1945 polnischen Gubin. 

Nach Abschluss der Volksschule 

begann er 1890 eine Tischlerlehre 

und begab sich anschließend auf Wanderschaft. 

Dort kam der aus römisch-katholischem Hause stammende 

junge Mann erstmals in Kontakt 

mit der Arbeiterbewegung.


1894 wurde er Mitglied des gewerkschaftlichen 

Deutschen Holzarbeiterverbandes 

und 1895 trat er in die Sozialdemokratische 

Partei Deutschlands ein. 

Seit 1896 arbeitete er als Tischler in Bremen. 

In der SPD wurde er 1897 Hauskassierer 

und 1899 Stadtbezirksvorsitzender. 

1900 übernahm er die Funktion des Vorsitzenden 

der Zahlstelle Bremen des Holzarbeiterverbandes. 

1904 wurde er in das Bremer Gewerkschaftskartell 

delegiert und 1905 als Vertreter der 4. Klasse 

in die Bremische Bürgerschaft gewählt, 

der er bis 1910 angehörte. 

1905 war er auch Vorsitzender der Pressekommission 

und 1906 hauptamtlich Erster Sekretär 

der Bremer SPD. 

Pieck besuchte 1907/1908 die Reichsparteischule 

der SPD in Berlin, wo er unter den Einfluss 

Rosa Luxemburgs kam 

und 1910 Zweiter Sekretär 

des zentralen Bildungsausschusses der SPD wurde.


Während des Ersten Weltkrieges 

nahm er als entschiedener Gegner 

der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik 

an Konferenzen linker Sozialdemokraten teil. 

1915 wurde er zum Kriegsdienst einberufen. 

Auch als Soldat agitierte er gegen den Krieg 

und wurde vor ein Kriegsgericht gestellt. 

Bevor es zu einem Urteil kommen konnte, 

floh Pieck 1917 in den Untergrund nach Berlin, 

und als Mitglied des Spartakusbundes 

ging er später nach Amsterdam ins Exil.


Nach dem Krieg 1918 kehrte er nach Berlin zurück 

und wurde Gründungsmitglied 

der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). 

Er nahm am Spartakusaufstand 

(5. bis 12. Januar 1919) teil 

und wurde am 15. Januar 

mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verhaftet. 

Luxemburg und Liebknecht wurden ermordet; 

Pieck wurde freigelassen. 

Piecks Entkommen hatte Verdächtigungen zur Folge, 

die 1929 den KPD-Vorsitzenden 

Ernst Thälmann veranlassten, 

Pieck vor ein Ehrengericht der Partei zu stellen. 

Die KPD gab die Entscheidung nicht bekannt. 

Das Gericht hatte unter dem Vorsitz 

Hans Kippenbergers getagt, 

der 1937 in Moskau 

nach einem Geheimprozess hingerichtet wurde. 

Viel später behauptete der Offizier Waldemar Pabst, 

der seinen Soldaten den Befehl 

zur Ermordung von Liebknecht 

und Luxemburg gegeben hatte, 

er habe Pieck freigelassen, weil er ihn ausführlich 

über militärische Pläne sowie Verstecke 

führender Mitglieder der KPD informiert hatte.


1921 wählte ihn die KPD ins Exekutiv-Komitee 

der Kommunistischen Internationale; 

so lernte er Lenin kennen. 

Zur gleichen Zeit wurde er als Nachrücker 

von Adolph Hoffmann Abgeordneter 

des Preußischen Landtags, dessen Mitglied er 

bis zu seiner Wahl in den Reichstag 1928 blieb.


1922 war er Mitbegründer der Internationalen 

Roten Hilfe und wurde 1925 Vorsitzender 

der Roten Hilfe Deutschlands. 

Seine internationale Tätigkeit brachte ihm 

die Wahl ins Präsidium des Exekutiv-Komitees 

der Kommunistischen Internationale 1931.


Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers 

im Januar 1933 und der einsetzenden Verfolgung 

deutscher Kommunisten nahm Pieck 

am 7. Februar 1933 an der Funktionärstagung 

der KPD im Sporthaus Ziegenhals bei Berlin teil. 

Am 23. Februar 1933 trat Pieck 

zur Vorbereitung der Märzwahlen 

auf der letzten Großkundgebung der KPD 

im Berliner Sportpalast als Hauptredner auf. 

Im Mai 1933 musste er nach Paris ins Exil gehen. 

Im August 1933 stand Piecks Name 

auf der ersten Ausbürgerungsliste 

des Deutschen Reichs.


Die KPD war nun nur noch im Untergrund 

oder aus dem Ausland heraus tätig. 

Nach der Ermordung von John Schehr 

im Februar 1934 wurde Pieck 

als dessen Stellvertreter 

mit dem Parteivorsitz beauftragt. 

1935 wurde Pieck auf der Brüsseler Konferenz 

der KPD zum Parteivorsitzenden 

für die Dauer der Inhaftierung Thälmanns gewählt 

und verlegte sein Exil nach Moskau, 

wo er unter anderem für Radio Moskau arbeitete. 

Er überlebte den Großen Terror in den 1930er Jahren, 

dem ein großer Teil der nach Moskau geflüchteten 

deutschen Kommunisten zum Opfer fiel. 

1943 gehörte er zu den Initiatoren 

des Nationalkomitees Freies Deutschland.


Nachdem Pieck gemeinsam mit Angehörigen 

der Gruppe Ulbricht und anderer KPD-Kader 

von Stalin Instruktionen erhalten hatte, 

kehrte er am 1. Juli 1945 nach Berlin zurück. 

Es war sein Auftrag, die Durchsetzung 

der hegemonialen Macht der Kommunisten 

bei der Errichtung einer staatlichen Struktur 

in der Sowjetischen Besatzungszone zu bewirken. 

Zunächst forcierte er den Prozess 

der Zwangsvereinigung von SPD und KPD 

zur SED (Sozialistischen Einheitspartei).


Im April 1946 wurde er gemeinsam 

mit Otto Grotewohl (SPD) 

Vorsitzender der SED 

und nach Gründung der Deutschen 

Demokratischen Republik (DDR) 

im Oktober 1949 deren erster und einziger Präsident; 

er blieb dies bis zu seinem Tode 1960. 

Der eigentliche Machthaber der DDR 

war jedoch bereits Walter Ulbricht 

als Generalsekretär und Erster Sekretär 

des ZK der SED. Nach Piecks Tod 

wurde der Staatsrat der DDR 

als Nachfolgeorgan des Amtes 

des Präsidenten geschaffen.



ACHTER GESANG


Als erstes Kind des gelernten Schneiders 

Ernst August Ulbricht 

und dessen Ehefrau Pauline Ida 

wurde Walter Ulbricht 1893 in Leipzig geboren. 

Ulbrichts Elternhaus war aktiv 

sozialdemokratisch geprägt. 

Nach seiner Volksschulzeit begann er 1907 

eine Lehre als Möbeltischler, 

die er 1911 erfolgreich abschloss.


Bereits 1908 trat Ulbricht 

dem Arbeiterjugendbildungsverein Alt-Leipzig bei, 

1912 wurde er Mitglied der SPD. 

Als Jungfunktionär hielt Ulbricht Vorträge 

vor Jugendgruppen der SPD 

und übernahm ehrenamtliche Tätigkeiten 

beim Arbeiterbildungsinstitut 

sowie in der Leipziger Arbeiterjugendbewegung. 

Im Jahr 1913 wurde er zum engsten SPD-Funktionärskreis, 

der so genannten „Korpora“, zugelassen.


Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 

verfasste und veröffentlichte Walter Ulbricht 

als Mitglied des linken Flügels der SPD 

unter Führung von Karl Liebknecht 

und Rosa Luxemburg zahlreiche Flugblätter 

mit Aufrufen zur Beendigung des Krieges. 

Auf einer Funktionärsversammlung 

der SPD „Groß-Leipzig“ im Dezember 1914 

forderte Ulbricht, die Reichstagsabgeordneten der SPD 

sollten künftig gegen weitere Kriegskredite stimmen. 

Er wurde für seine Haltung persönlich angegriffen, 

der Antrag wurde abgelehnt.


Von 1915 bis 1918 diente Ulbricht 

als Soldat an der Ostfront 

und auf dem Balkan in Serbien 

und Mazedonien als Gefreiter; 

1917/18 war er wegen Malaria im Lazarett in Skopje. 

Im Jahr 1917 trat er der USPD bei, 

einer Abspaltung der SPD. 

Obwohl er als Soldat nicht agitatorisch aktiv wurde, 

galt er den Militärbehörden als politisch verdächtig. 

Bei seiner Verlegung an die Westfront 

desertierte Ulbricht 1918 auf dem Transport, 

wurde wieder aufgegriffen 

und zu zwei Monaten Haft verurteilt. 

Kurze Zeit nach seiner Entlassung 

und erneuten Verwendung als Soldat in Brüssel 

wurde er wegen des Besitzes 

von gegen den Krieg gerichteten Flugblättern 

in Belgien erneut festgesetzt. 

Einem weiteren Militärgerichtsverfahren 

konnte Ulbricht sich bei Ausbruch 

der Novemberrevolution 

durch Flucht und Desertion entziehen.


Während der Novemberrevolution 1918 

war Ulbricht Mitglied des Soldatenrates 

des XIX. Armeekorps in Leipzig. 

Seit 1920 war er Mitglied der KPD, 

stieg jedoch als Parteifunktionär rasch auf. 

So organisierte er den Parteibezirk Groß-Thüringen neu. 

Ende 1920 hielt er sich anlässlich des IV. Weltkongresses 

der Kommunistischen Internationale (Komintern), 

für die er ab 1924 tätig war, 

erstmals in Moskau und Petrograd auf. 

Ulbricht vertrat das Organisationsprinzip 

der Betriebszellen im Gegensatz 

zur bisher üblichen Gliederung nach Wohnortgruppen. 

Von 1926 bis 1929 war er sächsischer Landtagsabgeordneter 

und ab 1928 für den Wahlkreis Westfalen-Süd 

auch Mitglied des Reichstags 

und kurz darauf auch im Zentralkomitee (ZK) seiner Partei 

und ab 1929 Politischer Leiter des KPD-Bezirks 

Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark.

In dieser Funktion war er maßgeblicher Befürworter 

der Planung der Morde auf dem Berliner Bülowplatz 

im August 1931. Zwischenzeitlich 

war Ulbricht im Jahr 1928 Mitglied 

der Kommunistischen Partei 

der Sowjetunion (KPdSU) geworden. 

Im November 1932 war er einer 

der Mitorganisatoren des wilden Streiks 

bei der Berliner Verkehrsgesellschaft, 

hinter dem neben der KPD auch die NSDAP stand. 

Bei einer Massenkundgebung trat Ulbricht 

gemeinsam mit dem NSDAP-Gauleiter 

von Berlin Joseph Goebbels auf.


Nach der Machtübernahme der NSDAP 

im Januar 1933 nahm Ulbricht 

am 7. Februar 1933 an der geheimen 

Funktionärstagung der KPD 

im Sporthaus Ziegenhals bei Berlin teil. 

Er führte die Arbeit der KPD in der Illegalität weiter 

und wurde daher steckbrieflich gesucht, 

weswegen er nach Paris emigrierte.


Nach seinem Aufenthalt in Paris und Prag 

zog er im Jahr 1938 nach Moskau. 

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 

verteidigte Ulbricht den deutsch-sowjetischen 

Nichtangriffspakt mit dem Argument, 

das Hitlerregime werde unter anderem 

wegen der Stärke der Roten Armee 

nun im Gegensatz zu England 

notgedrungen einen friedlichen Weg einschlagen. 

Die deutsche Regierung erklärte sich 

zu friedlichen Beziehungen zur Sowjetunion bereit, 

während der englisch-französische Kriegsblock 

den Krieg gegen die sozialistische Sowjetunion will“, 

so Ulbricht. Im Jahr 1940 verurteilte Walter Ulbricht 

in der von ihm herausgegebenen Stockholmer Zeitschrift 

Welt die Vorschläge anderer Widerständler, 

England im Krieg gegen Deutschland zu unterstützen. 

Er schrieb, dass fortschrittliche Kräfte 

nicht „den Kampf gegen den Terror 

und gegen die Reaktion in Deutschland führen“, 

nur um stattdessen dem „englischen Imperialismus“ 

zum Sieg zu verhelfen.


Unmittelbar nach Deutschlands Überfall 

auf die Sowjetunion im Juni 1941 

setzte die Kominternführung Ulbricht 

beim deutschsprachigen Programm 

von Radio Moskau ein. 

Im Schützengraben forderte er deutsche Soldaten 

in der Schlacht von Stalingrad 

über Megaphon zur Kapitulation 

und zum Überlaufen auf. 

In sowjetischen Kriegsgefangenenlagern 

versuchte er, deutsche Soldaten 

für den Aufbau einer deutschen Nachkriegsordnung 

im Sinne der KPD zu gewinnen. 

Er war 1943 Mitbegründer 

des „Nationalkomitees Freies Deutschland“. 

Nach einer Idee der politischen Abteilung 

der Roten Armee sollten kommunistische Emigranten 

und deutsche Kriegsgefangene 

im Sinne der Volksfronttaktik zusammenarbeiten.


Am 30. April 1945 kehrte Ulbricht als Chef 

der nach ihm benannten Gruppe Ulbricht 

in das zerstörte Deutschland zurück 

und organisierte in der Sowjetischen Besatzungszone 

die Neugründung der KPD 

und 1946 den Vereinigungsparteitag 

von KPD und SPD zur SED in Berlin. 

Von 1946 bis 1951 war Ulbricht Abgeordneter 

des Landtages der Provinz Sachsen. 

Im Landtag gehörte er der Fraktion der SED an 

und war Mitglied des Ausschusses für Recht und Verfassung 

und des Wirtschaftsausschusses.


Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 

wurde er stellvertretender Vorsitzender 

im Ministerrat unter dem Vorsitzenden Otto Grotewohl, 

übertraf jedoch diesen und Staatspräsident Wilhelm Pieck 

an Macht. Nach dem III. Parteitag der SED 

wurde Ulbricht am 25. Juli 1950 

vom ZK zum Generalsekretär des ZK der SED gewählt, 

einer Position, die 1953 in Erster Sekretär 

des ZK der SED umbenannt wurde.


Nachdem durch die strikte Ablehnung der Stalin-Noten 

und den Deutschlandvertrag deutlich geworden war, 

dass sich die westlichen Regierungen 

nicht davon abhalten ließen, 

den westdeutschen demokratischen Teilstaat aufzubauen, 

setzte Ulbricht im Juli 1952 

den Aufbau des Sozialismus nach sowjetischem Muster 

in der DDR durch. Kurz zuvor hatte er sich 

diesen Kurs von Josef Stalin, 

dem eigentlichen Machthaber in der DDR, 

genehmigen lassen. Auf der II. Parteikonferenz 

der SED – Parteitage wurden erst wieder 

ab 1954 durchgeführt – erklärte Ulbricht:


Die politischen und die ökonomischen Bedingungen 

der Arbeiterklasse sowie das Bewusstsein 

der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Werktätigen 

sind so weit entwickelt, dass 

der Aufbau des Sozialismus 

zur grundlegenden Aufgabe 

in der Deutschen Demokratischen Republik geworden ist.“


In der Folge wurde die Abriegelung 

der innerdeutschen Grenze forciert, 

die bereits Ende Mai 1952 

vom Ministerrat beschlossen worden war. 

Auch die Kasernierte Volkspolizei, 

die erste Armee der DDR, 

war kurz vorher gegründet worden. 

Sie wurde später (1956) 

zur Nationalen Volksarmee ausgebaut. 

Das 1950 eingerichtete Ministerium 

für Staatssicherheit wurde gleichfalls ausgebaut 

und verschärfte seine Tätigkeit 

gegen echte und vermeintliche Staatsfeinde, 

insbesondere gegen die Jungen Gemeinden der Christen; 

die Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat 

wurde eingestellt. Die Länder wurden abgeschafft, 

seitdem wurde die DDR zentralistisch regiert. 

Die Verstaatlichung von Wirtschaftsbetrieben 

wurde vorangetrieben, wobei nach sowjetischem 

Vorbild ein besonderes Gewicht 

auf den Aufbau einer Schwerindustrie gelegt wurde. 

Diesem Ziel wurde der Ausbau 

der Konsumgüterindustrie nachgeordnet. 

Auch begann die Kollektivierung der Landwirtschaft, 

bei der Ulbricht indes auf Schwierigkeiten stieß: 

Erst 1960 waren alle Landwirte 

einer Landwirtschaftlichen 

Produktionsgenossenschaft beigetreten.


Nach dem Tod Josef Stalins am 5. März 1953 

war die Position Ulbrichts zeitweise stark gefährdet, 

da er als Archetyp eines Stalinisten galt. 

Auch wurde ihm der um ihn betriebene 

Personenkult vorgeworfen, insbesondere 

im Zusammenhang mit seinem 60. Geburtstag 

am 30. Juni 1953, für den aufwändige 

Jubelfeiern geplant waren, 

auf die Ulbricht dann verzichtete. 

Der vor dem Geburtstag (unter Beteiligung 

namhafter Kulturschaffender) hergestellte Film 

Baumeister des Sozialismus – Walter Ulbricht 

blieb bis zum Ende der DDR unter Verschluss.


Paradoxerweise rettete ihn der Volksaufstand 

des 17. Juni 1953, der durch den von Ulbricht 

befohlenen forcierten Aufbau des Sozialismus 

mit ausgelöst worden war. Die Sowjetunion 

hätte seine geplante Absetzung 

als Schwächezeichen verstanden, 

jedoch wurde eine schon vorgestellte Briefmarke 

mit Ulbrichts Porträt für das Standardporto 

eines Briefes der DDR nicht ausgegeben. 

Die mangelnde Rückendeckung 

seiner innerparteilichen Rivalen 

seitens der Besatzungsmacht stärkte seine Position, 

so dass er den politischen Machtkampf 

innerhalb der SED für sich entscheiden konnte. 

1960 wurde er Vorsitzender 

zweier neu geschaffener Gremien, 

des Nationalen Verteidigungsrates und des Staatsrates, 

der nach dem Tode Wilhelm Piecks 

das Amt des Präsidenten der DDR ersetzte. 

Ulbricht war damit Staatsoberhaupt der DDR 

und hatte die entscheidenden Herrschaftsfunktionen 

über Staat und Partei auf seine Person vereint. 

Innerparteiliche Kritiker wurden ab 1958 

als „Fraktionsbildner“ diffamiert 

und politisch ausgeschaltet. Ulbricht 

hatte die Machtfülle eines Diktators besessen.


Der Bau der Berliner Mauer 

durch die DDR 1961 fand unter Ulbrichts 

politischer Verantwortung statt, 

nachdem er als Ergebnis 

harter Verhandlungen die Moskauer Staatsführung 

von der Notwendigkeit ihres Baues 

aus Sicht der DDR-Regierung 

(wegen der damaligen Abwanderung 

der gut Ausgebildeten und der Elite, 

des so genannten „Ausblutens“) überzeugt hatte.


Zunächst hatte er sich auf einer Pressekonferenz 

am 15. Juni 1961 bemüht, 

derartige Absichten öffentlich zu dementieren, 

auch indem er auf die Frage 

einer westdeutschen Journalistin einging.


Frage: „Ich möchte eine Zusatzfrage stellen. 

Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung 

einer freien Stadt Ihrer Meinung nach, 

dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor 

errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, 

dieser Tatsache mit allen Konsequenzen 

Rechnung zu tragen?“


Ulbricht: „Ich verstehe Ihre Frage so, 

dass es Menschen in Westdeutschland gibt, 

die wünschen, dass wir die Bauarbeiter 

der Hauptstadt der DDR mobilisieren, 

um eine Mauer aufzurichten, ja? 

Äh, mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht, 

da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt 

hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen, 

und ihre Arbeitskraft dafür voll ausgenutzt wird, 

voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, 

eine Mauer zu errichten!“


Obwohl nicht speziell nach der Art 

der Abriegelungsmaßnahmen gefragt wurde, 

war Ulbricht selbst damit der erste, 

der den Begriff „Mauer“ diesbezüglich in den Raum stellte. 

Ob er dies aus einer Unachtsamkeit heraus 

oder mit Absicht tat, konnte 

nie abschließend geklärt werden.


Zwei Monate später, am Sonntag, 

dem 13. August 1961, begannen nachts 

gegen 1 Uhr Streitkräfte der DDR, 

die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin 

sowie der zwischen West-Berlin und der DDR 

auf ihrer vollen Länge praktisch lückenlos 

und zur gleichen Zeit mit einem gewaltigen Aufwand 

an Menschen und Material abzuriegeln 

und Sperranlagen zu errichten.


Beim Aufbau der DDR forderte Ulbricht 

auf dem III. Parteitag der SED 

die Abkehr vom (westlichen, 

im Bauhaus in Weimar begründeten) Formalismus. 

Die Architektur habe der Form nach national zu sein. 

Diese gespaltene Haltung spiegelte sich 

in der Gründung einer Deutschen Bauakademie 

und der Zeitschrift Deutsche Architektur, 

sowie etlichen widersprüchlichen 

Abbruch- und Baumaßnahmen wider. 

Aus ideologischen Gründen 

und vor dem Hintergrund des Aufbaus 

sozialistischer Stadtzentren 

wurden während der Herrschaft Walter Ulbrichts 

in den 1950er und 1960er Jahren 

zahlreiche wiederaufbaufähige Kriegsruinen 

bedeutsamer und stadtbildprägender 

historischer Gebäude abgerissen. 

So wurden z. B. das Berliner Schloss (1950) 

und das Potsdamer Stadtschloss (1959) gesprengt. 

Etwa 60 Kirchenbauten, 

darunter einige intakte oder wiederaufgebaute, 

wurden gesprengt oder abgerissen, 

darunter 17 Kirchen in Ostberlin. 

Die Ulrichkirche in Magdeburg wurde 1956 gesprengt, 

die Dresdner Sophienkirche 1963, 

die Potsdamer Garnisonkirche am 23. Juni 1968 

und die intakte 700 Jahre alte Leipziger 

Universitätskirche am 30. Mai 1968. 

Dabei kam es nach Bürgerprotesten 

gegen die Kirchensprengung auch zu Inhaftierungen. 

Viele der Neubauten wurden während der 1950er Jahre 

im Stil des Sozialistischen Klassizismus errichtet, 

zum Beispiel die Stalinallee in Berlin.


Ulbricht sah den Sozialismus 

als eigenständige längerdauernde Phase 

und setzte sich damit auch von anderen Ländern ab. 

Einen in diesem Sinne 

nationalen Weg zum Sozialismus“ 

spiegeln auch die Verwendung von Elementen 

der früheren Uniform der Wehrmacht 

bei den NVA-Uniformen, 

nach preußischen Militärs benannte Orden der NVA 

wie dem Blücher- und dem Scharnhorst-Orden 

sowie der später unter Honecker 

nicht mehr gesungene Text 

der DDR-Hymne wider.


Nach dem Mauerbau 1961 

öffnete sich die DDR zunächst nach innen, 

insbesondere gegenüber der Jugendkultur in der DDR. 

Ulbricht beabsichtigte eine möglichst umfassende 

eigene Jugendkultur der DDR zu schaffen, 

die weitgehend unabhängig 

von westlichen Einflüssen sein sollte. 

Bekannt wurde seine auf das „Yeah, Yeah, Yeah“ 

der Beatles anspielende Aussage 

Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, 

der vom Westen kommt, nun kopieren müssen? 

Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, 

und wie das alles heißt, ja, 

sollte man doch Schluss machen.“


Prägend für die Neugliederung der DDR 

war die Ausschaltung und Beseitigung 

der Selbstverwaltung durch Auflösung der fünf Länder 

und Neugliederung in 14 Bezirke, 

zu denen Ost-Berlin als „Hauptstadt der DDR“ hinzukam. 

Die Ende der 50er Jahre erhöhten Planzielerwartungen, 

die weiter forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft 

und die durch Drohungen Chruschtschows verschärfte 

Berlin-Krise machten die Lage der DDR prekär. 

Diese wurde durch das bekannteste 

durch Walter Ulbricht begonnene Bauwerk, 

die paradoxerweise dem ungeliebten Formalismus 

verhaftete Berliner Mauer, 

1961 wieder stabilisiert.


Ulbricht versuchte seit 1963 

mit dem Neuen Ökonomischen System 

der Planung und Leitung – 

später kurz Neues Ökonomisches System – 

eine größere Effizienz der Wirtschaft zu erreichen. 

Der gesamtheitliche Plan sollte bestehen bleiben, 

aber die einzelnen Betriebe sollten größere

Entscheidungsmöglichkeiten bekommen. 

Es ging dabei nicht nur um den Anreiz 

durch eigene Verantwortung, sondern auch darum, 

dass konkrete Fragen vor Ort 

besser entschieden werden können.


Mit der Modernisierung des ökonomischen Systems 

gingen Reformen im gesellschaftlichen Bereich 

(etwa durch das Bildungsgesetz von 1965) einher. 

Die DDR nahm Züge einer „sozialistischen 

Leistungsgesellschaft“ an, 

in der nicht mehr nur politische Rechtgläubigkeit, 

sondern auch fachliche Qualifikationen 

über die berufliche und damit 

gesellschaftliche Stellung entscheiden sollte. 

Zunehmend rückten auch Fachleute 

in politische Führungspositionen auf. 

Verfassungsrechtlich wurden die gesellschaftlichen 

und wirtschaftlichen Veränderungen 1968 

in der zweiten Verfassung der DDR festgeschrieben.


Einer der Interessenschwerpunkte Ulbrichts 

war die wissenschaftliche Leitung 

der Wirtschaft und Politik, 

unter anderem mittels „Kybernetik“, 

Elementen der Psychologie und Soziologie, 

aber vor allem stärker 

auf naturwissenschaftlich-technischer Basis. 

Grundpfeiler dessen war eine umfassende 

Computerisierung und der Ausbau 

der Elektronischen Datenverarbeitung. 

Das NÖS sah auch die Verbindung der Ökonomie 

mit der Wissenschaft vor, was in der Praxis hieß, 

dass mehr und mehr Fachleute 

die wichtigen Entscheidungen trafen 

und einzelne Betriebe und Unternehmen 

eine größere Selbständigkeit erlangten. 

Im Frühjahr 1972 bestanden noch etwa 

rund 11.400 mittelständische Betriebe in der DDR, 

unter ihnen circa 6500 halbstaatliche Betriebe, 

die insbesondere Konsumgüter 

und Dienstleistungen anboten, 

was von vielen Mitgliedern der SED 

nicht gern gesehen wurde.


Schließlich kam es innerhalb der SED 

zu größerem Widerstand gegen das NÖS. 

Der Führer dieser Opposition, 

die sich der Unterstützung Breschnews erfreute, 

war Erich Honecker, der wiederum 

auf die Stimmen zahlreicher Parteimitglieder 

hoffen konnte und 1972 eine letzte 

große Verstaatlichungswelle durchsetzte.


Ulbricht ignorierte „Widersprüche im Sozialismus“, 

etwa bei den real vergleichsweise schlechten Beziehungen 

der DDR zu den kleineren „Bruderstaaten“. 

Sein dafür verwendeter Begriff „sozialistische

Menschengemeinschaft“ wurde nach seinem Tod 

schnell fallengelassen. Wichtig und entscheidend 

für die DDR wie auch die politische Karriere Ulbrichts 

selbst war das Verhältnis zur Sowjetunion. 

Mit Hinweis auf die vergleichsweise großen 

wirtschaftlichen Erfolge propagierte Ulbricht 

Ende der 60er Jahre das „Modell DDR“ 

als Vorbild aller entwickelten 

realsozialistischen Industriegesellschaften 

und geriet darüber in ideologische Konflikte 

mit der KPdSU. 

Der Niederschlagung des Prager Frühlings 

stand Ulbricht wiederum positiv gegenüber. 

Dem tschechoslowakischen Botschafter 

hatte er vorher vorgeworfen, 

mit ihrer entschiedenen Aufarbeitung 

der eigenen Vergangenheit 

würde die tschechoslowakische KP 

den anderen sozialistischen Staaten 

in den Rücken fallen:


Jetzt liefern Sie das Material 

für den psychologischen Krieg des Imperialismus 

gegen den Sozialismus. 

Jeden Tag bekommt die Weltpresse 

von Ihnen Material für den Kampf 

gegen das sozialistische Weltsystem. 

Während in Westdeutschland die Jugendlichen 

mutig auftreten, vom Imperialismus 

geschlagen und getötet werden, 

liefern Sie Material über den 'Terror 

der Kommunisten'. Das ist zu viel, 

das ist schlimmer als zu Zeiten Chruschtschows.“


Damit meinte Ulbricht die Auseinandersetzung 

mit dem Stalinismus und dem damit 

verbundenen Personenkult, 

gegen die er selbst sich verwahrte, 

da er seine Position gefährdet sah. 

Beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts 

in die ČSSR und der militärischen Zerschlagung 

der Reformbewegung, die als „Konterrevolution“ 

oder „Sozialdemokratismus“ denunziert wurde, 

nahm die Nationale Volksarmee nicht teil, 

auch wenn die offizielle DDR-Propaganda 

bis Ende der 1980er Jahre behauptete, 

sie hätte an der Invasion teilgenommen.


Auf Ulbricht geht der Standpunkt 

der DDR-Führung zurück, 

dass es normale diplomatische Beziehungen 

zwischen der DDR 

und der Bundesrepublik Deutschland 

nur geben könne, wenn beide Staaten 

die volle Souveränität des jeweils anderen Staates 

anerkannten (Ulbricht-Doktrin). 

Dies stand im Gegensatz zur bundesdeutschen 

Hallstein-Doktrin, der zufolge 

die Bundesrepublik die Kontakte 

zu einem Staat abbricht, der die DDR anerkennt.


Ab 1969 kam es zu Streitigkeiten 

mit Mitgliedern des Politbüro der SED 

zur weiteren Wirtschafts- und Außenpolitik der DDR. 

Ulbricht war im Rahmen der Entspannungspolitik 

von Bundeskanzler Willy Brandt bereit, 

die Verhandlungen mit der Bundesrepublik 

über eine völkerrechtliche Anerkennung 

zurückzustellen. Er erhoffte sich 

von der neuen Entspannungspolitik 

der Bundesregierung wirtschaftliche Vorteile 

für die DDR. Da die Mehrheit 

im Politbüro nicht dieser Meinung folgte, 

kam es ab 1970 zur Schwächung 

seiner Position in der Partei. 

Offiziell wurde in der DDR bis 1989 behauptet, 

Ulbricht habe sich den deutschlandpolitischen

Entspannungsbemühungen zwischen 

der neuen sozialliberalen Bundesregierung 

und der Sowjetunion widersetzt.


Die Unterstützung der sowjetischen Führung 

unter Leonid Breschnew verlor er aber bereits 

ab 1967, als er die These aufstellte, 

die DDR befinde sich auf dem Weg 

in das „entwickelte gesellschaftliche 

System des Sozialismus“ 

und dies stelle eine eigenständige 

Gesellschaftsform dar. 

Hierbei wollte er auch mit der KPdSU „gleichziehen“, 

die behauptete, sie habe in der Sowjetunion 

den Sozialismus bereits realisiert 

und befinde sich auf dem Weg zum Kommunismus. 

Damit stellte Ulbricht einen Monopolanspruch 

der KPdSU auf deren Auslegung 

der marxistisch-leninistischen Grundsätze in Frage 

und beanspruchte für die SED bzw. für die DDR, 

ein Vorbild für die anderen Ostblockstaaten 

bei der Verwirklichung des Sozialismus 

in einem industrialisierten Land zu sein. 

Dafür wurde er von der sowjetischen Parteiführung 

und Gesellschaftswissenschaftlern stark kritisiert.


Bei einem Gespräch zwischen Breschnew 

und Erich Honecker am 28. Juli 1970 in Moskau 

wurde vereinbart, dass Ulbricht 

die Macht in der DDR abzugeben habe. 

Bei der 14. Tagung des SED-Zentralkomitees 

vom 9. bis 11. Dezember 1970 

wurde dann über die Wirtschaftspolitik diskutiert 

und die akuten Versorgungsprobleme, 

welche man für die schlechte Stimmung 

in der Bevölkerung gegenüber der SED 

verantwortlich machte, allein auf die Politik 

Ulbrichts geschoben. Zugleich 

wurden sein Führungsstil und seine Alleingänge 

in der Deutschlandpolitik kritisiert. 

Am 21. Januar 1971 schrieben dann 13 

(der damals 20) Mitglieder und Kandidaten 

des Politbüros der SED 

einen siebenseitigen geheimen Brief an Breschnew. 

Mitverfasser dieses als „Geheime Verschlusssache“ 

deklarierten Briefes waren u. a. Willi Stoph, 

Erich Honecker und Günter Mittag. 

In diesem stellten sie dar, dass Ulbricht 

nicht mehr in der Lage sei, 

die wirtschaftlichen und politischen Realitäten 

richtig einzuschätzen und mit seiner Haltung 

gegenüber der Bundesrepublik eine Linie verfolge, 

die das zwischen der SED und der KPdSU 

abgesprochene Vorgehen empfindlich störe. 

Sie schlugen Breschnew vor, die Entmachtung Ulbrichts 

in der Art vorzunehmen, wie zwischen Honecker 

und ihm im Juli 1970 besprochen. 

Am 29. März 1971 reiste Ulbricht letztmals, 

ohne das zu wissen, an der Spitze 

einer SED-Delegation 

zum XXIV. Parteitag der KPdSU nach Moskau. 

In seiner Grußrede am 31. März 1971 

erinnerte er die dortigen Delegierten daran, 

dass er zu den wenigen Anwesenden zähle, 

die Lenin noch persönlich gekannt hätten, 

und stellte die DDR als Modell 

für die industriell entwickelten 

sozialistischen Länder dar. 

Angesichts der bekannten Probleme in der DDR 

wurden seine Äußerungen jedoch von den Zuhörern 

in einer Mischung aus Skepsis 

und Empörung aufgenommen. 

Bei persönlichen Gesprächen 

legte Breschnew Ulbricht den Rücktritt nahe; 

er machte ihm klar, dass Ulbricht 

mit keiner weiteren Unterstützung 

durch die Sowjetunion zu rechnen habe 

und dass auch die Mehrheit des Politbüros 

der SED gegen ihn stand.


Am 3. Mai 1971 erklärte Ulbricht dann 

gegenüber dem Zentralkomitee der SED 

aus gesundheitlichen Gründen“ 

seinen Rücktritt von fast allen seinen Ämtern. 

Wie bereits in den Absprachen mit Breschnew 

vorgesehen, wurde als Nachfolger 

der damals 58-jährige Erich Honecker nominiert. 

Dieser wurde dann auch auf dem VIII. Parteitag der SED 

(1971 in Ost-Berlin) zum Ersten Sekretär des ZK gewählt. 

Einzig das relativ einflusslose Amt des Vorsitzenden 

des Staatsrates behielt Ulbricht 

bis an sein Lebensende. 

Außerdem erhielt er das neu geschaffene Ehrenamt 

des „Vorsitzenden der SED“. 

Er starb am 1. August 1973 

im Gästehaus der Regierung der DDR am Döllnsee, 

während der X. Weltfestspiele 

der Jugend und Studenten. 

Die Eröffnung der Weltfestspiele 

fand im ehemaligen „Walter-Ulbricht-Stadion“ 

in Ost-Berlin statt, das wenige Tage zuvor 

in „Stadion der Weltjugend“ 

umbenannt worden war. 

Die beginnende Tilgung seines Namens 

aus der DDR-Geschichtsschreibung 

und dem öffentlichen Leben 

durch Umbenennungen von Betrieben, 

Institutionen und Einrichtungen 

hatte Ulbricht schon 1972 

mit der Entfernung seines Namens 

aus der Bezeichnung der Akademie 

für Staats- und Rechtswissenschaft 

in Potsdam erlebt.


Ulbricht erhielt ein Staatsbegräbnis: 

Der Staatsakt am frühen Nachmittag 

des 7. August 1973 fand im Festsaal 

des Staatsratsgebäudes statt, 

und Honecker hielt die Gedenkansprache. 

Auf einer Lafette wurde der Sarg Ulbrichts 

dann am späten Nachmittag 

durch ein Ehrenspalier der Nationalen Volksarmee 

in das Krematorium Berlin-Baumschulenweg überführt. 

Soldaten hatte entlang der Straße Aufstellung genommen, 

auch Werktätige waren aus Betrieben 

an die Strecke beordert worden. 

Am 17. September wurde Ulbrichts Urne 

im Rondell der Gedenkstätte der Sozialisten 

auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt.




NEUNTER GESANG


Sein Vater Wilhelm Honecker war Bergarbeiter 

und heiratete 1905 Caroline Catharina Weidenhof. 

Zusammen hatten sie sechs Kinder.


Erich Honecker wurde in Neunkirchen (Saar) geboren; 

seine Familie zog wenig später 

in den Neunkircher Stadtteil Wiebelskirchen. 

Er besuchte die evangelische Grundschule. 

1922 wurde er noch vor seinem zehnten Geburtstag 

in der fünfzig Mitglieder zählenden 

kommunistischen Kindergruppe 

von Wiebelskirchen untergebracht, 

die auch seine Geschwister besuchten 

und der später in Jung-Spartakus-Bund umbenannt wurde. 

Nach der dritten Klasse wechselte er 

in die evangelische Hauptschule, 

die er 1926 nach der achten Klasse verließ, 

womit automatisch seine Mitgliedschaft 

im Jung-Spartakus-Bund endete.


Als Bergmannbauernfamilie nahmen die 

in ihrem Revier des Saarlandes 

familiär eng vernetzten Honeckers, 

die als Hausbesitzer und Vermieter, 

mit Obst- und Gemüsegarten 

und einer Agrarparzelle 

zu den wohlhabenderen Bergleuten 

in Wiebelskirchen zählten, 

eine materiell vergleichsweise gut gesicherte Position ein, 

die sich, konträr zu den späteren Darstellungen 

Erich Honeckers, von der Not 

der im Deutschen Reich verelendeten Arbeitermassen 

stark unterschied: Sie konnten 

ihren kleinen Besitz 

von Generation zu Generation weitergeben, 

besaßen hinter dem Haus Stallungen für eine Kuh 

und hielten Ziegen, Kaninchen 

und zeitweise ein oder zwei Schweine. 

Den Steckrübenwinter 1916/17, 

der zu einer reichsweiten Hungersnot führte, 

überstand die Familie Honecker 

durch ihre bescheidene Landwirtschaft, 

die die Ernährungslage der Familie 

während der Kriegsjahre aufbesserte, 

während der Vater Wilhelm Honecker 

als Matrose an der Front kaum eingesetzt wurde. 

Entgegen den Darstellungen Erich Honeckers 

war sein Vater nicht an der Revolution 

in Kiel beteiligt, und kehrte in Wahrheit 

nicht erst Ende 1918, 

sondern bereits Ende Juli 1917 

als sogenannter „Reklamierter“ 

nach Wiebelskirchen zurück, 

nachdem die Oberste Heeresleitung 

den Abzug von 40.000 Bergarbeitern 

von der Front angeordnet hatte, 

weil deren ziviler Einsatz unter Tage 

wegen der zwischenzeitlich dramatischen 

Brennstoffknappheit wichtiger 

als ihr Dienst als Soldaten geworden war. 

Wilhelm Honecker trat auch nicht, 

wie von seinem Sohn behauptet, 

schon in Kiel der USPD bei, 

sondern erst nach seiner Heimkehr ins Saarland, 

wo die USPD erst Anfang 1918 entstanden war.


Die im Saargebiet paritätisch 

von SPD- und USPD-Vertretern gebildeten 

Arbeiter- und Soldatenräte wurden bereits 

am 24. November von der ins Saargebiet 

einmarschierenden französischen Armee aufgelöst. 

Durch das im Versailler Vertrag integrierte 

Saarstatut wurde ein völkerrechtlich 

neues Gebilde geschaffen, 

das fünfzehn Jahre lang wirtschaftlich 

in das französische Zoll- und Währungsgebiet 

eingegliedert wurde, während das Saargebiet 

politisch von einer vom Völkerbund 

eingesetzten Regierungskommission 

beherrscht wurde. Die Familie Honecker 

behielt die deutsche Staatsbürgerschaft bei, 

stand aber dem katholischen Milieu fern, 

dem die Mehrheit der Saarbevölkerung angehörte, 

und wurde vom sich herausbildenden 

linksproletarischen Milieu angezogen.


Als Honecker nach der Schulzeit 

wegen der verschlechterten Wirtschaftslage 

keine Lehrstelle fand, drängten ihn seine Eltern 

zu Ostern 1926, eine anderweitige Beschäftigung 

auf dem ihm von der Kinderlandverschickung her 

bekannten Hof des Bauern Wilhelm Streich, 

im hinterpommerschen Neudorf, 

in der Nähe der Kreisstadt Bublitz, anzunehmen. 

Honeckers Memoiren zufolge habe er sich dort 

zwei Jahre lang nur für freies Essen 

und freie Kleidung aufgehalten, 

um in der Landwirtschaft zu arbeiten“. 

Streich behandelte ihn jedoch fast 

als seinen künftigen Schwiegersohn, 

machte ihn zum Jungbauern, 

überantwortete Honecker infolge 

einer Kriegsverletzung 

schließlich die gesamte Feldbestellung 

und entlohnte ihn mit 20 Reichsmark monatlich. 

Im Frühjahr 1928 verzichtete Honecker 

auf die materiellen Verlockungen 

der in Aussicht gestellten Hofübernahme. 

Seine Gastfamilie kleidete ihn daraufhin neu ein, 

stattete ihn mit Geld aus 

und er kehrte nach Wiebelskirchen zurück. 

Da er als Landwirtschaftsgehilfe 

keine Anstellung fand, 

ließ er sich im Dachdeckergeschäft 

seines Onkels Ludwig Weidenhof, 

das dieser im Erdgeschoss 

seines Elternhauses betrieb, 

als Dachdeckergehilfe anlernen. 

Im Anschluss nahm er eine Lehre als Dachdecker 

beim Wiebelskirchener Dachdeckermeister Müller an.


Am 1. Dezember 1928 trat er 

dem Kommunistischen Jugendverband Deutschland bei. 

Der KJVD zählte zu dieser Zeit nur noch 200 Mitglieder 

in elf Ortsgruppen. In seiner späteren DDR-Kaderakte 

datierte er das KJVD-Eintrittsdatum auf 1926 zurück, 

um seine zweijährige Tätigkeit 

als Jungbauer in Hinterpommern 

in seiner politischen Kampfbiographie zu vertuschen. 

Er galt in den konkurrierenden Jugendverbänden 

der Sozialdemokratie und des Zentrums 

als „der Wortführer der Kommunisten“. 

1929 wurde er in die Bezirksleitung 

des KJVD-Saar gewählt. 

Parallel absolvierte er diverse 

innerparteiliche Schulungen, 

um sich auf die Übernahme leitender Funktionen 

im KPD-Jugendverband vorzubereiten. 

Im Dezember 1929 beteiligte er sich 

in Dudweiler an einem zweiwöchigen Lehrgang 

der KJVD-Bezirksschule 

über marxistische Theorie 

und praktische Jugendarbeit. 

In seiner Freizeit widmete sich Honecker 

seinen Mitgliedschaften im örtlichen Spielmannszug 

und in der Jugendorganisation 

des Roten Frontkämpferbundes Roter Jungsturm, 

der später in Rote Jungfront umbenannt wurde. 

Im Kommunistischen Jugendverband 

war er zunächst Kassierer 

und später Leiter der Wiebelskirchener Ortsgruppe. 

Honecker schloss sich formell der KPD an, 

nachdem er bereits in verschiedenen Institutionen 

des kommunistischen Parteimilieus aktiv war. 

Das genaue Datum seines Parteieintritts 

konnte bis heute nicht ermittelt werden. 

Honecker selbst gab für seine Aufnahme in die KPD 

nach 1945 erst das Jahr 1930 

und ein anderes Mal Herbst 1931 an. 

Schließlich verlegte er den Parteieintritt 

auf 1929, um 1979 von der SED 

für seine fünfzigjährige Parteimitgliedschaft 

geehrt werden zu können. 

Im Juli 1930 meldete sich Honecker 

mit 27 weiteren Auserwählten 

aus den verschiedenen KJVD-Bezirken 

beim Parteivorstand der KPD 

im Berliner Karl-Liebknecht-Haus, 

um an einem Vorbereitungslehrgang 

an der Reichsparteischule der KPD 

in Fichtenau teilzunehmen. 

In einem symbolischen Aufnahmeakt als „Genosse“, 

der sich völlig der Herrschaft 

der kommunistischen Lebenswelt 

und deren Partei unterwirft, 

bekam Honecker seinen neuen Parteinamen 

Fritz Molter zugeteilt, den er auch 

während der sich anschließenden 

konspirativen Kaderschulung in Moskau führte.


Seine Dachdeckerlehre brach Honecker 

nach zwei Jahren ohne Gesellenprüfung ab, 

weil er vom KJVD im Sommer 1930 

zu einem einjährigen Studium 

an die Internationale Lenin-Schule 

nach Moskau delegiert wurde, 

einer vom Exekutivkomitee 

der Kommunistischen Internationale errichteten 

stalinistischen Kaderschmiede, 

die ihn zu einem von zirka 370 

deutschen „Kursanten“ nominierte. 

Im Sommer 1931 absolvierte er 

das obligatorische, von der Kommunistischen

Jugendinternationale eingerichtete 

Praktikum des Kurses, 

aus dem zahlreiche Kaderkräfte 

kommunistischer Machtapparate 

in Ostmitteleuropa nach 1945 hervorgingen. 

Während dieser Zeit nahm er mit 27 anderen 

Kursanten als „Internationale Stoßbrigade“ 

an einem Arbeitseinsatz in Magnitogorsk teil, 

wo seit 1929 ein Stahlwerk als künftiges Zentrum 

der sowjetischen Stahlgewinnung entstand. 

Honeckers Lehrer an der Lenin-Schule 

war Erich Wollenberg, der während 

des Großen Terrors, im Zuge 

der Wollenberg-Hoelz-Verschwörung 

durch das NKWD als Gegner Stalins verfolgt wurde. 

In der Ära der Schulleiterin Kirsanowa, 

die als „eiserne Stalinistin“ galt, 

wurde Honecker „Reinigungsritualen“ 

durch Anklage und Selbstanklage unterzogen, 

um seine Ich-Interessen, 

innerhalb eines geschlossenen Weltbildes, 

systematisch dem Kollektiv 

und den Interessen der Partei unterzuordnen. 

In seinen Sechs-Tage-Wochen 

hatte er ein rigides tägliches Arbeitspensum 

von zehn Stunden und mehr abzuleisten, 

das aus Unterricht und Selbststudium bestand 

und zu politisch-ideologischer Einheitlichkeit 

und mentaler Folgsamkeit erzog. 

Das Pensum einer Schulstunde umfasste 

4–5 Seiten Marx oder Engels, 

6–7 Seiten Lenin, 

7–8 Seiten Stalin 

und 20 Seiten Belletristik. 

Bis zu seinem Lebensende blieb Stalin 

Honeckers prägendste politische Bezugsfigur.


Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 

war die Arbeit der KPD in Deutschland 

nur noch im Untergrund möglich. 

Das Saargebiet jedoch gehörte nicht 

zum Deutschen Reich. 

Honecker wurde kurz in Deutschland inhaftiert, 

jedoch bald entlassen. 

Er kam 1934 ins Saargebiet zurück 

und arbeitete mit dem späteren ersten saarländischen

Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann 

in der Kampagne gegen die Wiederangliederung 

an das Deutsche Reich. 

In dieser Zeit im Widerstand 

in den Jahren 1934 und 1935 

arbeitete er auch eng mit dem KPD-Funktionär 

Herbert Wehner, später SPD, zusammen. 

Bei der Saarabstimmung am 13. Januar 1935 

stimmten jedoch 90,73 Prozent der Wähler 

für eine Vereinigung mit Deutschland. 

Der Jungfunktionär floh, 

wie 4000–8000 andere Menschen auch, 

zunächst nach Frankreich.


Am 28. August 1935 reiste Honecker 

unter dem Decknamen „Marten Tjaden“ 

illegal nach Berlin, 

eine Druckerpresse im Gepäck, 

und war wieder im Widerstand tätig. 

Im Dezember 1935 wurde Honecker 

von der Gestapo verhaftet 

und zunächst bis 1937 

im Berliner Zellengefängnis Lehrter Straße 

in Untersuchungshaft genommen. 

Er wurde im Juni 1937 

zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt; 

der ebenfalls angeklagte Bruno Baum wurde – 

auch durch Honeckers Aussagen – 

zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilt.


Honecker verbüßte seine Haftzeit 

während der Zeit des Nationalsozialismus 

im Zuchthaus Brandenburg-Görden. 

Aufgrund der gestiegenen Zahl 

der Bombenangriffe auf Berlin ab 1943 

teilte man ihn einer Baukolonne zu, 

die mit LKW zu den beschädigten Gebäuden 

gefahren wurde, um die Bombenschäden 

zu reparieren. Als diese Transporte 

nach einem Jahr zu unsicher wurden, 

brachte man seine Baukolonne 

im Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin unter. 

Im März 1945 gelang Honecker 

gemeinsam mit einem Mitgefangenen 

während eines Bombenangriffs 

die Flucht aus dem Frauengefängnis. 

Er versteckte sich in der Wohnung 

der Gefängnisaufseherin Charlotte Grund, 

die in der Landsberger Straße 37 wohnte. 

Nachdem dort das Vorderhaus ausgebombt wurde, 

kehrte er, aufgrund der gestiegenen Entdeckungsgefahr, 

in das Gefängnis zurück, 

was offenbar durch die dienstverpflichteten 

Aufseherinnen organisiert wurde. 

Honecker wurde nach Brandenburg zurückverlegt. 

Nach der Befreiung des Zuchthauses 

durch die Rote Armee am 27. April 

ging Honecker nach Berlin. 

Seine mit den Mithäftlingen in Brandenburg 

nicht abgesprochene Flucht, 

sein Untertauchen in Berlin, 

die „Rückmeldung“, die Nichtteilnahme 

an dem geschlossenen Marsch 

der befreiten kommunistischen Häftlinge nach Berlin 

und die Verbindung mit einer Gefängnisaufseherin 

bereiteten Honecker später 

innerparteiliche Schwierigkeiten 

und belasteten sein Verhältnis 

zu ehemaligen Mithäftlingen. 

Gegenüber der Öffentlichkeit verfälschte Honecker 

das Geschehen in seinen Lebenserinnerungen 

und in Interviews.


Im Mai 1945 wurde Honecker eher zufällig 

von Hans Mahle in Berlin „aufgelesen“ 

und mit zur Gruppe Ulbricht genommen. 

Durch Waldemar Schmidt wurde er 

mit Walter Ulbricht bekannt gemacht, 

der ihn bis dahin noch nicht persönlich kannte. 

Bis in den Sommer hinein 

war über die zukünftige Funktion Honeckers 

noch nicht entschieden worden, 

da er sich auch einem Parteiverfahren stellen musste, 

welches mit einer strengen Rüge endete. 

Zur Sprache kam dabei auch seine Flucht 

aus dem Zuchthaus Anfang 1945. 

1946 war er dann Mitbegründer 

der Freien Deutschen Jugend, 

deren Vorsitz er auch übernahm. 

Seit dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD 

im April 1946 war Honecker Mitglied der SED.


In der im Oktober 1949 gegründeten DDR, 

einer realsozialistischen Parteidiktatur, 

setzte Honecker seine politische 

Karriere zielstrebig fort. 

Als FDJ-Vorsitzender organisierte er 

die drei Deutschlandtreffen der Jugend 

in Berlin ab 1950 

und wurde einen Monat nach dem ersten Deutschlandtreffen 

als Kandidat ins Politbüro des ZK der SED aufgenommen. 

Er war ein ausgesprochener Gegner 

kirchlicher Jugendgruppen. 

In den innerparteilichen Auseinandersetzungen 

nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 

stellte er sich gemeinsam mit Hermann Matern 

offen an die Seite Ulbrichts, 

den die Mehrheit des Politbüros 

um Rudolf Herrnstadt zu stürzen versuchte. 

Am 27. Mai 1955 gab er den FDJ-Vorsitz 

an Karl Namokel ab. 

Von 1955 bis 1957 hielt er sich zu Schulungszwecken 

in Moskau auf und erlebte 

den XX. Parteitag der KPdSU 

mit Chruschtschows Rede 

zur Entstalinisierung mit. 

Nach seiner Rückkehr wurde er 1958 

Mitglied des Politbüros, 

wo er die Verantwortung für Militär- 

und Sicherheitsfragen übernahm. 

Als Sicherheitssekretär des ZK der SED 

war er der maßgebliche Organisator 

des Baus der Berliner Mauer im August 1961 

und trug in dieser Funktion den Schießbefehl 

an der innerdeutschen Grenze mit.


Auf dem 11. Plenum des ZK der SED, 

das im Dezember 1965 tagte, 

tat er sich als einer der Wortführer hervor 

und griff verschiedene Kulturschaffende 

wie die Regisseure Kurt Maetzig 

und Frank Beyer scharf an, 

denen er „Unmoral“, „Dekadenz“, 

spießbürgerlichen Skeptizismus“ 

und „Staatsfeindlichkeit“ vorwarf. 

In diese Kritik bezog er auch die kulturpolitisch 

Verantwortlichen der SED mit ein, 

ohne sie allerdings namentlich zu nennen: 

Sie hätten „keinen prinzipiellen Kampf 

gegen die aufgezeigten Erscheinungen geführt.“ 

Das Plenum beendete die Ansätze 

einer kulturpolitischen Liberalisierung der DDR, 

die sich nach dem Mauerbau gezeigt hatten.


Während Walter Ulbricht 

mit dem Neuen Ökonomischen System 

der Planung und Leitung 

die Wirtschaftspolitik ins Zentrum gerückt hatte, 

deklarierte Honecker die „Einheit 

von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zur Hauptaufgabe. 

Nachdem er sich die Unterstützung 

durch die sowjetische Führung 

unter Leonid Breschnew vergewissert hatte, 

sammelte er Unterschriften im Politbüro 

für die Forderung nach Ulbrichts Absetzung. 

Als Ulbricht davon erfuhr, 

warf er Honecker aus dem Politbüro. 

Daraufhin wandte sich Honecker hilfesuchend 

an den sowjetischen Botschafter Abrassimov, 

und auf Breschnews Geheiß 

musste ihn Ulbricht wieder aufnehmen. 

Schließlich putschte sich Honecker 

mit sowjetischem Einverständnis an die Macht: 

Er wies seine Personenschützer an, 

Maschinenpistolen mitzunehmen, 

und fuhr mit ihnen zu Ulbrichts 

Sommerresidenz in Dölln. 

Dort ließ er alle Tore und Ausgänge besetzen, 

die Telefonleitungen kappen 

und zwang Ulbricht, ein Rücktrittsgesuch 

an das Zentralkomitee zu unterschreiben. 

Honecker wurde am 3. Mai 1971 

als Nachfolger Ulbrichts Erster Sekretär 

(ab 1976 Generalsekretär) 

des Zentralkomitees der SED. 

Wirtschaftliche Probleme und Unmut in den Betrieben 

spielten eine große Rolle bei diesem Machtwechsel. 

Nachdem er 1971 auch im Nationalen Verteidigungsrat 

als Vorsitzender Ulbrichts Nachfolge angetreten hatte, 

wählte ihn die Volkskammer am 29. Oktober 1976 

schließlich auch zum Vorsitzenden des Staatsrats; 

Willi Stoph, der diesen Posten seit 1973 innegehabt hatte, 

wurde erneut, wie vor 1973, 

Vorsitzender des Ministerrats. 

Damit hatte Honecker die Machtspitze 

der DDR erreicht. Von nun an 

entschied er gemeinsam mit dem ZK-Sekretär 

für Wirtschaftsfragen, Günter Mittag, 

und dem Minister für Staatssicherheit, 

Erich Mielke, alle maßgeblichen Fragen. 

Bis zum Herbst 1989 

stand die „kleine strategische Clique“ 

aus diesen drei Männern unangefochten 

an der Spitze der herrschenden Klasse der DDR, 

der zunehmend vergreisenden Monopolelite 

der etwa 520 Staats- und Parteifunktionäre. 

Honecker erlangte gemeinsam mit diesen beiden 

eine Machtfülle wie kein anderer Herrscher 

in der jüngeren deutschen Geschichte, 

Ludendorff und Hitler eingeschlossen, 

weshalb man ihn als Diktator beschreiben muss. 

Unter Honecker entwickelte sich das Politbüro 

rasch zu einem Kollektiv von kritiklosen, 

unterwürfigen Vollstreckern und Ja-Sagern. 

Honecker beantwortete Eingaben 

von Bürgern immer schnell, 

weshalb man ihn in Anlehnung 

an den aufgeklärten Absolutismus 

als „obersten Kümmerer seines Staats“ bezeichnet.


Honeckers engster persönlicher Mitarbeiter 

war der ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda, 

Joachim Herrmann. Mit ihm 

führte er tägliche Besprechungen 

über die Medienarbeit der Partei, 

in denen auch das Layout 

des Neuen Deutschlands 

und die Abfolge der Meldungen 

in der Aktuellen Kamera festgelegt wurden. 

Auf schlechte Nachrichten 

über den Zustand der Wirtschaft 

reagierte er, indem er etwa 1978 

das Institut für Meinungsforschung schließen ließ. 

Große Bedeutung maß Honecker auch 

dem Feld der Staatssicherheit bei, 

das er einmal in der Woche 

jeweils nach der Sitzung des Politbüros 

mit Erich Mielke durchsprach.


Während seiner Amtszeit 

wurde der Grundlagenvertrag 

mit der Bundesrepublik Deutschland ausgehandelt. 

Außerdem nahm die DDR 

an den KSZE-Verhandlungen in Helsinki teil 

und wurde als Vollmitglied in die UNO aufgenommen. 

Diese diplomatischen Erfolge gelten 

als die größten außenpolitischen 

Leistungen Honeckers.


Am 31. Dezember 1982 versuchte 

der Ofensetzer Paul Eßling, 

die Autokolonne Honeckers zu rammen, 

was in westlichen Medien 

als Attentat dargestellt wurde.


Innenpolitisch zeichnete sich anfangs 

eine Liberalisierungstendenz 

vor allem im Bereich der Kultur und Kunst ab, 

die aber weniger durch den Personalwechsel 

von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 

hervorgerufen wurde, sondern Propagandazwecken 

im Rahmen der 1973 ausgetragenen 

X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten diente.

Nur wenig später erfolgten 

die Ausbürgerung von Regimekritikern 

wie Wolf Biermann und die Unterdrückung 

innenpolitischen Widerstands 

durch das Ministerium für Staatssicherheit. 

Zudem setzte Honecker sich 

für den weiteren Ausbau 

der innerdeutschen Staatsgrenze 

mit Selbstschussanlagen 

und den rücksichtslosen Schusswaffengebrauch 

bei Grenzdurchbruchsversuchen ein. 

1974 sagte er dazu, „es sind die Genossen, 

die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, 

zu belobigen.“ 

Wirtschaftspolitisch wurde unter Honecker 

die Verstaatlichung und Zentralisierung 

der Wirtschaft vorangetrieben. 

Die schwierige wirtschaftliche Lage 

zwang zur Aufnahme von Milliardenkrediten 

von der Bundesrepublik Deutschland, 

um den Lebensstandard halten zu können.


Die Londoner Financial Times sah Honecker 1981 

auf der Höhe seiner Popularität 

und stellt diesen Vergleich 

zum damaligen Bundeskanzler auf:


Wenn Helmut Schmidt, der westdeutsche Kanzler, 

zu Deutschlands besten Rednern gehört, 

so muss Erich Honecker 

einer der am wenigsten begabten sein. 

Sich seiner hohen Singsang-Stimme auszusetzen, 

die die Litanei der ostdeutschen 

Kommunistischen Partei beschwört, 

ohne auch nur einen Hauch von Emotion 

in seinem Gesicht, 

kann eine sterbenslangweilige Erfahrung sein.“


1981 empfing er Bundeskanzler Helmut Schmidt 

im Jagdhaus Hubertusstock am Werbellinsee. 

Honeckers Einschätzung, die DDR habe 

wirtschaftlich Weltklasseniveau erreicht 

und gehöre zu den bedeutendsten 

Industrienationen der Welt“, 

kommentierte Schmidt später mit dem Verdikt 

vom „Mann von beschränkter Urteilskraft“. 

Trotz der Wirtschaftsprobleme 

brachten Honecker die 1980er Jahre 

vermehrte internationale Anerkennung, 

insbesondere als er am 7. September 1987 

die Bundesrepublik Deutschland besuchte 

und durch Bundeskanzler Helmut Kohl 

in Bonn empfangen wurde. 

Auf seiner Reise durch die Bundesrepublik 

kam er nach Düsseldorf, Wuppertal, Essen, Trier, 

Bayern sowie am 10. September 

in seinen Geburtsort im Saarland. 

Hier hielt er eine emotionale Rede, 

in der er davon sprach, eines Tages 

würden die Grenzen die Menschen 

in Deutschland nicht mehr trennen. 

Diese Reise war seit 1983 geplant gewesen, 

wurde jedoch damals von der sowjetischen 

Führung blockiert, da man 

dem deutsch-deutschen Sonderverhältnis misstraute. 

1988 war Honecker unter anderem 

auf Staatsbesuch in Paris. 

Sein großes Ziel, welches er aber nicht mehr erreichte, 

war ein offizieller Besuch in den USA. 

Er setzte deshalb in den letzten Jahren der DDR 

auf ein positives Verhältnis zum Jüdischen 

Weltkongress als möglichem „Türöffner“.


Auf dem Gipfeltreffen des Warschauer Paktes 

in Bukarest am 7. und 8. Juli 1989 

im Rahmen des „Politisch-Beratenden Ausschusses“ 

der Staaten des Warschauer Paktes 

gab die Sowjetunion offiziell 

die Breschnew-Doktrin 

der begrenzten Souveränität der Mitgliedsstaaten auf 

und verkündete die „Freiheit der Wahl“: 

Die Beziehungen untereinander sollten künftig, 

wie es im Bukarester Abschlussdokument heißt, 

auf der Grundlage der Gleichheit, 

Unabhängigkeit und des Rechtes 

eines jeden Einzelnen, selbstständig 

seine eigene politische Linie, 

Strategie und Taktik ohne Einmischung 

von außen auszuarbeiten“ entwickelt werden. 

Die sowjetische Bestandsgarantie 

für die Mitgliedsstaaten 

war damit in Frage gestellt. 

Honecker musste seine Teilnahme 

an dem Treffen abbrechen; 

am Abend des 7. Juli 1989 wurde er 

mit schweren Gallenkoliken 

in das rumänische Regierungskrankenhaus eingeliefert 

und dann nach Berlin ausgeflogen. 

Im Regierungskrankenhaus Berlin-Buch 

entfernte man ihm am 18. August 1989 

die Gallenblase und einen Abschnitt des Dickdarms. 

Während der Operation 

wurde ein Nierentumor entdeckt, 

doch die Ärzte wagten es nicht, 

Honecker darüber zu unterrichten. 

Erst im September 1989 tauchte Honecker 

abgemagert und vergreist 

wieder im Politbüro auf. 

Währenddessen leitete Günter Mittag 

die wöchentlichen Sitzungen des Politbüros. 

Lediglich im August 1989 

nahm er einige Termine wahr. 

So erklärte er am 14. August 1989 

bei der Übergabe der ersten Funktionsmuster 

von 32-Bit-Prozessoren 

durch das Kombinat Mikroelektronik Erfurt:


Den Sozialismus in seinem Lauf

Hält weder Ochs noch Esel auf.“


Aber in den Städten der DDR 

wuchsen Zahl und Größe der Demonstrationen, 

und auch die Zahl der DDR-Flüchtlinge 

über die bundesdeutschen Botschaften 

in Prag und Budapest 

und über die Grenzen 

der „sozialistischen Bruderstaaten“ 

nahm stetig zu, monatlich waren es 

mehrere Zehntausend. 

Die ungarische Regierung öffnete 

am 19. August 1989 an einer Stelle 

und am 11. September 1989 überall 

die Grenze zu Österreich. 

Allein hierüber reisten Zehntausende 

von DDR-Bürgern über Österreich 

in die Bundesrepublik aus. 

Die ČSSR erklärte den Zustrom der DDR-Flüchtlinge 

für inakzeptabel. Am 3. Oktober 1989 

schloss die DDR faktisch ihre Grenzen 

zu den östlichen Nachbarn, 

indem sie den visafreien Reiseverkehr 

in die ČSSR aussetzte; 

ab dem nächsten Tag wurde diese Maßnahme 

auch auf den Transitverkehr 

nach Bulgarien und Rumänien ausgedehnt. 

Die DDR war dadurch nicht nur wie bisher 

durch den Eisernen Vorhang nach Westen abgeriegelt, 

sondern nun auch noch gegenüber 

den meisten Staaten des Ostblocks. 

Proteste von DDR-Bürgern 

bis hin zu Streikandrohungen 

aus den grenznahen Gebieten 

zur ČSSR waren die Folge.


Die Beziehung zwischen Honecker 

und dem Generalsekretär der KPdSU 

und Präsidenten der UdSSR Gorbatschow 

war schon seit Jahren gespannt: 

Honecker hielt dessen Politik der Perestroika 

und Kooperation mit dem Westen für falsch 

und fühlte sich von ihm speziell 

in der Deutschlandpolitik hintergangen. 

Er sorgte dafür, dass offizielle Texte der UdSSR, 

vor allem solche zum Thema Perestroika, 

in der DDR nicht mehr veröffentlicht 

oder in den Handel gebracht werden durften. 

Am 6. und 7. Oktober 1989 fanden 

die Staatsfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag 

der DDR in Anwesenheit von Michail Gorbatschow statt, 

der mit „Gorbi, Gorbi, hilf uns“-Rufen begrüßt wurde. 

In einem Vieraugengespräch der beiden Generalsekretäre 

pries Honecker die Erfolge des Landes. 

Gorbatschow wusste aber, dass die DDR 

in Wirklichkeit vor der Zahlungsunfähigkeit stand.


Am Ende einer Krisensitzung 

am 10. und 11. Oktober 1989 forderte 

das SED-Politbüro Honecker auf, 

bis Ende der Woche einen Lagebericht abzugeben, 

der geplante Staatsbesuch in Dänemark 

wurde abgesagt und eine Erklärung veröffentlicht, 

die Egon Krenz gegen den Widerstand 

Honeckers durchgesetzt hatte. 

Ebenfalls überwiegend auf Initiative von Krenz 

folgten in den nächsten Tagen 

Besprechungen und Sondierungen zu der Frage, 

Honecker zum Rücktritt zu bewegen. 

Krenz sicherte sich die Unterstützung 

von Armee und Stasi 

und arrangierte ein Treffen 

zwischen Michail Gorbatschow 

und Politbüromitglied Harry Tisch, 

der den Kremlchef am Rande eines Moskaubesuchs 

einen Tag vor der Sitzung 

über die geplante Absetzung Honeckers informierte. 

Gorbatschow wünschte viel Glück, 

das Zeichen, auf das Krenz 

und die anderen gewartet hatten. 

Auch SED-Chefideologe Kurt Hager 

flog am 12. Oktober 1989 nach Moskau 

und besprach mit Gorbatschow 

die Modalitäten der Honecker-Ablösung. 

Hans Modrow dagegen wich einer Anwerbung aus.


Die für Ende November 1989 geplante 

Sitzung des ZK der SED 

wurde auf Ende der Woche vorgezogen, 

dringendster Tagesordnungspunkt: 

die Zusammensetzung des Politbüros. 

Per Telefon versuchten Krenz und Erich Mielke 

am Abend des 16. Oktober, 

weitere Politbüromitglieder für die Absetzung 

Honeckers zu gewinnen. Zu Beginn 

der Sitzung des Politbüros vom 17. Oktober 1989 

fragte Honecker routinemäßig: 

Gibt es noch Vorschläge zur Tagesordnung?“ 

Willi Stoph meldete sich 

und schlug als ersten Punkt der Tagesordnung vor: 

Entbindung des Genossen Honecker 

von seiner Funktion als Generalsekretär 

und Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär“. 

Honecker schaute zuerst regungslos, 

fasste sich aber rasch wieder: 

Gut, dann eröffne ich die Aussprache.“ 

Nacheinander äußerten sich alle Anwesenden, 

doch keiner machte sich für Honecker stark. 

Günter Schabowski erweiterte sogar den Antrag 

und forderte die Absetzung Honeckers 

auch als Staatsratsvorsitzender 

und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates. 

Selbst Günter Mittag rückte von ihm ab. 

Alfred Neumann wiederum forderte die Ablösung 

von Mittag und von Joachim Herrmann. 

Erich Mielke machte Honecker 

für fast alle aktuellen Missstände in der DDR 

verantwortlich und drohte Honecker schreiend, 

kompromittierende Informationen, die er besitze, 

herauszugeben, falls Honecker nicht zurücktrete.


Nach drei Stunden fiel der einstimmige Beschluss 

des Politbüros. Honecker votierte, wie es Brauch war, 

für seine eigene Absetzung. 

Dem ZK der SED wurde vorgeschlagen, 

Honecker, Mittag und Hermann 

von ihren Funktionen zu entbinden. 

Bei der folgenden ZK-Sitzung 

waren 206 Mitglieder und Kandidaten anwesend. 

Lediglich 16 fehlten, darunter Margot Honecker. 

Das ZK folgte der Empfehlung des Politbüros. 

Die einzige Gegenstimme kam 

von der 81-jährigen Hanna Wolf, 

der früheren Direktorin 

der Parteihochschule „Karl Marx“.

Öffentlich hieß es: „Das ZK hat der Bitte 

Erich Honeckers entsprochen, 

ihn aus gesundheitlichen Gründen 

von der Funktion des Generalsekretärs, 

vom Amt des Staatsratsvorsitzenden 

und von der Funktion des Vorsitzenden 

des Nationalen Verteidigungsrates 

der DDR zu entbinden.“ Egon Krenz 

wurde per Akklamation einstimmig 

zum neuen Generalsekretär der SED gewählt. 

Am 20. Oktober 1989 musste auch Margot Honecker 

von ihren Ämtern zurücktreten.


Die Volkskammer der DDR 

setzte Mitte November 1989 

einen Ausschuss zur Untersuchung 

von Korruption und Amtsmissbrauch ein, 

dessen Vorsitzender am 1. Dezember 1989 

Bericht erstattete. Er warf den bisherigen 

SED-Machthabern umfassenden Missbrauch 

öffentlicher Ämter zu privaten Zwecken vor. 

Honecker habe zudem seit 1978 

jährliche Zuwendungen von rund 20.000 Mark 

durch die Bauakademie der DDR erhalten. 

Die Staatsanwaltschaft der DDR 

leitete daraufhin strafrechtliche Ermittlungen 

gegen 30 ehemalige DDR-Spitzenfunktionäre ein, 

unter ihnen zehn Mitglieder des Politbüros. 

Die meisten davon kamen in Untersuchungshaft, 

so am 3. Dezember 1989 

auch Honeckers Wandlitzer Nachbarn 

Günter Mittag und Harry Tisch 

wegen persönlicher Bereicherung 

und Vergeudung von Volksvermögen. 

Am selben Tag wurde Honecker 

vom ZK aus der SED ausgeschlossen. 

Er schloss sich daraufhin der neu gegründeten KPD an, 

deren Mitglied er von 1992 bis zu seinem Tod war.


Am 30. November 1989 

wurde dem Ehepaar Honecker 

die Wohnung in Wandlitz gekündigt 

und am 7. Dezember 1989 durchsucht. 

Wegen der aufgeheizten Stimmung 

lehnten die Honeckers ein Wohnungsangebot 

am Bersarinplatz ab, beschwerten sich aber mehrfach, 

man habe sie obdachlos gemacht.


Am 5. Dezember 1989 wurde auch gegen ihn 

ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. 

Honecker sei „verdächtig, 

seine Funktion als Vorsitzender des Staatsrates 

und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR 

und seine angemaßte politische 

und ökonomische Macht 

als Generalsekretär des ZK der SED missbraucht“ 

und „seine Verfügungsbefugnisse 

als Generalsekretär des ZK der SED 

zum Vermögensvorteil für sich 

und andere missbraucht zu haben“. 

Federführend war bis Januar 1990 

das Amt für Nationale Sicherheit der DDR, 

also der Nachfolger der Stasi, 

das hierzu einen „Maßnahmeplan 

im Ermittlungsverfahren gegen Erich Honecker“ 

erarbeitet hatte, später betrieb 

die Abteilung für Wirtschaftsstrafsachen 

beim Generalstaatsanwalt der DDR das Verfahren.


Am 6. Januar 1990 erfuhr Honecker 

nach einer erneuten Untersuchung 

durch eine Ärztekommission aus den Abendnachrichten 

der Aktuellen Kamera des DDR-Fernsehens, 

dass er Nierenkrebs hat. 

Am 10. Januar 1990 entfernte der Urologe 

Peter Althaus einen pflaumengroßen Nierentumor. 

Am Abend des 28. Januar 1990 

wurde Honecker in seinem Krankenzimmer 

der Charité festgenommen, 

am nächsten Tag in das Haftkrankenhaus 

des Gefängnisses Berlin-Rummelsburg eingeliefert 

und nach einem Tag 

wegen Haftunfähigkeit entlassen.


Rechtsanwalt Wolfgang Vogel wandte sich 

im Auftrag Honeckers 

an die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg 

und bat um Hilfe. 

Pastor Uwe Holmer, 

Leiter der Hoffnungstaler Anstalten 

in Lobetal bei Bernau, 

bot daraufhin dem Ehepaar Unterkunft 

in seinem Pfarrhaus an. 

Althaus fuhr es noch am Abend 

des 30. Januar 1990 dorthin. 

Schon am selben Tag kam es zu Kritik 

und später zu Demonstrationen 

gegen die kirchliche Hilfe für das Ehepaar, 

da beide solche Christen, 

die sich nicht dem SED-Regime angepasst hätten, 

benachteiligt hätten. 

Das Ehepaar wohnte dennoch – 

abgesehen von einer Unterbringung 

in einem Ferienhaus in Lindow, 

die im März 1990 schon nach einem Tag 

wegen politischer Proteste abgebrochen werden musste – 

bis zum 3. April 1990 weiter bei Holmers. 

Dann siedelte das Ehepaar 

in das sowjetische Militärhospital bei Beelitz über. 

Bei erneuten Untersuchungen auf Haftfähigkeit 

stellten dort die Ärzte bei Honecker 

die Verdachtsdiagnose eines bösartigen Lebertumors. 

Am 2. Oktober 1990, dem Vorabend 

der Deutschen Wiedervereinigung, 

wurden die wirtschaftsstrafrechtlichen Ermittlungsakten 

im Fall Erich Honecker von der Generalstaatsanwaltschaft 

der DDR an die der Bundesrepublik übergeben. 

Am 30. November 1990 erließ das Amtsgericht Tiergarten 

einen weiteren Haftbefehl gegen Honecker 

wegen des Verdachts, dass er den Schießbefehl 

an der innerdeutschen Grenze 1961 verfügt 

und 1974 bekräftigt habe. 

Der Haftbefehl war aber nicht vollstreckbar, 

da Honecker sich in Beelitz 

unter dem Schutz sowjetischer Stellen befand. 

Am 13. März 1991 wurde das Ehepaar 

mit einem sowjetischen Militärflugzeug 

von Beelitz nach Moskau, 

nach vorheriger Information des Bundeskanzlers Kohl 

durch den sowjetischen Staatspräsidenten 

Gorbatschow, ausgeflogen.


Das Kanzleramt war durch die sowjetische Diplomatie 

über die bevorstehende Ausreise der Honeckers 

nach Moskau informiert worden. 

Die Bundesregierung beschränkte sich aber öffentlich 

auf den Protest, es liege bereits ein Haftbefehl vor, 

daher verstoße die Sowjetunion 

gegen die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland 

und damit gegen Völkerrecht. 

Immerhin war zu diesem Zeitpunkt 

der Zwei-plus-Vier-Vertrag, 

der Deutschland die volle Souveränität zuerkennen sollte, 

vom Obersten Sowjet noch nicht ratifiziert. 

Erst am 15. März 1991 trat der Vertrag 

mit der Hinterlegung der sowjetischen 

Ratifizierungsurkunde beim deutschen Außenminister 

offiziell in Kraft. Von diesem Augenblick an 

wuchs der deutsche Druck auf Moskau, 

Honecker zu überstellen.


Zwischen Michail Gorbatschow und Honecker 

bestand ohnehin ein seit Jahren 

stetig schlechter werdendes Verhältnis, 

die UdSSR befand sich in der Auflösung. 

Den Augustputsch in Moskau überstand Gorbatschow 

nur geschwächt. Der neue starke Mann, 

Boris Jelzin, Präsident der russischen Teilrepublik RSFSR, 

verbot die KPdSU, deren Generalsekretär Gorbatschow war. 

Am 25. Dezember 1991 trat Gorbatschow 

als Präsident der Sowjetunion zurück. 

Die russische Regierung unter Jelzin 

forderte Honecker im Dezember 1991 auf, 

das Land zu verlassen, 

da andernfalls die Abschiebung erfolge. 

Am 11. Dezember 1991 flüchteten die Honeckers 

daher in die chilenische Botschaft in Moskau. 

Nach Erinnerung Margot Honeckers 

hatten zwar auch Nordkorea 

und Syrien Asyl angeboten, 

von Chile erhoffte man sich aber besonderen Schutz: 

Nach dem Militärputsch von 1973 

unter Augusto Pinochet hatte die DDR 

unter Honecker vielen Chilenen, 

auch dem Botschafter Clodomiro Almeyda, 

Exil in der DDR gewährt, 

und Honeckers Tochter Sonja 

war mit einem Chilenen verheiratet. 

In Anspielung auf die DDR-Flüchtlinge 

in den bundesdeutschen Botschaften 

in Prag und Budapest 

wurde das Ehepaar Honecker ironisch 

letzte Botschaftsflüchtlinge der DDR“ genannt. 

Chile allerdings wurde damals 

durch eine links-bürgerliche Koalition regiert, 

und die deutsche Bundesregierung äußerte, 

wenn Russland und Chile 

ihren Anspruch einlösen wollten, 

Rechtsstaaten zu sein, müsste Honecker, 

da mit Haftbefehl in Deutschland gesucht, 

in die Bundesrepublik überstellt werden. 

Am 22. Juli begründete der deutsche Botschafter 

Klaus Blech im russischen Außenministerium: 

Nach Auffassung der deutschen Regierung 

verstößt die widerrechtliche Verbringung 

von Herrn Honecker gegen den Vertrag 

über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts 

und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs 

der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet 

der Bundesrepublik Deutschland 

und gegen allgemeines Völkerrecht, 

weil sie dazu diente, eine wegen Anstiftung 

zur mehrfachen vorsätzlichen Tötung 

durch Haftbefehl gesuchte Person 

der Strafverfolgung zu entziehen.“


Allerdings war der bei Honecker bereits 

in Beelitz erhobene Verdacht auf Leberkrebs 

im Februar 1992 in Moskau 

durch eine Ultraschall-Untersuchung 

mit dem Befund „herdförmiger Befall der Leber – 

Metastase“ bestärkt worden. 

Drei Wochen später aber soll 

die grundsätzlich zuverlässigere Untersuchung 

durch ein Computertomogramm ergeben haben: 

Werte für einen herdförmigen Befall der Leber 

wurden nicht festgestellt“. 

Nun wurde gegen Honecker verbreitet, 

er sei ein Simulant. Drei Tage später 

verkündete der russische Justizminister 

im deutschen Fernsehen, Honecker 

werde nach Deutschland überstellt, 

sobald er die Botschaft verlassen habe. 

Am 7. März 1992 hieß es, 

die chilenische Regierung korrigiere ihre Haltung 

im Fall Honecker, Botschafter Almeyda 

sei zur Berichterstattung nach Santiago beordert, 

man sei verärgert über seinen Versuch, 

mit offenbar manipulierten Berichten 

über den todkranken Honecker 

dessen Einreise nach Chile zu erreichen. 

Almeyda wurde von seinem Posten abberufen. 

Zwar protestierte am 18. März 1992 

eine Gruppe von Ärzten aus dem russischen Parlament 

und machte geltend, es sei die März-Diagnose, 

die manipuliert worden sei. 

Aber für die Öffentlichkeit schien Honeckers 

altersgerecht guter Allgemeinzustand 

gegen eine Krebserkrankung zu sprechen. 

Im Juni 1992 sicherte der chilenische Präsident 

Patricio Aylwin schließlich Bundeskanzler 

Helmut Kohl zu, Honecker werde 

die Botschaft in Moskau verlassen. 

Die Russen ergänzten, sie sähen „keinen Grund“, 

von ihrer Entscheidung von Dezember 1991 abzurücken, 

wonach Honecker nach Deutschland 

zurückzukehren hat“. Am 29. Juli 1992 

wurde Erich Honecker nach Berlin ausgeflogen, 

wo er verhaftet 

und in die Justizvollzugsanstalt Moabit gebracht wurde. 

Margot Honecker dagegen reiste per Direktflug 

der Aeroflot von Moskau nach Santiago de Chile, 

wo sie zunächst bei ihrer Tochter Sonja unterkam 

und bis zu ihrem Tod am 6. Mai 2016 lebte.


Am 29. Juli 1992 wurde Honecker 

in Untersuchungshaft im Krankenhaus 

der Berliner Vollzugsanstalten 

in Berlin-Moabit genommen.


Die Schwurgerichtsanklage vom 12. Mai 1992 

warf ihm vor, als Vorsitzender des Staatsrats 

und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR 

gemeinsam mit mehreren Mitangeklagten, 

unter anderem Erich Mielke, Willi Stoph, 

Heinz Keßler, Fritz Streletz und Hans Albrecht, 

in der Zeit 1961 bis 1989 am Totschlag 

von insgesamt 68 Menschen beteiligt gewesen zu sein, 

indem er insbesondere als Mitglied des NVR 

angeordnet habe, die Grenzanlagen um West-Berlin 

und die Sperranlagen zur Bundesrepublik auszubauen, 

um ein Passieren unmöglich zu machen. 

Insbesondere zwischen 1962 und 1980 

habe er mehrfach Maßnahmen und Festlegungen 

zum weiteren pioniertechnischen Ausbau der Grenze 

durch Errichtung von Streckmetallzäunen 

zur Anbringung der Selbstschussanlagen 

und der Schaffung von Sicht- und Schussfeld 

entlang der Grenzsicherungsanlagen getroffen, 

um Grenzdurchbrüche zu verhindern. 

Außerdem habe er im Mai 1974 

in einer Sitzung des NVR dargelegt, 

der pioniermäßige Ausbau der Staatsgrenze 

müsse weiter fortgesetzt werden, 

überall müsse ein einwandfreies Schussfeld 

gewährleistet werden und nach wie vor 

müsse bei Grenzdurchbruchsversuchen 

von der Schusswaffe rücksichtslos 

Gebrauch gemacht werden. 

Die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich 

angewandt haben“, seien „zu belobigen“.


Diese Anklage ist durch Beschluss des Landgerichts 

Berlin vom 19. Oktober 1992 

unter Eröffnung des Hauptverfahrens 

zugelassen worden. Mit Beschluss vom gleichen Tage 

wurde das Verfahren hinsichtlich 56 

der angeklagten Fälle abgetrennt, 

deren Verhandlung zurückgestellt wurde. 

Die verbliebenen 12 Fälle waren Gegenstand 

der am 12. November 1992 

begonnenen Hauptverhandlung. 

Ebenfalls am 19. Oktober 1992 erließ 

die Strafkammer einen Haftbefehl 

hinsichtlich der verbliebenen zwölf Fälle.


Eine zweite Anklageschrift 

vom 12. November 1992 

legte Honecker zur Last, 

in der Zeit von 1972 bis Oktober 1989 

Vertrauensmissbrauch in Tateinheit mit Untreue 

zum Nachteil sozialistischen Eigentums 

begangen zu haben. Es handelte sich hierbei 

um Vorgänge im Zusammenhang 

mit der Versorgung und Betreuung 

der Waldsiedlung Wandlitz. 

In diesem Zusammenhang erging am 14. Mai 1992 

ein weiterer Haftbefehl.


Der von aller Welt mit Spannung erwartete Prozess 

hatte nach Ansicht vieler Juristen 

einen ungewissen Ausgang. 

Denn nach welchen Gesetzen der Staatschef 

der untergegangenen DDR 

eigentlich verurteilt werden konnte, war umstritten. 

Auch mussten die Politiker 

der alten Bundesrepublik befürchten, 

ihrem „vormaligen Bankettgesellen“ 

(so der DDR-Schriftsteller Hermann Kant), 

den sie noch 1987 in Bonn, München 

und anderen Städten mit allen protokollarischen 

Ehren empfangen hatten, 

im Gerichtssaal gegenübergestellt zu werden.


In seiner am 3. Dezember 1992 

vor Gericht vorgetragenen Erklärung 

übernahm Honecker zwar die politische Verantwortung 

für die Toten an Mauer und Stacheldraht, 

doch sei er „ohne juristische 

oder moralische Schuld“. 

Er rechtfertigte den Bau der Mauer damit, 

dass aufgrund des sich zuspitzenden Kalten Krieges 

die SED-Führung 1961 

zu dem Schluss gekommen sei, dass anders 

ein „dritter Weltkrieg mit Millionen Toten“ 

nicht zu verhindern gewesen sei, 

und betonte die Zustimmung 

der sozialistischen Führungen 

sämtlicher Ostblockstaaten 

zu dieser gemeinschaftlich getroffenen Entscheidung 

und verwies auf die Funktionen, 

die der DDR in seiner Amtszeit 

im UN-Weltsicherheitsrat 

trotz des Schießbefehls an der Mauer 

zugestanden worden seien. 

Im Weiteren führte er an, dass der Prozess gegen ihn 

aus rein politischen Motiven geführt werde, 

und verglich die 49 Mauertoten, 

deretwegen er angeklagt war, 

etwa mit der Anzahl der Opfer im von den USA 

geführten Vietnamkrieg 

oder der Selbstmordrate in westlichen Ländern. 

Die DDR habe bewiesen, „dass Sozialismus möglich 

und besser sein kann als Kapitalismus“. 

Öffentliche Kritik an Verfolgungen durch die Stasi 

tat er damit ab, dass auch der „Sensationsjournalismus“ 

in westlichen Ländern mit Denunziation arbeite 

und die gleichen Konsequenzen habe.


Honecker war zu dieser Zeit bereits schwer krank. 

Eine erneute Computertomographie 

am 4. August 1992 bestätigte 

die Moskauer Ultraschall-Untersuchung: 

Im rechten Leberlappen befand sich 

ein „fünf Zentimeter großer raumfordernder Prozess“, 

vermutlich eine Spätmetastase des Nierenkrebses, 

der Honecker im Januar 1990 in der Charité 

entfernt worden war. Unter Berufung 

auf diese Feststellungen stellten Honeckers Anwälte 

Nicolas Becker, Friedrich Wolff und Wolfgang Ziegler 

den Antrag, das Verfahren, soweit es sich 

gegen Honecker richte, abzutrennen, 

einzustellen und den Haftbefehl aufzuheben. 

Das Verfahren sei eine Nagelprobe für den Rechtsstaat. 

Ihr Mandant leide an einer unheilbaren Krankheit, 

die entweder durch Ausschaltung der Leberfunktion 

direkt oder durch Metastasierung 

in anderen Bereichen zum Tode führe. 

Seine Lebenserwartung sei geringer 

als die auf mindestens zwei Jahre geschätzte 

Prozessdauer. Es sei zu fragen, ob es human ist, 

gegen einen Sterbenden zu verhandeln.


Den gestellten Antrag lehnte die Strafkammer 

mit Beschluss vom 21. Dezember 1992 ab. 

Das Landgericht führte in seiner Begründung aus, 

dass kein Verfahrenshindernis bestehe. 

Zwar habe sich die Einschätzung 

der voraussichtlich eintretenden 

Verhandlungsunfähigkeit aufgrund 

der aktualisierten schriftlichen Gutachten 

zeitlich verdichtet. Die Prognose des Eintritts 

der Verhandlungsunfähigkeit sei jedoch 

im Hinblick auf die Schwere 

und Bedeutung des Tatvorwurfs 

und des sich daraus ergebenden Gewichts 

der verfassungsrechtlich gebotenen Pflicht 

zur Strafverfolgung noch immer zu ungewiss, 

als dass eine sofortige Einstellung des Verfahrens 

zwingend geboten erscheine.


Die hiergegen eingelegte Beschwerde 

verwarf das Kammergericht durch Beschluss 

vom 28. Dezember 1992. 

Das Kammergericht kam jedoch zu dem Ergebnis, 

aufgrund der Stellungnahmen und Gutachten 

der medizinischen Sachverständigen 

sei davon auszugehen, dass infolge 

eines bösartigen Tumors im rechten Leberlappen 

Honeckers eine Verhandlungsfähigkeit 

mit hoher Wahrscheinlichkeit 

nicht mehr lange bestehen werde 

und Honecker mit an Sicherheit grenzender 

Wahrscheinlichkeit den Abschluss des Verfahrens 

nicht überleben werde. 

Das Kammergericht sah sich gleichwohl gehindert, 

das Verfahren selbst einzustellen, 

weil dies nach Beginn der Hauptverhandlung 

nur noch vom Landgericht 

durch Urteil ausgesprochen werden könne. 

Dementsprechend könne es auch 

den bestehenden Haftbefehl nicht aufheben, 

bevor das Landgericht über das Vorliegen 

eines Verfahrenshindernisses entschieden habe.

Hiergegen erhob Honecker Verfassungsbeschwerde 

vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin. 

Honecker führte aus, die Entscheidungen 

verletzten sein Grundrecht auf Menschenwürde. 

Die Menschenwürde gelte als tragendes Prinzip 

der Verfassung auch gegenüber 

dem staatlichen Strafvollzug 

und der Strafjustiz uneingeschränkt. 

Die Fortführung eines Strafverfahrens 

und einer Hauptverhandlung 

gegen einen Angeklagten, 

von dem mit Sicherheit zu erwarten sei, 

dass er vor Abschluss der Hauptverhandlung 

und mithin vor einer Entscheidung 

über seine Schuld oder Unschuld sterben werde, 

verletze dessen Menschenwürde. 

Die Menschenwürde umfasse insbesondere das Recht 

eines Menschen, in Würde sterben zu dürfen.


Mit Beschluss vom 12. Januar 1993 

entsprach der Verfassungsgerichtshof 

der Verfassungsbeschwerde Honeckers. 

Aufgrund der Feststellungen des Kammergerichts, 

wonach Honecker den Abschluss des Verfahrens 

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit 

nicht mehr erleben werde, 

sei davon auszugehen, 

dass das Strafverfahren seinen gesetzlichen Zweck 

auf vollständige Aufklärung der 

Honecker zur Last gelegten Taten 

und gegebenenfalls Verurteilung und Bestrafung 

nicht mehr erreichen könne. 

Das Strafverfahren werde damit zum Selbstzweck, 

wofür es keinen rechtfertigenden Grund gäbe. 

Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls 

verletze den Anspruch Honeckers 

auf Achtung seiner Menschenwürde. 

Der Mensch werde zum bloßen Objekt 

staatlicher Maßnahmen insbesondere dann, 

wenn sein Tod derart nahe sei, 

dass ein Strafverfahren seinen Sinn verloren habe.


Noch am selben Tage stellte das Landgericht Berlin 

das Verfahren ein und hob den Haftbefehl auf. 

Den hiergegen von der Staatsanwaltschaft 

und den Nebenklägern erhobenen Beschwerden 

half das Landgericht nicht ab. 

Der Antrag auf Erlass eines neuen Haftbefehls 

wurde mit Beschluss vom 13. Januar 1993 abgelehnt.

Am 13. Januar 1993 lehnte das Landgericht Berlin 

in Bezug auf die Anklageschrift 

vom 12. November 1992 die Eröffnung 

des Hauptverfahrens ab 

und hob auch den zweiten Haftbefehl auf. 

Nach insgesamt 169 Tagen wurde Honecker 

aus der Untersuchungshaft entlassen, 

was Proteste von Opfern 

des DDR-Regimes nach sich zog.


Honecker flog unmittelbar darauf 

nach Santiago de Chile zu Frau und Tochter Sonja, 

die dort mit ihrem chilenischen Ehemann 

Leo Yáñez und ihrem Sohn Roberto wohnte. 

Die mit ihm Angeklagten wurden dagegen 

am 16. September 1993 zu Freiheitsstrafen 

zwischen vier und siebeneinhalb Jahren verurteilt. 

Am 13. April 1993 wurde ein letzter 

zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennter 

und in Abwesenheit des Angeklagten 

fortgesetzter Prozess gegen Honecker 

vom Berliner Landgericht ebenfalls eingestellt. 

Am 17. April 1993, dem 66. Geburtstag 

seiner Frau Margot, rechnete Honecker 

in einer Rede mit dem Westen ab 

und bedauerte seine Genossen, 

die noch im Gefängnis in Moabit saßen 

und „dem Klassenfeind trotzten“. 

Er schloss seine Rede mit den Worten: 

Sozialismus ist das Gegenteil von dem, 

was wir jetzt in Deutschland haben. 

Sodass ich sagen möchte, dass unsere 

schönen Erinnerungen an die DDR viel aussagen 

von dem Entwurf einer neuen, gerechten Gesellschaft. 

Und dieser Sache wollen wir für immer treu bleiben.“


In den letzten Monaten musste Honecker 

künstlich ernährt werden. 

Am 29. Mai 1994 starb er im Alter von 81 Jahren 

in Santiago de Chile. 

Nach der Trauerfeier wurde seine Urne nicht beigesetzt.




ZEHNTER GESANG


Von 1954 bis 1962 besuchte Gysi 

die Polytechnische Oberschule, 

von 1962 bis 1966 die Erweiterte Oberschule 

(ab 1965 Schule mit mathematischem Schwerpunkt) 

in Berlin-Adlershof. 

Hier erwarb er 1966 das Abitur 

und legte gleichzeitig den Lehrabschluss 

zum Facharbeiter für Rinderzucht ab.


Gysi absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaft 

an der Humboldt-Universität zu Berlin, 

das er 1970 als Diplom-Jurist beendete.


Ab 1971 war Gysi einer der wenigen 

freien Rechtsanwälte in der DDR. 

In dieser Funktion verteidigte er auch Systemkritiker 

und Ausreisewillige, 

darunter bekannte Personen wie Robert Havemann, 

Rudolf Bahro, Jürgen Fuchs, 

Bärbel Bohley und Ulrike Poppe. 

1976 erfolgte seine Promotion zum Dr. jur. 

mit der Arbeit Zur Vervollkommnung 

des sozialistischen Rechtes 

im Rechtsverwirklichungsprozeß.


Von 1988 bis 1989 war er Vorsitzender 

des Kollegiums der Rechtsanwälte in Ost-Berlin 

und gleichzeitig Vorsitzender der 15 Kollegien 

der Rechtsanwälte in der DDR. 

Am 12. September 1989 war er zusammen 

mit dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel 

in Prag, um die DDR-Flüchtlinge 

in der deutschen Botschaft zur Rückkehr 

in die DDR aufzufordern. 

Im Herbst 1989, vor der politischen Wende in der DDR, 

setzte Gysi sich als Anwalt für die Zulassung 

des oppositionellen Neuen Forums ein.


Von August 2002 bis zu seiner Wiederwahl 

als Abgeordneter des Bundestages im Jahre 2005 

war er wieder als Rechtsanwalt tätig.


Seit 1967 war Gysi Mitglied der SED. 

Als er 1989 in den Blickpunkt der Öffentlichkeit trat, 

arbeitete er an einem Reisegesetz mit. 

Am 4. November 1989 sprach Gysi vor 500.000 Menschen 

auf der Massenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz 

und forderte ein neues Wahlrecht 

sowie ein Verfassungsgericht. 

Seine Eloquenz und rhetorische Begabung 

ließen ihn schnell zu einem der Medienstars 

des Herbstes werden. 

Ab dem 3. Dezember 1989 gehörte er 

dem Arbeitsausschuss zur Vorbereitung 

des außerordentlichen Parteitages der SED an 

und war Vorsitzender eines parteiinternen

Untersuchungsausschusses.


Auf dem Sonderparteitag am 9. Dezember 1989 

wurde Gysi mit 95 Prozent der Delegiertenstimmen 

zum Vorsitzenden der SED gewählt. 

Am 16. Dezember 1989 sprach er sich 

auf dem Sonderparteitag der SED-PDS 

für eine Zusammenarbeit beider deutscher Staaten 

bei voller Wahrung ihrer Souveränität aus. 

Im Winter 1989/90 war Gysi als Parteivorsitzender 

der damaligen SED-PDS daran beteiligt, 

dass die Partei nicht aufgelöst wurde 

und das Parteivermögen sowie Arbeitsplätze 

innerhalb der Partei erhalten blieben. 

Den Parteivorsitz der PDS hatte Gysi 

bis zum 31. Januar 1993 inne. 

Danach wirkte er zunächst als stellvertretender 

Parteivorsitzender, dann als Mitglied 

im Parteivorstand weiter mit, 

bis er im Januar 1997 endgültig 

aus dem Parteivorstand ausschied.


Am 23. Dezember 2005 wurde er auch Mitglied 

der WASG, ebenso wie Oskar Lafontaine 

auch Mitglied in der Linkspartei PDS wurde. 

Damit machten beide demonstrativ von der Möglichkeit 

einer Doppelmitgliedschaft 

in der Linkspartei und in der WASG Gebrauch. 

Seit dem 16. Juni 2007 ist Gysi Mitglied 

der Partei Die Linke.


Gysi ist Mitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung. 

Im Dezember 2016 wurde er zum Vorsitzenden 

der Europäischen Linken gewählt.


Die Klebekolonnen, die allerorten 

durch die Lande ziehen, 

um die Wahlkämfer ins rechte Licht zu rücken, 

haben offensichtlich nicht nur viel zu tun, 

sondern auch ein gerüttelt Maß Humor.“


Auf dem Sonderparteitag der SED 

im Dezember 1989 unterstützte Gregor Gysi 

den Fortbestand der SED 

unter neuem Namen („SED-PDS“) 

unter anderem mit dem Argument, 

eine Auflösung und Neugründung 

würde juristische Auseinandersetzungen 

um das Parteivermögen nach sich ziehen 

und sei eine ernste wirtschaftliche 

Bedrohung für die Partei. 

Später wurde ihm seitens der Unabhängigen 

Kommission zur Überprüfung 

des Vermögens der Parteien 

und Massenorganisationen der DDR 

vorgeworfen, er sei aktiv 

an der Verschleierung des SED-

Parteienvermögens beteiligt gewesen 

und habe im Putnik-Deal versucht, 

mit Hilfe der KPdSU SED-Gelder 

ins Ausland zu verschieben, 

um sie vor dem Zugriff staatlicher Stellen zu sichern.


Der Untersuchungsausschuss 

des Deutschen Bundestages 1998 

zum Verbleib des SED-Parteienvermögens gab an, 

dass Gysi bei seiner Befragung geschwiegen 

und damit zusammen mit weiteren PDS-Funktionären 

die Arbeit des Ausschusses behindert habe.


Von März bis Oktober 1990 war Gysi 

Abgeordneter der ersten frei gewählten 

Volkskammer der DDR, 

dort Fraktionsvorsitzender der PDS. 

Als solcher wurde er am 3. Oktober 1990 

Mitglied des Deutschen Bundestages, 

aus dem er am 1. Februar 2002 ausschied, 

um das Amt des Wirtschaftssenators 

in Berlin anzutreten. 

Er war von 1990 bis 1998 

Vorsitzender der PDS-Bundestagsgruppe, 

dann bis zum 2. Oktober 2000 

Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion.


Von 2001 bis 2002 war er Mitglied 

des Abgeordnetenhauses von Berlin. 

Am 17. Januar 2002 wurde Gysi Bürgermeister 

und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen 

des Landes Berlin in dem vom Regierenden 

Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) 

geführten Senat. 

Am 31. Juli 2002 trat er im Rahmen 

der Bonusmeilen-Affäre von allen Ämtern zurück.


Für die Bundestagswahl 2005 

kehrte er als Spitzenkandidat der Linkspartei zurück. 

Er war Direktkandidat für den Wahlkreis 85 

Treptow-Köpenick und führte die Landesliste 

der Linkspartei Berlin an. 

Bei der Wahl konnte er sich gegen seinen Konkurrenten 

Siegfried Scheffler von der SPD durchsetzen 

und zog mit 40 Prozent der abgegebenen Erststimmen 

direkt in den Bundestag ein. 

Gemeinsam mit Oskar Lafontaine wurde er 

zum Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion gewählt.

Auch bei der Bundestagswahl 2009 

trat er als Spitzenkandidat der Berliner Landesliste an. 

Sein Erststimmen-Ergebnis 

in seinem Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick 

konnte er jedoch auf 44 Prozent verbessern 

und zog somit erneut per Direktmandat 

in den Bundestag ein. 

Nach dem Verzicht Oskar Lafontaines 

wurde Gysi am 9. Oktober 2009 

mit 94 Prozent zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden 

der Bundestagsfraktion der Linken bestimmt 

und 2011 mit 81 Prozent im Amt bestätigt.


Bei der Bundestagswahl 2013 

gelang es Gysi – wiederum Spitzenkandidat 

der Berliner Landesliste – 

trotz leichter Einbußen von 2,6 Prozent 

sein Direktmandat mit 42 Prozent 

erneut zu verteidigen. 

Wie schon 2011 wies er Sahra Wagenknechts 

Ambitionen auf eine Doppelspitze 

in der Fraktion erfolgreich zurück 

und wurde am 9. Oktober 2013 

auf einer Fraktionsklausur 

im brandenburgischen Bersteland erneut 

zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden gewählt. 

Aufgrund der regierenden Großen Koalition 

war er damit Oppositionsführer.


Am 7. Juni 2015 gab er bekannt, 

dass er nicht erneut für den Fraktionsvorsitz 

der Linken kandidieren werde. 

Entsprechend schied er am 12. Oktober 2015 

aus beiden Ämtern aus. 

Seine Nachfolge im Fraktionsvorsitz 

und damit auch in der Oppositionsführung 

wurden Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht.


Im Januar 2012 wurde bekannt, dass Gregor Gysi 

als einer von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken 

unter Beobachtung durch das Bundesamt 

für Verfassungsschutz steht.


Nachdem diese Überwachung 

Anfang 2014 eingestellt worden war, 

stellte das Verwaltungsgericht Köln 

in einem Anerkenntnisurteil 

im September 2014 fest, 

dass die Personenakte Gysis zu vernichten sei.


Laut Abschlussbericht des Immunitätsausschusses 

des Deutschen Bundestages soll Gysi 

zwischen 1975 und 1986 für das Ministerium 

für Staatssicherheit der DDR 

unter verschiedenen Decknamen, 

dabei hauptsächlich als „IM Notar“ 

gearbeitet haben, nachdem in einer früheren Version 

des Abschlussberichtes noch davon die Rede war, 

dass ein solcher Nachweis aufgrund 

der vorhandenen Unterlagen nicht erfolgen kann.


Im Abschlussbericht heißt es unter anderem, 

Gysi habe „seine herausgehobene berufliche Stellung 

als einer der wenigen Rechtsanwälte 

in der DDR genutzt, um als Anwalt 

auch international bekannter Oppositioneller 

die politische Ordnung der DDR 

vor seinen Mandanten zu schützen. 

Um dieses Ziel zu erreichen, 

hat er sich in die Strategien des MfS einbinden lassen, 

selbst an der operativen Bearbeitung 

von Oppositionellen teilgenommen 

und wichtige Informationen an das MfS 

weitergegeben. Auf diese Erkenntnisse 

war der Staatssicherheitsdienst 

zur Vorbereitung seiner Zersetzungsstrategien 

dringend angewiesen. 

Das Ziel dieser Tätigkeit unter Einbindung 

von Dr. Gysi war die möglichst wirksame 

Unterdrückung der demokratischen 

Opposition in der DDR.“


Die Feststellungen des Immunitätsausschusses 

hatten aber keine Auswirkungen auf Gysis Arbeit 

als Abgeordneter, der im Abschlussbericht 

selbst der Beschuldigung widersprach 

und auf „wesentliche Mängel und Fehler“ 

im Verfahren hinwies. Die PDS und die FDP 

stimmten dem Papier nicht zu.


Gysi legte erneut Klage gegen die Feststellung ein. 

Er bekannte sich zur Kooperation 

mit der Staatsanwaltschaft 

und dem Zentralkomitee der SED 

im Interesse und mit Wissen seiner Klienten“ 

und ging mehrmals erfolgreich, 

gerichtlich gegen die Verbreitung der Behauptung, 

er wäre IM Gregor / IM Notar gewesen, vor. 

1998 untersagte das Landgericht Hamburg 

dem Magazin Der Spiegel, weiterhin zu behaupten, 

Gregor Gysi habe für die Stasi-Spionageabteilung 

gearbeitet und dort den Decknamen 

IM Notar geführt, weil der Spiegel 

seine Behauptungen nicht habe beweisen können.


Nachdem das ZDF am 27. Mai 2008 

ein Interview mit Marianne Birthler ausgestrahlt hatte, 

in dem sie Gysi eine Stasi-Tätigkeit vorwarf, 

ging Gysi mit einem Unterlassungsbegehren 

gegen den Sender vor.


Die Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, 

Marianne Birthler, erklärte, 

es gäbe in ihrem Haus keine Zweifel daran, 

dass der IM nach Aktenlage 

nur Gregor Gysi gewesen sein“ könne. 

Der ARD sagte sie, es gebe Erkenntnisse, 

dass Gysi „wissentlich und willentlich“ 

die Stasi unterrichtet habe.


Die erfolglose Klage richtete sich ferner 

gegen die Freigabe von Protokollen, 

ausweislich derer DDR-Staatschef Erich Honecker 

Gysi über dessen Vater ausrichten ließ, 

dieser solle im Rahmen der „juristisch konsequenten

Verteidigung“ Havemanns als dessen Rechtsanwalt 

ein Vertrauensverhältnis zu Havemann herstellen 

mit dem Ziel, dass dieser seine 

Außenpropaganda einstellt“. 

Dem liegt ein Tonbandbericht in Ich-Form 

über ein Gespräch bei, das Gysi 1979 

mit Havemann führte. 

(„Ich schlug ihm noch einmal vor, 

jegliche Veröffentlichungen im Westen zu unterlassen 

und sich allein auf die DDR zu beschränken.“) 

Die zunächst mit seiner anwaltlichen Schweigepflicht 

begründete Berufung zog Gysi später zurück.


Gysi bestreitet nach wie vor, 

als IM tätig gewesen zu sein: 

Er sei erstmals 1980 von der Stasi 

wegen der Möglichkeit einer inoffiziellen Mitarbeit 

überprüft und 1986 abschließend 

zur Aufklärung und Bekämpfung 

politischer Untergrundtätigkeit 

nicht geeignet“ befunden worden. 

Im September 1980 legte die Stasi einen Vorlauf an, 

um zu prüfen, ob ich als IM infrage käme. 

Wozu einen solchen Vorlauf im Jahr 1980, 

wenn ich angeblich 1979 bereits IM war?“ 

Er habe „erhebliche Verbesserungen 

für Havemann wie die Aufhebung des Hausarrestes 

oder die Verhinderung weiterer Anklagen erreicht“.


Havemanns Sohn Florian hat Gysi 

in der Angelegenheit ausdrücklich verteidigt. 

Am 28. Mai 2008 erklärte er in einem Interview: 

Unabhängig von der Frage, ob Herr Gysi IM war, 

was ich nicht beurteilen kann, 

hat er im Sinne unseres Vaters gehandelt.“ 

Hingegen stellt Havemanns Frau Katja 

anhand der Stasi-Unterlagen Gysis Rolle 

in ein anderes Licht – und spricht dabei 

auch über ihre Gewissheit, dass er sich eindeutig 

hinter IM Gregor und IM Notar verbirgt.


Gysi hinterfragte die Glaubwürdigkeit der Akten: 

Die Bundesbeauftragte habe in einem anderen Fall erklärt, 

dass sie die Diskrepanzen zwischen dem Akteninhalt 

und tatsächlichen Begebenheiten nicht untersuchen dürfe. 

Die Behörde sei auch nicht befugt, 

Unterlagen zu bewerten und auch nicht, 

Wahrheitsfeststellungen zu treffen.“


Am 28. Mai 2008 befasste sich der Bundestag 

auf Verlangen von CDU/CSU und SPD 

in der Aktuellen Stunde mit dem „Bericht 

aus den Unterlagen der Bundesbeauftragten 

für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, 

über vertrauliche Gespräche, 

die Gregor Gysi 1979/1980 

als DDR-Rechtsanwalt mit Mandanten geführt hat“. 

In der Debatte forderten Abgeordnete 

der CDU, SPD, Grünen und FDP 

sowohl Konsequenzen in Form einer Entschuldigung 

bei den Opfern als auch den Ämterverzicht Gysis.


Der Vorsitzende der Linksfraktion, Oskar Lafontaine, 

forderte als Konsequenz aus den Äußerungen 

von Marianne Birthler deren Entlassung. 

Birthler bekräftigte dagegen, 

dass die Aktenlage zweifelsfrei zeige, 

dass Gysi wissentlich und willentlich 

Informationen an die Stasi geliefert habe. 

Dies sei gemäß Stasi-Unterlagengesetz entscheidend, 

als Stasi-Spitzel zu gelten, „unabhängig davon, 

ob eine Verpflichtungserklärung existiere oder nicht.“


Wegen neuer Hinweise hat die Staatsanwaltschaft 

Hamburg ihre Ermittlungen gegen Gysi ausgeweitet. 

Ermittelt wird wegen einer möglicherweise falschen

eidesstattlichen Versicherung. 

Gysi hatte erklärt, „zu keinem Zeitpunkt 

über Mandanten oder sonst jemanden 

wissentlich und willentlich 

an die Staatssicherheit berichtet zu haben“.


Im Wahlkampf 2013 behauptete Gysi, 

in Deutschland gelte noch immer das Besatzungsstatut. 

So forderte Gysi im Interview mit dem Deutschlandfunk 

ein Ende der Besatzung Deutschlands 

und die Aufhebung des Besatzungsstatuts, 

damit Deutschland endlich als Land 

souverän werden könne. 

Im Jahr 2015 antwortete er auf die Frage, 

ob Deutschland noch besetzt sei, 

mit „nein“ und äußerte, dass die Bundesrepublik 

Deutschland ein souveräner Staat sei, 

sich aber nicht so benähme; 

nahm in diesen Zusammenhängen 

aber nicht zum Besatzungsstatut Stellung.


Gysi bezeichnet sich als ungläubig und ist konfessionslos.



ELFTER GESANG


Sahra Wagenknecht ist die Tochter 

einer Deutschen und eines Iraners, 

der als West-Berliner Student 

ihre in der DDR lebende Mutter kennenlernte. 

Ihr Vater gilt seit dem Ablauf 

seiner Aufenthaltsgenehmigung 

im Jahr 1972 als verschollen. 

Als sie zum ersten Mal Bundestagsabgeordnete wurde, 

änderte sie die amtliche Schreibung 

ihres Vornamens entsprechend 

der persischen Schreibweise ab, 

wie es der ursprünglichen Namensgebung 

der Eltern entsprach. 

Ihre Mutter war nach Wagenknechts Angaben 

gelernte Kunsthändlerin und arbeitete 

für den staatlichen Kunsthandel. 

Sahra wuchs zunächst bei ihren Großeltern 

in einem Dorf bei Jena auf; 

mit Schulbeginn zog sie zu ihrer Mutter 

nach Ost-Berlin. Während ihrer Schulzeit 

wurde sie Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ) 

und schloss 1988 die Erweiterte Oberschule 

Albert Einstein“ in Berlin-Marzahn 

mit dem Abitur ab. 

Die in der DDR übliche militärische Ausbildung 

für Schüler empfand sie als extrem belastend: 

Sie konnte nichts mehr essen, 

was ihr von den Behörden 

als politischer Hungerstreik ausgelegt wurde. 

Als repressive Reaktion darauf durfte sie 

in der DDR nicht studieren. 

Als Begründung wurde genannt, 

sie sei „nicht genügend aufgeschlossen fürs Kollektiv“. 

Ihr wurde eine Arbeitsstelle 

als Sekretärin zugewiesen. 

Diese kündigte sie allerdings nach drei Monaten, 

was für DDR-Verhältnisse äußerst ungewöhnlich war. 

Sie erhielt fortan keinerlei staatliche 

Unterstützung mehr und bestritt ihren Lebensunterhalt 

mit dem Erteilen von Nachhilfestunden. 

Im Frühsommer 1989 trat Wagenknecht der SED bei, 

nach eigenen Angaben, 

um den in der Sackgasse steckenden Sozialismus 

umzugestalten und Opportunisten entgegenzutreten.


Nach der Wende studierte sie 

ab dem Sommersemester 1990 Philosophie 

und Neuere Deutsche Literatur 

an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 

und der Humboldt-Universität zu Berlin. 

Ihr Studium in Berlin brach sie ab, 

da sie „an der Ostberliner Humboldt-Universität 

kein Verständnis mehr für ihr Forschungsziel fand“. 

Danach immatrikulierte sie sich 

an der niederländischen Reichsuniversität Groningen 

für den Studiengang Philosophie. 

Nach eigenen Angaben hatte sie zuvor alle Scheine 

bis auf die Abschlussarbeit in Berlin gemacht 

und erwarb im September 1996 in Groningen 

den akademischen Grad Magistra Artium 

mit einer Arbeit über die Hegelrezeption 

des jungen Marx. Diese Untersuchung 

wurde 1997 als Buch veröffentlicht.


Nach eigenen Angaben begann sie 2005 

ihre Dissertation zum Thema 

Die Grenzen der Wahlfreiheit. 

Sparentscheidungen und Grundbedürfnisse 

in entwickelten Ländern“ 

im Fach Volkswirtschaftslehre. 

Im August 2012 reichte sie ihre Arbeit 

an der Technischen Universität Chemnitz 

beim Professor für Mikroökonomie Helmedag ein, 

der unter anderem auch Vertrauensdozent 

der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist. 

Zwei Monate später bestand sie ihre mündliche Prüfung 

zum Dr. rer. pol. 

mit der Gesamtbewertung magna cum laude. 

Im Oktober 2013 veröffentlichte 

der Campus-Verlag ihre Doktorarbeit 

über das Verhältnis von Einkommen und Rücklagen.


Von August 2012 bis August 2014 verfasste sie 

in der Tageszeitung Neues Deutschland 

regelmäßig Artikel in der Kolumne 

Der Krisenstab.


Ab 1991 war Wagenknecht Mitglied 

des Parteivorstandes der PDS. 

Zwischen 1995 und 2000 jedoch musste sie 

für fünf Jahre aus dem Vorstand ausscheiden, 

weil Gysi sie für so untragbar hielt, 

dass er mit seinem Rückzug gedroht hatte. 

Von 1991 bis 2010 war sie Mitglied der Leitung 

der vom Bundesamt für Verfassungsschutz 

als linksextremistisch eingestuften 

Kommunistischen Plattform (KPF), 

einem Zusammenschluss orthodox-kommunistisch 

orientierter Mitglieder und Sympathisanten 

innerhalb der Partei und blieb dies auch 

nach der Verschmelzung von WASG und PDS. 

Die von Wagenknecht als Sprecherin der KPF 

öffentlich vertretene „positive Haltung 

zum Stalinismusmodell“ 

bewertete der Parteivorstand als unvereinbar 

mit den Positionen der PDS. 

Wagenknecht war das einzige Vorstandsmitglied, 

das der Vorstandserklärung zum Mauerbau 

die Zustimmung versagte, 

weil die überfällige Mauer endlich 

das lästige Einwirken des Klassenfeindes beendet habe. 

Noch im Mai 2008 erklärte sie im Spiegel, 

dass sie den Begriff Diktatur für die DDR 

(die sie zuvor als „das friedfertigste 

und menschenfreundlichste Gemeinwesen, 

das sich die Deutschen im Gesamt 

ihrer Geschichte bisher geschaffen haben“ 

bezeichnet hatte) für unangemessen halte.


2000 wurde sie erneut in den Parteivorstand 

der PDS gewählt. Im März 2006 

gehörte sie zu den Initiatoren 

der Antikapitalistischen Linken, 

einer gemeinsamen Gruppierung 

aus Mitgliedern der WASG und Linkspartei. 

Seit Juni 2007 ist Wagenknecht Mitglied 

des Parteivorstandes der Partei Die Linke 

und seit Oktober 2007 Mitglied 

der Programmkommission. 

Ihren innerparteilichen Vorstoß, 

eine Kandidatur für den Vize-Parteivorsitz der Linken 

beim ersten Parteitag der fusionierten Partei 

im Mai 2008 zu erwägen, 

beendete sie nach der Ablehnung 

durch den Parteivorsitzenden Lothar Bisky 

sowie durch den Fraktionsvorsitzenden der Linken 

im Deutschen Bundestag Gregor Gysi 

und erklärte in einer Pressemitteilung, 

nicht als stellvertretende Vorsitzende zu kandidieren. 

Sie wurde auf dem Parteitag mit 70 Prozent der Stimmen 

erneut in den Parteivorstand gewählt. 

Auf Vorschlag Gysis und des Parteivorstands 

wurde Wagenknecht auf dem Bundesparteitag der Linken 

Anfang Mai 2010 mit 75 Prozent der Stimmen 

zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt. 

Am 8. November 2011 wurde sie 

mit 62 Prozent der Stimmen 

zur 1. Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt.


Zur Bundestagswahl 1998 trat Wagenknecht 

in Dortmund als Direktkandidatin der PDS an. 

Sie errang in ihrem Wahlkreis 3,25 Prozent 

der Erst- und 2,2 Prozent der Zweitstimmen. 

Bei der Europawahl in Deutschland 2004 

gelang Wagenknecht der Einzug 

ins Europaparlament. Vorausgegangen 

war eine parteiinterne Kampfabstimmung. 

Im Juli 2009 schied sie 

aus dem Europaparlament aus.


Bei der Bundestagswahl 2009 

kandidierte Wagenknecht für das Direktmandat 

im Wahlkreis Düsseldorf-Süd. 

Am 18. März 2009 wurde sie dafür 

vom Kreisverband der Linken in Düsseldorf nominiert.

Wagenknecht wurde vom Landesparteitag 

auf Platz 5 der Landesliste 

in Nordrhein-Westfalen gewählt. 

Sie erhielt am 27. September 2009 

9,7 Prozent der Erststimmen. 

Über die Landesliste zog sie 

in den Bundestag ein.


Wagenknecht ist seit 2011 eine von zwei 

ersten Stellvertreterinnen des Vorsitzenden 

der Bundestagsfraktion. 

Im Januar 2012 wurde bekannt, 

dass Sahra Wagenknecht als eine 

von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken 

unter Beobachtung durch das Bundesamt 

für Verfassungsschutz stehe.


Am 6. März 2015 teilte sie 

in einer persönlichen Erklärung mit, 

im Herbst 2015 nicht zur Wahl für den Posten 

der Fraktionsvorsitzenden anzutreten. 

Nachdem der amtierende Fraktionsvorsitzende 

Gregor Gysi am 7. Juni 2015 

auf dem Bundesparteitag der Linken 

in Bielefeld seinen Rückzug von diesem Amt 

zum Herbst des Jahres angekündigt hatte, 

erklärte sich Wagenknecht 

wenige Tage später doch bereit, 

gemeinsam mit Dietmar Bartsch 

in einer Doppelspitze Gysis 

Nachfolge antreten zu wollen. 

Am 13. Oktober 2015 lösten Wagenknecht 

und Bartsch Gysi im Fraktionsvorsitz ab 

und fungieren seitdem gemeinsam 

als Oppositionsführer im 18. Deutschen Bundestag.


Wagenknecht zeigt eine Sympathie 

gegenüber der Wirtschaftspolitik 

der Staaten Kuba und Venezuela. 

Über eine Presseerklärung ließ sie mitteilen, 

dass die andauernde Existenz 

des kubanischen Systems 

einen Hoffnungsschimmer für diejenigen 

in der sogenannten Dritten Welt bedeutet, 

die die Verlierer einer markt- und profitorientierten 

globalisierten Welt sind“. 

Ebenso verteidigte sie die vom venezolanischen 

Präsidenten Hugo Chávez beschlossene 

Verstaatlichung der Ölförderanlagen 

des US-Konzerns ExxonMobil.


Anfang Juni 2015 unterzeichnete Wagenknecht 

zusammen mit 150 weiteren Prominenten 

aus Kultur und Politik einen offenen Brief 

an die Bundeskanzlerin, 

in dem die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher

Lebenspartnerschaften gegenüber 

der zweigeschlechtlichen Ehe gefordert wurde.


Wagenknecht wies angesichts der Flüchtlingswelle 

im Januar 2016 auf „Kapazitätsgrenzen“ 

und „Grenzen der Aufnahmebereitschaft 

in der Bevölkerung“ hin, wofür sie in ihrer Partei 

und darüber hinaus scharf kritisiert wurde.


Weiter kritisierte sie die Flüchtlingspolitik 

der Bundeskanzlerin Angela Merkel 

als „planlos“, sie habe in Deutschland 

zu einem „völligen Staatsversagen“ geführt, 

auf sozialem Gebiet ebenso 

wie auf dem der inneren Sicherheit“. 

Sie forderte eine stärkere Unterstützung 

des Bundes für die Länder und Kommunen, 

die den Großteil der Kosten 

für Flüchtlinge selbst tragen würden 

und an anderer Stelle kürzen müssten. 

Wagenknecht warnte davor, „die Armen 

gegen die Ärmsten auszuspielen“ 

und nannte als Beispiel 

drohende Nahrungsengpässe 

bei der offenen Tafel für Arme.


Wagenknecht bezeichnete 

die Fluchtursachenbekämpfung 

der Bundesregierung als „unglaubwürdig“, 

da Deutschland Waffen in Spannungsgebiete exportiere 

und Drohneneinsätze der USA 

mit logistischer Unterstützung aus Deutschland“ 

geflogen würden. Die Außenpolitik 

von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) 

in Form einer Unterstützung der „Ölkriege 

der USA und ihrer Verbündeten“ 

seien der Grund für die Existenz und Stärke 

des Islamischen Staates. 

Merkel trage deshalb und durch ihre Grenzöffnung 

für Flüchtlinge sowie den Sparkurs bei der Polizei 

eine „Mitverantwortung“ 

für den Anschlag in Berlin. 

Beobachter attestierten ihr daraufhin 

zum wiederholten Male eine ideologische Nähe 

zur „Alternative für Deutschland“.


1992 lobte Wagenknecht in ihrem Artikel 

Marxismus und Opportunismus“ 

Stalins Herrschaft in der Sowjetunion 

als „die Entwicklung eines um Jahrhunderte 

zurückgebliebenen Landes 

in eine moderne Großmacht 

während eines weltgeschichtlich einzigartig 

kurzen Zeitraums; damit die Überwindung 

von Elend, Hunger, Analphabetismus, 

halb feudalen Abhängigkeiten 

und schärfster kapitalistischer Ausbeutung“.


Ihre Haltung zum Stalinismus 

wurde innerhalb der Linkspartei 

teilweise als zu unkritisch empfunden 

und unter anderem von Gregor Gysi 

und dem Bundestagsabgeordneten 

Michael Leutert kritisiert. Letzterer 

sprach sich 2008 gegen ihre Kandidatur 

als stellvertretende Parteichefin aus, 

weil sie sich zu wenig vom Stalinismus distanziere. 

Gemeinsam mit anderen Mitgliedern 

der Kommunistischen Plattform 

sprach sich Wagenknecht 2008 

in einer Stellungnahme gegen 

ein allgemeines Gedenken 

in Form eines Gedenksteins 

auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde 

mit der Aufschrift „Den Opfern des Stalinismus“ aus, 

da sich unter diesen auch Faschisten befunden hätten, 

drückte aber ihr Mitgefühl 

mit den unschuldigen Toten aus.


In einem Interview aus dem Jahre 2009 

setzt sich Wagenknecht kritisch 

mit dem „repressiven politischen System 

der DDR“ auseinander, lehnt aber 

eine Charakterisierung der DDR 

als Unrechtsstaat ab, 

weil dies darauf hinauslaufe, 

die DDR auf eine Ebene 

mit der NS-Diktatur zu stellen. 

Die DDR sei kein demokratischer Staat gewesen, 

jedoch sei auch im heutigen kapitalistischen System 

keine echte Demokratie möglich.


Als der israelische Staatspräsident Schimon Peres 

am Tag des Gedenkens an die Opfer 

des Nationalsozialismus 2010 

als Gast im Deutschen Bundestag sprach, 

erhoben sich die Abgeordneten 

Christine Buchholz, Sevim Dağdelen 

und Wagenknecht zum Schlussapplaus 

nicht von ihren Sitzen. 

Sie wurden deswegen öffentlich 

und parteiintern kritisiert, 

so erklärte der Berliner Landeschef der Linkspartei, 

Klaus Lederer, das Verhalten der Abgeordneten 

für „inakzeptabel“, Michael Leutert erklärte sie 

für „nicht wählbar“.





DIE BOLSCHEWIKI



ERSTER GESANG


Lenin stammte aus einer sozial 

und kulturell liberalen Familie, 

die einst in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. 

Seine deutsch erzogene Mutter 

wuchs in einem Dorf auf 

und erhielt eine häusliche Bildung. 

Als Autodidaktin erlernte sie mehrere Fremdsprachen. 

Sie heiratete den Mathematik- und Physiklehrer Uljanow. 

Obwohl sie im selben Jahr als Externe 

das Lehrerinnenexamen ablegte, 

worauf sie sich selbstständig vorbereitet hatte, 

widmete sie sich ganz ihrer Familie.


Lenins Vater hatte die Kasaner Universität absolviert. 

Er gab seine langjährige Lehrtätigkeit 

an höheren Schulen in Pensa und Nischni Nowgorod auf 

und wurde zunächst Inspektor, später Direktor 

von Volksschuleinrichtungen in Simbirsk. 

Er wurde dann in den erblichen Adelsstand erhoben. 

In fast zwanzig Jahren seiner Tätigkeit 

stieg die Zahl der Schulen 

im Gouvernement Simbirsk bedeutend. 

Außerdem erzog er viele „fortschrittliche Lehrer“, 

die „Uljanows“ genannt wurden.


Die Eltern Lenins lebten in Simbirsk. 

Die Familie Uljanow hatte dabei 

eine Geschichte des sozialen Aufstiegs hinter sich. 

Lenins Großvater väterlicherseits 

war ein aus der Leibeigenschaft befreiter Bauer, 

der sich als Schneider niederließ.


Nach zaristischer Rangordnung 

war Lenin ein Adliger, 

auch wenn erst der Vater 

in den Adelsstand erhoben worden war 

und die Familie nicht recht 

an die höhere Gesellschaft anschließen konnte. 

Sein Vater verstarb unerwartet 

an einer Hirnblutung. 

Lenins älterer Bruder Alexander, Student 

an der Mathematisch-Physikalischen Fakultät 

an der Universität Sankt Petersburg, 

hatte sich einer revolutionären Gruppe angeschlossen, 

die den Zaren Alexander III. ermorden wollte. 

Er wurde hingerichtet. 

Die Familie wurde anschließend 

fast vollständig gemieden, lebte aber trotz 

des Todes des Vaters und der Schande 

der Hinrichtung des Sohnes 

in materiellem Wohlstand. 

Neben einer stattlichen Rente 

hatte sie Einkünfte aus dem Besitz eines Landguts, 

das noch zu Lebzeiten des Vaters 

aus der Mitgift der Mutter erworben worden war.


Zusammen mit dem frühen Tod des Vaters 

prägte die Hinrichtung seines Bruders 

den jungen Lenin entscheidend. 

Sein Bruder wurde drei Tage nach dem Beginn 

der Abschlussprüfungen Lenins 

an der Schule gehängt. 

Lenin bestand diese Prüfung trotzdem. 

Er studierte die Bücher, die Alexander hinterlassen hatte, 

vor allem die des verbannten Revolutionärs 

Tschernyschewski, der für eine klassenlose 

Gesellschaft eintrat. Lenin hatte viele 

intellektuelle Interessen wie Literatur 

und Altphilologie und war auch 

ein geschickter Schachspieler.


Lenin konnte nicht in Sankt Petersburg studieren 

und schrieb sich an der Universität Kasan 

für das Studium der Jurisprudenz ein. 

Schon in seinem ersten Jahr beteiligte Lenin sich 

an einem Studentenprotest 

und wurde zusammen mit anderen Studenten 

von der Universität verwiesen. 

Lenin nahm bei diesem Treffen 

keine führende Rolle ein. 

Seine Bestrafung durch die Behörden war vor allem 

durch die Geschichte seines Bruders motiviert. 

Der Vater des späteren Ministerpräsidenten Kerenski 

der Provisorischen Regierung, 

der Lenin am Gymnasium unterrichtet hatte, 

setzte sich vergeblich 

für die Aufhebung des Urteils ein.


Bei Samara bezog die Familie ein Gut, 

das sie mit ihrem Kapital erworben hatte; 

bald darauf aber verpachtete sie es. 

Lenin erwies sich als ungeeignet zum Gutsverwalter 

und gab sich auch keine Mühe. 

Entgegen einer später von den Kommunisten 

verbreiteten Behauptung hat er keine Kontakte 

zu Bauernfamilien gehabt, sein Wissen 

über das Bauerntum stammte vielmehr 

nur aus Büchern. 

Diese äußerten sich negativ 

über die russischen Bauern, 

denen sie Trunksucht, Gewalt 

und Fremdenfeindlichkeit unterstellten.


Lenin lebte vom Vermögen der Familie, 

unternahm lange Wanderungen, 

gab den jüngeren Geschwistern Nachhilfe, 

las politische Literatur 

und setzte sein Jurastudium fort. 

Er durfte die Prüfungen abschließen, 

was ihm auch gelang. 

Die spätere kommunistische Propaganda verschwieg, 

dass auch Kirchenrecht 

zu seinen Fächern gehörte. 

Dann nahm Lenin eine Tätigkeit 

als Advokatengehilfe auf. 

Er betätigte sich auch in einigen wenigen Fällen 

als Advokat und nahm zwei Fälle an, 

einmal gegen Bauern, 

die ihr Vieh unberechtigterweise 

auf dem Anwesen seiner Familie hatten weiden lassen, 

ein anderes Mal klagte er gegen einen 

ehemaligen französischen Adligen, 

der ihn bei einem Besuch in Paris 

mit seinem Auto angefahren hatte.


Lenin beschäftigte sich bereits in jungen Jahren 

mit verschiedenen politischen Theorien. 

Einerseits setzte er sich kritisch mit den russischen

Bauernsozialisten“ (Narodniki), 

andererseits mit den Thesen von Karl Marx, 

die er bereits theoretisch interpretierte, auseinander. 

Lenin hielt Russland für wirtschaftlich 

und sozial fortgeschrittener 

als es tatsächlich war, 

sodass er an eine baldige proletarische 

Revolution glaubte. Andere Revolutionäre 

fanden, Lenins Marxismus setze zu sehr 

auf die terroristischen Aspekte der Narodniki, 

zum Beispiel wiederholte Lenin immer wieder 

den Satz „das ganze Haus Romanow“ 

müsse getötet werden.


Lenin verurteilte die Hilfsaktionen 

der gebildeten Schicht 

anlässlich der Hungersnot in der Provinz Samara, 

in der er als Advokat tätig war. 

Er wertete die Hungersnot als Schritt 

in Richtung Sozialismus, da sie den Glauben 

an den allmächtigen Gott 

und den gottbegnadeten Zaren zerstöre. 

Vom Pächter seines eigenen Landgutes 

forderte er die volle vereinbarte Summe, 

der wiederum die Bauern 

trotz der Hungersnot voll zahlen ließ.


Lenin zog nach Sankt Petersburg. 

Dort studierte er die Theorien von Plechanow, 

dem er später in der Schweiz auch selber begegnete. 

Nach einer mehrmonatigen Europareise 

durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz 

gründete er den „Bund für die Befreiung 

der Arbeiterklasse“. Sobald er im Herbst 

nach Russland zurückgekommen war, nahm er 

seine demagogische Tätigkeit wieder auf.


Während der Vorbereitung einer illegalen Zeitung 

wurde er verhaftet 

(die Anklage lautete: Demagogie). 

Im Untersuchungsgefängnis richtete er sich 

eine Bibliothek in seinem „Studierzimmer“ ein. 

Anschließend wurde er für drei Jahre 

nach Südsibirien verbannt, 

wo er unter Polizeiaufsicht leben musste. 

In Ufa traf er Nadeschda Krupskaja, 

die er in der Verbannung heiratete.


Sofort nach der Rückkehr aus der Verbannung 

suchte Lenin nach einer Möglichkeit, 

eine von der Zensur unabhängige Zeitung 

herauszubringen. In Russland 

war das nicht möglich, und so ging er 

für über fünf Jahre ins Ausland. 

Nach einem kürzeren Aufenthalt in Genf, 

wo er sich mit Plechanow 

über die Herausgabe der Zeitung „Der Funke“ 

einigte, ließ sich Lenin in München illegal nieder. 

Dort erschien die von ihm mit herausgegebene 

Zeitung „Morgenröte“.


Er veröffentlichte in der bayerischen 

Landeshauptstadt die programmatische Schrift 

Was tun?“ unter dem Decknamen „Lenin“. 

Sie machte ihn unter den Revolutionären bekannt, 

polarisierte aber auch stark. 

Denn darin entwarf er das Konzept 

einer geheim agierenden, disziplinierten 

und zentralisierten Klassenkampf-Partei, 

bestehend aus Berufsrevolutionären. 

Die Partei sollte in ideologischen 

und strategischen Fragen geeint auftreten 

und die ungebildeten Masse der Bevölkerung 

auf dem Weg zur Revolution anführen. 

Die Notwendigkeit einer solchen konspirativen 

Organisation begründete Lenin damit, 

dass im Autokratischen Zarenreich 

keine andere Partei erfolgreich 

einen Umsturz einleiten könne. 

Lenin wandte sich in seiner Schrift explizit 

gegen die liberale Linke, 

die eine Veränderung durch demokratische 

Organisation und Gewerkschaften 

erwirken wollte. Die Idee der Partei 

als straff geführte Geheimorganisation 

war bei den Organisationsbereiten 

unter Russlands Linken nicht strittig, 

und Lenin bemühte sich mit Zitaten 

von Marx und Engels, die Forderungen 

marxistisch zu begründen. 

Manchen russischen Sozialdemokraten empörte es, 

dass Lenin dabei terroristische Bauernführer 

und den Massenterror lobte. 

Lenins Betonung der Konspiration 

musste als Aufruf zu Verschwörungen 

interpretiert werden. Später wurde Lenins 

Organisationsmodell als „demokratischer“ 

Zentralismus bekannt.


Seit München verwendete er 

den Kampfnamen „Lenin“. 

Man sagt, dass er sich dabei 

auf den sibirischen Strom Lena bezog. 

Lenin bedeutet russisch: 

Der vom Fluss Lena Stammende“. 

Nach Sibirien verbannt zu werden, 

bedeutete damals praktisch, 

dass man im Heiligen Russischen Zarenreich 

als Oppositioneller galt. 

Andere sagen, dass er mehr 

an sein Kindermädchen Lena dachte, 

und dass er bereits als kleiner Junge 

auf die Frage, „wessen Kind er sei“, 

zu antworten pflegte: „Lenin!“, 

zu deutsch: „Lenas!“


Lenin hatte mehrere Decknamen, 

beispielsweise lebte er im Münchner Stadtteil Schwabing 

als Jordan Jordanow und andernorts 

in München unter dem Namen Mayer.


Lenin betrieb den Aufbau 

einer streng organisierten Kaderpartei 

aus Berufsrevolutionären und wurde 

wegen seiner vom russischen revolutionären 

Terrorismus inspirierten Rigorosität 

und wegen seiner radikalen theoretischen Positionen 

der aufsehenerregendste linke Sozialdemokrat.


Die Ansichten und Absichten Lenins 

führten auf dem zweiten Parteitag in London 

zur faktischen Spaltung der Sozialdemokratischen 

Arbeiterpartei Russlands. 

Lenin hatte mit erfolgreicher List seine Anhänger 

in das Organisationskomitee platziert. 

Unterstützt von Plechanow 

und durch den Auszug der reformorientierten 

Ökonomisten und der jüdischen Delegierten 

vom Bund gelang es Lenin, 

seine Hauptforderungen in das Parteiprogramm 

und das Statut zu bringen, 

unter anderem die Betonung der Diktatur 

des Proletariats. Lenin nannte aufgrund 

der Abstimmungsmehrheit seine Gruppe 

Bolschewiki (Mehrheit) 

und die Gemäßigten Menschewiki (Minderheit).


1905 brach eine russische Revolution aus, 

während das Land sich im Krieg mit Japan befand. 

Für Lenin stand nicht der innenpolitische Kampf 

gegen die Regierung, sondern der Kampf 

gegen die Menschewiki im Vordergrund, 

während er außenpolitisch 

für Japan Partei ergriff. 

So wird er auch später im Ersten Weltkrieg 

die Feinde des Zaristischen Russlands unterstützen. 

Diese Haltungen Lenins 

haben bei anderen Parteimitgliedern 

nicht viel Verständnis gefunden; 

einige von Lenins engsten Mitarbeitern 

wollten einen dritten Parteitag vorbereiten 

und dort die Versöhnung der Bolschewiki 

mit den Menschewiki bewirken. 

Einen schroffen Brief an die Bolschewiki, 

der Lenin vollkommen isoliert hätte, 

schwächte er in einem späteren Entwurf ab. 

Trotzdem haben sich die Bolschewiki 

über Lenins Realitätsferne gewundert.


In dieser Zeit nahm Lenin 

auch den Sowjet-Gedanken auf, 

während viele Bolschewiki 

einer Verschwörung im Geheimen den Vorzug gaben. 

Nach dem Moskauer Aufstandsversuch der Bolschewiki 

im Dezember 1905 war Lenin skeptisch, 

was Aufstände anging, 

die Partei solle sich besser 

in das Parlament wählen lassen. 

Er befürwortete damals noch die Zusammenarbeit 

mit den Menschewiki.


Dann musste Lenin vor der russischen Geheimpolizei 

nach Finnland fliehen, nach Helsinki, 

ein Jahr später zog er nach Genf.


Im Laufe der Jahre wurden die Unterschiede 

zwischen den beiden Lagern immer größer, 

so dass bei der sechsten Gesamtrussischen Parteikonferenz 

in Prag die Menschewiki ausgeschlossen wurden. 

Sie bildeten daraufhin eine eigene Partei. 

Erst nach der Oktoberrevolution nannten die Bolschewisten 

ihre Partei in Kommunistische Partei Russlands um.


Die Parteispaltung war von der zaristischen 

Geheimpolizei gefördert worden; 

Lenins enger Mitarbeiter Roman Malinowski 

war ihr Agent. 

Mitglieder der Bolschewiki verdächtigten 

Malinowski als Spion, 

nachdem einige Parteimitglieder verhaftet worden waren. 

Lenin tat diese Vorwürfe im Rahmen 

einer parteiinternen Untersuchung mit Verweis 

auf dessen Herkunft aus einer Arbeiterfamilie ab.


Lenin gab nun die „Prawda“ heraus. 

In der Folgezeit widmete er sich im Schweizer Exil 

wieder marxistischen Studien, 

es entstand vor allem seine Schrift 

Der Imperialismus als höchstes Stadium 

des Kapitalismus“, die die Grundlage 

der marxistischen Theorie des Imperialismus 

sowie der darauf basierenden Theorie 

vom staatsmonopolistischen Kapitalismus bildete. 

Dieses Werk vollendete er in Zürich, 

wohin er umziehen durfte, 

nachdem er ein entsprechendes Ersuchen 

mit dem Wunsch nach Nutzung der dortigen 

Zentralbibliothek begründet hatte.


Im August 1914 begann der Erste Weltkrieg. 

Lenin hatte über einen österreichisch-russischen 

Krieg spekuliert, ihn aber in einem Brief 

an Maxim Gorki für unwahrscheinlich gehalten:


Ein Krieg zwischen Österreich und Russland 

wäre für die Revolution in ganz Osteuropa sehr nützlich, 

aber es ist kaum anzunehmen, dass uns Franz Joseph 

und unser Freund Nikolaus dieses Vergnügen bereiten.“


Die Bolschewiki waren international 

die einzige sozialdemokratische Parteiorganisation, 

die von Anfang an gegen die Kriegspolitik 

der eigenen Regierung mobilisierte. 

Dennoch gelang es der Partei nicht, 

sich einen nennenswerten Rückhalt 

in der Bevölkerung zu verschaffen. 

Ihre Mitgliederzahl, ihre Akzeptanz 

und ihr Einfluss blieben gering.


Die deutsche Oberste Heeresleitung 

ermöglichte den Bolschewiki, 

unter den russischen Kriegsgefangenen 

Propaganda zu betreiben, 

und nach der Februarrevolution ließ sie Lenin 

und andere russische Revolutionäre 

aus der Schweiz durch Deutschland reisen, 

weiter ging es über Stockholm nach Russland.


Diese Reise war vom deutschen Kaiser Wilhelm II. 

persönlich an die Bedingung geknüpft, 

dass Lenin einen Separatfrieden anstrebe, 

was dieser vorher kategorisch abgelehnt hatte 

und nach seiner Ankunft in Russland 

auch weiterhin dementierte. 

Um nicht in den Verdacht des Vaterlandsverrats 

zu kommen, bezeichnete Lenin 

die finanzielle Unterstützung der Bolschewiki 

durch das deutsche Kaiserreich 

wider besseres Wissen öffentlich als Lüge.


Nachdem in der Februarrevolution 

der heilige Zar gestürzt worden war, 

die russische Armee aber noch weiterkämpfte, 

kehrten Lenin und andere Kommunisten 

mit Unterstützung der deutschen Obersten Heeresleitung 

aus der Schweiz über das Gebiet 

des Kriegsgegners Deutschland, 

über Schweden und Finnland nach Russland zurück. 

Sie fuhren in einem versiegelten Zug, 

der zu exterritorialem Gebiet erklärt worden war. 

Außerdem transferierte die deutsche Regierung 

auch mehrere Millionen Goldmark, 

um die mit der Revolution einhergehende 

Destabilisierung voranzutreiben. 

Lenin erreichte im April mit einigen seiner Genossen 

den Finnischen Bahnhof in Sankt Petersburg 

und propagierte die Revolution 

zur Machtergreifung der Arbeiter, Bauern und Soldaten. 

In seinen Aprilthesen forderte er umfangreiche 

Enteignungen, eine Machtübertragung an die Sowjets 

und den Sturz der provisorischen Regierung.


Lenin stellte sich gegen die provisorische Regierung 

unter Kerenski, den er öffentlich 

als Dummkopf schmähte. 

Bereits im Juni verkündete Lenin im Rahmen 

des Vierten Allrussischen Sowjetkongresses 

die Ambition der Bolschewiki, die Macht 

im Land zu übernehmen. 

Seine Forderungen nach einer Verteilung des Landes 

an die Bauern ohne Entschädigung 

und nach der Enteignung 

der reichsten Bevölkerungsschicht 

wurden rasch populär. Die Bolschewiki 

agitierten in der russischen Armee 

gegen die Weiterführung des Krieges, 

auch wenn Lenin einen Separatfrieden 

noch öffentlich ablehnte. Als sich das Scheitern 

der Angriffsoperationen abzeichnete, 

warf Lenin der Provisorischen Regierung vor, 

Tausende Menschen in ein blutiges 

Gemetzel getrieben zu haben. 

Im Juli versuchte Lenin den Prestigeverlust 

der Regierung für die Ziele 

der Bolschewiki auszunutzen. 

In der Hauptstadt Sankt Petersburg 

forderte die Partei zu Massendemonstrationen auf. 

Diese führten aber nicht zum Umsturz, 

sondern schlugen sich nur in chaotischen 

bewaffneten Auseinandersetzungen 

und Plünderungen nieder. Lenin stellte fest, 

dass ein Aufstand besser organisiert werden müsse, 

um effektiv zu sein. Er selbst befand sich 

zu Beginn der Demonstrationen nicht in der Hauptstadt, 

sondern zur Erholung in Finnland. 

Die Provisorische Regierung setzte Militär ein 

und brachte die Stadt so wieder zur Ruhe. 

Zudem wurde ein Gerichtsverfahren 

gegen Lenin wegen Hochverrats anberaumt. 

Die Partei der Bolschewiki und ihr Hauptpresseorgan, 

die „Prawda“, wurden offiziell 

von der Regierung verboten. 

Der Partei gelang es allerdings 

durch eine Namensänderung der Partei 

sowie der „Prawda“, weitgehend 

ihre Aktivitäten aufrechtzuerhalten.


Lenin fürchtete nach diesem Scheitern 

die Todesstrafe, falls er sich der Anklage stellen würde, 

und begab sich in den Untergrund. 

Er nahm nach den Maßnahmen der Regierung 

gegen die Bolschewiki einen Strategiewechsel vor, 

den er selbst wie folgt zusammenfasste:


Alle Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung 

der russischen Revolution 

sind nutzlos verschwunden. 

Dies ist die objektive Situation: 

Entweder vollständiger Sieg der Militärdiktatur 

oder der Sieg für den bewaffneten Aufstand.“ 

Er drängte somit auf einen bewaffneten Aufstand.


Nach weiteren militärischen Fehlschlägen 

der gemäßigt sozialistisch-liberalen 

Provisorischen revolutionären Regierung“ 

unter Kerenski gelang es den Bolschewiki 

und den neu gegründeten Sowjets 

am 7. November 1917, 

die bürgerliche Regierung zu stürzen. 

Trotzki, Lenins Vertrauter, organisierte den Aufstand, 

der auf wenig Gegenwehr stieß. 

Bei diesem Auftakt zur Oktoberrevolution 

wurden sechs Menschen getötet. 

Einen Tag später tagte in Sankt Petersburg 

auch der Zweite Allrussische Sowjetkongress. 

Die Bolschewiki besaßen in diesem zentralen 

Arbeiter- und Soldaten-Sowjet 

zunächst keine Mehrheit. 

Aus Protest gegen das Vorgehen der Bolschewiki 

verließen jedoch viele Abgeordnete, 

darunter die Menschewiki, den Sitzungssaal 

und überließen den Bolschewiki das Feld. 

Lenin wurde über Nacht als Vorsitzender 

des Sowjets der Volkskommissare 

der Regierungschef Russlands. 

Ein steiler Aufstieg aus dem Keller an die Macht“, 

sagte er, „mir dreht sich der Kopf“.


Auf dem Zweiten Sowjetkongress 

legte Lenin noch dar, dass seine Regierung 

die Russische konstituierende Versammlung 

respektieren werde und sich lediglich 

als Provisorium bis zu deren Wahl verstehe. 

Die Wahl lief selbst demokratisch 

und ohne Zwischenfälle ab. 

Sie brachte den Bolschewiki aber 

eine empfindliche Niederlage ein, 

da die Mehrheit der Stimmen 

an die Sozialrevolutionäre ging 

und Lenins Partei nur rund ein Viertel der Sitze gewann. 

Legal war eine Machtübernahme damit unmöglich. 

Daraufhin ließ Lenin, der bereits zuvor 

die Legitimation der Versammlung kritisiert hatte, 

sie am Tag nach der Wahl gewaltsam auflösen. 

In Sankt Petersburg kam es daraufhin 

zu Demonstrationen und gewalttätigen Zusammenstößen, 

in deren Verlauf mehrere Menschen zu Tode kamen.


Der sofortige Friedensschluss, 

die Verteilung des Bodens an die Bauern 

und die Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter 

waren die unmittelbar wirkenden Losungen. 

Die Partei etablierte unter Lenins Vorsitz 

den Rat der Volkskommissare 

als bolschewistische Regierung. 

Im Februar entstanden zu ihrer Unterstützung 

die Rote Armee unter der Führung Trotzkis 

und die Geheimpolizei Tscheka unter Dserschinski. 

Im März beendete das Abkommen von Brest-Litowsk 

den Krieg mit Deutschland 

unter massiven Gebietsverlusten für Russland.


Lenin wurde bei einem Attentat 

durch zwei Schüsse verletzt. 

Die Projektile trafen ihn in Schulter und Hals. 

Als Attentäterin verhaftete man kurz darauf 

Fanny Kaplan, eine Anhängerin 

der Sozialrevolutionäre, die als Anhängerin 

der gewaltsam aufgelösten konstituierenden Versammlung 

Lenin für einen Verräter an der Revolution hielt. 

Nach einem Verhör durch die Tscheka 

wurde sie ohne ein Gerichtsverfahren exekutiert.


Später wurde die Kugel im Hals operativ entfernt, 

nachdem Lenin einem Neuropathologen berichtet, 

er habe an Zwangsvorstellungen zu leiden.


Einen Monat nach der Operation 

erlitt Lenin einen schweren Schlaganfall. 

Der Schlaganfall lähmte Lenin rechtsseitig, 

erschwerte das Sprechen, verwirrte den Geist 

und machte eine Genesung fraglich. 

Lenin dachte an Selbstmord 

und bat Stalin um Gift.


Wie lange der Bürgerkrieg dauerte, ist schwer zu sagen. 

Geprägt war der Bürgerkrieg 

von den Konfliktparteien der Weißen, der Roten 

und mit den Grünen auch durch Kampfhandlungen 

der ländlichen Bevölkerung 

gegen Rote und Weiße Truppen. 

Nationale Erhebungen 

und anarchistische Strömungen 

spielten gleichfalls eine Rolle. 

Um den Krieg zu gewinnen, 

griff die bolschewistische Partei zu Maßnahmen 

des Kriegskommunismus 

und setzte sich militärisch erfolgreich durch. 

Lenin war in diesen Jahren 

trotz vieler offen ausgetragener Meinungsunterschiede 

die unumstrittene Führungspersönlichkeit der Partei 

und der Regierung und wurde auch 

als die höchste Autorität der dritten 

Kommunistischen Internationale angesehen.


Bereits kurz nach der Oktoberrevolution 

versuchte Lenin, die russische Wirtschaft 

per Dekret in eine zentrale Planwirtschaft 

umzuwandeln. Als Erstes wurden 

die Banken verstaatlicht. 

Gemäß dem Parteiprogramm der Bolschewiki 

sollte das Geld als Zahlungsmittel 

komplett abgeschafft werden. 

Da das Geld nicht per Dekret abgeschafft werden konnte, 

ließ die Regierung durch zusätzliches Gelddrucken 

eine Hyperinflation herbeiführen, 

die alle umlaufenden Geldmittel entwertete. 

Lenin beauftragte Juri Larin damit, 

eine zentrale Planungsinstanz 

für die Verstaatlichung der Industrie zu schaffen. 

Hieraus ging der Oberste Wirtschaftsrat hervor, 

der die Enteignung der privaten Unternehmen 

umsetzte, deren Eigentümer in der Regel 

ihre Betriebe entschädigungslos abtreten mussten. 

Das Firmenvermögen wurde vom Staat eingezogen.


Neben diesem Umbau in der Wirtschaft 

führte Lenin auch Reformen 

im Bildungswesen durch. 

Die Alphabetisierung des Landes 

wurde von ihm energisch vorangetrieben. 

Er schuf per Dekret verpflichtende 

Unterrichtskurse für Analphabeten. 

Es wurde die Einrichtung eines Netzes 

von Kleinbibliotheken geschaffen, 

das jedem den Zugang zu Büchern sichern sollte. 

Auf der Ebene der Hochschulbildung 

öffnete Lenins Regierung den Zugang 

für ärmere Bevölkerungsschichten 

und schaffte das mehrgliederige Schulsystem ab. 

Es wurden Arbeiterfakultäten eingeführt, 

die auch Erwachsenen, denen ein Studium 

nicht möglich gewesen war, den Zugang 

zu universitärer Bildung öffneten.


Gegen die bolschewistische Regierung 

formierte sich in vielen Landesteilen Widerstand. 

Um ihre Macht zu sichern 

und den Widerstand zu brechen, 

setzte die Regierung die vom Volkskommissar 

für Kriegswesen Trotzki aufgestellte Rote Armee ein. 

So entwickelte sich ein Bürgerkrieg, 

in den sich Amerika, Großbritannien 

und zahlreiche andere Staaten 

durch die massive Unterstützung 

der Weißen Truppen einmischten. 

Dieser Bürgerkrieg war durch große militärische Härte 

(Roter Terror) geprägt und endete 

mit der Niederlage der Weißen Truppen.


Lenin selbst beschränkte sich 

während des Bürgerkriegs weitgehend 

auf die politische Führung des Sowjetstaates. 

Nach seiner eigenen Aussage war es für ihn zu spät, 

sich militärische Kenntnisse anzueignen. 

Er begnügte sich damit, die grobe Strategie zu bestimmen, 

in die Planung der militärischen Operationen 

mischte er sich dagegen kaum ein. 

Auf Besuche an der Front verzichtete er 

während des gesamten Krieges.


Im Rahmen seiner Weisungsbefugnis als Staatschef 

regte er allerdings an, Geiseln unter Zivilisten 

und Angehörigen von Offiziersfamilien 

nehmen zu lassen, da er Hochverrat 

unter den im alten Regime ausgebildeten 

Offizieren fürchtete. Lenin förderte 

und verlangte als Staatschef 

den Roten Terror im Bürgerkrieg. 

So ordnete er in einem Schreiben 

an die Behörden von Nischni Nowgorod an: 

Organisiert umgehend Massenterror, 

erschießt und deportiert 

die Hundertschaften von Prostituierten, 

die die Soldaten in Trunkenbolde verwandeln, 

genauso wie frühere Offiziere, und so weiter.“ 

Er ordnete gegenüber den Behörden von Pensa 

die Einrichtung eines Konzentrationslagers an. 

Lenin legitimierte den Roten Terror 

als vorübergehend notwendige Maßnahme 

im Bürgerkrieg, er diene der Verteidigung 

gegen die Weißen Truppen. So erklärte er: 

Der Rote Terror wurde uns durch den Terrorismus 

der stärksten Mächte der Welt aufgezwungen, 

die vor nichts zurückschreckend, 

mit ihren Horden über uns herfielen. 

Wir hätten uns keine zwei Tage halten können, 

wären wir diesen Versuchen der Offiziere 

und Weißgardisten nicht ohne Erbarmen begegnet, 

und das bedeutet Roter Terror.“ 

Später sagte Lenin, dass er keineswegs 

die Abschaffung des Terrors vorsah: 

In einem Brief zur Reform der Justiz 

äußerte er die Absicht, den Terror 

staatlichem Konventionen zu unterwerfen, 

die Idee ihn abzuschaffen bezeichnete er hingegen 

als Selbsttäuschung.


Lenin unternahm nach innerparteilichen 

Auseinandersetzungen den Versuch, 

den Kommunismus im Ausland zu etablieren. 

Nachdem polnische Einheiten 

und ukrainische Nationalisten 

vergeblich versucht hatten, die Ukraine zu besetzen 

und aus dem sowjetischen Staatenbund zu lösen, 

ließ die Partei die Rote Armee 

in Polen einmarschieren. 

Die Hoffnung auf eine einsetzende Revolution dort 

erfüllte sich aber nicht. Die katholischen 

und patriotischen Polen kämpften, 

unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, 

gegen den sowjetischen Einmarsch. 

Die Rote Armee wurde von polnischen Truppen 

unter Marschall Pilsudski vernichtend geschlagen 

(das „Wunder an der Weichsel“).


Während des Bürgerkrieges 

kam es zu einer Versorgungskrise. 

Ursächlich dafür war die Agrarpolitik der Bolschewiki. 

Gemäß den Lehren des Marxismus 

betrachteten sie die selbstständigen Bauern 

als eine kleinbürgerliche Klasse ohne Zukunft. 

Im Zuge der Zentralisierung der Landwirtschaft 

sollten die Bauern ihre Erträge 

zu niedrigen Festpreisen 

an die staatlichen Behörden abgeben. 

Als die Bauern dies verweigerten, 

ließ Lenin die Erträge 

durch bewaffnete Kommandos 

aus den Städten einsammeln. 

Dieses Vorgehen forderte zahlreiche Menschenleben. 

Die Bauern reagierten auf die Zwangsmaßnahmen 

mit militärischem Widerstand 

und der Verkleinerung der Anbauflächen, 

was wiederum zu noch geringeren Erträgen 

und vor allem in den Städten 

zu Hungersnöten führte. 

Verschärft wurde die Ernährungslage 

durch den andauernden Bürgerkrieg.


Dann kam es zum Kronstädter Matrosenaufstand, 

der für die Bolschewiki gefährlich war, 

weil er von Teilen der eigenen Basis kam. 

Er wurde blutig niedergeschlagen. 

Die Bolschewiki richteten zu ihrer Herrschaftssicherung

Konzentrationslager für Regimegegner ein, 

die Vorläufer der später von Stalin eingerichteten 

und umfassenden Arbeitslager, den Gulags.


Während des Bürgerkrieges verfolgte Lenin 

gegenüber der Russisch-Orthodoxen Kirche 

anfangs noch eine zurückhaltende Politik. 

Auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress 

sprach sich Lenin dafür aus, die Religion 

mit gewaltlosen Mitteln der Agitation zu bekämpfen. 

Kurz nach seiner Machtübernahme setzte er 

per Dekret die Trennung von Kirche und Staat durch. 

Ein Jahr nach dem Bürgerkrieg dirigierte Lenin 

eine groß angelegte Kampagne des Staates 

und der Partei gegen die Heilige Kirche Christi. 

Als Vorwand diente die in weiten Teilen des Landes 

herrschende Hungersnot. 

Führende Kirchenhierarchen hatten als Hilfe 

für die Hungernden freiwillig Teile 

des Kirchenbesitzes als Spenden freigegeben. 

Lenin verschärfte diese Maßnahme dadurch, 

dass er die notfalls gewaltsame Konfiskation 

sämtlicher Kirchengüter, 

inklusive geweihter Gegenstände, anordnete. 

Diese Maßnahmen trafen bei großen Teilen 

der Bevölkerung auf Widerstand.


So äußerte sich Lenin in einem Brief 

an das Politbüro bezüglich des Vorgehens 

in der Stadt Schuja, wo es 

zu gewalttätigen Auseinandersetzungen 

zwischen Soldaten, die Kirchenbesitz einziehen sollten, 

und gläubigen Christen gekommen war, 

folgendermaßen: „Je mehr Vertreter 

des Priesterstands an die Wand gestellt werden, 

desto besser für uns. 

Wir müssen all diesen Leuten unverzüglich 

eine solche Lektion erteilen, 

dass sie auf Jahrzehnte hinaus 

nicht mehr an irgendwelchen Widerstand denken werden“. 

Dieses Vorgehen führte im ganzen sowjetischen Staatsgebiet 

zu staatlich gelenkten Pogromen gegen gläubige Christen, 

Priester und Ordensleute. 

Die Zahl der geöffneten orthodoxen Gotteshäuser 

fiel von hunderttausend auf zehntausend. 

Über fünfzehntausend orthodoxe Priester, 

Mönche und Nonnen und Laien 

wurden dabei von staatlichen Organen ermordet. 

Auch die katholischen, jüdischen 

und muslimischen Minderheiten des Staates 

wurden ermordet. Auf Lenins Initiative 

wurde der einflussreiche Patriarch 

von Moskau, Tichon, inhaftiert.


Die Orthodoxe Kirche war seit Gründung 

des Heiligen Russischen Reiches 

immer eine Stütze des Zaren gewesen. 

In seinem Geheimbrief legte Lenin 

seine Befürchtung einer vom Klerus 

geleiteten Konterrevolution dar und bekräftigte, 

dass der Klerus bekämpft werden müsse.


Lenin war auch an der Kontrolle 

des intellektuellen Lebens 

im Sinne der Partei maßgeblich beteiligt. 

Das Politbüro fasste unter seinem Vorsitz 

den Beschluss, wissenschaftliche Kongresse 

nur noch nach Genehmigung 

der Geheimpolizei zuzulassen. 

Lenin dirigierte eine Repressionswelle 

gegen führende Wissenschaftler, 

Künstler und Studenten des Landes. 

Ein Teil der Opfer wurde ins Ausland 

oder innerhalb des Sowjetstaates verbannt. 

Es kam auch zu Gefängnisstrafen 

und zu Erschießungen. 

Lenin redigierte die erstellten Listen der Opfer selbst. 

Auf Beschwerden des kommunistischen 

Schriftstellers Maxim Gorki 

rechtfertigte sich der Führer in einem Brief wie folgt: 

Die intellektuellen Kräfte der Arbeiter und Bauern 

wachsen im Kampf gegen die Bourgeoisie 

und ihre Helfershelfer, 

die sogenannten Intellektuellen, 

die Lakaien des Kapitals, 

die sich als Gehirn der Nation wähnen. 

In Wirklichkeit sind sie doch nur 

der Unrat der Nation.“


Lenin ist aber auch bestrebt gewesen, 

die Intelligenz für die Revolution zu gewinnen, 

so meinte er: „Die neue Gesellschaft 

kann nicht aufgebaut werden ohne Wissen, 

Technik und Kultur, 

diese aber sind im Besitz der bürgerlichen Spezialisten. 

Die meisten von ihnen sympathisieren 

nicht mit der Sowjetmacht, 

doch ohne sie können wir 

den Kommunismus nicht aufbauen.“ 

Die Spezialisten müssen also von „Dienern 

des Kapitalismus, zu Dienern 

der werktätigen Masse, 

zu ihren Ratgebern gemacht werden.“ 

Lenin forderte sogar von der kommunistischen Partei, 

dass wir jeden Spezialisten, der gewissenhaft, 

mit Sachkenntnis und Hingabe arbeitet, 

auch wenn seine Ideologie 

dem Kommunismus völlig fremd ist, 

wie unseren Augapfel hüten.“


Dort wo die Arbeiter den Vorstellungen 

der Bolschewiki nicht folgen wollten, 

zeigten diese wenig Hemmungen, 

auch gegen Angehörige der Arbeiterklasse 

mit Gewalt vorzugehen: 

Nachdem in den Sankt Petersburger Putilow-Werken 

mehrere tausend Arbeiter 

in den Streik getreten waren, 

sich in ihren Forderungen 

gegen die diktatorische Herrschaft 

der Bolschewiki gewandt hatten 

und Lenins Versuch, sie persönlich 

mit einer Rede zu disziplinieren, 

in den Protestrufen der Arbeiter untergegangen war, 

wurden Panzerwagen in die Werke entsandt 

und Einheiten der Tscheka herbei geordert, 

die die Streikführer festnahmen und erschossen.


Gegenüber der Landbevölkerung verfolgte Lenin 

eine schwankende Politik. 

Er befahl er die Gründung von Komitees der Dorfarmut. 

Lenin teilte zur damaligen Zeit das Dorf 

in ärmere Bauern und Landarbeiter ein, 

welche mittelständischen Bauern 

und wohlhabenden Kulaken gegenüberstünden. 

Mithilfe der Komitees wollte er die beiden Ersteren 

an die Bolschewiki binden. 

Ebenso sollten sie der Durchsetzung 

der Zwangseinziehung von Nahrungsmitteln 

auf dem Dorf dienen. Um Motivation 

bei den Mitgliedern der Komitees zu wecken, 

durften sie einen Anteil des requirierten Getreides 

ihrer Dorfgenossen selbst behalten. 

Die Komitees erzielten aber nicht 

die gewünschte Wirkung, 

da in den meisten Fällen die Bindung 

der ärmeren Bauern an die Dorfgemeinschaft 

größer war als die Loyalität 

zum kommunistischen Regime. 

Lenin wertete die Komitees in der Öffentlichkeit 

als großen Erfolg, schaffte sie aber de facto wieder ab. 

Dann änderte Lenin seine Politik 

und konzentrierte sich darauf, 

die Mehrheit der Bauernschaft für sich zu gewinnen. 

Wegen der gleichzeitigen Zwangseinziehung von Getreide 

blieb es aber trotz dieser Wende 

bei einer tiefen Spaltung 

zwischen Lenins Regime und den Bauern.


Um die schlechte Versorgungslage 

nach dem gewonnenen Bürgerkrieg zu verbessern, 

setzten Lenin und Trotzki 

die Neue Ökonomische Politik 

gegen eigene Bedenken und große Widerstände 

in der Partei durch. Sie ersetzte 

die Requirierungen des Kriegskommunismus 

durch eine Naturalsteuer 

und erlaubte den Bauern 

mit den Überschüssen 

im begrenzten Umfang Handel. 

Für Lenin war das ein zeitweiliger taktischer Schritt 

zurück aus pragmatischen Gründen des Machterhalts. 

Er sagte: „Es ist ein großer Fehler zu meinen, 

dass die Neue Ökonomische Politik 

das Ende des Terrors bedeutet“. 

Und sagte weiter: „Wir werden zum Terror, 

auch zum wirtschaftlichen Terror, zurückkehren“.


Parallel dazu wurde auf dem zehnten Parteitag 

jede innerparteiliche Fraktionsbildung verboten 

und damit de facto die freie Meinungsäußerung 

bei der Willensbildung der Partei.


Nach Lenins erstem schweren Schlaganfall 

schirmte ihn das Politbüro von der Außenwelt ab, 

um seine Genesung zu begünstigen. 

Er weigerte sich jedoch, die Arbeit einzustellen 

und ließ sich weiterhin über die Politik 

auf dem Laufenden halten. 

Er erholte sich etwas 

und nahm wieder an Diskussionen teil, 

wie über die Verfassungsfrage 

und das Außenhandelsmonopol. 

Lenin hatte sieben Schlaganfälle. 

Nach einem weiteren Schlaganfall 

verschlechterte sich sein Gesundheitszustand 

noch einmal erheblich, und er konnte sich 

kaum noch verständlich machen.


Er verstarb 1924 im Alter von dreiundfünfzig Jahren. 

Nach Lenins Tod entbrannte ein Machtkampf 

in der kommunistischen Partei 

zwischen Anhängern des Lagers um Stalin 

und der Opposition um Trotzki.


In einem als politisches Testament angesehenen Brief 

an den Parteitag schätzte Lenin 

seine potentiellen Nachfolger so ein:


Genosse Stalin hat dadurch, 

dass er Generalsekretär geworden ist, 

eine unermessliche Macht 

in seinen Händen konzentriert, 

und ich bin nicht überzeugt, 

dass er es immer verstehen wird, 

von dieser Macht vorsichtig genug 

Gebrauch zu machen. Andererseits 

zeichnet sich Genosse Trotzki 

nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. 

Persönlich ist er wohl der fähigste Mann 

im gegenwärtigen Zentralkomitee, 

aber auch ein Mensch, der ein Übermaß 

von Selbstbewusstsein und eine übermäßige 

Leidenschaft für rein administrative Maßnahmen hat.“


In einer Nachschrift wurde Lenin 

in Bezug auf Stalin deutlicher: 

Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, 

der in unserer Mitte und im Verkehr 

zwischen uns Kommunisten erträglich ist, 

kann in der Funktion des Generalsekretärs 

nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich 

den Genossen vor, sich zu überlegen, 

wie man Stalin ablösen könnte, 

und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, 

der sich in jeder Hinsicht 

von dem Genossen Stalin nur 

durch einen Vorzug unterscheidet, 

nämlich dadurch, dass er toleranter, 

loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber 

aufmerksamer, weniger launenhaft ist..“


Trotz Lenins Versuch, Stalins Aufstieg zu verhindern, 

war Stalin auch ein legitimer Spross Lenins. 

Er hat nur skrupelloser und konsequenter als andere 

die Möglichkeiten ausgeschöpft, 

die sich einem Machtmenschen 

im kommunistischen Russland 

innerhalb des von Lenin selbst geschaffenen 

allmächtigen Parteiapparates anboten.



ZWEITER GESANG


Bronstein wurde als Kind 

jüdischer Kolonisten in der Ukraine geboren 

und besuchte die Realschule. 

Sein Vater David Bronstein war Landwirt, 

der es zu einigem Wohlstand gebracht hatte. 

Der Religion gleichgültig gegenüberstehend, 

bewirtschaftete er mit Hilfe von Lohnarbeitern 

den größeren Hof.


Seine Mutter Anna kam 

aus kleinbürgerlicher Familie 

und war eine gebildete, 

in der Stadt aufgewachsene Frau, 

die der jüdisch-orthodoxen Religion anhing.


Die Jahre in der Provinz erlebte er 

weder als unbeschwert noch als bedrückend. 

Er berichtete in seiner Autobiografie 

von einer biederen Kleinbürgerkindheit, 

farblos in der Schattierung, 

beschränkt in der Moral, 

nicht von Kälte und Not, 

aber auch nicht von Liebe und Freiheit geprägt.


Bronstein besuchte den Cheder, 

eine religiöse Grundschule, 

wo er Russisch, Arithmetik 

und Bibel-Hebräisch erlernte. 

Er absolvierte die deutsch-lutherische Realschule 

zum Heiligen Paulus 

in der Hafenstadt Odessa. 

Dort lernte er das ländliche, orthodoxe Judentum, 

wie es seine Familie praktizierte, 

aus der aufgeklärten Sicht 

des Bürgertums zu sehen 

und begann, sich für ein weltoffenes 

Judentum einzusetzen. 

Neun Jahre später bestand er das Abitur 

als Bester seines Jahrgangs.


Der Siebzehnjährige begann, 

sich politisch von einem radikaldemokratischen 

Oppositionellen zum Volkstümler zu entwickeln. 

Das Volkstümlertum gehörte mit dem Marxismus 

zu den beiden populärsten oppositionellen 

Richtungen jener Tage. 

Er trat einem Diskussionszirkel 

junger Oppositioneller bei, 

in dem er die Positionen der Volkstümler vertrat. 

Seine Kontrahentin und spätere Frau 

war die sieben Jahre ältere Alexandra, 

die sich als Marxistin verstand 

und ihn von der marxistischen Theorie überzeugte. 

Als Bronstein sich politisch betätigte, 

stellten seine Eltern 

ihre Unterhaltszahlungen ein.


Bronstein war nunmehr als Sozialist 

maßgeblich an der Gründung 

des sozialdemokratischen 

südrussischen Arbeiterbundes beteiligt. 

Er fungierte in dieser Organisation 

als Propagandist.


Die zaristische Polizei nahm Bronstein 

im Rahmen von Massenverhaftungen fest 

und ließ ihn in verschiedenen Gefängnissen einsitzen. 

Er wurde zur Verbannung nach Sibirien verurteilt, 

wo er seiner Fundamentalkritik 

am Sankt Petersburger Zarenthron 

mit intensiven Studien des dialektischen 

und historischen Materialismus 

sowie der marxistischen Weltanschauung 

ein theoretisches Fundament gab.


Im Moskauer Überführungsgefängnis 

heiratete der Revolutionär Alexandra, 

die ihn wenig später in die Verbannung begleitete. 

Ein Jahr darauf wurde ihre erste Tochter 

Sinaida geboren und drauf 

die zweite Tochter Nina.


Er verließ wegen seiner revolutionären Arbeit seine Frau 

und die beiden kleinen Töchter 

und floh aus der Verbannung. 

Um die Flucht zu bewerkstelligen, 

legte er sich einen gefälschten Pass 

auf den Namen „Trotzki“ zu, 

womit er sich nach dem Oberaufseher 

des Gefängnisses in Odessa benannte.

Wenig später kam er, der Einladung 

von Lenin folgend, nach London 

und wohnte mit ihm zusammen.


In der Emigration übernahm Trotzki 

die Rolle des leitenden Redakteurs 

der Zeitung „Funke“, eine Tätigkeit, 

die ihm den Spitznamen „Leninscher 

Knüppel“ einbrachte. 

Bald schon trat er der Sozialdemokratischen 

Arbeiterpartei Russlands bei.


In dieser Zeit lernte Trotzki auch Parvus kennen, 

der ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammte 

und der in der deutschen Sozialdemokratie 

sein politisches Betätigungsfeld gefunden hatte. 

Parvus prägte den jungen Trotzki sehr stark. 

Dessen Theorie der permanenten Revolution 

basiert auf einer Konzeption von Parvus.


Auf dem zweiten Parteitag 

kam es zur Spaltung der Partei. 

Bei der Abstimmung siegten die Anhänger Lenins, 

die in der Folge Bolschewiki genannt wurden; 

ihnen standen die Menschewiki entgegen. 

Trotzki neigte stark in die Nähe der Menschewiki. 

Er verfasste Schriften, in denen er Lenin 

Machtgier als Grundlage seiner Politik unterstellte 

und ihn einen Diktatorenkandidaten 

oder auch „Maximilien de Lénine“ nannte 

als Anspielung auf den französischen 

Revolutionär Maximilien de Robespierre. 

Das Verhältnis der beiden künftigen 

Revolutionsführer war durch diese 

Polemiken lange Zeit belastet.


Dann hielt sich Trotzki zeitweise in Paris auf, 

wo er die Kunstgeschichtsstudentin 

Natalja kennen lernte. 

Sie blieb bis zu seinem Lebensende 

an seiner Seite.


Dann wohnte Trotzki ein halbes Jahr lang 

in München.

Damals brach er mit den Menschewiki 

und behauptete in der Theorie 

der permanenten Revolution, 

dass das russische Bürgertum einen Umsturz 

nach dem Muster der Französischen Revolution 

nicht wagen werde. Vielmehr werde 

die Arbeiterklasse eine bedeutende Rolle 

im Bündnis mit den ärmsten Schichten 

der Bauernschaft und den Landproletariern 

bei der Errichtung der „Diktatur 

des Proletariats, gestützt auf den Bauernkrieg“ spielen. 

Dies stellt eine entscheidende Weiterentwicklung 

des Marxismus dar, da sich Marx 

in einem industriell rückständigen Land 

keine proletarische Revolution vorstellte. 

Marx war der Ansicht, dass erst 

nach einem weiten Fortschreiten des Kapitalismus 

die Gesellschaft für einen kommunistischen 

Umsturz bereit wäre.

Während der Revolution von 1905 

kehrte Trotzki nach dem Sankt Petersburger Aufstand 

nach Russland zurück, 

wo er zusammen mit Parvus 

Mitglied des Sankt Petersburger Sowjets wurde. 

Trotzki übernahm den Vorsitz des Sowjets. 

Nach seiner Verhaftung wurde Parvus 

sein Nachfolger. In der Verbannung 

verfasste Trotzki die Schrift 

Russland in der Revolution“. 

Ein Jahr später wurde sein drittes Kind, 

ein Junge, geboren. 

Wieder ein Jahr später folgte 

das vierte Kind, auch ein Sohn.


Die von Trotzki beeinflusste Bewegung 

wurde zerschlagen. Trotzki, 

der inzwischen zum Vorsitzenden 

des Sowjets aufgestiegen war 

und sich in den Dezemberaufständen 

engagiert hatte, wurde nach einem Schauprozess 

ein zweites Mal zu lebenslanger 

Verbannung verurteilt. 

Er floh bereits beim Transport und entkam, 

ebenso wie Parvus, in das habsburgische Wien.


Auf dem nächsten Parteitag, in London, 

schloss sich Trotzki weder den Bolschewiki 

noch den Menschewiki an, 

sondern stand einer mittleren Fraktion vor. 

Er gab eine Zeitung mit Namen Prawda („Wahrheit“) heraus, 

nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen 

von Lenin herausgegebenen Zeitung, 

die später erschien. 

In jener Zeit versuchte vor allem Kamenew, 

Trotzki von der bolschewistischen Fraktion 

und den Positionen Lenins zu überzeugen; 

Trotzki blieb allerdings Kritiker Lenins, 

ebenso wie Lenin die Positionen Trotzkis verurteilte.


Trotzki führte nun das Leben 

eines rastlosen Emigranten; 

zeitweise arbeitete er als Kriegsberichterstatter 

auf dem Balkan, wo er erste 

militärische Erfahrungen sammelte.


Es kam zum Bruch zwischen Trotzki und Parvus. 

Letzterer vertrat ein anderes Konzept 

der Theorie der permanenten Revolution. 

Parvus schloss sich den Jungtürken an 

und beteiligte sich an der Revolution 

gegen das Osmanische Reich in Konstantinopel. 

Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er 

mit amtlichen deutschen Stellen zusammen.


Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 

floh Trotzki vor der in Österreich 

drohenden Verhaftung 

in die neutrale Schweiz 

und zog weiter nach Paris, 

um über den Krieg zu berichten. 

Er gab dort eine Zeitung heraus, 

die als Organ der internationalistischen 

Menschewiki fungierte. 

Auf einer Parteikonferenz gehörte er mit Lenin, 

dem er sich stetig annäherte, 

zu den Unterzeichnern des von ihm verfassten 

Internationalen Sozialistischen Antikriegsmanifestes. 

Wegen seiner gegen den Krieg gerichteten Agitation 

wurde er von den französischen Behörden 

nach Spanien abgeschoben. 

Dort wurde er verhaftet 

und in die Vereinigten Staaten deportiert.


In New York, wo er mit seiner Lebensgefährtin 

Natalja wohnte, arbeitete Trotzki 

für russischsprachige Zeitungen. 

Er erhielt die Nachricht 

von der russischen Februarrevolution, 

durch welche die bürgerliche 

Provisorische Regierung unter dem Fürsten Lwow 

und seinem sozialdemokratischen 

Kriegsminister Kerenski an die Macht kam.


Auf dem Weg nach Russland 

wurde Trotzki in Kanada festgenommen 

und in ein Internierungslager 

für deutsche Kriegsgefangene gebracht. 

Allerdings setzte der Sankt Petersburger Sowjet 

die Provisorische Regierung unter Druck, 

sich für Trotzki einzusetzen. 

Nach seiner Freilassung kam er 

in Sankt Petersburg an. 

Dort schloss er sich erneut 

einer Arbeiterpartei an, 

die das Ziel hatte, die Bolschewiki 

und Menschewiki auszusöhnen. 

Nach einigen Auseinandersetzungen 

schloss sich die Organisation 

unter der Führung Trotzkis 

den Bolschewiki an. 

Trotzki selbst wurde auf dem sechsten Parteitag 

der Bolschewiki in absentia 

in die Partei aufgenommen 

und erhielt einen Platz im Zentralkomitee.


Nachdem die Bolschewiki eine Mehrheit 

im Sankt Petersburger Sowjet erreicht hatten, 

wurde Trotzki zu dessen Vorsitzenden gewählt 

und organisierte in dieser Funktion 

die Kampfverbände der Roten Garde. 

Damit wurde er rasch zu einem 

der wichtigsten Männer in der Partei. 

Als im Oktober das Zentralkomitee der Partei 

den Entschluss zu einem bewaffneten Aufstand 

gegen die Regierung von Kerenski fasste, 

stimmte Trotzki mit der Mehrheit 

seiner Genossen dafür. 

Die später von der stalinistischen Propaganda 

verbreitete Behauptung, Trotzki 

habe sich gegen die Revolution ausgesprochen, 

ist unwahr.


Unter seiner Federführung 

wurde das Militärrevolutionäre Komitee 

des Sankt Petersburger Sowjets gegründet. 

Dieses Komitee setzte den Befehl 

der Provisorischen Regierung, 

zwei Drittel der Sankt Petersburger Garnison 

an die Front des Ersten Weltkriegs zu beordern, 

außer Kraft. Dies war der Beginn 

der Revolte des Militärrevolutionären Komitees 

im Smolny-Institut, wo Boten 

mit Nachrichten aus den verschiedenen Teilen 

der Stadt eintrafen, um über die Ereignisse 

und Erfolge der Aufständischen zu informieren. 

Nach der Übernahme 

von Bahnhöfen, Postämtern, Telegrafenamt, 

Ministerien und der Staatsbank 

sowie dem Sturm auf den Winterpalast 

etablierte der zweite gesamtrussische 

Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten 

eine Koalitionsregierung aus Bolschewiki 

und linken Sozialrevolutionären 

unter dem Namen Sowjet der Volkskommissare. 

Gleich danach wurden die Dekrete 

Über den Frieden“ und „Über den Grund und Boden“

verabschiedet. Die Parteien 

der einflusslosen Duma verweigerten 

den Entscheidungen des Kongresses 

und der Regierung die Anerkennung.

Nachdem die Bolschewiki 

die Macht erlangt hatten, 

wurde Trotzki zum Volkskommissar 

für äußere Angelegenheiten ernannt. 

Seine Hauptaufgabe sah er darin, 

Frieden mit dem Deutschen Reich 

und Österreich-Ungarn zu schließen. 

Er sorgte für die Ausrufung eines Waffenstillstands 

zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten 

und leitete die Friedensverhandlungen 

von Brest-Litowsk. Er versuchte 

aufgrund der schwachen Position 

des revolutionären Russlands 

und der Position der deutschen 

Obersten Heeresleitung in der Frage 

der Gebietszugehörigkeit der Ukraine 

eine Übereinkunft hinauszuzögern. 


Trotzkis Verhandlungspartner 

auf deutscher Seite war General Ludendorff, 

der dessen Taktik durchschaute. 

Deutsche Truppen überschritten 

die russisch-deutsche Frontlinie 

und besetzten die Ukraine, 

die sich bereits für unabhängig erklärt hatte. 

Aufgrund der militärischen Überlegenheit 

der Mittelmächte musste Sowjetrussland 

den sehr nachteiligen Friedensvertrag 

von Brest-Litowsk schließen, 

der den Verlust der Ukraine 

und weiterer Gebiete 

für Sowjetrussland zur Folge hatte.


Das Verhalten Trotzkis 

während der Verhandlungen 

war innerhalb der Regierung 

und des Zentralkomitees 

der Kommunistischen Partei 

stark umstritten. Während es auf der einen Seite 

eine Gruppierung um Radek und Bucharin gab, 

die die unbedingte Fortführung 

des Revolutionären Krieges 

und die Expansion des Sowjetgebietes forderte, 

ohne die verzweifelte Lage 

der eigenen Truppen zu berücksichtigen, 

wurde von einer Minderheit um Lenin 

eine riskante Verschleppungstaktik 

in der Hoffnung auf eine baldige 

proletarische Revolution 

in Deutschland und Österreich-Ungarn favorisiert. 

Trotzki enthielt sich auf der entscheidenden Abstimmung 

im Zentralkomitee, um Lenin 

die Mehrheit zu sichern, 

und trat freiwillig aus diplomatisch-taktischen Gründen 

vom Amt des Volkskommissars 

für äußere Angelegenheiten zurück.


Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk, 

den Trotzki als persönliche Niederlage betrachtete, 

setzte er sich für den Sieg der Bolschewiki 

im Russischen Bürgerkrieg ein, 

bei dem sich die sowjetischen Roten 

und die zaristisch-bürgerlichen Weißen gegenüberstanden. 

Trotzki wurde zum Volkskommissar 

für das Kriegswesen ernannt 

und begann mit dem Aufbau der Roten Armee.


Trotzki trug mit seinem energischen 

und gnadenlosen Vorgehen 

entscheidend zum militärischen Sieg 

der Bolschewiki bei. 

Er organisierte die Umwandlung 

der bisher zerstreuten, desorganisierten 

Roten Garden in ein straff geführtes Heer; 

unter anderem ließ er wieder militärische Ränge, 

Abzeichen und die Todesstrafe 

in der Armee einführen. 

Er befahl darüber hinaus, 

dass bei einem aus Sicht des Oberkommandos 

unnötigen Rückzug einer Einheit 

zuerst der Kommissar und dann 

der militärische Befehlshaber 

sofort hinzurichten seien. 

Das Kommandopersonal wurde bis dahin 

von den Soldaten gewählt. 

Dieser demokratische Ansatz 

behinderte aber die Umwandlung 

in eine neue, zentral geführte Armee. 

Trotzki schaffte die demokratischen Strukturen daher ab, 

entließ die konservativen Kosaken 

aus der Kavallerie 

und verband die Verteidigung 

der neuen Regierung mit dem Freiheitskampf 

verschiedener Nationalitäten 

des ehemaligen Zarenreiches.


Unter Exilrussen hieß es, 

die Bolschewiki kämpften 

mit lettischen Stiefeln und chinesischem Opium“, 

denn aus Mangel an erfahrenen Offizieren 

förderte Trotzki den Eintritt von Offizieren 

der alten zaristischen Armee 

in die Rote Armee. 

Bis Kriegsende dienten 80.000 

im Roten Offizierskorps. 

Manche meldeten sich freiwillig, 

andere wurden eingezogen. 

Trotzki befahl, zu ihrer Kontrolle 

ihre Familien in Sippenhaft zu nehmen, 

sofern die Offiziere 

zu den Weißen überlaufen sollten. 

Die offiziell als "Militärspezialisten" 

bezeichneten Offiziere wurden zusätzlich 

der Kontrolle durch Politkommissare unterworfen. 

Gerade dieser Aspekt führte zu harscher Kritik 

innerhalb der Partei; 

besonders Stalin, der Kommissar 

der Roten Armee war, 

beklagte sich über die Einsetzung 

eines Generals bei der Verteidigung der Revolution. 

Er und die übrigen Opponenten 

der neuen Militärorganisation 

fanden aber aufgrund der militärischen Erfolge 

Trotzkis kein Gehör bei Lenin.


Trotzki übernahm nun auch noch 

das Ressort für Marineangelegenheiten. 

Die Regierung war von Sankt Petersburg 

nach Moskau umgezogen. 

Die Bolschewiki nannten sich nun 

Kommunistische Partei Russlands, 

nach Lenins Tod 

Kommunistische Partei der Sowjetunion. 

Unangefochtener Führer war Lenin, 

der sich mit Trotzki inzwischen 

weitgehend ausgesöhnt hatte.


Zunächst standen die Bolschewiki 

unter großem Druck. 

Das Territorium der Sowjets 

wurde zeitweise durch die Weißen Armeen 

auf das Gebiet der alten Moskauer 

Fürstentümer reduziert. 

Die Versorgungslage der Städte war schlecht. 

Zusätzlich griffen die Siegermächte 

des Ersten Weltkriegs 

durch eigene Truppenkontingente 

in die Kämpfe zugunsten der Weißen Armeen ein. 

So befanden sich japanische, amerikanische, 

britische, italienische und französische 

Truppenkontingente auf russischem Gebiet. 

Der Roten Armee, die aus den Roten Garden 

hervorgegangen war, stand jedoch 

ein Gegner gegenüber, 

der über keine einheitliche Führung verfügte 

und widersprüchliche Zielsetzungen verfolgte.


Es gelang der Roten Armee 

in einem sehr verlustreichen Kampf, 

die Weißen Truppen bis in den Osten 

des russischen Reiches zurückzudrängen. 

Die Weiße Armee erlitt eine schwere Niederlage 

in Sibirien. Trotzki proklamierte nun 

den Krieg gegen Polen 

und dessen ukrainische Verbündeten 

und machte ihn zur Chefsache 

im Kriegskommissariat. 

Durch das „Wunder an der Weichsel“ 

wurde die Rote Armee allerdings 

empfindlich getroffen und vernichtend geschlagen. 

Die Offensive gegen Polen 

musste abgebrochen werden. 

Im Vertrag von Riga erwarben die Sowjets 

aber Weißrussland und die Ukraine.


Dann fiel die Krim, die letzte Festung 

der Weißen Armee. Bis zum Ende 

des Russischen Bürgerkriegs 

eroberten die Roten Truppen 

unter Trotzkis Führung 

Aserbaidschan, Armenien und Georgien, 

deren Regierungen, teils sozialdemokratisch, 

teils nationalistisch geprägt, 

die staatliche Unabhängigkeit angestrebt hatten. 

In Georgien fand ein vergeblicher Aufstand 

gegen die Rote Armee statt, 

die in den neu eroberten Ländern 

zum Teil als Besatzungsmacht 

wahrgenommen wurde.


Der Aufstand der Kronstädter Matrosen – 

sie forderten sofortige gleiche 

und geheime Neuwahlen der Sowjets, 

Redefreiheit, Pressefreiheit 

für alle anarchistischen 

und linkssozialistischen Parteien, 

Versammlungsfreiheit, freie Gewerkschaften 

und eine gerechtere Verteilung von Brot – 

wurde von der Roten Armee 

unter Trotzkis Führung 

mit erbarmungsloser Härte 

und Massenerschießungen unterdrückt. 

Auch für die blutige Niederschlagung 

von Bauernaufständen mit Tausenden 

Toten im Gebiet der Ukraine, 

die sich vor allem gegen die Kornkonfiskationen 

richteten, wurde Trotzki 

als oberster Heeresführer verantwortlich gemacht. 

Später kritisierten verschiedene Kommunisten 

Trotzkis Rolle bei der brutalen Niederschlagung, 

die sie als Beginn des Stalinismus 

und als Vorläufer des Großen Terrors ansahen. 

Trotzki rechtfertigte sein Vorgehen:


Ich weiß nicht, ob es unschuldige Opfer 

in Kronstadt gab. Ich bin bereit, zuzugeben, 

dass ein Bürgerkrieg 

keine Schule für menschliches Verhalten ist. 

Idealisten und Pazifisten 

haben der Revolution immer Exzesse vorgeworfen. 

Die Schwierigkeit der Sache liegt darin, 

dass die Ausschreitungen 

der eigentlichen Natur der Revolution entspringen, 

die selbst ein Exzess der Geschichte ist. 

Mögen jene, die dazu Lust haben, 

die Revolution aus diesem Grund verwerfen. 

Ich verwerfe sie nicht.“


Später wurde der Kriegskommunismus 

von der Neuen Ökonomischen Politik abgelöst.


Nach der Gründung der Sowjetunion 

begann Trotzki, die entstehende Bürokratie, 

den Totalitarismus der Bolschewiki 

und den aufkommenden russischen 

Nationalismus zu kritisieren. 

Damit stieß er sowohl auf Zustimmung 

als auch auf Ablehnung innerhalb der Partei. 

Er richtete seine Kritik 

hauptsächlich gegen Stalin.


Lenin äußerte Vorbehalte 

wegen Trotzkis „übermäßigen Selbstvertrauens“ 

und seiner „übermäßigen Leidenschaft 

für rein administrative Maßnahmen“, 

sagte aber auch, dass Trotzki sich 

durch hervorragende Fähigkeiten“ auszeichne 

und „persönlich wohl der fähigste Mann 

im gegenwärtigen Zentralkomitee“ sei. 

Bucharin sei der Liebling der Partei. 

Nach dem Verlesen des politischen Testaments, 

in dem Lenin Stalin als zu „grob“ bezeichnete, 

bot Stalin seinen Rücktritt an, 

doch der Rücktritt wurde 

mit großer Mehrheit abgelehnt. 

In der Folge begann Stalin 

gemeinsam mit Sinowjew und Kamenew, 

Trotzki endgültig von der Macht zu verdrängen. 

Dazu gehörte, dass Lenins Testament 

in der Parteipresse und später 

in den Werkausgaben nicht gedruckt wurde. 

Lediglich Trotzki und diejenigen, 

die besser beurteilt worden waren als Stalin, 

zitierten Lenins letzten Willen in ihren Schriften. 

Erst ab dem Beginn der Entstalinisierung 

waren diese Schriftstücke parteiintern 

und öffentlich zugänglich.


Trotzki griff das von Stalin dominierte 

Zentralkomitee an, worauf 

eine heftige Gegenreaktion erfolgte. 

Von diesem Zeitpunkt an verlor er 

auf Betreiben Stalins immer mehr an Einfluss 

innerhalb der Partei. 

In dieser Zeit arbeitete Trotzki 

auch wieder theoretisch und veröffentlichte 

sein Werk „Literatur und Revolution“. 

Darin schrieb er, dass der gesellschaftliche Aufbau 

der Sowjetunion die physisch-psychische 

Selbsterziehung des Einzelnen 

und vor allem die Künste 

einen „neuen Menschen“ schaffen würden:


Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, 

klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, 

seine Bewegungen werden rhythmischer 

und seine Stimme wird musikalischer werden. 

Der durchschnittliche Menschentyp 

wird sich bis zum Niveau 

von Aristoteles, Goethe und Marx erheben. 

Und über dieser Gebirgskette 

werden neue Gipfel aufragen.“


Nach dem Tode Lenins 

brach schließlich ein offener Machtkampf 

zwischen Trotzki und Stalin 

über die Zukunft der Sowjetunion 

und die theoretischen Grundlagen 

für den angestrebten Kommunismus aus. 

Auf dem fünfzehnten Parteitag 

der Kommunistischen Partei Russlands 

erhielt die Opposition um Trotzki 

keine einzige Stimme 

und war somit völlig isoliert.


Stalin begann, den sogenannten 

Sozialismus in einem Land“ 

mit Gewalt durchzusetzen, 

während Trotzki weder den Apparat der Partei 

noch die Bevölkerung mehrheitlich 

an sich binden konnte. 

Stalin festigte mit seinen von Amts wegen 

gegebenen Möglichkeiten bürokratischer 

und militärischer Art die Diktatur 

in der Sowjetunion. 

Trotzki vertrat das Erbe des Marxismus 

in anderer Interpretation und berief sich 

auf den Imperativ der Weltrevolution 

und die Arbeiterdemokratie, 

gemäß der Parole aus dem Kommunistischen 

Manifest „Proletarier aller Länder, 

vereinigt euch!“. 

Er versuchte, sich gegen alle 

von ihm so genannten „reaktionären Angriffe“ 

durch Stalin zu verteidigen. 

Sein Ziel war es, der internationalen 

Arbeiterschaft zum Sieg zu verhelfen. 

Er ging wie Lenin davon aus, 

dass nur eine weltweite Revolution 

den Sieg des Sozialismus ermöglichen könne.


Dies entsprach nicht allein der bisherigen 

marxistischen Tradition, 

sondern auch der eigenen Theorie 

der permanenten Revolution. 

Sie besagte im Wesentlichen, dass die Revolution 

in rückständigen Ländern 

eine bürgerlich-demokratische 

und eine proletarische Phase 

ohne Unterbrechung durchlaufen müsse, 

zum erfolgreichen sozialistischen Aufbau 

der Sieg der Revolution 

wenigstens in den fortgeschrittensten Ländern 

notwendig wäre 

und sich schließlich auch in Arbeiterstaaten 

politische, kulturelle und wirtschaftliche 

Revolutionen vollziehen könnten und müssten, 

um zum Sozialismus überzugehen.


Nachdem Stalin immer mächtiger geworden war,

verlor Trotzki sein Amt als Kriegskommissar 

und musste in den nächsten Jahren 

verschiedene untergeordnete Tätigkeiten 

im Staatsdienst ausüben. 

Es folgte die Kennzeichnung von „Trotzkismus“ 

als „Abweichlertum“ und „Verrat“. 

Alle Schriften und Werke 

des „jüdischen Verschwörers“ 

und „Lakaien des Faschismus“ 

galten als Irrlehre. 

Stalin ließ Trotzkis Namen und Fotos 

aus allen offiziellen Dokumenten und Texten tilgen. 

Außerdem leugnete er dessen Rolle 

beim Oktoberaufstand und im Bürgerkrieg.


Trotzki wurde nun aus dem Politbüro 

und auch aus der Partei ausgeschlossen, 

worauf eine Verbannung 

mit anderen Oppositionellen 

nach Alma-Ata in Kasachstan folgte. 

Von dort wurde Trotzki in die Türkei ausgewiesen. 

In Konstantinopel begann er mit der Arbeit 

an seiner Autobiografie.


Stalin begann nun, 

die Neue Ökonomische Politik zu revidieren, 

mit großer Grausamkeit die Kollektivierung 

der Landwirtschaft durchzusetzen 

und mit Arbeitsarmeen die Schwerindustrie 

der Sowjetunion zu errichten. 

Auch dies wurde von Trotzki 

und seinen Anhängern 

einer scharfen Kritik unterzogen. 

Trotzki hatte sich für eine umfassende Industrialisierung 

in einem langsameren Tempo 

und eine freiwillige Kollektivierung 

der Bauernschaft auf der Basis 

einer neu zu errichtenden 

Sowjetdemokratie ausgesprochen.


Nach seiner Ausbürgerung verfiel Trotzki 

in der Sowjetunion zunehmend 

der damnatio memoriae: 

Seine Leistungen für die Partei 

und die prominente Rolle, 

die er beim Oktoberaufstand, 

beim Aufbau der Roten Armee 

oder bei der blutigen Niederschlagung 

des Kronstädter Aufstands gespielt hatte, 

wurden verschwiegen, geleugnet oder denunziert. 

Im Kurzen Lehrgang der Geschichte der Partei, 

einer unter der Ägide Stalins erschienenen 

offiziellen Darstellung, 

wurde seine Rolle im Oktober 

auf die eines Widersachers Lenins 

und eines Großmauls reduziert, 

das den Termin des Aufstands verraten 

und dessen Erfolg dadurch gefährdet habe. 

Noch radikaler wurde die Erinnerung an Trotzki 

aus dem sowjetischen Bildgedächtnis getilgt. 

Fotos, auf denen er zusammen mit Lenin 

oder Stalin zu sehen war, 

wurden kupiert oder retuschiert. 

Trotzki schrieb im Exil Pamphlete gegen Stalin, 

die unter anderem exklusiv 

in der New York Times veröffentlicht wurden.


Der türkische Staat unter Atatürk 

gewährte Trotzki politisches Asyl. 

Er verbrachte die Jahre bis 1933 in der Türkei. 

In der Zeit setzte sich Trotzki intensiv 

mit dem deutschen Nationalsozialismus auseinander, 

den er als vom Kleinbürgertum getragene, 

autonom von der Bourgeoisie 

entstandene Massenbewegung analysierte, 

deren objektive Funktion die Zerschlagung 

der gesamten Arbeiterbewegung sei. 

Als Gegenstrategie setzte sich Trotzki in Schriften 

für eine Einheitsfront von Sozialdemokraten, 

Kommunisten und Gewerkschaften 

gegen die Nationalsozialisten ein.


Trotzki wurde auch die sowjetische 

Staatsbürgerschaft aberkannt, 

womit gleichzeitig die Verfolgung 

durch den sowjetischen Geheimdienst begann. 

Mit der kampflosen Niederlage 

der deutschen Arbeiterbewegung, 

die Trotzki im Wesentlichen als Resultat 

des Versagens der Kommunisten ansah, 

nahm Trotzki von seiner Strategie 

einer Reform der stalinistischen Parteien Abstand 

und nahm Kurs auf die Gründung 

einer neuen kommunistischen Internationale.


Die französische Regierung gewährte ihm 

Asyl in Frankreich. Für Paris 

erhielt er aber keine Zugangserlaubnis. 

Es wurde ihm aber bald signalisiert, 

dass sein Aufenthalt in Frankreich 

nicht länger erwünscht sei. 

Er nahm ein Angebot Norwegens auf Asyl an. 

Er lebte dort bei Oslo. 

Mit seiner regen publizistischen Tätigkeit 

griff er den Stalinismus 

mit den Moskauer Prozessen an, 

in denen er als Haupt einer großen Verschwörung 

gegen Stalin und sein System 

in Abwesenheit angeklagt worden war. 

Infolge des von der Sowjetunion ausgeübten 

diplomatischen Drucks wurde Trotzki 

von den norwegischen Behörden 

unter Hausarrest gesetzt. 

Nach Verhandlungen mit der norwegischen Regierung 

konnte er nach Mexiko unter der Auflage 

strenger Geheimhaltung 

auf einem Frachtschiff ausreisen.


Gemeinsam mit Frida Kahlo 

hatte sich Diego Rivera 

beim mexikanischen Präsidenten dafür eingesetzt, 

Trotzki politisches Asyl in Mexiko zu gewähren. 

Unter der Bedingung, dass jener 

sich nicht politisch betätigen würde, 

stimmte der Präsident dem Gesuch zu. 

Trotzki und seine Frau Natalja 

wurden in Frida Kahlos blauem Haus empfangen. 

Damals beherbergte Diego Rivera 

auch den surrealistischen Vordenker 

André Breton und dessen Frau Jacqueline. 

Die beiden Künstler unterzeichneten 

ein von Trotzki verfasstes Manifest 

für eine revolutionäre Kunst.


In seinem Exil agitierte er weiterhin 

gegen Stalin, deckte nach seinen Möglichkeiten 

die Verbrechen des Geheimdienstes 

und der Gulags auf 

und veröffentlichte verschiedene 

kommunistische Schriften, 

zum Beispiel „Die verratene Revolution“, 

in der er die Sowjetunion 

als bürokratisch degenerierten 

Arbeiterstaat bezeichnete 

und die sowjetische Arbeiterklasse 

zu einer politischen Revolution 

gegen die stalinistische Bürokratie 

und zur Wiederherstellung 

der Rätedemokratie aufrief.


Trotzki gründete die Vierte Internationale, 

um der inzwischen unter Stalins Dominanz 

stehenden Dritten Internationalen 

entgegenzuwirken. Für die neugegründete 

Organisation verfasste Trotzki 

mit dem Manifest der vierten Internationale 

zum imperialistischen Krieg 

und zur proletarischen Weltrevolution 

ein programmatisches Dokument. 

Daneben widmete er sich 

in seinem letzten Lebensjahr 

der Auseinandersetzung mit der These, 

dass sich die Sowjetunion zu einer stabilen 

neuen Form von Klassengesellschaft entwickelt habe.


Trotzki überlebte einen Angriff auf sein Haus. 

Er wurde von mehreren, 

von Stalin gesandten 

und als mexikanische Polizisten getarnten 

Agenten attackiert, allerdings so dilettantisch, 

dass man vielfach an eine Inszenierung glaubte, 

die Trotzki international wieder 

in den Mittelpunkt rücken sollte. 

Aus Angst vor weiteren Anschlägen 

ließ er danach das Haus ausbauen und bewachen: 

Die Mauern wurden erhöht, 

Holztüren durch Eisentüren ersetzt, 

Fenster teilweise zugemauert. 

Sieben Wachleute schützten freiwillig und unbezahlt 

das kleine Anwesen rund um die Uhr.


Dann hatte ein von Stalin beauftragter 

Mordanschlag Erfolg: 

Ein Sowjetagent hatte sich 

mit einer Sekretärin Trotzkis verlobt 

und so Zugang zu dessen Anwesen erhalten. 

Er besuchte Trotzki und bat um Durchsicht 

eines von ihm verfassten politischen Artikels. 

Kurz danach griff der Mann Trotzki 

in dessen Arbeitszimmer 

mit einem Eispickel an, 

wobei Trotzki schwer am Kopf verletzt wurde. 

Seine Leibwächter fanden ihn blutüberströmt, 

aber noch bei Bewusstsein. 

Einen Tag später starb Trotzki 

an den Folgen dieses Anschlags.



DRITTER GESANG


Stalins Vater Dschugaschwili 

war ein Schuhmacher. 

Seine Mutter Ketewan war die Tochter 

eines Leibeigenen. 

Stalin wuchs als Einzelkind auf.


Das Familienleben war zunächst 

von Wohlstand geprägt. 

Der Vater machte sich selbstständig, 

beschäftigte zehn Arbeiter 

und verschiedene Lehrlinge. 

Er hat sich aber zum streitsüchtigen 

Alkoholiker entwickelt, 

der sein Vermögen verlor 

und Frau und Sohn regelmäßig verprügelte. 

Ein Jugendfreund Stalins schrieb später: 

Diese unverdienten und schrecklichen Prügel 

machten den Jungen genauso hart 

und gefühllos wie seinen Vater.“ 

Er habe Stalin nie weinen sehen. 

Ein anderer Freund Stalins schrieb, 

dass die Prügel auch einen Hass 

auf Autoritäten in Stalin hervorriefen, 

da jeder Mensch, der mehr Macht 

als er selbst gehabt hätte, 

ihn an seinen Vater erinnert habe. 

Stalins Vater ging fort 

und ließ seine Familie zurück.


Der junge Stalin half seiner Mutter 

beim Wäschewaschen und bei ihrer Arbeit als Putzfrau. 

Einer ihrer Kunden, der jüdische Kaufmann David, 

unterstützte den Knaben mit Geld und Büchern.


Dann ging er zur Schule. 

Stalins Klasse war eine ethnisch gemischte 

Gruppe von Schülern, die viele 

verschiedene Zungen sprachen. 

In der Schule war jedoch Russisch 

als Sprache vorgeschrieben. 

Seine Mitschüler waren mehrheitlich 

sozial besser gestellt 

und haben sich anfangs 

über seine abgetragene Schuluniform 

und sein pockennarbiges Gesicht 

lustig gemacht. Er konnte jedoch bald 

die Führungsrolle in seiner Klasse übernehmen. 

Er verließ die Schule als bester Schüler 

und wurde für den Besuch 

des orthodoxen Priesterseminars 

vorgeschlagen, damals die bedeutendste 

höhere Bildungsanstalt Georgiens 

und ein Zentrum der Opposition 

gegen den Zaren.


Nachdem Stalin das zweite Studienjahr 

des Seminars absolviert hatte, 

bekam er Kontakt mit geheimen 

marxistischen Zirkeln. 

Er besuchte eine Buchhandlung, 

in der er Zugang zu revolutionärer Literatur hatte. 

Er las Victor Hugos „Die Arbeiter des Meeres“.


Er wurde mit achtzehn Jahren 

in die erste sozialistische Organisation 

Georgiens aufgenommen. 

Im folgenden Jahr leitete Stalin 

einen Studienzirkel für Arbeiter. 

Zu dieser Zeit las er schon 

die ersten Schriften Lenins. 

Er trat in die Sozialdemokratische 

Arbeiterpartei Russlands ein. 

Dann wurde er aus dem Priesterseminar 

ausgeschlossen, weil er aufgrund 

dieser politischen Tätigkeiten 

bei mehreren wichtigen Prüfungen gefehlt hatte. 

Statt Priester wurde Stalin Berufsrevolutionär.


Daraufhin arbeitete Stalin als Propagandist 

der Partei und organisierte Streiks 

und Demonstrationen 

unter den Eisenbahnarbeitern. 

Dann wurde er erstmals festgenommen, 

weil er eine Arbeiterdemonstration angeführt hatte, 

und anschließend nach Sibirien verbannt. 

Nachdem er aus der Verbannung fliehen konnte, 

wurde er immer wieder verhaftet 

und in die Verbannung geschickt, 

konnte aber jedes Mal wieder fliehen.


Um in Kontakt mit Lenin zu bleiben 

und sich der Verfolgung 

durch die zaristische Polizei zu entziehen, 

floh er nach Österreich-Ungarn. 

Dort verbrachte er einige Monate in Krakau 

und in Wien. Er gab sich als Grieche 

aus dem Kaukasus aus.


Als er wieder nach Russland zurückkehrte, 

wurde er verhaftet. Daraufhin verbrachte er 

die Jahre bis 1917 in der Verbannung. 

Für diese häufigen Verhaftungen 

und Fluchten gibt es mehrere Erklärungen.


Ein möglicher Grund wird zum Beispiel 

in der schlechten Organisation 

der zaristischen Polizei gesehen. 

Als eine weitere Erklärung für sein schnelles Freikommen 

werden ihm Kontakte zur zaristischen 

Geheimpolizei nachgesagt.


Im Falle von Stalins letztem Verbannungsaufenthalt 

war auch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 

eine Ursache für sein Verbleiben. 

Er fürchtete, nach seiner nächsten Verhaftung 

in die russische Armee eingezogen zu werden.


Nach der auf dem Parteitag in London 

erfolgten Spaltung der Partei 

in Menschewiki und Bolschewiki 

schloss Stalin sich dem bolschewistischen Flügel 

unter Lenin an, der die Meinung vertrat, 

dass der politische Umsturz in Russland 

nur durch eine von professionellen Revolutionären 

zentral geführte Partei zustande kommen würde. 

Im Jahr 1905 begegnete er 

auf der allrussischen Konferenz der Bolschewiki 

zum ersten Mal Lenin persönlich. 

In dieser vorrevolutionären Zeit, 

in der Stalin schon viele Streiks organisiert hatte, 

zeigte er sich nicht als großer Theoretiker, 

sondern unterstützte die zum großen Teil 

illegalen Aktionen der Bolschewiki praktisch.


So beteiligte er sich in den folgenden Jahren 

an der Organisation verschiedener Banküberfälle, 

um die Parteikasse aufzufüllen. 

Bei dem Überfall auf die Bank von Tiflis, 

der vierzig Menschen das Leben kostete, 

erbeuteten die Revolutionäre 

unter Stalins Führung 

viele hunderttausend Rubel. 

Bald gehörte er nach dem Willen Lenins 

zum Zentralkomitee der Bolschewiki 

und nahm den Namen „Stalin“ (der Stählerne) an.


Während seines letzten Verbannungsaufenthaltes 

lernte er Kamenew kennen 

und freundete sich mit ihm an. 

Er verließ gemeinsam mit Kamenew 

seinen Verbannungsort. 

Er wurde von einer Einberufungskommission 

als wehrdienstuntauglich freigestellt. 

Nach der Februarrevolution 

ging er nach Sankt Petersburg. 

Er gehörte nun zur Redaktion 

der Zeitung „Prawda“. 

In Sankt Petersburg stieß Sinowjew 

zu Stalin und Kamenew. 

Diese später als Triumvirat bezeichnete Gruppe 

sollte in der Folgezeit eine bedeutende Rolle 

in der sowjetischen Politik spielen.


Im Juni wurde Stalin auf dem ersten 

Allrussischen Sowjetkongress 

zum Mitglied des Zentralexekutivkomitees gewählt. 

Er verfolgte neben anderen Bolschewiki 

zunächst eine Politik der Zusammenarbeit 

mit der provisorischen Regierung unter Kerenski. 

Als Lenin aus dem Exil zurückkehrte 

und die Unterstützung Kerenskis 

als Verrat an den Bolschewiki brandmarkte, 

änderte Stalin seinen Kurs 

und unterstützte Lenin. 

Er verteidigte Lenins Ideen 

auf den großen Debatten der Bolschewiki 

im September und Oktober. 

Er hatte jedoch sehr wenig mit der Vorbereitung 

und Durchführung der Oktoberrevolution zu tun. 

Die zentrale Rolle bei dem Umsturz 

kam Trotzki als Chef des Militärischen Komitees 

des Sankt Petersburger Sowjets zu.


In der am 7. November installierten 

provisorischen ersten Sowjetregierung 

erhielt er zum Dank für seine Loyalität 

den Posten des Volkskommissars 

für Nationalitätenfragen. 

Stalin wollte in dieser Position eine Allianz 

zwischen Russland und allen Minderheiten 

des Landes schaffen. Diese Allianz 

war jedoch dahingehend eingeschränkt, 

dass ihre Mitglieder 

sozialistisch zu sein hatten.


Doch es kam anders. 

Zunächst waren die sowjetische Zentralregierung 

und die neu geschaffene Rote Armee sehr schwach. 

Sie kontrollierten ein Gebiet, das die Größe 

des alten russischen Großfürstentums hatte. 

Viele der Nationalitäten im zaristischen Russland 

sahen nun die Möglichkeit, 

sich selbstständig zu machen 

und erklärten ihre Unabhängigkeit, 

ohne die Sowjetregierung zu konsultieren. 

Das bekannteste Beispiel dafür ist die Ukraine, 

die in Kiew ihr eigenes Parlament schuf 

und sich unabhängig erklärte. 

Die tatsächliche Aufgabe Stalins 

bestand in den nächsten Jahren darin, 

die verlorengegangenen Gebiete 

in die Sowjetunion einzugliedern. 

Nachdem sich diese Situation abgezeichnet hatte, 

änderte er seine Haltung gegenüber den Minderheiten 

und beschloss, jedes Mittel einzusetzen, 

um die Unabhängigkeit dieser Staaten 

rückgängig zu machen.


Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges 

wurde Stalin Befehlshaber in der 

von Trotzki neu geschaffenen Roten Armee. 

Er wurde im Juli als Kommandeur 

an die Südfront geschickt, 

um dort das einzige bedeutende Getreideanbaugebiet, 

das in den Händen der Sowjetregierung lag, 

zu sichern. Er verließ sich dabei 

auf die Hilfe eines ehemaligen 

zaristischen Generals, der von Trotzki 

zum Kommandant der Südfront berufen worden war. 

Mit dem General geriet er jedoch bald 

in eine Auseinandersetzung, 

da er Offiziere der Roten Armee erschießen ließ, 

die bereits vorher in der Armee des Zaren 

Offiziere gewesen waren. 

Es gelang aber dennoch, die Stadt 

gegen die Weißen Truppen zu verteidigen.


Stalin wurde Mitglied des neuen 

Inneren Direktoriums der Sowjetregierung. 

Hier hatte er den ersten heftigen Zusammenstoß 

mit seinem Hauptrivalen Trotzki. 

Trotzki gliederte ehemalige Offiziere 

des zaristischen Heeres in die Rote Armee ein, 

um die Organisation dieser Truppe zu straffen 

und sie somit kampfkräftiger werden zu lassen. 

Stalin wehrte sich zwar gegen dieses Vorgehen, 

hielt sich aber angesichts der militärischen 

Erfolge Trotzkis zurück.


Als Kommandeur der Südfront 

konzentrierte sich Stalin 

nach der erfolgreichen Verteidigung 

des späteren Stalingrad darauf, 

die Eingliederung der kaukasischen Völker 

in die Sowjetunion voranzutreiben. 

Es wurde der Nordkaukasus 

an die Sowjetunion angegliedert. 

Dieses geschah zunächst auf freiwilliger Basis, 

da die Nordkaukasier 

gegen einen konterrevolutionären Weißen 

General revoltiert hatten. 

Die Tschetschenen erhoben sich aber wieder 

gegen die Sowjetmacht, 

und Stalin war bestrebt, die Stabilität 

der Sowjetherrschaft wiederherzustellen. 

Den Bergvölkern versprach Stalin folgendes 

auf dem Kongress der Völker:


Jedes Volk muss seinen eigenen Sowjet haben. 

Sollte der Beweis erbracht werden, 

dass die Scharia notwendig ist, 

so mag es die Scharia geben.“


Bald gehörte der gesamte Kaukasus 

mit Ausnahme Georgiens 

zum Territorium der Sowjetunion. 

Mit Hilfe eines Parteifreundes 

aus seiner frühen Parteikarriere 

organisierte Stalin die Rückeroberung Georgiens.


Bereits nach der Februarrevolution 

gab es innerhalb des Zentralkomitees 

ein so genanntes Triumvirat, 

welches sich aus Stalin, Kamenew 

und Sinowjew zusammensetzte. 

Stalin war mit Kamenew zusammen 

in der Verbannung gewesen, 

Sinowjew stand diesen beiden 

in vielen Auffassungen nahe 

und war mit ihnen befreundet. 

Kurz nach der Oktoberrevolution 

im selben Jahr hatte Lenin 

gegen Sinowjew und Kamenew 

ein Parteiausschlussverfahren angestrengt, 

weil sie den geheimen Plan der Bolschewiki 

zum gewaltsamen Umsturz 

an die provisorische bürgerliche Regierung 

unter Kerenski verraten hätten. 

Stalin hatte dafür gesorgt, dass der Ausschluss 

aus der Kommunistischen Partei Russlands 

verhindert wurde. Außerdem verband 

alle drei eine gemeinsame Abneigung 

gegen Trotzki, Stalins härtesten Widersacher 

um die Machtübernahme nach Lenins Tod.


Lenin zog sich wegen einer schweren Krankheit 

aus der Politik zurück. Das Triumvirat 

setzte sich an die Spitze der Macht 

innerhalb des Zentralkomitees 

und hielt gleichzeitig dessen andere Mitglieder 

wie die Anhänger Trotzkis von der Macht fern. 

Dabei trat Sinowjew vor allem als Redner auf, 

Kamenew führte den Vorsitz der Sitzungen 

und Stalin konzentrierte sich 

auf die Arbeit mit dem Parteiapparat. 

Damit lag die Auswahl von Funktionären 

für die zentralen und lokalen Posten 

in seinen Händen. Bereits zu Lebzeiten Lenins 

wurde Kritik am Triumvirat laut. 

Lenin äußerte sich in seinem sogenannten 

politischen Testament über Stalin. 

Zwar sei Trotzki persönlich der „fähigste Mann“ 

im gegenwärtigen Zentralkomitee, 

jedoch habe er ein übersteigertes Selbstbewusstsein 

und eine „übermäßige Leidenschaft 

für rein administrative Maßnahmen“. 

Stalin habe „dadurch, dass er Generalsekretär 

geworden ist, eine unermessliche Macht 

in seinen Händen konzentriert“, 

von der er womöglich nicht immer 

vorsichtig genug Gebrauch machen werde. 

Andererseits kritisierte Lenin Trotzki, 

der gegen eine Entscheidung 

des Zentralkomitees gekämpft habe. 

In einer zweiten Notiz grenzt er sich schärfer 

gegenüber Stalin ab.


Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, 

der in unserer Mitte und im Verkehr 

zwischen uns Kommunisten erträglich ist, 

kann in der Funktion des Generalsekretärs 

nicht geduldet werden. 

Deshalb schlage ich den Genossen vor, 

sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, 

und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, 

der sich in jeder Hinsicht von dem Genossen Stalin 

nur durch einen Vorzug unterscheidet, 

nämlich dadurch, dass er toleranter, 

loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber 

aufmerksamer, weniger launenhaft ist. 

Es könnte so scheinen, 

als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit. 

Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt 

der Vermeidung einer Spaltung 

und unter dem Gesichtspunkt 

der von mir oben geschilderten Beziehungen 

zwischen Stalin und Trotzki 

ist das keine Kleinigkeit 

oder eine solche Kleinigkeit, 

die entscheidende Bedeutung gewinnen kann.“


Stalin gelang es nach Lenins Tod, 

eine offene Auseinandersetzung 

über diese letzten politischen Aussagen Lenins 

mit Hilfe von Kamenew und Sinowjew 

zu unterdrücken, sodass der Inhalt 

zwar in der Sowjetunion bekannt wurde, 

jedoch nie eine negative Wirkung 

auf Stalins spätere Karriere hatte.


Auch andere Versuche, Stalins Macht 

einzuschränken, scheiterten. 

So fanden zum Beispiel geheime Unterredungen 

von Mitgliedern des Zentralkomitees statt, 

an denen unter anderen Sinowjew 

und Kamenew teilnahmen. 

Wegen der Meinungsverschiedenheiten 

unter Stalins Kritikern, aufgrund der Intrigen 

und Repressionsmittel, 

die ihm zur Verfügung standen, 

aber auch wegen der häufig loyalen 

und sogar begeisterten Haltung 

vieler Parteimitglieder gegenüber 

dem Generalsekretär, 

hatten diese Aktivitäten keinen Erfolg.


Stalins Gegner Trotzki 

wandte sich ebenso schriftlich 

an das Zentralkomitee 

und warf dem Triumvirat vor, 

ein Regime zu errichten, 

das weiter von der Arbeiterdemokratie entfernt sei 

als der sogenannte Kriegskommunismus. 

Er forderte die alte Garde auf, 

der noch unerfahrenen jüngeren Generation 

Platz zu machen und sah das Triumvirat 

als Entartung der Revolution. 

Nach dem offenen Ausbruch 

der innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten 

dauerte es indes noch mehrere Jahre, 

bis Stalin und seine Anhänger 

sich durchsetzen konnten 

und Trotzki aus der Partei ausgeschlossen wurde. 

Der „Verräter“ wurde zuerst nach Kasachstan verbannt, 

dann endgültig aus der Sowjetunion ausgewiesen.


Nach Lenins Tod zerfiel jedoch auch 

das von Trotzki angeprangerte Triumvirat. 

Kamenew und Sinowjew wurden 

zu innerparteilichen Gegnern Stalins, 

welcher wiederum Unterstützung bei Bucharin 

und Dzierzynski fand. 

Kamenew und Sinowjew 

wurden aus der Partei gedrängt.


Nun war Stalin somit uneingeschränkter 

Alleinherrscher in der Sowjetunion. 

Er war das Haupt der kommunistischen Partei. 

Im staatlichen Bereich beschränkte er sich 

lange Zeit auf das Amt 

eines stellvertretenden Ministerpräsidenten 

der Sowjetunion. 

Seit seinem fünfzigsten Geburtstag 

ließ er sich offiziell als „Führer“ titulieren.


Stalin trieb die Zwangskollektivierung 

der Landwirtschaft unnachgiebig voran. 

Dabei brach er rücksichtslos den Widerstand 

von als wohlhabend geltenden Bauern, 

die er als „Kulaken“ diffamierte. 

Er betrieb er durch Verhaftungen, 

Enteignungen, Todesurteile 

und Verschleppungen die sogenannte 

Entkulakisierung“. Folge, 

aber auch durchaus erwünschtes Hilfsmittel 

der Kollektivierung und Repression 

gegen die „Kulaken“ war eine riesige Hungersnot 

im ganzen Land, die besonders 

fürchterliche Ausmaße an der Wolga 

und in der Ukraine annahm. 

Sie kostete mehreren Millionen Menschen das Leben.


Die Ermordung des Leningrader 

Parteisekretärs Kirow, 

der aufgrund seiner wachsenden Beliebtheit 

als Stalins Gegenspieler galt, 

lieferte den Vorwand für die Politik 

der berüchtigten „Säuberungen“. 

Nahezu alle Parteimitglieder des Parteitags 

wurden in öffentlichen Schauprozessen 

(den Moskauer Prozessen) zum Tode verurteilt 

und hingerichtet. Darunter war ein Großteil 

der höheren Parteifunktionäre und Minister 

im Staatsapparat der Sowjetunion.


Eckpfeiler seiner Theorie des Marxismus-Leninismus 

waren die Entwicklung des Sozialismus in einem Land 

und die Verschärfung des Klassenkampfes 

auf dem Weg zum Kommunismus, 

womit er seine Repressionen zu legitimieren suchte.


Die drei großen Schauprozesse, 

in deren Verlauf Sinowjew, Kamenew 

und Bucharin zum Tode verurteilt wurden, 

waren aufgrund vieler Ungereimtheiten 

in den Aussagen der Angeklagten 

von der Weltöffentlichkeit 

als Inszenierung entlarvt worden. 

Weiterhin wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit 

ein Prozess gegen die Führungsspitze 

der Roten Armee geführt. 

Alle diese Prozesse waren der Auftakt 

zu allgemeinen, von Stalin gesteuerten „Säuberungen“, 

die jegliche Opposition in der Sowjetunion 

ausschalten sollten. 

Stalin überließ dabei den Chefs der Geheimpolizei 

die Durchführung seiner Instruktionen. 

Diese liefen meist darauf hinaus, 

dass die betreffenden Personen 

zumindest verhaftet, 

häufig aber erschossen wurden.


Nun wurde die sogenannte Stalin-Verfassung 

vom Sowjetkongress angenommen.


Es wurden in fünf Jahren schätzungsweise 

anderthalb Millionen Menschen umgebracht. 

Fraglich ist, ob man von Wahnvorstellungen 

Stalins reden muss. 

Das Ergebnis der „Säuberungen“ war, 

dass Stalin nun wirklich die absolute Macht 

in der Sowjetunion innehatte.


Stalin umgab sich in dieser Zeit 

mit einem immer größere Maße 

annehmenden Personenkult. 

Dieser äußerte sich unter anderem in der Kunst 

(Lobpreisungs- und Ergebenheitswerke 

in Literatur und bildender Kunst 

im Stil des sozialistischen Realismus) 

und in seiner allgegenwärtigen 

öffentlichen Präsenz. 

So wurden in fast allen Sowjetrepubliken 

einige Städte nach Stalin benannt, 

daneben öffentliche Gebäude, Werke, Sportstätten, 

Straßen und anderes mehr.


In dem in Moskau abgeschlossenen Nichtangriffspakt 

mit dem nationalsozialistischen Deutschland, 

dem Hitler-Stalin-Pakt, 

war ein Geheimabkommen enthalten, 

das die Interessensphären zwischen Deutschland 

und der Sowjetunion gegeneinander abgrenzte.


Stalin erklärte in der Prawda, 

dass nicht Deutschland Frankreich 

und England angegriffen hat, 

sondern dass Frankreich und England 

Deutschland angegriffen 

und damit die Verantwortung 

für den gegenwärtigen Krieg 

auf sich genommen haben.“


Nach dem deutschen Angriff auf Polen 

besetzte die Sowjetunion 

gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt 

Teile Ostpolens. Später wurden 

die baltischen Staaten 

und das rumänische Bessarabien, 

die im Hitler-Stalin-Pakt 

der Sowjetunion zugesprochen worden waren, 

ebenfalls von der Roten Armee besetzt 

und der Sowjetunion einverleibt. 

Die neue Grenze wurde 

in einem Freundschaftsvertrag festgeschrieben. 

Dann wurden umfangreiche Handelsverträge geschlossen, 

mit denen das Dritte Reich die Fähigkeit erlangte,

erfolgreich Krieg gegen Großbritannien zu führen.


In Finnland sah Stalin ebenso 

eine mögliche Gefährdung 

der Sicherheit des sowjetischen Staates. 

Er fürchtete die Nähe der finnischen Grenze 

zu Leningrad und Finnland als mögliche Basis 

für Luftangriffe fremder Mächte. 

Nachdem das Land nicht 

auf diplomatischem Wege 

zu Gebietsabtretungen zu bewegen war, 

ordnete Stalin ohne eine Kriegserklärung an, 

den Winterkrieg gegen Finnland zu beginnen. 

Diese Offensive scheiterte. 

Ein zweiter sowjetischer Angriff, 

nun mit mehr Truppen 

und anderem Schwerpunkt, 

zwang die finnische Regierung dazu, 

einen Teil ihres Territoriums abzutreten. 

Danach ließ Stalin sein Kriegsziel 

der Besetzung des gesamten Landes 

und der Errichtung 

einer kommunistischen Exilregierung fallen. 

Das aggressive Vorgehen der Sowjetunion 

gegen Finnland führte noch während der Kämpfe 

zu ihrem Ausschluss aus dem Völkerbund 

und zu empörten Reaktionen 

im westlichen Ausland.


Vom deutschen Angriff wurden Stalin 

und die Rote Armee überrascht, 

obwohl Stalin verschiedene Hinweise 

auf den bevorstehenden Angriff 

durch den Spion Richard Sorge erhalten hatte. 

Stalin war fest davon überzeugt, 

dass Deutschland Russland nie 

aus eigenem Antrieb angreifen wird.“ 

Er drohte sowjetischen Militärführern an, 

dass Köpfe rollen werden“, 

wenn sie ohne Erlaubnis 

Truppenbewegungen durchführen würden. 

Sechs Tage nach dem deutschen Überfall 

aber fluchte er nach einer Sitzung 

des Volkskommissariats für Verteidigung: 

Lenin hat unseren Staat geschaffen, 

und wir haben ihn verschissen!“ 

Es war das Eingeständnis, 

dass die sowjetische Führung 

und er persönlich 

einer verhängnisvollen Fehleinschätzung erlegen waren. 

Stalin war überzeugt gewesen, 

den Konflikt mit Deutschland verschieben zu können 

und hatte dem alles andere untergeordnet.

Während des „Großen Vaterländischen Krieges“ 

ließ sich Stalin zum Oberbefehlshaber 

der Roten Armee ernennen. 

Durch Appelle an den Patriotismus 

und durch die allgemeine Wut 

auf die deutsche Aggression zum einen 

und den Staatsterror zum anderen 

gelang es ihm, die Unterstützung 

großer Teile der Bevölkerung zu erreichen. 

Jedoch kam es im Krieg immer wieder 

zu fatalen Fehleinschätzungen 

der Situation durch Stalin. 

So dachte er bei Kriegsbeginn, 

dass der Feind über den Süden 

in Russland einrücken würde, 

und ließ dementsprechend dort 

stärkere Truppen stationieren. 

Die Wehrmacht stieß aber mit ihrer Hauptmacht 

über den Norden, also das Baltikum 

und die weißrussischen Gebiete, vor.


Stalin erwies sich bei der Führung 

militärischer Verbände als unfähig. 

Außerdem hatte die Führung der Roten Armee 

zahlreiche seiner Befehle insgeheim ignoriert, 

weil sie unsinnig gewesen waren. 

Ebenso wurde nach dem Ende der Stalin-Ära 

hinter verschlossenen Türen Stalin 

und der damaligen Parteiführung vorgeworfen, 

das Leben von Soldaten sinnlos geopfert zu haben.


Auf den Überfall der Wehrmacht 

auf die Sowjetunion reagierte Stalin 

anfangs gar nicht. Stalin wusste nicht, 

was er dem Volk sagen sollte. 

Stalin war überzeugt, dass die Deutschen 

keinen direkten Angriff wagen würden, 

sondern lediglich provozieren wollten. 

Er meinte sogar, dass sie selbst eigene Städte 

zum Zweck der Provokation bombardieren würden.


Anstelle Stalins wandte sich Außenminister Molotow 

als erster an die Menschen der Sowjetunion 

und informierte sie über den Angriff der Deutschen. 

Ein persönliches Auftreten Stalins 

in den ersten Tagen 

des Großen Vaterländischen Krieges 

hätte seine Politik der vergangenen Jahre 

zu stark in Zweifel gezogen, 

da die anfänglichen Niederlagen 

zu einem großen Teil auf die „Säuberungen“ 

innerhalb der Roten Armee zurückzuführen waren. 

Molotow sprach in seiner Rede erstmals 

vom Vaterländischen Krieg in Bezug 

auf den siegreichen Abwehrkrieg 

des Heiligen Russlands gegen Napoleon.


Erst später meldete sich Stalin zu Wort 

und hielt eine Radioansprache, 

der im Gegensatz zu früheren Reden 

jegliches Pathos fehlte. Viel erstaunlicher 

war allerdings der Inhalt der Rede. 

Neben den zu erwartenden Lügen 

über die tatsächliche Situation an der Front 

war vor allem die verwendete Sprache Stalins 

ein Novum. Statt wie gewohnt mit „Genossen“, 

redete Stalin seine Zuhörer an mit den Worten 

Genossen! Bürger! Brüder und Schwestern! 

Kämpfer unserer Armee und Flotte, 

an Euch wende ich mich, meine Freunde.“ 

Angesichts des bisherigen Personenkultes um Stalin 

war diese Anrede, die faktisch 

auf Augenhöhe stattfand, sehr ungewöhnlich. 

In den Folgemonaten veränderte sich das Bild Stalins 

und der sowjetischen Propaganda völlig. 

Stalin trat in den Hintergrund, 

die Prawda veröffentlichte nur noch 

alte Fotos des Diktators, 

Reden wurden gar nicht mehr gehalten. 

Anstelle einer ideologisch motivierten Propaganda, 

die zum „neuen Menschen“ erziehen sollte, 

trat immer mehr eine patriotisch 

orientierte Kriegskampagne. 

Stalin verschwand größtenteils von Plakaten 

und aus Filmen und wurde 

durch die allgegenwärtige Mutter Heimat ersetzt. 

Der Personenkult um Stalin 

trat erst gegen Ende des Krieges 

in den Vordergrund, als ein Sieg der Roten Armee 

über das Dritte Reich als sicher galt.


Während des Kriegs veränderte sich auch der Terror. 

Von der Willkür des Großen Terrors 

fand ein Übergang auf gezielten Terror 

gegen einzelne Volksgruppen 

der Sowjetunion statt, die verdächtigt wurden, 

mit den Deutschen zu paktieren. 

Millionen von Menschen, ganze Völker 

und Volksgruppen wie die Krimtataren, 

die Russlanddeutschen 

oder die Tschetschenen 

wurden in dieser Zeit 

als potenzielle Kollaborateure 

nach Kasachstan und Zentralasien deportiert, 

wo viele der Deportierten 

einen grausamen Tod starben. 

Die baltischen Staaten verloren 

etwa zehn Prozent ihrer Einwohner.


Auf der Konferenz von Jalta 1945 

legten die drei Siegermächte – darunter Stalin – 

die Grenzen Europas nach der Niederlage 

des nationalsozialistischen Deutschlands fest. 

Daraufhin mussten mehrere Millionen Menschen 

in Osteuropa ihre Heimat verlassen 

(Heimatvertreibung).


Bereits die Schlacht um Stalingrad 

hatte zum Stillstand des deutschen Angriffs geführt. 

Die Rote Armee kam bis 

an die deutschen Reichsgrenzen heran. 

Wenige Monate später war mit der Schlacht um Berlin 

die Herrschaft des Nationalsozialismus 

in Deutschland beendet.


In den Verhandlungen mit den westlichen Alliierten 

(Konferenzen von Jalta und Potsdam) 

erreichte Stalin Zugeständnisse, 

die letztlich den Machtantritt 

kommunistischer Parteien 

in osteuropäischen Ländern begünstigten 

und so die Einflusssphäre 

der Sowjetunion weiter ausdehnten. 

Die Ausschaltung unabhängiger Kommunisten 

durch Schauprozesse in den 

von der Sowjetunion dominierten Ländern 

Osteuropas führte dort zur Alleinherrschaft 

der stalinistischen Kräfte. 

Aber es kam zum Bruch mit Marschall Tito, 

der einen Partisanenkampf 

gegen die nationalsozialistische deutsche 

und die faschistische italienische Besatzung 

im Zweiten Weltkrieg angeführt 

und die Volksrepublik Jugoslawien 

als einen von der Sowjetunion unabhängigen 

sozialistischen Staat etabliert hatte. 

Die von Stalin geführte Sowjetunion 

geriet in scharfen Gegensatz zu der 

von Amerika geführten westlichen Welt, 

der Kalte Krieg begann.


In der Sowjetunion und in den 

von ihr beherrschten osteuropäischen Staaten 

kam es erneut zu „Säuberungen“. 

Auch Geistliche, Angehörige 

nichtrussischer Völker 

und zahlreiche politische Gegner 

(unter anderem Zionisten) wurden inhaftiert 

und mitunter der Folter unterzogen, 

wobei viele Unschuldige sich des Vorwurfs 

der „konterrevolutionären Tätigkeit“ 

ausgesetzt sahen.


Zu seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag 

wurde Stalin von den Linken 

als Mann gewürdigt, „auf den alle 

friedliebenden Menschen der Welt 

blicken und hoffen.“ 

Derartige Formulierungen entsprachen 

dem damals propagierten Bild von Stalin. 

Im Zusammenhang mit dem Personenkult um Stalin 

wurden im Ostblock Schulen, Straßen und Städte 

nach ihm benannt. Viele dieser Ehrungen 

wurden erst geraume Zeit nach seinem Tod 

und nach der Entstalinisierung rückgängig gemacht.


Am Abend des 28. Februar 1953 

traf sich Stalin mit Beria, dem Geheimdienstchef, 

und Chruschtschow zum Abendessen. 

Die Unterredung, gegen deren Ende Stalin 

in einem langen Monolog 

seine Mitarbeiter heftig kritisierte, 

dauerte bis vier Uhr am Morgen 

des 1. März 1953. 

Nach der Verabschiedung seiner Gäste 

erlitt Stalin in seinem Zimmer 

unbemerkt einen Schlaganfall. 

Erst um 23 Uhr wagte sich 

der diensthabende Mitarbeiter zu Stalin, 

den er im Unterhemd auf dem Fußboden liegend fand. 

Stalin war bei Bewusstsein, 

konnte aber nicht sprechen. 

Die Bediensteten legten ihn auf den Diwan, 

wo er das Bewusstsein verlor. 

Um drei Uhr morgens erschien Beria. 

Dieser verbot den Leibwachen 

und Hausbediensteten 

zu telefonieren und entfernte sich. 

Um neun Uhr kam Beria in Begleitung 

von Chruschtschow zurück, 

etwas später erschienen weitere 

Politbüromitglieder und Ärzte.


Einige Stunden später wurde 

eine Regierungsmitteilung veröffentlicht, 

in der mitgeteilt wurde, dass Stalin 

Gehirnblutungen erlitten hatte, 

die lebenswichtige Teile des Gehirns erfassten. 

Am 5. März 1953 verstarb Stalin 

im Alter von 74 Jahren.


Die Trauerbezeugungen unter Kommunisten 

in aller Welt und unter linken Intellektuellen 

waren außerordentlich. 

In dem bei der Beisetzung auf dem Roten Platz 

auftretenden Gedränge gab es etliche Tote. 

Nach den Trauerzeremonien 

brachte man Stalins Leiche 

in das Lenin-Mausoleum. 

Die Leiche wurde einbalsamiert 

und neben Lenins Leiche aufgebahrt.


Stalin hatte einmal spöttisch gefragt: 

Wie viele Divisionen hat denn der Papst?“ 

Den Tod Stalins kommentierte Papst Pius XII so: 

Und nun wird Herr Stalin die Divisionen 

des Papstes kennen lernen.“






CHINA IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT


Über die Jungfrau China aus einem Roman der Ming-Dynastie:


Oh welch holdselige Erscheinung bot sich seinem Auge! Der zarte Schimmer ihrer Haut ließ die herrlichste Blume neben ihr vor Scham vergehen! An der Grazie ihrer Bewegung gemessen, erschien der zierliche Flug der Schwalbe von lächerlicher Plumpheit! Der edle Schwung ihrer Brauen beschämte die anmutigen Konturen lenzlicher Hügel! Verglichen mit dem seelenvollen Feucht ihres Auges, war das Blank des Herbstsees matt und tot! Ihre Taille, zum Zerbrechen zart, stand rank wie die zierliche Pagode, die dem Sturme trotzt! Mondglanz lag auf ihrem Haare, dessen Spiegelglätte keiner Salbe bedurfte! Die Reinheit ihres Teints ließ frisch gesottenen Reis schmutzig erscheinen und machte Puder und Schminke entbehrlich! Ach, ihre Schönheit zu beschreiben hieße, den Kranichflug im Bilde festhalten zu wollen! Ihr göttlicher Anblick ließ dich bis ins Mark erschauern!“




ERSTER GESANG


Puyi wurde am 7. Februar 1906 

als ältester Sohn des Prinzen Chun II Zaifeng 

und dessen Gemahlin Youlan 

im „Nördlichen Herrschaftssitz“, 

einem Palast nahe Peking, geboren. 

Sein Vater war ein jüngerer Halbbruder 

des amtierenden Kaisers Guangxu 

und entstammte dem mandschurischen 

Fürstengeschlecht der Aisin Gioro, 

die seit 1644 in der Qing-Dynastie 

die chinesischen Kaiser stellten.


Ende 1908 lag der kinderlose Kaiser Guangxu im Sterben. 

Daher ließ Kaiserinwitwe Cixi, 

die eigentliche Machthaberin Chinas und bei Hofe, 

den erst zweijährigen Puyi 

in die Verbotene Stadt 

nach Peking bringen, 

um ihn als Thronerben einzusetzen. 

Cixi hielt seit 47 Jahren die Fäden in der Hand. 

Sie war zunächst Nebenfrau des Kaisers Xianfeng 

und hatte mit diesem einen Sohn Tongzhi, 

der seinem Vater 1861 

als Minderjähriger auf den Thron folgte. 

Nach dessen plötzlichem Tod 

im Alter von 18 Jahren – 

seine schwangere Ehefrau starb 

zwei Monate nach ihm – 

setzte die Kaiserinwitwe ihren dreijährigen Neffen 

Zaitian als Kaiser Guangxu durch. 

Dieser war Puyis Onkel. 

Einen Tag nach der Ankunft des Jungen 

in der Verbotenen Stadt, 

starb Guangxu und einen Tag später Cixi.


Mit nur zwei Jahren war Puyi Kaiser von China 

und wurde am 2. Dezember 

in einer hochoffiziellen, aufwändigen Zeremonie 

in der „Halle der höchsten Harmonie“ inthronisiert. 

Fortan lebte der Kind-Kaiser 

getrennt von seinen leiblichen Eltern 

als gottähnliche Person in der Verbotenen Stadt, 

umgeben von Eunuchen, Dienstboten 

und Konkubinen seiner Vorgänger. 

Jeder, der dem Kaiser gegenübertrat, 

musste den Kotau vor ihm machen, 

Kritik an ihm war untersagt. 

Ein strenges Protokoll regelte 

den Tagesablauf des Jungen.


Die Regentschaft für seinen minderjährigen Sohn 

übernahmen Prinz Chun 

und Guangxus Witwe Longyu. 

Chun erwies sich bald als unfähig, 

die kaiserliche Zentralmacht zu festigen. 

In China herrschten chaotische Zustände. 

Korruption und Misswirtschaft drohten, 

China unregierbar werden zu lassen. 

Große Teile des Landes wandten sich von Peking ab, 

kaiserliche Dekrete und Erlasse erzielten 

kaum noch Wirkung. 

Regionale Kriegsherren bestimmten das Geschehen, 

die republikanische Kuomintang-Bewegung 

hatte enormen Zulauf 

und ausländische Großmächte strebten danach, 

ihren Einfluss in China auszubauen. 

Als im Herbst 1911 die Xinhai-Revolution ausbrach, 

war das Ende der Monarchie absehbar. 

Am 1. Januar 1912 rief Sun Yat-sen 

die Republik China aus 

und der sechsjährige Puyi 

musste am 12. Februar abdanken. 

Im Edikt zur „Wohlwollenden Behandlung 

des Kaisers der großen Qing-Dynastie“ 

wurde Puyi weiterhin Kaisertitel 

und -würden zugestanden. 

Ihm wurde unbefristetes Wohnrecht 

in der Verbotenen Stadt eingeräumt 

und zur Unterhaltung seines riesigen Hofstaates 

erhielt er eine jährliche Apanage 

von vier Millionen Yuan.


Trotz seiner formellen Abdankung 

änderten sich an Puyis Leben 

und Behandlung vorerst nichts. 

Er durfte auch weiterhin seinen Titel 

Kaiser von China“ tragen und auch benutzen. 

Der von Eunuchen dominierte Hofstaat 

hielt auch nach Ausrufung der Republik 

an dem überkommenen Hofzeremoniell fest. 

Puyi lebte immer noch 

von seinen leiblichen Eltern getrennt 

in der Abgeschiedenheit der Verbotenen Stadt, 

wo die Amme Wang Momo 

seine wichtigste Bezugsperson bildete. 

Verwandte (insbesondere sein Vater), 

hohe Beamte und Eunuchen bereicherten sich 

persönlich an den zugewiesenen Geldmitteln 

und den Kunstschätzen der Verbotenen Stadt. 

Inmitten von Korruption, Missgunst und Intrigen 

oblag die Erziehung des Jungen seiner Amme 

und ausgesuchten Eunuchen. 

Unterrichtet wurde er im Einzelunterricht 

von Privatlehrern, die ihn hauptsächlich 

in traditioneller chinesischer 

und konfuzianischer Literatur 

sowie Kalligraphie unterwiesen. 

Erst ab 1914 änderte sich Puyis isolierte Stellung, 

als sein jüngerer Bruder Pujie 

als Spielkamerad an den Hof geholt wurde.


Politisch spielte er erstmals 1917 wieder eine Rolle, 

als nach einem Militärputsch 

die Monarchie kurzzeitig wieder eingeführt wurde. 

General Zhang Xun nutzte die Instabilität 

der Republik aus, putschte sich an die Macht 

und setzte im Juli 1917 Puyi wieder als Kaiser ein. 

Nach zwölf Tagen jedoch war 

dieser Restaurationsversuch wieder beendet 

und Puyis Berater hielten sich fortan politisch zurück.


Im Frühjahr 1919 wurde der britische Kolonialbeamte 

und Sinologe Professor Johnston 

neuer Privat- und Englischlehrer Puyis, 

der nun gemeinsam mit seinem Bruder 

und ausgesuchten Aristokratenkindern 

unterrichtet wurde. Johnston gewann 

schnell großen Einfluss auf Puyi, 

prägte dessen Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig 

und führte ihn an die westliche Denkweise heran. 

Dies ging sogar soweit, dass sich Puyi 

seinen Zopf, die traditionelle Haartracht 

der Mandschu, selbst abschnitt.


Politisch blieb China ein Pulverfass. 

Im November 1924 putschte sich General 

Feng Yuxiang an die Macht 

und revidierte unter anderem das Edikt 

zwischen Republik und Kaiser. 

Auf seinen Druck hin musste Puyi 

die Verbotene Stadt verlassen. 

Nach 16 Jahren setzte er wieder 

einen Schritt vor die Tore 

und ging am 5. November 1924 

mit kleinem Gefolge zu seinem Vater 

in den Nördlichen Herrschaftssitz.


Mitte der 1920er Jahre spitzte sich 

die Lage in China zu, 

es herrschten Chaos und Anarchie, 

Bürgerkrieg drohte. Regionale Kriegsherren, 

die Kommunisten 

und die republikanische Zentralmacht 

kämpften um die Macht. 

Ausländische Mächte, allen voran Japan, 

wollten die Schwäche Chinas ausnutzen 

und sich territoriale und wirtschaftliche 

Vorteile verschaffen. In den Wirren dieser Zeit 

war die persönliche Sicherheit Puyis 

gefährdeter denn je. 

Auf Anraten seines Gefolges 

begab sich Puyi schließlich inkognito 

in das internationale Botschafterviertel Pekings. 

Dort stellte er sich umgehend 

unter den Schutz der japanischen Botschaft 

und bezog mit seinem Gefolge ein eigenes Gebäude, 

wo er zunehmend japanischen Einfluss ausgesetzt war.


Am 23. Februar 1925 übersiedelte Puyi nach Tianjin. 

Die kosmopolitische Hafenstadt 

besaß ein großes internationales Viertel, 

wo Puyi sich in japanisches Hoheitsgebiet begab 

und eine herrschaftliche Villa bezog. 

Während der Jahre in Tianjin 

entwickelte Puyi den Wunsch, eines Tages 

auf den chinesischen Kaiserthron zurückzukehren. 

Als Privatmann nahm er rege 

am gesellschaftlichen Leben 

der großen ausländischen Gemeinde teil.


Nach der Mandschurei-Krise 

zwischen Japan und China 

bedrängten japanische Agenten 

den psychisch labilen Puyi. 

In der Mandschurei sollte ein 

von Japan abhängiger Satellitenstaat entstehen, 

mit Puyi an der Spitze. 

Nach einigem Zögern stimmte dieser schließlich zu.


Nachdem Puyi zugestimmt hatte, 

sich an die Spitze des neuen Staates zu stellen, 

bereiteten die Japaner seine Umsiedlung 

in die Mandschurei vor. 

Zu diesem Zweck wurde ihm 

am 24. Februar 1932 eine Bitte des Volkes 

der Mandschurei vorgetragen, 

ihr neuer Präsident zu werden, 

woraufhin Puyi nach Lüshun 

(Port Arthur) gebracht wurde. 

Dort erlebte er mit, wie in der 

von japanischen Truppen befreiten 

Mandschurei das unabhängige 

Mandschukuo errichtet wurde, 

woraufhin Puyi feierlich 

in der neuen Hauptstadt Xinjing einzog. 

In Xinjing bezog er den Gebäudekomplex 

der ehemaligen Salzsteuerbehörde, 

richtete hier seinen Hof ein 

und wurde auch dort zum Staatspräsidenten vereidigt. 

Bei der anschließenden Ausarbeitung der Verfassung 

blieb Puyi außen vor, Mitspracherecht 

wurde ihm nicht zugestanden.


Als Staatspräsident hatte er formell 

zwar weitreichende exekutive, judikative 

und legislative Befugnisse, 

konnte seine Regierung ernennen, 

doch Mandschukuo war von Beginn an 

ein japanischer Marionettenstaat. 

Japanisches Fernziel war es, Mandschukuo 

als Sprungbrett für die Unterwerfung 

Gesamtchinas zu nutzen. 

Die politische Macht des Staates 

lag beim „Staatsausschuss 

für allgemeine Angelegenheiten“, 

der ausschließlich mit Japanern besetzt war 

und seine Handlungsdirektiven aus Tokio erhielt. 

Mandschukuo, von den Japanern 

wirtschaftlich erschlossen, 

diente als Rohstoffquelle und Fabrikationsstätte. 

Es gab viele Bodenschätze und Rohstoffe, 

eine ertragreiche und fruchtbare Landwirtschaft 

und die Infrastruktur war gut. 

Die Einwanderung japanischer Siedler 

wurde forciert, Amtssprache wurde Japanisch 

und die Shinto-Religion eingeführt.


Puyi indes träumte insgeheim von der Rückkehr 

auf den Kaiserthron in Peking, 

doch die Japaner ließen ihn mehr und mehr spüren, 

wer das Sagen hatte. 1934 wurde Mandschukuo 

eine Monarchie und war fortan 

das Kaiserreich Mandschukuo. 

Zu diesem Zweck wurde Puyi 

am 1. März 1934 zum Kaiser 

von Mandschukuo gekrönt. 

Die Krönungszeremonie fand im Beisein 

des Prinzen Chichibu statt, 

des jüngeren Bruders Kaiser Hirohitos, 

was lediglich unterstrich, dass Puyi 

Kaiser von Japans Gnaden war. 

An seiner einflusslosen Stellung 

änderte dies indes nichts. 

Im Gegenteil fühlte er sich an seinem Hof, 

der eine in sich geschlossene, privilegierte Welt war, 

zunehmend wie ein Gefangener. 

Umgeben von japanischen Spitzeln 

wurde er zunehmend von der Außenwelt isoliert 

und zeigte in seinem Verhalten paranoide Züge. 

Vom Verlauf des Zweiten Weltkriegs 

erfuhr er nur aus der allgemeinen 

japanischen Kriegspropaganda.


1945 war Japan militärisch praktisch besiegt. 

Im August erklärte ihm die Sowjetunion den Krieg 

und marschierte in Mandschukuo ein. 

Die japanische Armee stellte sich nicht zum Kampf, 

sondern zog sich nach Süden zurück. 

Das Land verfiel in Chaos, 

die Ordnung löste sich auf. 

Am 11. August verließ Puyi seinen Palast in Xinjing 

und versuchte sich mit wenigen Getreuen 

(unter anderem mit seinem Bruder Pujie) 

nach Japan durchzuschlagen. 

Auf der Flucht dankte Puyi 

am 16. August formell ab 

und erklärte die Rückkehr der Mandschurei 

nach China. Anschließend wurde er 

am Flughafen von Mukden 

durch sowjetische Fallschirmjäger 

gefangen genommen.


Die Sowjets internierten Puyi 

im Kriegsgefangenenlager von Chabarowsk. 

Zwischenzeitlich wurde Puyi 1946 

als Zeuge beim Internationalen 

Kriegsverbrechertribunal in Tokio angehört, 

erklärte allein die Japaner 

für jegliche Kriegsverbrechen verantwortlich 

und sprach sich selbst von aller Schuld frei.


Puyi blieb bis zum August 1950 

in sowjetischer Haft, ehe er 

nach dem Sieg der Kommunisten 

unter Mao Zedong 

an die Volksrepublik China ausgeliefert wurde. 

Die chinesischen Behörden internierten 

den Ex-Kaiser im Gefängnis von Fushun. 

Dort traf er neben seinem Bruder Pujie 

auf seinen Schwiegervater Prinz Su 

und drei Neffen. 

Ziel der „Umerziehung“ war es, 

Puyi im Sinne des Kommunismus 

zu einem loyalen Bürger 

der Volksrepublik zu machen. 

Er musste schriftlich Selbstkritik üben 

und sich vor Parteikadern 

für seine Taten verantworten. 

Nach neun Jahren im Gefängnis von Fushun 

wurde Puyi am 9. Dezember 1959 

aus der Haft entlassen. 

Die Umerziehung war „erfolgreich“ abgeschlossen 

und auf Anordnung Mao Zedongs 

war er begnadigt worden. 

Anschließend ging er nach Peking, 

wurde von seinem Halbbruder Puren aufgenommen 

und bekam eine Anstellung als Gärtner 

im Botanischen Garten der Stadt zugewiesen, 

später als Archivar an einem Institut für Geschichte 

einer Pekinger Universität. 

Fortan führte er ein einfaches, zurückgezogenes Leben. 

Endgültig rehabilitiert wurde er 1964, 

als er von der Politischen Konsultativkonferenz 

des Chinesischen Volkes zum Mitglied 

ihres Nationalkomitees gewählt wurde.


1964 wurde bei ihm Krebs diagnostiziert 

und fortan verschlechterte sich 

sein Gesundheitszustand kontinuierlich, 

bis er schließlich am 17. Oktober 1967 

im Pekinger Kreiskrankenhaus verstarb.


Nach den damaligen Gesetzen 

wurde sein Leichnam 

in einem Krematorium eingeäschert 

und zunächst auf dem Pekinger 

Revolutionsfriedhof Babaoshan beerdigt. 

1995 erreichte seine Witwe 

die Verlegung der Urne auf einen Friedhof 

außerhalb der Stadt, 

nahe den traditionellen Grabstätten 

seiner Qing-Vorfahren. 

Dort wurden vier der neun Qing-Kaiser, 

drei Kaiserinnen, 

69 Prinzen 

und kaiserliche Konkubinen bestattet.



ZWEITER GESANG


Sun Yat-sen wurde am 12. November 1866 

als Sohn einer Bauernfamilie 

im Dorf Cuiheng, Bezirk Xiangshan, 

Guangdong in Südchina geboren. 

Der Bezirk wurde ihm zu Ehren 

in Zhongshan umbenannt. 

Über seine Herkunft sagte Sun: 

Ich bin ein Kuli und der Sohn eines Kulis. 

Ich habe immer mit dem Kampf 

des Volkes sympathisiert.“


1878 ging er im Alter von 13 Jahren 

erstmals nach Hawaii 

und zog zu seinem Bruder nach Honolulu, 

der dort bereits als Arbeiter angefangen 

und als Händler reich geworden war. 

Von 1879 bis 1882 lernte er 

an der anglikanischen Iolani School, 

danach noch an der Punahou-Schule. 

Diese erste Berührung 

mit dem Christentum prägte ihn zutiefst.


Nach seiner Rückkehr ins Dorf Cuiheng 

zerschlug er einen Götzen im Dorftempel, 

um sein Aufbegehren gegen 

die herrschenden Umstände zu demonstrieren. 

Dafür wurde er aus dem Dorf verbannt.


So begann er im Jahr 1886, 

am Hong Kong College of Medicine 

for Chinese Medizin zu studieren, 

wo er der erste Absolventen war. 

Danach arbeitete er als Arzt in Hongkong.


Seine Aufenthalte im Westen 

nährten in ihm die Unzufriedenheit 

mit der Regierung der Qing-Dynastie 

und so begann er seine politischen Aktivitäten damit, 

dass er Reformgruppen von Exilchinesen 

in Hongkong organisierte. 

Im Oktober 1894 gründete er die Xing Zhong Hui, 

die Vereinigung zur Wiederherstellung Chinas, 

mit dem Ziel, eine Plattform für zukünftige 

revolutionäre Aktivitäten zu schaffen.


Im Jahr 1895 schlug der von ihm geplante 

Kantoner Aufstand fehl. 

Die Qing-Regierung setzte auf ihn ein Kopfgeld aus, 

so verbrachte Sun 16 Jahre im Exil in Europa, 

den USA, Kanada und Japan. 

Dort sammelte er Geld 

für seine revolutionären Aktivitäten. 

In Japan trat er chinesischen Dissidentengruppen bei 

und gründete dort im Jahr 1905 

den Tongmenghui-Bund, 

den chinesischer Revolutionsbund, 

den Vorgänger der Kuomintang. 

Er wurde dafür von Japan in die USA ausgewiesen. 

In dieser Zeit begann er auch, 

westliche Anzüge zu tragen 

und ließ sich den chinesischen Zopf abschneiden.


Am 10. Oktober 1911 begann 

der Wuchang-Aufstand, der den Auftakt 

zur Xinhai-Revolution bildete 

und zum Ende der zweitausendjährigen 

Herrschaft der Kaiserdynastien in China führte. 

Sun hörte von der erfolgreichen Rebellion 

des Militärs gegen die Qing-Dynastie. 

Daraufhin fuhr er zunächst nach Europa, 

um dort die Westmächte davon zu überzeugen, 

den Qing keine Kredite mehr zu gewähren. 

In London konnte er so 

einen wichtigen Erfolg verbuchen. 

Er kehrte zu Weihnachten aus Frankreich 

nach China zurück.


Am 29. Dezember wurde Sun 

in einer Konferenz von Provinzrepräsentanten 

in Nanjing zum Übergangspräsidenten 

der Republik China gewählt.


Obwohl in der Geschichtsschreibung 

der Kuomintang die Rolle von Sun sehr betont wird, 

bezweifeln Historiker, dass er im Umsturz 

von 1911 eine große Rolle gespielt hatte, 

einfach aus dem Grund, 

weil er zu jener Zeit im Ausland war. 

Vielmehr wurde er zum Übergangspräsidenten gewählt, 

weil er geachtet, aber unbedeutend war 

und einen Kompromisskandidaten 

zwischen Revolutionären 

und konservativem Adel darstellte. 

Am 12. August 1912 gründet er im Hinblick 

auf die bevorstehenden Parlamentswahlen 

aus zahlreichen kleineren politischen Gruppierungen 

die Nationale Volkspartei Kuomintang.


Nach seiner Vereidigung berief Sun 

Delegierte aus allen Provinzen ein, 

um die Nationalversammlung 

der Republik China zu gründen. 

Das Übergangsrecht wurde von dieser Versammlung 

zum Grundgesetz der neuen Republik erklärt.


Die Übergangsregierung war trotzdem 

in einer sehr schwachen Lage: 

Die Südprovinzen hatten ihre Unabhängigkeit erklärt, 

während der Norden dies noch nicht getan hatte. 

Die Übergangsregierung hatte außerdem 

keine Streitkräfte, denn ihre Kontrolle 

über die neue Armee war gering 

und es gab viele Truppen, 

die noch den Qing treu waren. 

Daher brauchte Sun die Unterstützung 

von Yuan Shikai, dem mit der Beiyang-Armee 

das Militär Nordchinas unterstand. 

Sun war gezwungen, ihm das Präsidentenamt 

zu versprechen, damit er sich auf die Seite 

der Revolution schlug 

und Kaiser Puyi zum Abdanken zwang.


Als sich Yuan zum Diktator entwickelte, 

versuchte Sun 1913, 

eine Revolte gegen ihn zu starten. 

Als sie fehlschlug, ging Sun ins Exil nach Japan, 

wo er die Kuomintang neu organisierte.


1917 kehrte er nach China zurück 

und wurde 1921 zum Präsidenten 

der selbstproklamierten Nationalregierung 

in Kanton gewählt. 

1923 erklärte er seine drei Volksprinzipien 

in einer Rede zur Basis des Staates 

und seine Fünf-Yuan-Verfassung 

zur Richtlinie für das politische System.


Um militärische Schlagkraft 

für eine Nordexpedition 

gegen die Militaristen in Peking zu haben, 

gründete er die Whampoa-Militärakademie 

in der Nähe von Kanton, 

mit Chiang Kai-shek als Kommandeur 

und Parteigenossen 

wie Wang Jingwei und Hu Hanmin 

als politischen Lehrern.


In den frühen 20er Jahren bekam Sun Hilfe 

von der Kommunistischen Internationale, 

um die Kuomintang 

in eine leninistische Partei umzuorganisieren. 

Gleichzeitig handelte er 

die erste vereinigte Front aus Kommunisten 

und Kuomintang aus. 

1924 wurde diese Allianz noch gestärkt, 

um das Land besser unter Kontrolle bringen zu können. 

Zu diesem Zeitpunkt war Sun überzeugt davon, 

dass China nur mit Gewalt 

von seiner Basis in Südchina aus 

vereinigt werden könnte. 

Nach einer Periode politischer Vormundschaft 

sollte dann ein Übergang 

zur Demokratie geschehen.


Am 10. November 1924 reiste Sun 

in den Norden und trat 

für eine gesamtchinesische Konferenz 

sowie die Abschaffung der unfairen Handelsverträge 

mit dem Westen ein. 

Zwei Tage später reiste er 

trotz schlechten Gesundheitszustandes 

und Bürgerkriegs wieder in den Norden, 

um über die Zukunft des Landes zu diskutieren.


Am 12. März 1925 starb er in Peking 

an Leberkrebs im Alter von 58 Jahren.


Seine politische Philosophie, 

bekannt als dreifaches Volksprinzip, 

wurde im August 1905 veröffentlicht 

und war stark an den amerikanischen 

Progressivismus angelehnt.


In seinem Werk Methoden und Strategien 

zum Aufbau des Landes, 

im Jahre 1919 fertiggestellt, schlug er vor, 

dieses Prinzip zu verwenden, 

um endgültigen Frieden, Freiheit 

und Gleichheit in China zu erreichen.


Nach Suns Tod 

brach ein Machtkampf zwischen 

seinem jungen Protegé Chiang Kai-shek 

und dem älteren Wang Jingwei aus, 

der die Kuomintang spaltete. 

Das lag zum Teil am zwiespältigen Erbe, 

das Sun Yat-sen hinterlassen hatte. 

Als sich die Allianz zwischen Kommunisten 

und der Kuomintang 1927 auflöste 

und der Bürgerkrieg ausbrach, 

behaupteten alle von sich, 

seine wirklichen Erben zu sein. 

Diese Spaltung bestand auch 

während des japanischen Krieges fort.


Sun Yat-sen ist der einzige chinesische Politiker, 

der sowohl in Taiwan 

wie in Rot-China großes Ansehen genießt. 

In Taiwan wird er als Vater der Republik China betrachtet 

und sein Bild ist in fast allen öffentlichen Räumen präsent. 

Da Sun Yat-sen nie in der Regierung Taiwans war, 

ist er auch bei Befürwortern 

der taiwanesischen Unabhängigkeit unverfänglich.


In Rot-China wird er als chinesischer Nationalist 

und Vorkämpfer der Republik 

und des Sozialismus gesehen. 

In den letzten Jahren wurde Sun 

auch von der chinesischen Regierung 

in den Vordergrund gerückt, 

nicht zuletzt um die Beziehungen zu Taiwan 

und den dortigen Unterstützern 

einer Wiedervereinigung zu verbessern. 

Mittlerweile gibt es zu den Mai-Feiern 

ein großes Bild von Sun Yat-sen 

auf dem Tian-anmen-Platz, 

während Bilder von Marx und Lenin 

nicht länger zu sehen sind.



DRITTER GESANG


Chiangs Eltern waren Salzhändler 

und gehörten zur oberen Mittelschicht. 

Sein Vater hatte Schwierigkeiten mit diesem Geschäft. 

Nach dem Tod des Vaters 1896 

geriet die Familie in Not. 

Chiang war Mitglied der Methodistenkirche.


Chiang versuchte erstmals 1906, 

eine militärische Ausbildung in Japan zu beginnen. 

Diese wurde ihm aber verweigert, 

da er keine Erlaubnis 

der chinesischen Qing-Regierung vorweisen konnte. 

Allerdings lernte er bei seinem Aufenthalt in Japan 

Chen Qimei kennen, 

der ihm die Tongmenghui-Bewegung näherbrachte, 

in die Chiang zwei Jahre später eintrat. 

Chiang kehrte noch im Winter 1906 

nach China zurück und begann im Sommer 

des darauffolgenden Jahres eine Ausbildung 

an der Baoding-Militärakademie, 

an welcher er nach einem Jahr 

eine Prüfung ablegte, die ihm 

eine weitere Militärausbildung in Japan erlaubte. 

Im Anschluss ging Chiang ein weiteres Mal nach Japan, 

wo er ein Studium an einer speziell 

für chinesische Studenten eingerichteten 

Militärschule aufnehmen konnte. 

Nach seinem dortigen Abschluss 

im November 1909 wurde er mit einigen anderen 

Absolventen dem 19. Feldartillerieregiment 

der Kaiserlich Japanischen Armee zugeteilt, 

da er Felderfahrung sammeln musste, 

bevor er die Kaiserlich Japanische 

Heeresakademie hätte besuchen dürfen.


Als er 1911 vom Wuchang-Aufstand hörte, 

kehrte er nach China zurück, 

um sich an der Bewegung 

zum Sturz der chinesischen Kaiserdynastie 

zu beteiligen. Mit Hilfe seines Förderers 

Chen Qimei übernahm er in Shanghai 

die Führung eines Regiments 

der revolutionären Streitkräfte 

und wurde Gründungsmitglied der Kuomintang.


Nachdem Chiang 1923 Sun Yat-sen 

und dessen Frau bei einem Attentat 

das Leben rettete, wurde er Suns Protegé. 

1923 leitete er eine Studienreise 

in die Sowjetunion, 

der an einer Stärkung der jungen 

Republik China gelegen war. 

1924 wurde er von Sun zum Leiter 

der neugegründeten Whampoa-Militärakademie ernannt.

Whampoa wurde finanziell und personell 

von der Sowjetunion unterstützt. 

Sowjetische Berater halfen auch, 

die Kuomintang als Einheitspartei zu formen. 

Die chinesischen Kommunisten wurden aufgefordert, 

der Kuomintang beizutreten.


Nach dem Tod von Sun Yat-sen 

übernahm Chiang 1925 die Kontrolle 

über die Kuomintang. 

Seine Machtposition war aber bedroht, 

zum einen durch die Kommunisten 

außerhalb der Partei 

und durch den linken Flügel in der Partei, 

vertreten durch Wang Jingwei. 

Außerdem wurden viele Regionen Chinas 

durch Kriegsherren 

wie die Nördlichen Militaristen beherrscht 

oder waren gänzlich 

dem politischen Chaos verfallen. 

Unterstützung erhielt Chiang Kai-shek 

von Du Yuesheng, dem Chef der Grünen Bande, 

der 1925 in die Kuomintang eintrat.


1926 begann er als Kuomintang-Führer 

die Nordexpedition, einen Feldzug 

gegen das Kriegsherren-Regime 

Zhang Zuolins in Nordchina. 

Das Ziel war die Einigung Chinas 

unter der Kuomintang-Regierung. 

1928 beendete er diese Mission siegreich. 

Im April 1927 schlug Chiang 

mit Hilfe der Grünen Bande 

im Shanghai-Massaker Aufstände 

in der Arbeiterschaft Shanghais blutig nieder. 

Aufständische Arbeiter wurden exekutiert, 

die Kommunisten verloren 

ihre wichtigste Wirkungsstätte.


Die erfolgreiche Durchführung 

der Nordexpedition stärkten Chiangs Position 

gegenüber seinen Gegnern wie Wang Jingwei. 

Auf Bitten seiner Frau 

und nach „sorgfältiger Prüfung 

des Fragenkomplexes“ war Chiang 

Christ geworden, Methodist. 

Später hat er selbst eine chinesische 

Bibelübersetzung redigiert 

und ein Vorwort zu einer Psalmenübersetzung geschrieben.


Nach der Ausschaltung der Kommunisten 

und der Wiedererlangung der Kontrolle 

über Nordchina wurde Chiang 

auch vom Ausland als der neue starke Mann 

Chinas anerkannt. Die Anzahl 

der ausländischen Konzessionen 

verringerte sich. Die Kuomintang-Regierung 

gewann die Kontrolle über Steuern und Zölle zurück, 

die unter der Qing-Dynastie 

an die ausländischen Mächte 

abgetreten worden waren.


Mit dem Mukden-Zwischenfall 

begann 1931 Japans Invasion der Mandschurei, 

die schon seit 1895 

zum japanischen Einflussbereich gehörte, 

in der aber die chinesische 

Nationalregierung versuchte, 

ihren Einfluss auszubauen. 

Um seine Machtposition zu schonen, 

befahl Chiang den Rückzug. 

1932 errichtete Japan dort 

seinen Satellitenstaat Mandschukuo.


Um Japans Dominanz zu begegnen 

und den innerchinesischen Konflikt 

mit den Kommunisten für sich zu entscheiden, 

war es notwendig, die Modernisierung 

von Wirtschaft und Militär voranzutreiben. 

Unterstützung erhielt Chiang von Deutschland, 

das im Zuge seiner Wiederaufrüstung 

auf chinesische Rohstoffe angewiesen war. 

Im Rahmen der Chinesisch-Deutschen Kooperation 

waren Deutsche von 1933 bis 1938 

als Militärberater für Chiang tätig.


Schon seit 1930 versuchte er 

mit seiner national-chinesischen Partei 

Kuomintang jegliche kommunistische 

Bewegung auszulöschen. 

Damit war er in mehreren Feldzügen 

und mit weiträumigen Belagerungen 

relativ erfolgreich, mit Ausnahme 

in den von Mao Zedong 

kontrollierten Gebieten.


Am 12. Dezember 1936, 

im Zwischenfall von Xi’an, 

wurde Chiang von General Zhang Xueliang, 

der zwar Chiangs Kommando unterstand, 

aber als langjähriger Kriegsherr 

auch eigene Interessen verfolgte, entführt. 

Um den Machtkampf für sich zu entscheiden, 

baute er auf die Unterstützung der Sowjetunion 

und wollte im Gegenzug 

die Bedrängung der chinesischen 

Kommunisten aufgeben. 

Aber schon am 14. Dezember 1936 

verurteilten die sowjetischen Zeitungen 

Prawda und Iswestija die Entführung. 

Am 16. Dezember leitete die Nationalregierung 

militärische Aktionen gegen Zhang Xueliang ein. 

Er gab schließlich auf 

und ließ sich von Chiang unter Hausarrest stellen, 

aus dem er erst 1990 wieder entlassen wurde. 

Zeitgleich stellte die Sowjetunion 

aber in Aussicht, Chiangs Sohn 

Chiang Ching-kuo 

aus der Sowjetunion ausreisen zu lassen, 

was von Chiang Kai-shek sehnlichst erwartet wurde. 

Chiang entschloss sich zu einem Bündnis 

mit den Kommunisten, das formal 

bis zum Ende des Krieges mit Japan hielt.


Während des Zweiten Chinesisch-Japanischen-Krieges 

von 1937–1945, eines Teils des Zweiten Weltkriegs, 

konnte sich Chiang trotz der Kampfhandlungen 

mit den Japanern einerseits 

und des Konfliktes mit den Kommunisten andererseits 

an der Macht halten. 

Japans Militärs meinten, 

China in drei Monaten besetzen zu können, 

was aber schon in Shanghai 

am chinesischen Widerstand scheiterte; 

allein die Einnahme der Stadt dauerte vier Monate. 

Entgegen der Meinung seiner militärischen Berater 

befahl Chiang den Großteil seiner besten Einheiten 

in die Schlacht um Shanghai. 

Die Japaner konnten zwar die Stadt erobern, 

der erbitterte Widerstand stärkte aber 

die Moral der Chinesen. 

Chiang musste sich nach dem Fall 

der Hauptstadt Nanjing 

nach Wuhan und 1938 nach Chongqing zurückziehen, 

es gelang ihm aber, den Japanern 

empfindliche Rückschläge zuzufügen, 

wie 1938 bei der Schlacht um Tai’erzhuang 

oder bei den vier Schlachten um Changsha 

zwischen 1939 und 1944.


Chiangs Deichbruchaktion 

in der Provinz Henan am Gelben Fluss 

am 9. Juni 1938 mit der Idee, 

durch Flutung ganzer Provinzen 

die japanische Armee aufzuhalten, 

forderte fast eine Million Tote. 

Die Flutungen schafften es immerhin, 

den japanischen Feldzug gegen Wuhan 

für Monate zu unterbrechen. 

Die Überlebenden wurden zum Wiederaufbau 

der Deiche gezwungen; 

erst 1947 waren alle Deiche wieder aufgebaut.


Mao Zedong und Chiang 

hatten zwar offiziell eine zweite Einheitsfront 

gegen die Japaner geschmiedet. 

Dies war aber nur ein brüchiger Frieden. 

Chiang und Mao wussten, 

dass sie ihre Armeen für den absehbaren 

innerchinesischen Konflikt brauchen würden.


Nach Kriegseintritt wurde Chiang 

trotz zunehmender Korruption 

und abnehmenden Rückhalts in der Bevölkerung 

von den USA zunächst bis 1945 

und anschließend bis 1949 

mit Milliarden US-Dollar unterstützt.


Der Kriegseintritt der Sowjetunion 

gegen Japan ermöglichte es Stalin, 

wieder Einfluss in China zu nehmen. 

Die von den Sowjets erbeuteten Waffen 

sollten vertragsgemäß 

der chinesischen Regierung übergeben werden. 

Stattdessen stattete die Rote Armee 

die Kommunistische Partei Chinas 

nach der Niederlage Japans 

mit dem erbeuteten japanischen Kriegsgerät aus. 

Damit endete die Allianz 

zwischen Chiang Kai-sheks Kuomintang 

und Mao Zedongs Kommunistischer Partei 

und der Konflikt entflammte erneut. 

Zwischenzeitlich wurden die Staatsorgane 

der Republik China nach Nanjing zurück verlegt. 

Nachdem eine Verfassungskommission 

ihre Arbeit beendet hatte, 

konnten 1947 landesweite Wahlen 

für die Nationalversammlung 

und die Gesetzgebungskammer 

durchgeführt werden. Überraschenderweise 

gewannen mehrheitlich unabhängige Kandidaten, 

gefolgt von der Kuomintang, 

den Sozialdemokraten 

und der Jung-China-Partei. 

Wegen der zunehmenden Auseinandersetzungen 

mit der Volksbefreiungsarmee 

entschloss sich die Nationalversammlung 

gleich nach ihrer Konstituierung 

zur Verabschiedung von Sondergesetzen, 

welche dem künftigen Präsidenten 

faktisch diktatorische Vollmachten 

zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung 

für den Zeitraum der „kommunistischen Rebellion“ 

verleihen sollte. Erst danach 

wählte die Nationalversammlung Chiang Kai-shek 

mit 2.430 Stimmen zum Präsidenten.


Maos militärische Siege 

führten zu systematischem Terror 

in den eroberten Gebieten, 

wozu insbesondere die Verfolgung und Tötung 

von „Kapitalisten“ 

und „Großgrundbesitzern“ 

sowie Geistlichen sämtlicher Religionsgemeinschaften, 

Personen mit Auslandsverbindungen 

und Anhängern der Kuomintang 

und anderer Parteien. 

1949 siegten die Kommunisten endgültig. 

Chiang Kai-shek und seine Anhänger 

zogen sich nach Taiwan zurück.


Im Dezember 1949 wurde auf Taiwan 

der neue Sitz der Verfassungsorgane 

der Republik China, 

mit einer vorübergehenden Hauptstadt, 

Taipeh, eingerichtet. 

In dieser Position erhob Chiang 

weiterhin Anspruch auf ganz China.


Auf Taiwan errichtete Chiang Kai-shek 

ein autoritäres Regime 

innerhalb des rechtlichen Rahmens 

der Sondergesetze, die ihm 

die Nationalversammlung 1948 übertragen hatte. 

Unter dieser diktatorischen Führung 

konnten die Wirtschaft 

und das Bildungssystem gefördert werden, 

weshalb Chiangs Herrschaft 

als „Entwicklungsdiktatur“ bezeichnet wurde. 

Demokratische Prozesse waren dagegen 

auf die Kommunen und Kreise beschränkt. 

Die Verehrung Chiangs wurde häufig 

mit dem Personenkult 

seines Rivalen Mao Zedong verglichen.


Chiang Kai-shek betrieb in der Zeit 

zwischen 1950 und 1975 offiziell 

eine Politik der Rückeroberung Chinas. 

Taiwan wurde von den USA 

finanziell und materiell unterstützt. 

Chiangs Rumpfparlament – 

nicht alle Mitglieder der republikanischen 

Nationalversammlung waren nach Taiwan übergesiedelt – 

war ein dauerndes Provisorium 

ohne eigentliche gesetzgebende Funktion. 

Nach dem Ausbruch des Koreakrieges von 1950 

erhielt Taiwan von den USA 

militärische Unterstützung, 

um der Volksrepublik China – 

auch nach der Besetzung Tibets – 

deutliche Grenzen zu setzen. 

Dabei hatten die USA Schwierigkeiten, 

Chiangs militärische Blockaden der Taiwan-Straße 

und die Gegenwehr durch Artilleriebeschuss 

aus der Volksrepublik 

in einem Status quo zu halten. 

1955 musste Taiwan die Drachen-Inseln 

und Nanchi an die Volksrepublik China abtreten, 

die Bewohner wurden zuvor 

mit US-amerikanischer Hilfe evakuiert.


Bis zu seinem Tod 1975 

blieb er Präsident der Republik China. 

Er wurde von der letztmals 1947 

noch gesamtchinesisch gewählten 

Nationalversammlung viermal 

ohne Gegenkandidaten wiedergewählt. 

Seine eigene Rolle als autoritär 

herrschender Präsident sah Chiang 

lediglich als notwendiges Übel 

zur Verteidigung der Republik China 

und der Verfassungsdoktrin 

der Lehren Sun Ya-sens an

(Staatliche Unabhängigkeit, 

wirtschaftliche Gerechtigkeit und Demokratie). 

Gegenüber einem US-General 

erklärte Chiang deshalb: „Sollte ich sterben, 

solange ich noch Diktator bin, 

werde ich sicherlich wie andere Diktatoren 

in Vergessenheit geraten. 

Sollte ich aber auf der anderen Seite 

darin erfolgreich sein, 

das stabile Fundament 

für eine demokratische Regierung zu schaffen, 

werde ich für immer in jeder Familie 

Chinas weiterleben."


Nach dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis 

und durch die Zündung von Chinas 

erster eigener Atombombe von 1965 

wurde die internationale Machtposition 

der Republik China geschwächt. 

Die Volksrepublik China wurde 

von immer mehr Staaten 

als Vertretung anerkannt. 

Nach dem Verzicht auf Schadenersatz 

für Kriegsschäden gelang es 

der Volksrepublik 1972 

die diplomatische Anerkennung 

durch Japan zu erreichen. 

1973 wurde Taiwan nur noch von 39 Staaten, 

2006 von 23 Staaten 

als offizielle Vertretung Chinas angesehen.


Chiang Kai-shek starb 1975 

in Taiwans Hauptstadt Taipeh 

an einem Herzanfall.



VIERTER GESANG


Mao Zedong wurde am 26. Dezember 1893 

als ältester Sohn einer Bauernfamilie 

im zentralchinesischen Shaoshan, 

Provinz Hunan, geboren. 

Seine Vorfahren lebten seit 500 Jahren 

in dieser Gegend. 

Politisch war die Zeit 

durch den Verfall der Mandschu-Dynastie geprägt. 

Doch wegen der Abgeschiedenheit des Dorfes, 

zu dem weder Straßen 

noch schiffbare Flüsse führten, 

erfuhr die Bevölkerung erst zwei Jahre 

nach dem Tod des vorletzten Kaisers 

im Jahr 1908 von dessen Ableben. 

Aufgrund des bescheidenen Wohlstandes seiner Familie 

konnte Mao zunächst im Hause 

eines Privatlehrers eine einfache 

Schulausbildung genießen, 

die vor allem im Auswendiglernen 

konfuzianischer Klassiker bestand, 

die das Begriffsvermögen Maos überstiegen. 

Das Lesen wurde für das Kind zur Leidenschaft, 

die er zeit seines Lebens beibehielt. 

Mit seinen Lehrern geriet Mao häufig aneinander, 

so dass er aufgrund seiner Neigung 

zu ungehorsamem und eigensinnigem Verhalten 

mehrerer Schulen verwiesen wurde. 

1911, am Vorabend der Xinhai-Revolution, 

trat er in die Mittelschule 

in der Bezirkshauptstadt Changsha ein. 

Zu dieser Zeit begann sein politisches Interesse 

zu erwachen. Er informierte sich 

mit Hilfe von Zeitungen 

über die aktuellen Debatten und holte nach, 

was er bisher versäumt hatte. 

Er schrieb seinen ersten politischen Aufsatz, 

in dem er republikanische Positionen vertrat. 

Zusammen mit einem Kollegen lauerte er 

anderen Schülern auf 

und schnitt diesen gewaltsam 

die in der verhassten Mandschu-Dynastie 

gebräuchlichen Zöpfe ab.


Mao Zedongs Muttersprache war Xiang. 

Er sprach Hochchinesisch nur unter Anstrengungen 

und mit starkem Akzent.


Während der Chinesischen Revolution von 1911 

wurde er Mitglied der anti-kaiserlichen Armee 

von Hunan, kehrte danach aber wieder 

in die Schule zurück.


1918 folgte er seinem Lehrer Yang Changji 

nach Peking. Durch Vermittlung dieses Lehrers 

fand er eine Anstellung als Hilfsbibliothekar 

an der Peking-Universität 

und bekam unter anderem Kontakt zu Li Dazhao, 

einem der wichtigsten frühen chinesischen Marxisten 

und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas. 

Er lernte in Peking seine spätere zweite Ehefrau 

Yang Kaihui, die Tochter seines Lehrers, kennen. 

Liebesheiraten waren damals noch alles andere 

als der Normalfall, dementsprechend 

wurde die Verbindung von den jungen 

linken Intellektuellen in Changsha 

als Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts gefeiert.


Anders als viele andere spätere Führungskräfte 

des chinesischen Kommunismus 

verbrachte Mao die frühen 1920er Jahre 

nicht im Ausland, sondern mit ausgedehnten Reisen 

durch Hunan und andere chinesische Provinzen.


Mao war keiner der Teilnehmer bei der Gründung 

der Kommunistischen Partei Chinas 

1920 in Shanghai, sondern lebte zu dieser Zeit 

bereits wieder in Changsha. 

Die Gründung wurde angeregt durch die 

von Lenin einberufene 

Dritte Kommunistische Internationale. 

Später wurde dieses Treffen 

als die Neue Internationale, 

kurz Komintern bezeichnet. 

Erst 1921 nahm Mao an dem 

durch die 2. Komintern organisierten 

Ersten Kongress der kommunistischen Partei Chinas 

als einer der 13 chinesischen Delegierten teil. 

1923 wurde er auf dem zweiten Parteikongress 

ins Zentralkomitee gewählt. 

Während der Ersten Einheitsfront 

zwischen den Kommunisten und der Kuomintang 

war er Direktor eines Instituts 

zur revolutionären Erziehung 

der Bauern in Guangzhou.


Nach dem Bruch zwischen Kuomintang 

und Kommunistischer Partei 1927 

startete Mao einen Aufstand in Changsha, 

der aber schnell niedergeschlagen wurde. 

Mit einigen anderen Überlebenden 

zog sich Mao in das Jinggang-Gebirge zurück, 

wo er seine Truppen mit denen 

von Zhu De, Chen Yi und Zhou Enlai vereinigte, 

die sich nach dem Nanchang-Aufstand 

ebenfalls hierhin zurückgezogen hatten. 

Zu dieser Zeit begann Mao seine Gegner 

und einen Teil der lokalen Bevölkerung 

im Rahmen von „Säuberungen“ 

einzuschüchtern und zu töten.


Die Times schrieb: „Der Name Mao 

ist seit zwei Jahren an den Grenzen 

von Fukien und Kwangtung berüchtigt. 

Zweimal konnte man ihn in die Berge vertreiben, 

wo er aber zu beweglich war, 

um ihn gefangen zu nehmen, 

aber mit den ersten Anzeichen von Entspannung 

bei den Behörden kommt er wieder herunter 

und verwüstet die Ebene. 

Mao nennt sich selbst einen Kommunisten. 

Wohin auch immer Mao geht, 

wendet er sich an die Bauern und sagt ihnen, 

sie sollen die Kapitalisten zerstören. 

Dabei ist er selbst wirklich der übelste Bandit.“


Die Guerilla-Basis vergrößerte sich schnell; 

1928 beherrschte sie bereits ein Gebiet 

mit über 500.000 Einwohnern. 

Unter dem Druck der Kuomintang 

wurde das Zentrum 1931 

etwas nach Süden verlagert, 

und die Jiangxi-Sowjetrepublik wurde gegründet. 

Die Zeit war allerdings auch geprägt 

von andauernden Machtkämpfen 

zwischen Mao, der die Revolution 

durch Guerillakrieg erreichen wollte, 

und an der Komintern orientierten Gruppen, 

die auf eine Revolution des Proletariats setzten.


In Jinggangshan lernte Mao 

auch seine dritte Partnerin He Zizhen kennen. 

Seine Geliebte Yang Kaihui hatte Mao 

in Changsha zurückgelassen, 

wo sie von der Kuomintang verhaftet 

und 1930 hingerichtet wurde. 

Ihre Kinder mit Mao mussten sich eine Zeit lang 

als Straßenkinder in Shanghai durchschlagen, 

bevor sie außer Landes gebracht werden konnten.


1934 wurde der Druck der Kuomintang 

schließlich so stark, dass die Jiangxi-Sowjetrepublik 

aufgegeben werden musste. 

Die Kommunistischen Truppen zogen 

im Langen Marsch nach Yanan, 

in der Provinz Shaanxi, 

ständig auf der Flucht vor Truppen der Kuomintang 

oder feindlicher lokaler Kriegsherren. 

Mao selbst legte den größten Teil des Weges 

in einer eigens für ihn konstruierten Sänfte zurück. 

Unter den Opfern waren wahrscheinlich 

auch mehrere Kinder von ihm und He Zizhen, 

die bei Bauern untergebracht, 

aber nach 1949 

nicht mehr aufgefunden werden konnten. 

He Zizhen selbst überlebte zwar, 

aber war gesundheitlich angeschlagen. 

Sie wurde 1937 in die Sowjetunion geschickt, 

um sich zu kurieren, aber auch, 

um Mao nicht bei dessen Affäre 

mit seiner späteren vierten Ehefrau, 

der Schauspielerin und Politikerin 

Jiang Qing, im Wege zu stehen.


Während des Langen Marsches konnte sich Mao 

auf der Konferenz von Zunyi 

mit Hilfe von Zhou Enlai als Anführer 

der Kommunistischen Partei durchsetzen.


In Yanan konnte sich 

die Kommunistische Partei Chinas 

nur durch finanzielle Hilfe aus Moskau 

und durch den großangelegten Mohnanbau 

und den damit erzielten Einkünften 

aus dem Drogenhandel stabilisieren. 

Auch war das Gebiet abgelegen genug, 

um erfolgreich Angriffe 

der Kuomintang zu verhindern, 

und außerdem führte der Chinesisch-Japanische Krieg 

1937 zur Zweiten Einheitsfront. 

Diese entstand im Wesentlichen 

durch Vermittlung Stalins, 

der durch ein starkes China 

Japan von einem direkten Angriff 

auf die Sowjetunion abhalten wollte.


Nach der Kapitulation Japans 

und dem Rückzug der japanischen Truppen aus China 

flammte der Bürgerkrieg 1946 

erneut mit voller Härte auf. 

Die Kuomintang und ihr Führer Chiang Kai-shek 

hatten jedoch während des Krieges an Stärke verloren, 

während die Kommunisten 

enorm an Stärke gewonnen hatten. 

Nach der Ausrufung der Volksrepublik China 

am 1. Oktober 1949 zog sich die Kuomintang 

nach Taiwan zurück, 

wo sie die Republik China fortführte.


Am 25. Juni 1950 hatte der Koreakrieg 

mit einer Offensive der nordkoreanischen 

Volksarmee begonnen. 

Am 28. Juni wurde Seoul von Nordkorea erobert. 

Amerikanische und verbündete Truppen 

schlugen den Angriff zurück. 

Sie überschritten am 7. Oktober 1950 

die Demarkationslinie 

und nahmen Pjöngjang ein. 

Daraufhin antwortete die Volksrepublik China 

am 19. Oktober mit einer Offensive 

gegen die Vereinten Nationen 

und die südkoreanischen Truppenverbände. 

Hintergrund waren die außenpolitischen Probleme 

mit den Vereinigten Staaten 

und die Ablehnung einer Wiedervereinigung Koreas 

unter amerikanischer Führung. 

Der Angriff wurde von zunächst etwa 200.000 

chinesischen Soldaten 

unter widrigsten Umständen vorgetragen. 

Am 4. Januar 1951 nahmen Chinesen 

und Nordkoreaner Seoul zum zweiten Mal ein.


In dieser verlustreichen Sturmeroberung, 

die hauptsächlich von chinesischen 

Freiwilligenverbänden“ ausgeführt wurde, 

wurden die Truppen der Südkoreaner zurückgeschlagen. 

Der militärische Erfolg, nach 100 Jahren 

der Machtlosigkeit gegenüber ausländischen Invasoren, 

galt als einer der wichtigsten Erfolge Maos.


Im Mai 1956 initiierte Mao 

die „Hundert-Blumen-Bewegung“: 

Er ließ die Zensur für die Intellektuellen lockern, 

um neue Anregungen zu erhalten, 

wobei er davon ausging, dass er nur drei Prozent 

der Intellektuellen gegen sich habe. 

Aus Angst vor dem Regime setzte die Kritik 

der Intellektuellen erst ein Jahr später ein, 

im Mai 1957 im Zuge einer weiteren Kampagne.


Da auch Maos Politik dabei heftig kritisiert wurde, 

ließ Mao durch Deng Xiaoping 

die „Hundert-Blumen-Bewegung“ stoppen, 

diffamierte die Intellektuellen 

in einem neuen Klassenkampf 

und ließ 300 000 von ihnen inhaftieren. 

Weiter wurden 700 000 ihm als „Volksfeinde“ 

erscheinende Angestellte entlassen 

und durch neue kommunistische Kader 

aus den Bauernschichten ersetzt. 

Aufgrund der neuen, 

zumeist unqualifizierten Führungskader, 

die wissenschaftliche Ratschläge und Methoden 

oftmals als „unproletarisch“ 

oder „antikommunistisch“ brandmarkten, 

griffen Misswirtschaft und Missmanagement 

in weiten Teilen 

der chinesischen Wirtschaft um sich.


In einer Rede vor Parteiführern sagte Mao 1958: 

Was ist so ungewöhnlich an dem Kaiser Shi Huangdi 

aus der Qin-Dynastie? 

Er hat nur 460 Gelehrte lebendig begraben, 

wir dagegen haben 46 000 Gelehrte lebendig begraben. 

Wir sind dem Kaiser in Bezug 

auf die Unterdrückung konterrevolutionärer 

Gelehrter hundertfach voraus!“


Der „Große Sprung nach vorn“ 

war die offizielle Parole für die Politik 

der Volksrepublik China von 1958 bis Anfang 1962. 

Ziel war es, China auf schnellstem Weg 

zu einer industriellen Großmacht zu machen, 

Ergebnis jedoch war die größte 

von Menschen ausgelöste Hungersnot 

der Geschichte! Sie kostete etwa 

45 Millionen Menschen das Leben!


Deng Xiaoping, der spätere Reformpolitiker, 

stritt seine Mitverantwortung 

an dem „Großen Sprung“ nicht ab 

und warnte davor, alle Schuld 

auf Mao zu schieben. 

Am 1. April 1980 sagte er dazu: 

Maos Hirn ist damals heißgelaufen. 

Unsere Köpfe aber auch. 

Keiner hat ihm widersprochen, 

auch ich nicht“.


Da die katastrophalen Folgen der Kampagne 

gegenüber der Bevölkerung 

verschwiegen und diejenigen beseitigt wurden, 

die darüber zu sprechen wagten, 

blieb der Nimbus Maos intakt. 

Nach der Zündung der ersten 

chinesischen Atombombe 

im Jahre 1965 sowie nach der Veröffentlichung 

der „Mao-Bibel“ mit von Lin Biao 

zusammengestellten Zitaten Maos 

wuchs seine Verehrung bei der Bevölkerung, 

und seine ideologische Stellung 

wurde zunehmend unanfechtbar, 

obwohl er nach dem Scheitern 

des „Großen Sprungs“ einen Großteil 

seiner Macht eingebüßt hatte.


1966 startete Mao 

die „große Proletarische Kulturrevolution“ 

durch seine Unterstützung kritischer Wandzeitungen 

und den Aufruf an Schüler, Studenten und Arbeiter, 

neu etablierte Gesellschaftsstrukturen zu brechen. 

Mit der Parole „Die Liebe zu Mutter und Vater 

gleicht nicht der Liebe zu Mao Zedong“ 

forderte er Kinder auf, ihre Eltern 

als „Konterrevolutionäre“ 

oder „Rechtsabweichler“ zu denunzieren – 

wie überhaupt die Förderung der Denunziation 

eines von Maos wirksamsten 

Herrschaftsinstrumenten war. 

Das erklärte Ziel der Kampagne 

war die Beseitigung reaktionärer Tendenzen 

unter Parteikadern, Lehrkräften 

und Kulturschaffenden. 

In Wirklichkeit sollte durch das entstehende Chaos 

die erneute Machtergreifung Mao Zedongs 

und die Beseitigung seiner innerparteilichen 

Gegner erreicht werden, was Mao 

mit Hilfe der Viererbande auch gelang. 

Seine innerparteilichen Gegner 

wurden wegen Landesverrats verhaftet, 

getötet oder durch schwere körperliche Arbeit 

resozialisiert“. Die im Zuge der Revolution 

aufgehetzten Jugendlichen 

schlossen sich zu „Roten Garden“ zusammen. 

In der Folgezeit schwänzten die Jugendlichen 

Schulen und Universitäten, 

töteten und misshandelten zahlreiche Menschen, 

insbesondere Menschen mit Bildung 

(Lehrer, Ärzte, Künstler, Mönche), 

zerstörten Kulturdenkmäler, Tempel, 

Bibliotheken und Museen, 

bekämpften sich untereinander 

und störten die öffentliche Ordnung nachhaltig.


Mao Zedong, der die Macht wieder fest im Griff hatte, 

rief daher bereits 1968 

die randalierenden Jugendlichen dazu auf, 

ihren „wahren Revolutionsgedanken“ 

in die spärlich besiedelten, bäuerlichen 

Westprovinzen zu tragen, 

und sich die dortigen, hart arbeitenden Bauern 

als proletarische Vorbilder zu nehmen. 

Da nur wenige Jugendliche 

schulfreies Unruhestiften 

in chinesischen Großstädten 

durch harte Feldarbeit 

in armen Westprovinzen ersetzen wollten, 

musste in der Folgezeit die Armee eingesetzt werden, 

um die Roten Garden offen zu bekämpfen 

und die neu eingeführte Schulpflicht zu erzwingen. 

In der Folge wurden zahlreiche Rote Garden 

bei Massenexekutionen erschossen. 

Die Kulturrevolution wurde erst nach Maos Tod 

im Jahr 1976 offiziell als beendet erklärt 

und die Viererbande 

für die Unruhen verantwortlich gemacht.


Außenpolitisch war die Aufnahme 

der Volksrepublik China 

in die Vereinten Nationen 1971 

Maos größter Erfolg. 

Auch der Besuch des amerikanischen Präsidenten 

Nixon 1972 trug dazu bei, 

dass der „Bambusvorhang“ durchlässiger wurde. 

Nachdem Mao im selben Jahr 

einen ersten Schlaganfall erlitt, 

wurde der Spitzenfunktionär Deng Xiaoping 

aus der Verbannung geholt.


Nach Maos Tod wurde eine neue Verfassung eingeführt 

und die Viererbande sofort verhaftet. 

Die Mao-Witwe Jiang Qing 

wurde in einem Prozess 1981 

zum Tod auf Bewährung verurteilt. 

Das Urteil wurde zwei Jahre später 

in lebenslänglich umgewandelt. 

1991 wurde sie aus gesundheitlichen Gründen 

entlassen, doch zehn Tage später 

tötete sie sich selbst.


Nach der endgültigen Rehabilitierung 

von Deng Xiaoping 1977 

und nach der diplomatischen Anerkennung 

durch die Vereinigten Staaten am 1. Januar 1979 

öffnete China die Grenzen 

und rehabilitierte die überlebenden Mao-Opfer. 

Der Inhalt der Mao-Bibel wurde 1980 

als Weisheit der gesamten Führung 

durch Mao definiert.


1981 gestand die Kommunistische Partei 

schließlich erstmals offiziell 

die Misserfolge der Kampagnen ein, 

sie schützt Mao aber weiterhin: 

Die Kulturrevolution sei ein grober Fehler gewesen, 

Maos Wirken sei in der Endabrechnung 

aber zu siebzig Prozent positiv zu bewerten, 

denn die Leistungen würden 

die Irrtümer mehr als ausgleichen.


Außenpolitisch band Mao China zunächst 

eng an die Sowjetunion an. 

Seine Zweifel an der Tauglichkeit 

des sowjetischen Modells zur Entwicklung 

und weltweiten Verbreitung des Kommunismus 

ließen ihn aber nach dem Tode Stalins 

den allmählichen Bruch 

mit der Sowjetunion vorantreiben.


Sinn und Zweck der permanenten 

innenpolitischen Kampagnen 

war vordergründig, die sich immer wieder 

bildenden bürgerlichen Strukturen 

durch eine „permanente Revolution“ 

zu zerschlagen. Diese Säuberungen 

dienten allerdings hauptsächlich 

Maos diktatorischem Machtanspruch, 

den er rücksichtslos gegen alle tatsächlichen 

und vermeintlichen Feinde 

innerhalb und außerhalb der Partei verteidigte.


Man spricht von insgesamt 76 Millionen Toten, 

die Maos Politik gekostet hat.


Der Maoismus als politische Bewegung 

war nicht nur in China prägend, 

sondern beeinflusste auch 

die europäische Studentenbewegung um 1968, 

die Naxaliten in Indien, 

die Guerillabewegung Leuchtender Pfad in Peru, 

die Kommunistische Partei der Philippinen 

und zahlreiche andere Parteien, 

Gruppen und Splittergruppen. 

Einige Jugendliche im Westen sahen Maos 

radikales Vorgehen gegen die Bürgerlichen 

als Modell für die Bekämpfung 

bourgeoiser“ Strukturen weltweit.


Rot-China war während der gesamten 

dreißigjährigen Herrschaft Maos 

ein wirtschaftlich darniederliegendes, 

von politischen Verfolgungen gezeichnetes 

und bis 1972 außenpolitisch 

weitgehend isoliertes Land.


Mao war viermal verheiratet 

und hatte zwei Söhne und zwei Töchter. 

Der Biografie seines Leibarztes zufolge 

hatte Mao darüber hinaus sexuellen Verkehr 

mit hunderten weiteren Frauen. 

Dabei habe Mao bewusst das Risiko 

in Kauf genommen, die Frauen 

mit seinen Geschlechtskrankheiten, 

die er nie auskuriert hatte, zu infizieren.



FÜNFTER GESANG


Derzeit gibt es in der Volksrepublik China 

etwa 80 Millionen Christen, 

das wären bis zu sechs Prozent der Bevölkerung. 

Eine evangelikal-christliche 

Missionsorganisation behauptet jedoch, 

dass bis zu fast acht Prozent der Bevölkerung 

auf dem chinesischen Festland Christen sind; 

das wäre ein höherer Anteil als in Taiwan.


In China haben europäische Missionare 

lange mit wenig Erfolg versucht zu missionieren. 

Nachdem die europäischen Missionare 

in den 1950er Jahren des Landes verwiesen wurden 

und nachdem während der Kulturrevolution 

das religiöse Leben streng verboten war, 

hat das Christentum in den letzten dreißig Jahren 

ohne wesentliche ausländische Unterstützung 

einen massiven Aufschwung genommen. 

Inzwischen hat China 

eine der größten christlichen Gemeinden 

mit weiterem stabilem Wachstum. 

Bisher hat die übrige Christenheit 

von dieser äußerst lebendigen 

chinesischen Variante des Christentums 

kaum Notiz genommen.


Katholizismus und Protestantismus 

werden in der Volksrepublik China 

als verschiedene Religionen angesehen. 

Es gibt wenig Ökumene. 

Die Katholische Kirche 

und die protestantischen Gemeinden 

haben untereinander kaum Kontakt.


Die kirchliche Situation ist sehr kompliziert 

und abhängig von Konfession, Denomination 

und Ort oder Diözese. 

Es herrscht eine zunehmende Undurchschaubarkeit 

im Bereich der Katholischen Untergrund-Kirche 

und den protestantischen „Hauskirchen“ 

bei gleichzeitiger Entstehung 

von ausgedehnten Grauzonen 

zwischen dem „Untergrund“ 

und der vom Staat offiziell anerkannten Kirchen. 

Es gibt ein sehr intensives sakramentales Leben 

und unzählige Aktivitäten, 

die eigentlich in keiner Entsprechung 

zum Personal und zu den finanziellen 

Möglichkeiten der Kirche stehen. 

In der chinesischen Christenheit 

gibt es eine Vitalität des christlichen Lebens, 

die den europäischen Christen 

inzwischen meist fremd ist. 

Die christliche Lehre ist noch nicht sehr gefestigt. 

Es besteht immer noch theologische 

Unklarheit und Unsicherheit 

in den Gemeinden mit der Gefahr, 

dass ganze Gemeinden 

von Sekten vereinnahmt werden. 

Es gibt eine große Unversöhnlichkeit 

zwischen den Gruppierungen der Kirchen 

wie zwischen der offiziellen katholischen Kirche 

und der Katholischen Untergrund-Kirche.


Die christliche Mission 

hat in China eine sehr lange Geschichte. 

Sie war jedoch bis 1949 

im Wesentlichen ein Misserfolg. 

Trotz jahrhundertelanger Bemühung 

gab es bei der Gründung der Volksrepublik China 

im Jahre 1949 nur etwa zwei Millionen Christen.


Die Volksrepublik China wurde, 

gemäß der Verfassung, 

als ein atheistischer Staat gegründet. 

Zu dem Ziel, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten, 

gehörte aber auch die Beseitigung der Religionen, 

die dadurch zunehmend unter Druck gerieten. 

Bis Mitte der 1950er Jahre 

wurden alle ausländischen Missionare ausgewiesen. 

Den Kirchen in China wurde der Kontakt 

zu Institutionen und Vereinigungen 

im Ausland untersagt. 

Während der Kulturrevolution 

wurde die Religionsausübung 

vollkommen unterdrückt.


Unter Deng Xiaoping begann eine neue Periode 

der Öffnung, in der auch die Religionsausübung 

wieder erlaubt wurde. Seit Mitte der 80er Jahre 

gibt es in China ein massives Anwachsen 

der Religionsgemeinschaften. 

Wissenschaftler sprechen 

von einem „Religionsfieber“. 

Inzwischen kommen allein zur offiziellen 

protestantischen Gemeinde Chinas 

jedes Jahr eine Million Menschen 

neu zu den Gemeinden hinzu. 

Nicht nur das Christentum wächst im heutigen China, 

auch der Buddhismus, der Taoismus und der Islam. 

Das Christentum hat sich aber in den letzten Jahren 

am schnellsten entwickelt.


In China gibt es fünf staatlich anerkannten 

Religionen: Katholizismus, 

Protestantismus, Buddhismus, Taoismus und Islam, 

die jeweils eine sogenannte 

Patriotische Vereinigung“ besitzen müssen. 

Die patriotischen Vereinigungen 

der Religionsgemeinschaften, 

die in den 50er Jahren entstanden sind, 

gründen auf den bereits 

in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts 

von chinesischen Theologen formulierten 

Drei-Selbst-Prinzipien. Diese sind: 

Selbsterhaltung, also finanziell selbstständig zu sein 

und keine ausländische Hilfe annehmen, 

Selbstverkündung, also das Evangelium 

durch einheimische Kräfte zu verkünden, 

Selbstverwaltung, also die Kirche in China selbstständig, 

ohne ausländischen Einfluss zu verwalten.


Zu diesen staatlich geforderten Vereinigungen 

zählen die protestantische 

Patriotische Drei-Selbst-Bewegung“ 

und die „Patriotische Vereinigung 

der Katholischen Kirche“, 

die beide bereits 1951 gegründet worden waren. 

Gemäß der Satzung 

sind die Patriotischen Vereinigungen 

nicht für den direkten religiösen Bereich zuständig. 

Bei den Katholiken gibt es dafür die Bischofskonferenz, 

für die Protestanten ist dies 

der „Chinesische Christenrat“. 

Die Patriotischen Vereinigungen 

sollen die Kirchen im materiellen 

wie politischen Bereich unterstützen, 

aber auch kontrollieren. 

Die offiziellen Organisationen 

haben für die Gemeinden selbst 

aber nur beschränkten Einfluss. 

Jede lokale Gemeinde ist, auch finanziell, 

für sich selbst verantwortlich. 

Einen Einfluss haben die staatlichen 

Kirchenorganisationen bei der Ausbildung 

der Pfarrer und Priester 

und bei der Bereitstellung 

von Arbeitsmaterialien. 

Religiöse Amtsträger dürfen religiöse Aktivitäten 

nur nach der Bestätigung 

durch die Religiöse Organisationen 

und der Registrierung bei den Abteilungen 

für religiöse Angelegenheiten durchführen. 

Jeder Prediger muss also 

von einer patriotischen Drei-Selbst-Bewegung 

anerkannt werden.


Neben dieser offiziellen Kirche 

gibt es noch eine breite Grauzone von Gemeinden, 

die teilweise toleriert, teilweise ignoriert, 

manchmal auch schikaniert werden. 

Es kommt sowohl auf die lokalen Behörden 

wie auch auf die jeweiligen Gemeinden an, 

und es gibt teilweise sehr obskure Sekten. 

Die rechtliche Lage ist sehr unklar, 

bis heute gibt es kein Gesetz für die Religionen. 

Auf jeden Fall gehört die Mehrheit 

der chinesischen Christen 

keiner der beiden großen offiziellen Kirchen an.


Die Römisch-Katholische Kirche 

ist geteilt in die offizielle Kirche 

und die Untergrund-Kirche. 

Beide Kirchen haben ungefähr 70 Bischöfe. 

Die Strukturen der offiziellen 

und der inoffiziellen Kirche 

verlaufen parallel, so dass die Diözesen 

oft doppelt besetzt sind. 

Beide Organisationen haben eine 

vom Vatikan nicht anerkannte Bischofskonferenz. 

Die meisten Bischöfe 

der offiziellen katholischen Kirche 

sind inzwischen vom Papst anerkannt und legitimiert 

und in einem Brief an die chinesischen Katholiken 

im Jahr 2007 erläuterte Papst Benedikt XVI, 

dass er eine Vereinigung der beiden 

katholischen Kirchenflügel Chinas wünscht, 

und dass es keine Bischofsernennungen 

im Untergrund mehr geben wird. 

Die Zuständigkeit für die Bischofsernennungen 

bleibt weiterhin umstritten. 

Der Papst ist der Überzeugung, 

dass ihm das Recht auf Ernennung 

der Bischöfe zusteht, 

die chinesische Regierung besteht 

auf dem Verfassungsartikel, 

dass keine Kirche aus dem Ausland 

gesteuert werden dürfe. 

Es wird ein Kompromiss angestrebt.


Innerhalb der evangelischen Konfession 

wird zwischen den Kirchen 

der patriotischen Drei-Selbst-Bewegung, 

den Versammlungspunkten im Bereich 

der Drei-Selbst-Bewegung, 

halb unabhängigen ländlichen Kirchen 

und den sogenannten Hauskirchen unterschieden.


Die Kirchen der Drei-Selbst-Bewegung 

und ihre Versammlungspunkte 

sind offiziell anerkannt und staatlich registriert. 

Ihre religiösen Versammlungsstätten befinden sich 

meist in den Städten.


Die halb unabhängigen ländlichen Kirchen 

sind nur teilweise staatlich registriert, 

gehören aber nicht zur Drei-Selbst-Bewegung.


Die so genannten „Hauskirchen“ 

entstehen aus ganz unterschiedlichen Gründen. 

Ihre Gottesdienste sind nicht geheim.


Zwischen Volksreligion und Protestantismus 

wachsen seit Beginn der 80er Jahre 

Gruppierungen wie 

die „Lehre des Östlichen Blitzes“ 

oder die „Apostelgemeinschaft“. 

Sie sind durch einen charismatischen Anführer 

und eine komplexe und flexible 

Organisationsform sowie absonderliche 

Erlösungslehren gekennzeichnet. 

Seit der Ming-Dynastie gelten diese 

als ein Anzeichen für sozioökonomische 

Instabilitäten und als politisches Unruhepotential. 

Sie werden vom chinesischen Staat 

als eine Bedrohung der Stabilität betrachtet. 

Immer wieder kommt es zu staatlichen Repressionen, 

manchmal auch zu Verhaftungen.


Es gibt in China sehr verschiedene Formen 

des Christentums, so dass oft 

von den verschiedenen Christentümern 

in China geredet wird. 

So fallen das Christentum in ländlichen Gebieten 

und das Christentum in den Städten 

aufgrund der verschiedenen Lebenswirklichkeiten 

oft weit auseinander. Besonders 

auf dem Land gibt es charismatische, 

auf einen einzigen Führer bezogenen Sekten 

mit vom klassischen Christentum 

oft weit abweichenden Lehren.


Vertreter des evangelischen Christenrats schätzen, 

dass mindestens die Hälfte der Bekehrungen 

in den ländlichen Gebieten Chinas 

auf Geschichten oder Erfahrungen 

mit Glaubensheilungen zurückgehen. 

Für die arme Landbevölkerung 

stehen diese Heilungsgeschichten, 

bei denen ein Gebet von einfachen Menschen 

von Gott erhört wurde, 

gegen die in China weit verbreitete Haltung 

des fatalistischen „mei banfa“: 

da lässt sich nichts machen“.


Im chinesischen Hinterland 

sind aber auch militante Sekten tätig, 

die sich selbst mit christlichen Inhalten 

in Verbindung bringen 

und versuchen christliche Gemeinden abzuwerben. 

Diese Sekten, wie etwa „Der Blitz aus dem Osten“, 

die verkündet, dass Jesus 

in Form einer chinesischen Frau 

wiedergeboren sei, sind ein ernstes Problem 

für die christlichen Gemeinden.


In den Städten Chinas gibt es einerseits 

die sozial Schwachen, die Hilfe 

und moralische Unterstützung suchen, 

andererseits gibt es die sogenannten Kulturchristen, 

die sich meist keiner Gemeinde anschließen, 

die sich jedoch mit dem Christentum beschäftigen 

und sich mit wesentlichen Aussagen 

des Christentums identifizieren. 

Im Jahr 2001 führte die Universität in Peking 

eine Umfrage unter den Studenten durch. 

Vier Prozent der Befragten erklärten, 

sie seien Christen, sechzig Prozent 

der Befragten erklärten, 

sie seien zwar nicht Christen, 

jedoch durchaus am Christentum interessiert. 

In den Städten und an den Universitäten 

haben sich in den letzten Jahren 

nicht registrierte Hausgemeinden 

oder Gruppen zum Bibelstudium etabliert.


Ein wesentlicher Grund 

für das rasante Anwachsen des Christentums 

in China liegt in der Auflösung 

bisheriger gesellschaftlicher Strukturen 

und Moralstandards 

und in der Diskreditierung klassischer Werte. 

Auch hat der Kommunismus 

als Staatsideologie inzwischen 

als sinnstiftende Kraft keine Bedeutung mehr.


Die Kirchen werden wie alle religiösen Gruppen 

von den staatlichen Organen misstrauisch beobachtet. 

Sie sind dem Staat aufgrund ihres 

für die Menschen in China attraktiven 

Erwartungs-, Hoffnungs- 

und Handlungspotentials suspekt.


Die Chinesen haben im Modernisierungsprozess 

materiell erstaunliche Fortschritte erreicht. 

Doch der rapide gesellschaftliche Wandel 

hat die ursprünglichen Moralsysteme zerstört 

und Wertestandards gingen verloren. 

Menschen wurden in ihren Glauben erschüttert. 

Es kam zum Ausbruch einer moralischen Krise, 

die in der chinesischen Gesellschaft 

lange latent geschlummert hatte. 

Korruption und das Fehlen eines 

auch nur minimal ausgeprägten 

Gemeinschaftssinns sind inzwischen 

allgemeine Phänomene in China.


Die massiven gesellschaftlichen Veränderungen 

der letzten 30 Jahre folgten 

auf die vorherigen Erschütterungen Chinas 

durch die Kulturrevolution, 

die die bisherigen Werte nach Kräften zerstörte. 

Die Dichterin Shu Ting schrieb im Jahr 1980, 

kurz nach dem Ende der Kulturrevolution: 

„… nichts blieb in mir zurück als ein Ruinenfeld.“


Familiäre Beziehungen stehen im Zentrum 

der chinesischen Kultur. 

Doch unglücklicherweise hat sich jeder 

politische und soziale Wandel 

in der modernen chinesischen Geschichte 

auf die Familien belastend ausgewirkt. 

Der Theologe Chen Xida zeigt am Beispiel 

des Bibel-Gleichnisses vom Verlorenen Sohn, 

wie das Christentum 

gerade die sozial Strauchelnden anspricht, 

die in der chinesischen Tradition 

eher ausgegrenzt werden. 

Das Gleichnis Jesu zeichnet das Bild eines Vaters, 

der das traditionelle chinesische Vatermodell 

herausfordert, nach dem ein Vater 

seine Kinder disziplinieren, 

zum Erfolg führen und dazu bringen muss, 

seinen Namen und den aller Vorfahren zu glorifizieren. 

Damit ist Misserfolg im traditionellen Familienbild 

ein Makel, aufgrund dessen sich 

viele Menschen schämen 

und nicht mehr heimzukehren wagen. 

Dem steht im Gleichnis des verlorenen Sohns 

ein Familienbild gegenüber, 

bei dem jeder immer zurückkehren kann 

und willkommen ist.


Jedes Jahr ruft die Katholische Kirche 

am 24. Mai zum Weltgebetstag für China auf. 

Diesen besonderen Gebetstag 

hat Papst Benedikt XVI bewusst 

auf den Tag der traditionellen Wallfahrt 

nach Sheshan, dem größten Marienheiligtum 

in China nahe Shanghai, gelegt.


Die Begriffe, die für Gott 

im Chinesischen verwendet werden, 

sind selbst innerhalb des Christentums unterschiedlich. 

Als die ersten Missionare 

während der Tang-Dynastie in China ankamen, 

sprachen sie von ihrer Religion 

als Jing jiao („lichte Lehre“). 

Einige andere sprachen von Shangdi 

(„der Herrscher von oben“), 

da dies eher in der chinesischen Sprache 

verwurzelt war. 

Schließlich entschied sich jedoch 

die Katholische Kirche dazu, 

den konfuzianischen Begriff Tianzhu 

(„Herr des Himmels“) zumindest 

in offiziellen Gottesdiensten 

und Texten zu verwenden. 

Als die Protestanten schließlich 

im 19. Jahrhundert nach China kamen, 

bevorzugten sie Shangdi gegenüber Tianzhu. 

Viele Protestanten benutzen auch den Titel Shen, 

der im Allgemeinen „Gott“ oder „Geist“ bedeutet.


Die moderne chinesische Sprache 

unterteilt die Christen im Allgemeinen in zwei Gruppen: 

Die Anhänger des Katholizismus, Tianzhu jiao, 

und die Anhänger des Jidu jiao – wörtlich „Christentums“ – 

oder Jidu Xinjiao, „Neu-Christentum“-Protestantismus. 

Chinesen sehen Katholizismus und Protestantismus 

als unterschiedliche Religionen, 

auch wenn diese Unterscheidung 

in der westlichen Welt nicht vorgenommen wird. 

In der westlichen Welt fasst der Begriff 

Christentum“ alle Konfessionen zusammen, 

im Chinesischen hingegen gibt es keinen Begriff, 

der dies ermöglicht. 

In der heutigen Katholischen Literatur 

wird der Begriff Jidu zongjiao 

für christliche Sekten benutzt. 

Der Begriff bedeutet wörtlich „Religion Christi“. 

Die orthodoxen Ostkirchen werden 

Dongzheng jiao genannt, 

welches die wörtliche Übersetzung 

von „östliche orthodoxe Religion“ 

ins Chinesische ist.