VON TORSTEN SCHWANKE
INHALT
DIE FRANZÖSISCHE
DIE DEUTSCHE
DIE RUSSISCHE
DIE CHINESISCHE
DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION
ERSTER GESANG
Ludwigs Eltern, Dauphin Ludwig Ferdinand
und Maria Josepha von Sachsen,
Tochter von Friedrich August II.
Kurfürst von Sachsen und König von Polen,
führten ein zurückgezogenes Familienleben
in einem stillen Winkel von Versailles,
abseits vom hektischen Hofleben.
Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen,
dass der Vater vom König keinen Zugang
zu Regierungsgeschäften und Verantwortung erhielt.
Ludwig erhielt die Namen
seiner beiden Großväter Ludwig-August
und den Titel Herzog von Berry.
Die Geburt fand unter Anwesenheit des Hofes statt.
Ein üblicher Vorgang bei möglichen Thronfolgern,
damit von verlässlichen Repräsentanten der Monarchie,
in diesem Fall in Gestalt von drei Ministern,
die Abkunft des Neugeborenen bezeugt werden konnte.
Ein Te Deum wurde vom König, wie üblich
für einen männlichen Nachkommen, angeordnet.
Ludwig hatte zum Zeitpunkt seiner Geburt
eine Schwester, Zephyrine,
und einen lebenden Bruder, Louis Joseph Xavier,
Herzog der Bourgogne.
Ludwig stand hinter Ludwig XV.,
seinem 35-jährigen Vater
und seinem 3-jährigen Bruder
an dritter Stelle der Thronfolge.
Es galt als unwahrscheinlich,
dass Ludwig-August die Thronfolge antreten würde.
Die Aufsicht über die Kinder
wurde bei Hof durch lukrative Posten sichergestellt.
Die Amme für Säuglingspflege und Ernährung
konnte den Säugling nicht mit genügend Milch versorgen.
Da der gutbezahlte Posten aber
durch Beziehungen zum Innenminister
vergeben worden war, wurde sie
gegen keine der sechs zur Verfügung stehenden
Ersatz-Ammen ausgetauscht.
Nach einem Monat wurden die Hintergründe entdeckt
und die Amme ersetzt. Der Schweizer Arzt Tronchin,
Leibarzt von Voltaire, wurde herangezogen
und verordnete einen Kuraufenthalt
auf dem Besitz Bellevue bei Meudon.
Diese Maßnahme rettete dem Säugling das Leben.
Die Aufgabe der Pflege und Erziehung
bis zum Alter von sechs Jahren erfüllte
Comtesse de Marsan, Schwester
des Marschalls Rohan-Soubise
und Gouvernante der Kinder von Frankreich.
Der traditionelle Übergang
zum Status des Erwachsenen
erfolgte im Alter von sechs Jahren.
Damit verbunden waren umfangreiche
medizinische Untersuchungen.
Es wurde festgestellt, dass das Kind
bis auf Kurzsichtigkeit normal und gesund sei.
Der neue Lebensmittelpunkt
wurde in einen neuen Hausstand am Hof verlagert,
zusammen mit seinem älteren Bruder
Louis Joseph Xavier
und den nachgeborenen Brüdern,
den späteren Königen Ludwig XVIII. und Karl X.
Dafür wurde eigens Personal zusammengestellt.
Als Louis Joseph Xavier am 22. März 1761
an Tuberkulose starb,
rückte Ludwig mit sechs Jahren
hinter seinem Vater zum Thronfolger auf.
Als sein Vater am 20. Dezember 1765 starb,
wurde er mit elf Jahren selbst Thronfolger.
Die Eltern legten großen Wert
auf eine universelle, umfassende Ausbildung,
besonderes Interesse galt Geschichte, Religion,
der Vermittlung von Gerechtigkeit
und Regierungskunst.
Der für die Erziehung verantwortliche
Herzog La Vauguyon wurde bei seiner Tätigkeit
von Hauslehrern, wie Monseigneur Coetlosquet,
Bischof von Limoges,
und Abbé de Radonvilliers,
einem Mitglied der Académie francaise, unterstützt.
Die beiden Geistlichen standen den Jesuiten nahe.
Der Vater und nach seinem Tod die Mutter
überprüften die Lernerfolge ihrer Söhne.
Der Vater bediente sich eines Jesuiten,
Pater de Neuville.
Dieser attestierte dem achtjährigen Berry
weniger Lebhaftigkeit und Anmut
als seinen Prinzenbrüdern.
In Urteilsfähigkeit und Herzenseigenschaften
stehe er ihnen aber in nichts nach.
Gelobt wurden seine Kenntnisse in Latein
und Geschichte und sein gutes Gedächtnis.
Die Erziehungsmethoden von La Vauguyon
müssen auf Ludwig XVI. abschreckend gewirkt haben,
denn als er als König einen Erzieher
für seine Kinder auswählen musste,
lehnte er den jungen La Vauguyon mit den Worten ab:
Es tut mir leid, Sie ablehnen zu müssen,
aber Sie wissen doch, dass Sie und ich
so schlecht wie möglich erzogen worden sind.
Ludwigs Vorgänger als König
war sein Großvater Ludwig XV.
Als sein ältester Bruder starb,
rückte Ludwig XVI. mit sechs Jahren
zum nächsten Thronfolger nach seinem Vater auf.
Als auch dieser starb,
wurde Ludwig XVI. zum rechtmäßigen Nachfolger.
Am 16. Mai 1770 heiratete der 15-jährige Kronprinz
zur Festigung des französisch-österreichischen Bündnisses
die ein Jahr jüngere habsburgische Prinzessin
Marie Antoinette, Tochter des Kaisers Franz I. Stephan
und der Kaiserin Maria Theresia.
Als sein Großvater Ludwig XV.
am 10. Mai 1774 starb,
wurde Ludwig XVI. mit 19 Jahren König.
Er suchte zunächst einen Mentor
und entschied sich für den 73-jährigen
vormaligen Staatssekretär Graf von Maurepas.
Die Krönung des Königs
fand am 11. Juni 1775 in Reims statt.
Das Volk begrüßte ihn bei seiner Thronbesteigung
mit dem Beinamen „le désiré“, der Ersehnte,
doch Ludwig XVI. lehnte diesen Namen
aus Bescheidenheit ab.
Ludwig brachte es zustande,
Frankreichs Position als Seemacht wieder zu stärken,
indem er die Marine immens ausbaute.
Diese konnte nun erneut mit jener Großbritanniens konkurrieren.
Frankreich konnte sich damit
im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg
gegen die Engländer behaupten.
1777 wurde die Unabhängigkeit
der Vereinigten Staaten anerkannt,
1778 trat Frankreich an der Seite der USA
in den Krieg ein.
Der anschließende heftige Seekrieg
hatte seine Schwerpunkte in West- und Ostindien.
Durch Ludwigs militärische Intervention
verhalf Frankreich den Amerikanern zur Unabhängigkeit
und konnte 1783 auf der Siegerseite
den Frieden von Paris vermitteln.
Doch der Unabhängigkeitskrieg
hatte ein gewaltiges Loch in die Staatsfinanzen gerissen,
während er für Frankreich im Großen und Ganzen
nur mit dem früheren Besitzstand endete.
Ludwig XVI. zeigte wenig Interesse,
die Politik seines Bündnispartners Österreich zu unterstützen.
Am 14. März 1778 bat Joseph II.
den König angesichts eines drohenden
österreichisch-preußischen Krieges
um seine Vermittlung und fragte an,
ob er im Falle einer preußischen Aggression bereit sei,
Truppen zu stellen, wie im Vertrag von 1756 festgelegt.
Am 30. März antwortete Ludwig,
die Aufgabe eines Vermittlers
gehe über seine Rolle hinaus,
und im Falle einer preußischen Aggression
könne er keine andere Position
als die der Neutralität beziehen.
Auch als Friedrich II. am 7. Juli 1778
in Böhmen einmarschierte,
erklärte sich Ludwig nicht zugunsten Österreichs.
Als 1784 ein Krieg zwischen Österreich
und den Niederlanden drohte,
warnte er vor den unberechenbaren Folgen
und bot an zu vermitteln.
Nach dem Friedensschluss schloss er sogar 1785
ein Bündnis mit Holland.
Auch zögerte er trotz Marie Antoinettes Drängen,
dem Plan des österreichischen Kaisers zuzustimmen,
die Österreichischen Niederlande
gegen Bayern zu tauschen.
In den ersten neun Jahren seiner Regentschaft
war der König bei seinem Volk sehr populär.
Der junge König setzte darauf,
dass seine Beliebtheit das Funktionieren
des Königtums garantiere,
und so kam es, dass er einesteils
den an ihn gestellten Anforderungen weit nachgab,
zum Beispiel die Wiedereinsetzung der Parlamente,
in der Meinung, dadurch das Beste
seines Volkes zu fördern,
andererseits sich keiner der gegeneinander
mit immer wachsender Erbitterung
streitenden Parteien anschloss
und ihr durch sein Ansehen
den Sieg zu verschaffen.
Ihm war es als einzigem König
im 18. Jahrhundert gelungen,
einen Krieg gegen England zu gewinnen.
Aber genau dieser Sieg sollte sich
als Mitursache seines Untergangs herausstellen.
Es waren die Kosten des Krieges
für die Staatskasse unerschwinglich
und steigerten die Staatsverschuldung
ins Unermessliche.
Zum Anderen brachten die in Amerika
eingesetzten Soldaten das Gedankengut
der Amerikanischen Revolution
unter das französische Volk.
Außerdem betrieben die Adligen,
allen voran der Herzog von Orléans,
genannt Philippe Égalité,
und die von Ludwig 1774 zurückgerufenen Parlamente,
eine harte Oppositionspolitik gegen die Monarchie.
Hinzu kam die zunehmende Unbeliebtheit
der Königin beim Volk,
die unter anderem durch die Halsbandaffäre
1785 in Misskredit geriet.
Der aufsehenerregende Prozess
zeigte erstmals ein selbstbewusstes Parlament.
Außerdem gab es widrige Umstände
wie zwei schlechte Ernten
und einen harten Winter
mit Versorgungsproblemen für die Bevölkerung.
Alle diese Faktoren mündeten
in die Ereignisse des Jahres 1789.
Als die in der Öffentlichkeit stark beachteten
Debatten der Notabeln-Versammlung
zur Lösung des Staatsdefizits
kein Ergebnis brachten
und auf eine Beschränkung
der königlichen Macht hinauszulaufen schienen,
beschloss Ludwig am 25. Mai 1787, sie aufzulösen.
Auf Vorschlag von Étienne Charles
de Loménie de Brienne
gebot er zudem in der Nacht vom 14. auf den 15. August
dem Parlament, sich nach Troyes zurückzuziehen.
Mit diesem Ereignis begannen
die persönlichen Angriffe gegen den König.
Am 26. August ernannte er Brienne
zum leitenden Minister, ein Titel,
den er bis dahin noch niemandem verliehen hatte.
Zur Reformpolitik der neuen Regierung
gehörte das Edikt von Versailles,
das erste Ansätze zu einer religiösen Toleranz beinhaltete.
Brienne versuchte, den zögernden König
zur Einberufung der Generalstände zu bewegen,
um die drängenden Finanzprobleme zu lösen.
Am 19. November 1787 verlangten
bei einer feierlichen Parlamentssitzung
mehrere Redner nachdrücklich,
die Generalstände bereits 1788
oder 1789 einzuberufen.
Als der König ausweichend antwortete,
warf ihm der Herzog von Orléans vor,
sein Verhalten sei ungesetzlich.
Daraufhin ließ Ludwig seinen Cousin
auf dessen Schloss verbannen,
außerdem verbannte er zwei weitere Parlamentarier.
Um finanzielle Reformen zu verabschieden,
berief der König 1789 die Generalstände ein,
die seit 1614 nicht mehr zusammengetreten waren.
Die Feierlichkeiten begannen am 4. Mai,
wobei der König ohne besondere Bekundung
der Freude begrüßt wurde.
Am nächsten Tag erschien er
zur Eröffnung der Generalstände.
In seiner kurzen Ansprache erwähnte er
nur das Problem der Staatsschuld
und warnte vor einem übertriebenen Wunsch
nach Neuerungen.
Am 17. Juni erklärten sich die Abgeordneten
des Dritten Standes zur Nationalversammlung.
Der König hielt sich zu dieser Zeit in Marly auf
und konnte sich nicht dazu entschließen,
dem Vorschlag des Finanzministers Necker zu folgen
und den Forderungen des Dritten Standes
entgegenzukommen. Dessen Bestrebungen
gipfelten am 20. Juni im Ballhausschwur.
Am 21. Juni hielt der König eine Rede
an die Generalstände.
Die Beratungen des Dritten Standes seien nichtig,
ungesetzlich und wider die Grundsätze
des Königreiches. Andererseits
erklärte er sich bereit, die individuelle Freiheit,
die Pressefreiheit und die Abstimmung
der Generalstände nach Köpfen
statt nach Ständen anzuerkennen.
Bei seiner Rückkehr nach Versailles
fand er Neckers Rücktrittserklärung vor.
Gleichzeitig zeigte sich erstmals
eine aufgebrachte Menschenmenge vor dem Schloss
und ergoss sich in Höfe und Säle.
Auf dringende Bitten des Königs
sah sich Necker veranlasst,
seinen Rücktritt wieder rückgängig zu machen,
und am 27. Juni ersuchte der König
in einem Schreiben den Klerus und den Adel,
sich dem Dritten Stand anzuschließen.
Am selben Tag gab er jedoch auch den Befehl,
Truppen am Rande der Hauptstadt zusammenzuziehen.
Rings um Paris sammelten sich
die Regimenter, und Ludwig ernannte
am 30. Juni Victor-François de Broglie
zum Generalmarschall der Truppen.
Am 10. Juli erklärte Ludwig
auf das Ersuchen der Versammlung hin,
die Truppen seien da, um ihn zu schützen.
Am 11. Juli entließ er Necker,
am 13. Juli stellte er ein neues Kabinett zusammen
mit de Broglie als Kriegsminister.
Am Nachmittag des 13. Juli
inspizierten der König und die Königin
ausländische Regimenter,
die kurz zuvor eingetroffen waren.
Am 14. Juli erfolgte in Paris der Sturm auf die Bastille.
Etwas später erschien der König überraschend
in der Nationalversammlung und kündigte an,
er werde seine Truppen zurückziehen.
Viele erleichterte Abgeordnete geleiteten ihn daraufhin
zum Schloss und riefen: Es lebe der König!
Dessen ungeachtet wurde am 16. Juli
in einer Sitzung des Staatsrates
der Plan diskutiert, Versailles zu verlassen
und fern der Hauptstadt den Kampf
gegen die Revolution aufzunehmen.
Der König entschied sich jedoch zu bleiben
und rief abermals Necker zurück.
Als Zeichen seines guten Willens
fuhr er am 17. Juli in die Hauptstadt,
um den Neuerungen seine Zustimmung zu geben.
Am 29. Juli traf Necker, der in Basel
von seiner Rückberufung erfahren hatte,
in Versailles ein. Bei seiner Begrüßung
durch den König erklärte er,
seine Stellung gebiete Eifer für den König,
er schulde aber keine Dankbarkeit.
Am 25. August, dem Tag des heiligen Ludwig,
kamen wie üblich die Schöffen, Offiziere
und Marktweiber der Stadt nach Versailles,
um ihre Glückwünsche zu überbringen,
diesmal jedoch in Begleitung der Nationalgarde
und des Magistrates.
Da der König zögerte, die Beschlüsse
der Nationalversammlung zu unterschreiben
und am 14. September das Régiment de Flandre
nach Versailles verlegte,
wuchs das Misstrauen erneut.
Am 21. September bat Mirabeau
im Namen der Nationalversammlung
den König, er möge erklären,
warum er die Truppen gerufen habe.
Am 23. September traf das Regiment
mit 1100 Infanteristen in Versailles ein.
Am 1. Oktober veranstaltete die 600 Mann
starke Leibwache des Königs
mit dessen Zustimmung ein Bankett
mit 210 Gedecken für das „Régiment de Flandre“,
bei dem auch die königliche Familie erschien.
Am 3. und 4. Oktober gab es erneut Bankette
für das Regiment Flandern.
Die Berichte über diese Gelage
lösten in Paris, wo hungernde Menschen
vor den Bäckereien Schlange standen,
Empörung aus. Am 4. Oktober
riefen Demagogen wie Marat und Danton
das Volk zu den Waffen.
Am 5. Oktober brach dennoch der König
zur Jagd in den Wäldern von Meudon auf.
Zahlreiche aufgebrachte Bürger,
darunter viele Weiber (Poissarden)
und Nationalgardisten strömten unterdessen
nach Versailles. Gegen drei Uhr am Nachmittag
kam der König zurück und beriet mit seinen Ministern,
was zu tun sei. Er empfing eine Delegation
der Weiber, die nach Brot schrien,
schickte sie in die Küche und versprach,
dass es an Brot nicht fehlen werde.
Mounier bat den König, jetzt die Erklärung
der Menschen- und Bürgerrechte zu unterschreiben,
doch der König war unentschlossen.
Als er befahl, die Kutschen anzuspannen,
stürzte sich die Menge auf die Wagen,
zerschnitt das Geschirr und führte die Pferde weg.
Der König sah sich genötigt,
nun die Dekrete zu unterschreiben.
Das aufgebrachte Volk schien beruhigt,
und der König verbrachte noch einmal
eine Nacht im Schloss.
Am frühen Morgen des 6. Oktober jedoch
drang noch vor Tagesanbruch
eine mit Spießen und Messern bewaffnete Horde
in das Schloss ein. Als die Menge
nach dem König rief, überredete ihn La Fayette,
er möge sich dem Volk zeigen.
Die königliche Familie zeigte sich auf dem Balkon,
während La Fayette zu der Menge sprach.
Die Menge schrie: Nach Paris! Nach Paris!
Tatsächlich sah sich der König gezwungen,
mit seiner Familie nach Paris
in den Palais des Tuileries umzuziehen.
Die königliche Familie saß dabei, umgeben
von einer dichtgedrängten Menge, in einer Kutsche,
der die Köpfe von zwei getöteten
Leibwächtern vorangetragen wurden.
Um neun Uhr abends traf der König im Rathaus ein
und zeigte sich mit seiner Familie
einer jubelnden Menschenmenge auf dem Balkon,
um zehn Uhr kam er in den Tuilerien an.
In diesem anfänglichen Stadium der Revolution
erließ die Nationale Versammlung
am 10. Oktober 1789
anlässlich der Diskussion über die Art,
Gesetze zu verkündigen,
die neue Formel Ludwigs:
Ludwig, durch die Gnade Gottes
und des konstitutionellen Gesetzes des Staates
König der Franzosen.
Ab diesem Zeitpunkt trug Ludwig also
den Titel Roi des Français.
Zwischen „Roi des Français“ und „Roi de France“
gibt es nicht nur einen grammatischen,
sondern einen fundamentalen Bedeutungs-
und Statusunterschied: Als „Roi de France“
schulden die Franzosen ihm Treue und gehören ihm,
während er als „Roi des Français“
den Franzosen gehört und ihnen Treue schuldet.
Ludwig selbst war lange Zeit populär
und stand den Reformen der Revolution
zunächst aufgeschlossen gegenüber.
Dies hatte er bereits mit der Abschaffung
der Folter bekundet,
auch schuf er öffentliche Arbeitsplätze,
indem er beispielsweise Notleidende,
die für einen gerechten Lohn arbeiten sollten,
Sümpfe entwässern ließ.
Doch die in der Revolution geforderte Volkssouveränität
war ein deutlicher Bruch mit den gültigen Prinzipien
der Monarchie. Entsprechend
wurde die Revolution von der herrschenden Elite
Frankreichs und den übrigen
europäischen Herrschern abgelehnt.
Nach und nach wurden aus Versailles
Möbel und andere Gegenstände
in die zuvor größtenteils leerstehenden Tuilerien gebracht.
Bälle, Jagden, Theater und Konzerte
gab es hier nicht mehr. Am 4. Februar 1790
verkündete Ludwig vor der Nationalversammlung
feierlich, er und die Königin
nähmen die Verfassung vollständig an.
Am 6. Juni 1790 durfte die Königsfamilie
mit Erlaubnis der Nationalversammlung
nach Saint-Cloud reisen.
Der König unternahm wieder lange Jagdpartien,
es wurden Komödien gespielt,
Konzerte gegeben und Spazierfahrten unternommen.
Am 14. Juli reiste er nach Paris zurück,
um am Föderationsfest
auf dem Champ de Mars teilzunehmen.
Der König schwor auf Nation und Gesetz,
aber nicht wie gewünscht am Vaterlands-Altar
in der Mitte des Platzes.
Wieder zurück in Saint-Cloud
nahm er den abermaligen Rücktritt Neckers entgegen,
der die Finanzkrise nicht hatte lösen können,
und bildete ein neues Kabinett
aus Anhängern La Fayettes.
Ende Oktober kehrte das Königspaar nach Paris zurück,
wo es eisig empfangen wurde.
Am 13. November zog der Pöbel zu den Tuilerien,
und der König flüchtete ins Dachgeschoss,
doch die postierte Nationalgarde
konnte die Menge abdrängen.
Am 28. Februar 1791 hingegen zogen Adlige,
mit Degen, Jagdmessern und Pistolen bewaffnet,
zu den Tuilerien, um das Königspaar
vor Angriffen zu schützen.
La Fayette entwaffnete sie im Beisein des Königs.
Obwohl die königliche Familie
die Erlaubnis erhalten hatte,
über Ostern ein paar Tage in Saint-Cloud zu verbringen,
wurde sie von der Nationalgarde
mit aufgepflanzten Bajonetten
über zwei Stunden in ihrer Karosse
am Losfahren gehindert
und von einer wütenden Menge beschimpft.
Der König kehrte schließlich in das Schloss zurück.
Als der Druck auf Ludwig und seine Familie
immer größer wurde, unternahm er
in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 1791
die Flucht nach Varennes
in die Österreichischen Niederlande.
Die Flucht endete vorzeitig
in dem kleinen Ort Varennes,
nachdem Ludwig anhand seines Konterfeis
auf einer Münze
von dem Sohn eines Postmeisters
erkannt worden war. Die königliche Familie
wurde anschließend von Angehörigen
der Nationalgarde nach Paris zurückgeführt
und der König kurzfristig
von seinen Ämtern suspendiert.
Ludwig war nun faktisch in Gefangenschaft,
auch wenn er noch einige
seiner Privilegien genießen konnte.
In einer Befragung durch drei Abgeordnete
am 25. Juni hinsichtlich seiner Flucht
wurde er schonend behandelt,
zumal er seine Verbundenheit
mit der Verfassung beteuerte.
Gleichzeitig knüpfte er wieder Kontakte
zu den europäischen Fürstenhöfen.
Am 13. Juli verkündete die Kommission
zur Aufklärung der „Entführung“ Ludwigs,
dem König sei nichts vorzuwerfen.
Das Ergebnis der Kommission wurde angenommen
und der König für unantastbar erklärt.
Da sie zu diesem Zeitpunkt keine Alternative
zur geplanten Einführung
der konstitutionellen Monarchie
in der Verfassung sahen, einigten sich
die Abgeordneten der Nationalversammlung darauf,
den Fluchtversuch als „Entführung“ auszugeben,
und beließen Ludwig im Amt.
Daraufhin begehrten die Gegner des Königs auf,
und es kam am 17. Juli 1791
zum Massaker auf dem Marsfeld.
Am 27. August erklärten der österreichische
Kaiser Leopold II. und König
Friedrich Wilhelm II. von Preußen
in der Pillnitzer Deklaration ihr Ziel,
den König von Frankreich in die Lage zu versetzen,
in vollkommener Freiheit die Grundlage
einer Regierungsform zu befestigen,
welche den Rechten der Souveräne
und dem Wohle Frankreichs entspricht.
Von äußeren Kräften bedrängt,
akzeptierte der König die Verfassung
des 3. September 1791.
Am 14. September schwor der König
in der Reithalle, dem Tagungsort
der Nationalversammlung,
der neuen Verfassung die Treue.
Frankreich wurde zur konstitutionellen Monarchie.
Der König galt nun nicht mehr
als Herrscher von Gottes Gnaden,
sondern als erster Repräsentant des Volkes.
Den Gesetzen der Nationalversammlung
hatte er durch seine Unterschrift
Rechtskraft zu verleihen, allenfalls
konnte er durch sein aufschiebendes Veto
ihr Inkrafttreten hinauszögern.
Mit fröhlicher Miene nahm der König
an den Feierlichkeiten des 18. September teil.
In offener Kutsche fuhr das Königspaar
am Abend über die Champs-Élysées,
und zuweilen ertönte der Ruf: Es lebe der König!
Das Vertrauen der meisten Abgeordneten
in seinen guten Willen hatte Ludwig
durch seinen Fluchtversuch indes
nachhaltig erschüttert. Das Ereignis
gab republikanischen Gruppierungen
in der Nationalversammlung starken Auftrieb.
Als der König Ende 1791 sein Veto
gegen zwei Dekrete einlegte,
verstärkte sich das Misstrauen.
Am 20. April 1792 legte er der Nationalversammlung
die Kriegserklärung gegen Österreich vor.
Heimlich sandte er jedoch den Journalisten
Jacques Mallet-du-Pan zum Kaiser
und zu den deutschen Fürsten
und ließ ihnen mitteilen, er wolle
den Konflikt zum Anlass nehmen,
um seine Macht wiederherzustellen.
Bald kam es zu schweren Rückschlägen
in Belgien, wo Truppen
ihre adeligen Offiziere im Bunde
mit dem Feind wähnten
und ihnen den Gehorsam verweigerten.
Am 18. Mai beschworen die versammelten Generäle
den König in Valenciennes,
so schnell wie möglich um Frieden zu bitten.
Dieser hingegen legte wieder gegen zwei Dekrete
sein Veto ein, entließ am 12. Juni
seine girondistischen Minister
und berief ein gemäßigtes Ministerium.
Am 20. Juni drang eine bewaffnete Menschenmenge
in das Schloss ein und verlangte vom König,
sein Veto zurückzunehmen.
Stattdessen erklärte er
der aufgebrachten Ansammlung stundenlang,
die Jakobinermütze auf dem Haupt,
er werde von seinen Entscheidungen nicht abgehen.
Das eine Veto richtete sich gegen das Dekret,
zum Schutz der Hauptstadt ein Lager
für 20.000 Mann der Nationalgarde zu errichten,
das andere gegen den Beschluss, alle Priester,
die von den Bürgern denunziert würden, zu deportieren.
Gegen zehn Uhr abends leerten sich allmählich
die Höfe und Parkanlagen.
Am 11. Juli erklärte die Nationalversammlung
das Vaterland in Gefahr.
Am 14. Juli, dem Jahrestag des Sturmes auf die Bastille,
legte der König am Altar des Vaterlandes
den Eid auf die Verfassung ab.
Am 25. Juli 1792 veröffentlichte
Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig
ein Manifest, in dem er der Stadt Paris
und ihren Bewohnern eine beispiellose
und für alle Zeiten denkwürdige Rache androhte,
sollten sie Ludwig oder seiner Familie etwas antun.
Dies Manifest wurde von den Revolutionären
als Beweis einer Kollaboration von Ludwig XVI.
mit den Feinden Frankreichs verstanden.
Ludwigs Erklärung, er werde alles tun,
dass Frankreich im Krieg den Sieg davontrage,
überzeugte nicht mehr.
Als die Nationalversammlung es ablehnte,
über die Absetzung des Königs zu beraten,
beschlossen die Sektionen der Hauptstadt,
den Aufruf der Jakobiner zu befolgen
und die Monarchie gewaltsam zu stürzen.
Nach dem Sturm auf die Tuilerien
am 10. August 1792 wurde der König
mit seiner Familie am 13. August 1792
im Kloster der Feuillanten verhaftet
und im Temple eingekerkert.
Bei der zwei Stunden dauernden Überführung
saß die königliche Familie in einer
von nur zwei Pferden gezogenen Hofkarosse,
die von Nationalgardisten begleitet wurde,
während von allen Seiten Spottverse
und Beschimpfungen erschollen.
Da er nicht mehr König war, wurde er von nun an
nur noch Bürger Louis Capet angesprochen.
Anlässlich der ersten Sitzung des Nationalkonvents
wurde am 21. September 1792 die Republik ausgerufen
und der König offiziell entthront.
Als Ludwig das entsprechende Dekret vorgelesen wurde,
ließ er sich nichts anmerken.
Am nächsten Tag erfuhr er,
dass die französischen Truppen in der Kanonade
von Valmy die Preußen zurückgeschlagen hätten.
Am 29. September wurde Ludwig
in den großen Wehrturm gebracht,
in den man drei Wochen später auch
die übrigen Familienmitglieder einquartierte.
Die Haftbedingungen wurden ständig verschärft,
und schließlich entdeckte man beim König
eine Schatulle, die viel belastendes Material enthielt.
Aus diesen Papieren ging hervor, dass der König
in Kontakt mit Emigranten gestanden hatte,
heimlich mit Österreich verhandelte
und Politiker der Revolution bestochen hatte.
Am 3. Dezember nahm der Konvent ein Dekret an,
in dem der König vorgeladen wurde.
Ihm wurde ab dem 11. Dezember
vor dem Nationalkonvent in der Salle du Manège
der Prozess gemacht.
Robespierre betonte vor dem Konvent:
Wenn nicht der König schuldig ist,
dann sind es die, die ihn abgesetzt haben.
Somit konnte nach Robespierres Darstellung
der Konvent, der Ankläger und Richter
in einer Person war, den König gar nicht freisprechen,
da dies einer Selbstanklage gleichgekommen wäre.
Die Abstimmung zog sich über mehr als 24 Stunden
vom 16. bis zum 17. Januar 1793 hin.
Ein Antrag der Girondisten,
über Schuld oder Unschuld des ehemaligen Königs
das Volk abstimmen zu lassen,
wurde mit 426 zu 278 Stimmen abgelehnt.
Mit 387 zu 334 Stimmen sprach der Konvent ihn schuldig
der Verschwörung gegen die öffentliche Freiheit
und die Sicherheit des gesamten Staates.
Eine Aussetzung der Todesstrafe
wurde mit 380 zu 310 Stimmen abgelehnt.
Am Vormittag des 21. Januar 1793
wurde Ludwig auf der Place de la Révolution
vom Henker mit einer Guillotine enthauptet.
Am 16. Oktober 1793 wurde
nach einem kurzen Prozess
auch seine Frau Marie-Antoinette
auf dem Revolutionsplatz guillotiniert.
Sein überlebender Sohn Louis Charles
starb im Alter von zehn Jahren
im Temple-Gefängnis.
Ludwig wurde zunächst auf dem Friedhof
de la Madeleine beigesetzt und 1815
in die Basilika Saint-Denis überführt.
ZWEITER GESANG
Rousseaus Vater Isaac lebte von 1672-1748
und war ein Uhrmacher und Forscher,
dessen protestantische Vorfahren aus Glaubensgründen
von Frankreich in die damals unabhängige Stadtrepublik
Genf ausgewandert waren.
Von 1705 bis 1711 lebte Isaac Rousseau
in Konstantinopel, wo er als Uhrmacher
des Sultans am Serail Genfer Uhren reparierte.
Sein Cousin Jacques Rousseau,
Vater des französischen Orientalisten
Jean-François Xavier Rousseau,
folgte ihm von Genf zwischenzeitlich
als Hofjuwelier nach Konstantinopel.
Rousseaus Mutter Suzanne Bernard
war Tochter eines Genfer evangelischen Pastors.
Das Paar lebte bei Jean-Jacques Rousseaus Geburt
im Haus ihres Vaters im Zentrum von Genf.
Die Mutter starb 1712 in Genf,
neun Tage nach Rousseaus Geburt,
am Kindbettfieber. In der Folge
übernahm eine jüngere Schwester
des Vaters den Haushalt.
Sie kümmerte sich liebevoll um das oft kränkelnde
und empfindsame Kind.
Eine andauernde körperliche Belastung
wird oft als einer der Gründe
für die empfindliche Gereiztheit angesehen,
die Rousseau zeit seines Lebens charakterisierte.
Der Vater förderte schon früh
die Leselust seines Sohnes,
indem er nächtelang gemeinsam mit ihm las,
unter anderem die Biographien Plutarchs,
die lebenslang Rousseaus Lieblingslektüre bildeten.
1718 zogen Vater und Sohn
in das ärmere Handwerkerviertel St. Gervais
auf der anderen Rhone-Seite.
1722 änderte sich die Situation
des Zehnjährigen drastisch.
Der Vater flüchtete nach einer Rauferei
mit einem Offizier, in dessen Verlauf er
diesen mit einem Degenstich verletzt hatte,
aus Genf vor der drohenden Gefängnisstrafe.
Den Sohn ließ er in der Obhut seines Schwagers,
Gabriel Bernard, zurück.
Während der nächsten zwei Jahre lebte Rousseau
bei Pfarrer Lambercier in Bossey,
wo er Unterricht erhielt.
Mit zwölf ging er zunächst
bei einem Gerichtsschreiber
mit Namen Masseron (ein für Rousseau
schmählich endender Aufenthalt),
ein Jahr später bei einem Graveur
namens Abel Ducommun in die Lehre.
An der letzteren Tätigkeit fand er
zwar mehr Gefallen als an der vorigen;
Leselust und Träumereien
erschwerten jedoch Freundschaften
unter den Altersgenossen
und führten immer wieder zu Bestrafungen.
1726 heiratete Rousseaus Vater ein zweites Mal;
seitdem zeigte er nur noch ein geringes
Interesse an dem Jungen.
Als Rousseau im März 1728
bei der späten Rückkehr von einem Sonntagsausflug
das Stadttor verschlossen fand,
was davor bereits zweimal geschehen war
und ihm jeweils eine Prügelstrafe eingebracht hatte,
folgte er einer schon länger gehegten Idee
und ging auf Wanderschaft.
In Savoyen lernte er nach einigen Tagen
einen katholischen Geistlichen kennen,
der den Kontakt zu Madame de Warens
in Annecy vermittelte.
Sie war soeben aus der Schweiz
nach Savoyen ausgewandert
und Katholikin geworden;
in Annecy lebte sie unter dem Schutz
der katholischen Geistlichkeit.
Madame de Warens nahm Rousseau auf,
schickte ihn aber auf kirchlichen Ratschlag hin
schon drei Tage später nach Turin.
Dort ließ er sich nach vierteljähriger Unterweisung
im Hospiz der Katechumen katholisch taufen.
Die Reise dorthin unternahm er in Begleitung
eines Bauernpaars zu Fuß.
Seinen Lebensunterhalt verdiente er in Turin
als Diener, später als Sekretär in adligen Häusern.
Ein Jahr später kehrte er zu Madame de Warens zurück.
Ihrem Vorschlag folgend, trat er für kurze Zeit
in das Priesterseminar von Annecy ein.
Anschließend vermittelte sie ihn
an den Leiter der Dom-Musikschule,
da er ihr während der Hausmusikstunden
als talentierter Sänger aufgefallen war.
Der Schulleiter nahm ihn bei sich auf
und unterrichtete ihn in Chorgesang und Flöte.
Es folgten einige fruchtbare Monate,
in denen Rousseau die Grundlagen
seiner Musikkenntnisse erwarb.
Als sein Lehrer eine neue Stelle in Lyon antrat,
begleitete Rousseau ihn zunächst,
kehrte dann aber nach Annecy zurück.
Da jedoch Madame de Warens
nach Paris gereist war, ging Rousseau
erneut auf Wanderschaft.
Das führte ihn unter anderem nach Lausanne, Nyon,
wo er auch den Vater besuchte,
ins preußische Neuchâtel
und im Sommer 1731 zum ersten Mal nach Paris.
In Neuchâtel versuchte er sich
erfolglos als Musiklehrer.
Während seiner Wanderschaft litt Rousseau
immer wieder große Armut.
Sie zwang ihn zum Betteln,
brachte ihn aber auch mit den notleidenden
Bauern in Verbindung.
Im April 1731 begegnete Rousseau
auf einem Spaziergang in Boudry
einem italienisch sprechenden Mann
mit einem großen schwarzen Bart
und einem veilchenfarbenen Gewand
nach griechischer Art,
der angab, als griechisch-katholischer Prälat
und Archimandrit von Jerusalem
in Europa Mittel für die Wiederherstellung
des Heiligen Grabs in Jerusalem zu sammeln.
Rousseau ließ sich dazu bewegen,
den vermeintlichen Archimandriten
als Sekretär und Dolmetscher zu begleiten.
Sie sammelten zunächst Geld
in Freiburg sowie Bern und reisten
anschließend nach Solothurn
zum französischen Gesandten weiter.
Bei diesem handelte es sich
um den Marquis Jean-Louis d'Usson de Bonnac,
der zuvor Botschafter
im Osmanischen Reich gewesen war
und den angeblichen Prälaten und Archimandriten
als Schwindler enttarnte.
Da Rousseau bei Marquis de Bonnac
einen guten Eindruck erweckt hatte,
konnte er sich einige Tage in der Residenz aufhalten
und dann mit Empfehlungsbriefen
und hundert Franken Reisegeld
nach Paris reisen.
In Paris erhielt Rousseau sich,
indem er in den Dienst eines jungen Schweizers eintrat.
Nachdem er aber erfahren hatte,
dass Madame de Warens sich wieder
in Savoyen aufhielt, diesmal in Chambéry,
kehrte er zu seiner dreizehn Jahre älteren „Mama“,
wie er sie nannte, zurück.
Sie nahm ihn nun wie einen Ziehsohn auf
und vermittelte ihm eine Schreiberstelle
im Katasteramt, die er jedoch 1732,
nach acht Monaten, wieder aufgab,
um als Musiklehrer zu arbeiten.
Es folgten fünf glückliche Jahre,
die für seine fast gänzlich autodidaktisch
erworbene Bildung sehr wichtig waren.
Er las, musizierte, experimentierte
und begann zu schreiben.
Die Gastgeberin führte den anfänglich Widerstrebenden
auch in die Liebeskunst ein,
hatte allerdings mit dem bei ihr
als Faktotum beschäftigten Claude Anet
neben Rousseau noch einen weiteren Liebhaber.
1735 pachtete Madame de Warens
das vor den Toren Chambérys gelegene
Anwesen Les Charmettes.
Dieser Ort verkörperte für Rousseau
in den kommenden drei Jahren
das Ideal eines geordneten
und glücklichen Lebens.
Im Sommer 1736 erlitt er
durch einen Explosionsunfall
bei chemischen Experimenten
eine Augenverletzung,
weswegen er sich im Herbst
zu einem Arzt nach Montpellier begab.
Als er Anfang 1738 zurückkehrte,
hatte Madame de Warens mit ihrem neuen
Sekretär und Hausverwalter
Jean-Samuel-Rodolphe Wintzenried
ein Verhältnis begonnen.
Zwar bot sie Rousseau ein erneutes
Dreiecksverhältnis an, doch dies lehnte er ab.
Dennoch blieb er weitere zwei Jahre bei ihr,
bis er im Frühjahr 1740 eine Stelle
als Hauslehrer bei der Familie Mably in Lyon antrat.
Nachdem er im Frühjahr 1741
noch einmal nach Les Charmettes zurückgekehrt war,
reiste er im Sommer 1742 nach Paris,
um ein von ihm entwickeltes,
auf Zahlen basierendes Notensystem
von der Académie des sciences patentieren zu lassen.
Er durfte es dort präsentieren,
bekam ein Zertifikat
und ließ Anfang 1743 seine Präsentation
als Dissertation sur la musique moderne
im Druck erscheinen.
Auch lernte er den Komponisten
Jean-Philippe Rameau kennen,
der Rousseaus System zwar für die ihm eigene
Exaktheit lobte, gleichzeitig aber geltend machte,
es sei der abstrakteren Notenschrift,
die den Verlauf der Melodie veranschauliche,
unterlegen. Auch sonst setzte sich Rousseaus
Notationssystem nicht durch.
Immerhin erhielt er Zugang
zum bekannten literarischen Salon
von Madame Dupin und lernte führende
Köpfe der Stadt kennen.
Auch begann er, die Oper
Die galanten Musen zu komponieren.
Im Sommer 1743 reiste er nach Venedig,
wo er für den neuen französischen Gesandten
als Gesandtschaftssekretär arbeitete.
Rousseau zerstritt sich jedoch mit seinem Herrn
und kehrte schon im Herbst 1744 nach Paris zurück.
In Paris machte Rousseau 1745
die Bekanntschaft verschiedener Mäzene,
so die des Alexandre Le Riche de La Pouplinière,
mit dessen Hilfe er seine fertiggestellte Oper
aufführen ließ. Vor allem knüpfte er Kontakte
zu anderen jungen Intellektuellen,
darunter Denis Diderot,
Étienne Bonnot de Condillac
und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert,
den Herausgebern der 1746
von Diderot initiierten Encyclopédie.
Es folgten weitere literarische Versuche.
Zeitlebens blieb seine Existenz
durch große materielle Unsicherheit bestimmt.
Ebenfalls 1745 begann er ein festes Verhältnis
mit der Wäscherin Thérèse Levasseur,
die im Folgejahr ihr erstes Kind gebar.
Auf sein Drängen hin übergab sie dieses
einer Einrichtung für Findelkinder.
Auch die vier später geborenen Kinder
verschwanden in Waisenhäusern.
Rousseaus unväterliches Verhalten
wird bis heute als schwerster Einwand
gegen seine Persönlichkeit erhoben;
auch schon seinerzeit, so etwa von Voltaire.
Insbesondere Rousseaus Glaubwürdigkeit
als pädagogischer Theoretiker
wird von hier aus in Frage gestellt.
Rousseau selbst führte eine ganze Reihe
von Entschuldigungsgründen an:
Hätte ich sie der Frau von Epinay
oder der Frau von Luxembourg überlassen,
die sich sei es aus Freundschaft, sei es aus Edelmut
oder aus irgend einem andern Grunde später
ihrer haben annehmen wollen,
wären sie wohl zu gesitteten und gebildeten
Leuten erzogen worden? Ich weiß es nicht;
aber davon bin ich überzeugt,
dass man sie zum Hasse, vielleicht zum Verrat
ihrer Eltern getrieben hätte;
es ist hundertmal besser,
dass sie sie gar nicht gekannt haben.
Sein wichtigstes Argument war,
dass seine Arbeit schlecht oder gar nicht bezahlt sei,
weshalb Thérèse weitgehend allein
für den Lebensunterhalt der beiden
habe aufkommen müssen und sich nicht
zusätzlich mit Kindern habe belasten können.
1749 war ein entscheidendes Jahr für Rousseau.
Zu Jahresbeginn beauftragte ihn d’Alembert
mit der Abfassung musikologischer Artikel
für die Encyclopédie.
Im Herbst besuchte er den in der Festung Vincennes
inhaftierten Diderot und las unterwegs
in der Zeitschrift Mercure de France
die Preisfrage der Académie von Dijon:
Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften
und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu läutern?
Er verneinte in seiner Abhandlung
über die Wissenschaften und die Künste
eindeutig die Frage, da – wie er später
in seiner staatstheoretischen Schrift
Du contrat social weiter ausführte –
der Mensch im Naturzustand unabhängig und frei lebe,
in der auf Konventionen beruhenden Gesellschaft
aber ein gefesselter Sklave sei:
Der Mensch ist frei geboren,
und liegt überall in Ketten.
Künste und Wissenschaften verschleiern nur
das Schicksal des modernen Menschen,
die Zivilisationsgeschichte wird
wie in seinen anderen philosophischen Schriften
zu einer Geschichte des Niedergangs.
Die nach Luxus strebende zeitgenössische
europäische Gesellschaft sah er
in die sittliche Dekadenz abgleiten.
Der Diskurs lief den Vorstellungen
vieler Intellektueller der Zeit zwar völlig entgegen,
stieß bei anderen jedoch auf Interesse.
Rousseau erhielt 1750 den ersten Preis
und wurde, auch dank der Diskussion,
die er auslöste, über Nacht europaweit bekannt.
Seine Einkünfte stiegen,
und er konnte mit Thérèse
in eine gemeinsame Wohnung ziehen.
Allerdings gab das Paar 1751
auch ein drittes Neugeborenes im Findelhaus ab.
Ende 1752 wurde mit großem Erfolg
seine Oper „Der Dorfwahrsager“
zunächst vor dem Hof
und 1753 auch in Paris aufgeführt.
Als Rousseau dem König vorgestellt werden sollte,
entzog er sich der Ehrung
und versäumte damit die Zuweisung
einer jährlichen Pension.
Nach dem Erfolg der Oper
wurde vom Théâtre Français auch
seine Komödie Narcisse,
ein Jugendwerk, angenommen.
Statt sich zu etablieren, begab sich Rousseau
nun sogar in eine Art fundamentaler Opposition,
da er mit seiner Oper im Buffonistenstreit
als Retter der konservativen
französischen Partei dastand,
was er keinesfalls wollte.
Noch 1754 begann er eine zweite kritische Preisschrift.
Daneben erregte er den Zorn nicht nur
des Opernorchesters (das eine Rousseau-Puppe erhängte)
mit seiner Lettre sur la musique française,
in der er den französischen Musikstil
zugunsten des italienischen herabsetzte.
1754 reiste er (mit einer Zwischenstation
bei Madame de Warens) nach Genf,
nahm die Staatsbürgerschaft
der Genfer Republik wieder an
und kehrte zum Protestantismus zurück.
1755 publizierte er, vorsichtshalber in Amsterdam,
seine Abhandlung über den Ursprung
und die Grundlagen der Ungleichheit
unter den Menschen, die wiederum
die Antwort auf eine Preisfrage
der Académie de Dijon war:
Was ist der Ursprung der Ungleichheit
unter den Menschen, und lässt sie sich
vom Naturrecht herleiten?
Rousseau, der ärmliche Kleinbürger,
erklärt hierin die soziale Ungleichheit
zunächst grundsätzlich aus der geschichtlichen Tatsache
der Vergesellschaftung des Menschen –
wodurch jeder sich mit jedem vergleicht
und Neid sowie Missgunst erwachsen –
sodann aus der Etablierung des Privateigentums:
Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte
und es sich einfallen ließ zu sagen:
dies ist mein, und der Leute fand,
die einfältig genug waren, ihm zu glauben,
war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.
In der Folge erklärt Rousseau
die soziale Ungleichheit
aus der Herausbildung der Arbeitsteilung
und der dadurch ermöglichten Aneignung
der Erträge der Arbeit vieler durch einige wenige,
die anschließend autoritäre Staatswesen organisieren,
um ihren Besitzstand zu schützen.
Rousseau wurde mit dieser wahrhaft revolutionären
Schrift einer der Begründer
des europäischen Sozialismus.
Anfang 1756 lehnte er den Bibliothekarsposten ab,
den ihm die Stadt Genf angeboten hatte.
Stattdessen siedelte er um nach Montmorency
nördlich von Paris als Gast
der vielseitig interessierten,
selbst schriftstellernden Madame d’Épinay,
einer Freundin von Diderot.
Mit diesem und dem Kreis der Philosophen um ihn
verfeindete er sich allerdings 1758,
als er auf den kritischen Artikel „Genf“,
den d’Alembert für die Encyclopédie verfasst hatte,
mit dem Lettre à d’Alembert sur les spectacles reagierte,
worin er, der einstige Theaterautor, das Theater,
dieses Lieblingskind der Aufklärung,
als unnütz und potentiell unsittlich anprangerte.
Von April 1756 bis Dezember 1757
fand er in einer Einsiedelei
unweit des Schlosses von Madame Louise d’Épinay,
dem Château de la Chevrette in Deuil-la-Barre, Zuflucht.
Danach, bis zum 8. Juni 1762,
fand er Unterkunft beim Marschall
von Montmorency-Luxembourg,
Charles François de Montmorency,
sowie bei dessen Frau
Madeleine Angélique de Neufville,
die gesellschaftliche Salons veranstaltete.
In Montmorency, wo er 1758 ein Häuschen mietete
und vorübergehend auch Gast
des hochadligen Duc de Luxembourg war,
schrieb er innerhalb von knapp sechs Jahren
seine bei den Zeitgenossen erfolgreichsten
und wirksamsten Werke: erstens
den empfindsamen Briefroman Julie
oder Die neue Heloise,
der die letztlich unmögliche Liebe
des bürgerlichen Intellektuellen Saint-Preux
zu der adligen Julie d’Étanges darstellt
und von Rousseaus Leidenschaft
für die Schwägerin von Madame d’Épinay,
Madame d’Houdetot, inspiriert war;
zweitens den Bildungsroman Émile,
in dem er dafür eintritt, einerseits Kinder
ihre Kindheit durchleben zu lassen
und von korrumpierenden gesellschaftlichen
Einflüssen fernzuhalten (negative
und natürliche Erziehung) und andererseits
sie dazu anzuleiten, die Gesetzmäßigkeiten
der Natur anhand ausgewählter Lehrszenen
selbst zu entdecken und die Strukturen, Werte
sowie Normen der Gesellschaft
in der arbeitsteilig gegliederten Gesellschaft
selbst zusammen mit dem Mentor zu erleben
und im Gespräch zu bedenken (kritische Sozialisation);
schließlich drittens die staatstheoretische Schrift
Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes,
die die Rechte der Individuen gegenüber dem Staat,
aber auch dessen Ansprüche gegenüber den Individuen
zu definieren und zu begründen versucht
und den heute so wichtigen Begriff
der Volkssouveränität prägt,
auf dem die Legitimität von Volksentscheiden
und allgemeinen Wahlen gründet.
Während Julie oder Die neue Heloise
sofort nach seinem Erscheinen Anfang 1761
ein großer Erfolg war und eine Welle
von Briefromanen in ganz Europa auslöste
(darunter Goethes Werther),
wurde der Contrat social nach seinem Erscheinen
im April 1762 verboten, ebenso Émile,
als er Ende Mai erschien.
Die Sorbonne verurteilte das Buch Anfang Juni,
das Parlement von Paris verbot es wenige Tage danach
und erließ einen Haftbefehl gegen den Autor.
Stein des Anstoßes war vor allem das
im Émile im 4. Buch als Einschub enthaltene
„Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“.
In diesem Text trägt Rousseau
zunächst eine Philosophie von Erkenntnis und Moral vor,
in der die Stellungnahme des eigenen Herzens
und Gewissens eine alles beherrschende Rolle spielt.
Es folgt der Entwurf einer „natürlichen Religion“,
verbunden mit einer scharfen Kritik jeglicher Religion,
die sich auf Offenbarung gründet.
Neben den französischen Autoritäten,
darunter dem Erzbischof von Paris
Christophe de Beaumont,
waren insbesondere die calvinistischen Oberen
in Genf entrüstet. Sie verboten das Buch noch im Juli
und erließen ebenfalls Haftbefehl gegen seinen Autor.
In Genf wie in Paris wurden Exemplare
des Émile verbrannt, in Genf
auch des Gesellschaftsvertrags.
Rousseau, der sofort geflüchtet war,
fand Aufnahme bei einem Freund,
Daniel Roguin, in Yverdon,
wurde aber sehr rasch ausgewiesen.
Im Juli wandte er sich über den Gouverneur Keith
der damaligen preußischen Exklave Neuchâtel
an Friedrich den Großen,
der ihm Asyl und etwas später sogar
Bürgerrecht gewährte.
Rousseau ließ sich nieder
im neuenburgischen Städtchen Motiers,
wohin er Thérèse nachholte und wo er begann,
sich als Armenier zu kleiden.
Noch vor Ende 1762 datiert
eine erste Verteidigungsschrift Rousseaus,
ein offener Brief an den Pariser Erzbischof,
der im August den Émile ebenfalls verurteilt hatte.
Anfang 1763 stellte er in Motiers
sein wohl noch in Montmorency begonnenes
Dictionnaire de la musique fertig.
1764 begann er mit botanischen Studien.
1765 lebte Rousseau vom 12. September
bis zum 25. Oktober auf der St. Petersinsel
im Bieler See, die, wie er bekennt,
glücklichsten Monate seines Daseins.
Er zog sich in die Natur zurück,
suchte auf der Insel Einsamkeit,
begann ihre Pflanzen zu erfassen
und verfasste eine Flora Petrinsularis;
gleichzeitig besuchten ihn dort Berühmtheiten
aus ganz Europa.
Der Berner Geheime Rat wies ihn aus.
Ende 1765 fühlte er sich auch in Motiers
unwillkommen und verfolgt,
nicht zuletzt vielleicht, weil er begonnen hatte,
sich als Armenier zu kleiden.
Er nahm deshalb eine Einladung
des Philosophen David Hume an
und ließ sich einen Durchreise-Pass
für Frankreich ausstellen.
Unterwegs konnte er feststellen,
dass er inzwischen durchaus
auch Sympathisanten hatte.
Bei einem Aufenthalt in Straßburg
wurde er mit einer Aufführung
des Dorfwahrsagers geehrt,
in Paris war er Gast des Prince de Conti
und empfing in dessen Haus Besuche.
Das Jahr 1766 und die erste Jahreshälfte 1767
verbrachte er überwiegend in England,
anfangs bei Hume,
mit dem er sich aber zerstritt
und der ihn attackierte.
Immerhin fand er auch in England Sympathisanten vor,
die den König bewogen, ihm eine Pension zu gewähren.
1767 und 1768 lebte er
an verschiedenen Orten Frankreichs,
unter anderem auf einem Schloss von Conti.
Da der Haftbefehl des Pariser Parlaments
nicht aufgehoben war, reiste er
unter einem Decknamen
und gab Thérèse als seine Schwester aus.
1769 und 1770 lebten sie auf einem Bergbauernhof
in der südostfranzösischen Dauphiné,
nachdem sie im August 1768 dort geheiratet hatten.
Ab 1763 verfasste Rousseau eine ganze Reihe
kürzerer und längerer autobiografischer Texte,
darunter seine 1765–1770 geschriebenen,
später berühmt gewordenen Confessions
(Die Bekenntnisse), die erst posthum publiziert wurden.
Darin schildert er auch intime Details
aus seinem Leben sowie eigene Verfehlungen.
Vor allem diese Schrift begründete die Untergattung
der selbstentblößenden Autobiografie.
Den Titel wählte er in Anlehnung
an den der Confessiones des Augustinus von Hippo.
Im Frühjahr 1770 verließ er seinen Bergbauernhof
Richtung Paris. Bei einem Aufenthalt in Lyon
ließ der Vorsteher der Kaufmannschaft
ihm zu Ehren seinen Dorfwahrsager
und sein lyrisches Kleindrama Pygmalion aufführen,
in dem er es offenbar als erster
in der Geschichte dieses Stoffes wagte,
den Künstler sein Kunstwerk
ohne göttliche Hilfe beleben zu lassen.
Ab Juni lebte er wieder, zurückgezogen
und von den Behörden geduldet,
mit Thérèse in Paris.
Er wurde hin und wieder zu Lesungen eingeladen
und da seine Ideen sich nun weiter verbreiteten,
sammelten sich Bewunderer um ihn,
darunter ab 1771 der später sehr bekannte Autor
Bernardin de Saint-Pierre.
Etwa seit 1762 war Rousseau
den nervlichen Belastungen
aufgrund der zahlreichen Verunglimpfungen
und Verfolgungen nicht mehr gewachsen.
Seine Ängste und Abwehrhandlungen
nahmen teilweise wahnhafte Züge an.
1772–1775 verfasste Rousseau
den autobiografischen Dialog
Rousseau juge de Jean-Jacques.
1774 gab er sein Dictionnaire
des termes d’usage en botanique
in Druck. 1776–1778 schrieb er
sein letztes längeres Werk,
die in lyrischer Prosa gehaltenen Träumereien
des einsamen Spaziergängers,
die auf ebenfalls neue Art Gegenwartsmomente
zum Ausgangspunkt von autobiografischen
Rückblicken machen und mit ihrem Einfangen
von Naturstimmungen
als eine Vorbereitung der Romantik gelten.
Im Mai 1778 folgte er einer Einladung
des Marquis René Louis de Girardin
auf dessen Schlösschen Ermenonville.
Als er den Tod kommen fühlte,
sprach er darüber freimütig und ohne Scheu
zu seiner Frau, und als sie in Tränen ausbrach, sagte er:
Warum weinst Du? Es ist ja mein Glück,
ich sterbe in Frieden.
Niemand wollte ich Leid antun
und rechne mit der Gnade Gottes.
Er ließ das Fenster öffnen,
sah in den schönen Tag hinein und sagte:
Wie rein und lieblich ist der Himmel,
keine Wolke trübt ihn. Ich hoffe,
der Allmächtige nimmt mich da hinauf zu sich.
In Ermenonville starb er wenig später,
wahrscheinlich an einem Schlaganfall.
Er wurde auf der „Insel der Pappeln“
im Schlosspark, dem heutigen
Parc Jean-Jacques Rousseau, begraben.
Seine Witwe Thérèse wohnte noch etwa ein Jahr
in dem für ihn bestimmten Haus.
DRITTER GESANG
Diderot war das zweitälteste Kind
des wohlhabenden jansenistischen
Messerschmiedemeisters Didier Diderot
aus Langres (Champagne)
und dessen Ehefrau Angélique Vigneron,
der dreizehnten Tochter eines Gerbers.
Sein Großvater Denis Diderot
heiratete am 20. Juni 1679 Nicole Beligné,
eine Tochter des Messerschmiedemeisters
François Beligné. Das Paar
hatte insgesamt neun Kinder,
unter ihnen der Vater von Denis Diderot.
Denis Diderot wurde am 5. Oktober 1713 geboren
und schon am nächsten Tag
in der Église paroissiale Saint-Pierre-Saint-Paul
zu Langres nach römisch-katholischem Ritus getauft.
Diderot hatte noch fünf jüngere Geschwister,
von denen jedoch zwei im Kindesalter starben.
Zu seiner Schwester Denise Diderot
hatte er zeitlebens ein sehr gutes Verhältnis,
er nannte sie Soeurette.
Zu seinem jüngeren Bruder Didier-Pierre Diderot,
einem späteren Geistlichen
und Stiftsherrn von Langres,
war seine Beziehung konfliktbeladen.
Eine weitere Schwester, Angélique Diderot,
trat dem Ursulinen-Orden bei.
Ab seinem 12. Lebensjahr
bereiteten seine Eltern ihn
auf das Priestertum vor.
Am 22. August 1726 erhielt er
vom Bischof von Langres die Tonsur
und damit die niederen Weihen.
Er hatte jetzt das Recht, sich als Abbé zu bezeichnen
und geistliche Kleidung zu tragen.
In näherer Zukunft sollte er
die Kanonikus-Pfründe seines Onkels mütterlicherseits,
des Kanonikus Charles Vigneron
an der Kathedrale Saint-Mammès de Langres,
übernehmen. Langres war ein wichtiges Zentrum
des Jansenismus.
In Langres besuchte Diderot eine Jesuitenschule.
In Paris wurde Diderot zunächst
am Lycée Louis-le-Grand aufgenommen,
dann wechselte er an das jansenistisch orientierte
Collège d’Harcourt. Das Kolleg-Studium
beendete er am 2. September 1732
mit dem Grad eines Magister Artium.
Er unterließ es, das geplante Theologiestudium
abzuschließen, schloss aber sein Studium
an der Sorbonne am 6. August 1735
als Bakkalaureus ab.
Ab 1736 war Diderot als Anwaltsgehilfe
bei dem ebenfalls aus Langres stammenden
Advokaten Louis Nicolas Clément de Ris tätig.
Als er 1737 diese Stelle aufgab,
beendete sein Vater die regelmäßigen Geldzuwendungen.
Diderot lebte jetzt vier Jahre
von schriftstellerischen Aufträgen,
so schrieb er Predigten für Geistliche
und arbeitete als Hauslehrer
bei einem reichen Finanzier,
nebenbei lernte er Englisch.
Es war eine Zeit chronischer Geldnot.
Zeitweise half ihm der Karmelit Frater Angelus
oder seine Mutter, die sogar ihre Dienstmagd
Hélène zu Fuß nach Paris schickte,
um ihn finanziell zu unterstützen.
Auch ein Monsieur Foucou aus Langres,
ein Freund seines Vaters,
der sich als Künstler und Dentist in Paris betätigte,
hat Diderot häufiger mit Geld ausgeholfen.
Diderot begeisterte sich für das Theater
und führte bald das Leben eines Bohémien.
An Mathematik stark interessiert,
lernte er den Mathematiker und Philosophen
Pierre Le Guay de Prémontval kennen
und besuchte 1738 dessen Vorlesungen,
ebenso die von Louis-Jacques Goussier.
Andere Bekannte aus dieser Zeit waren
der Literat Louis-Charles Fougeret de Monbron,
der spätere Kardinal François-Joachim de Pierre de Bernis
und der spätere Polizeipräfekt von Paris Antoine de Sartine.
Seit 1740 schrieb Diderot Artikel
für den Mercure de France
und die Observations sur les écrits modernes.
In dieser Zeit besuchte er auch Anatomie-
und Medizinvorlesungen bei César Verdier.
Im Jahr 1740 lebte Diderot zunächst in einem Haus
in der Rue de l’Observance
im heutigen 6. Arrondissement,
unweit der École de médecine,
eine Etage unter dem deutschen Kupferstecher
Johann Georg Wille. Wille beschrieb ihn
als einen sehr umgänglichen jungen Mann,
der ein guter Schriftsteller und wenn möglich,
ein noch besserer Philosoph sein wollte.
Noch im selben Jahr zog er mehrfach um,
so in die Rue du Vieux-Colombier,
ebenfalls im 6., und in die Rue des Deux-Ponts
im heutigen 4. Arrondissement.
Später übernahm Diderot Übersetzertätigkeiten
aus dem Englischen in das Französische.
Englisch lernte er mittels
eines lateinisch-englischen Wörterbuchs.
1742 übersetzte er die Geschichte Griechenlands
von Temple Stanyan.
Robert James hatte Anfang der 1740er Jahre
das dreibändige englische Lexikon
A medicinal dictionary geschrieben.
Der französische Arzt Julien Busson
überarbeitete und erweiterte es
zu einem sechsbändigen Werk,
Dictionnaire universel de médicine,
welches zwischen 1746 und 1748 von Diderot,
François-Vincent Toussaint und Marc-Antoine Eidous
ins Französische übertragen
und von Busson gegengelesen wurde.
Ferner übersetzte Diderot 1745
Shaftesburys Untersuchung über die Tugend.
Die Ideen Shaftesburys beeinflussten
die französische Aufklärung stark.
Für Diderot waren die Abneigung
gegen dogmatisches Denken,
die Toleranz und die an humanistische Ideale
angelehnte Moral besonders wichtig.
Diderot las mit großem Interesse die Essais
von Michel de Montaigne.
In diesen Jahren befreundete Diderot sich
mit anderen jungen Intellektuellen,
wie d’Alembert, Abbé Étienne Bonnot de Condillac
und Melchior Grimm. Er verkehrte
im Café de la Régence und im Café Maugis,
das auch von Jean-Jacques Rousseau besucht wurde;
im Juli 1742 lernte Diderot ihn kennen.
Rousseau, Condillac und Diderot trafen sich
zeitweise einmal wöchentlich
in einem Restaurant in der Nähe
des Palais Royal, dem Panier fleuri.
Anne-Antoinette Champion, genannt Nanette,
lebte 1741 mit ihrer Mutter in der Rue Boutebrie,
wo die beiden Frauen von Weißnäherei
und Spitzenklöppelei lebten.
Diderot wohnte zu dieser Zeit
in einem kleinen Zimmer desselben Hauses.
Als er 1743 die besitzlose,
bekennend katholische Nanette heiraten wollte
und wie üblich seinen Vater um Erlaubnis bat,
ließ dieser ihn Kraft seiner väterlichen Autorität
in einem Karmeliterkloster bei Troyes einsperren.
Diderots Antipathie gegen die Kirche
und die Institution Kloster liegt wohl auch
in dieser Erfahrung begründet, eine Antipathie,
die sich später noch steigerte,
als seine jüngste Schwester freiwillig
ins Kloster ging und dort psychisch erkrankte.
Diderot konnte nach einigen Wochen fliehen,
er kehrte nach Paris zurück
und heiratete Anne-Toinette Champion
heimlich am 6. November 1743.
Das Verhältnis von Anne-Toinette
zum Schwiegervater normalisierte sich später,
spätestens 1752 war es ein freundliches.
Die Familie wohnte zunächst
in der Rue Saint-Victor im 5. Arrondissement,
1746 zog sie in die Rue Traversière,
im April gleichen Jahres weiter
in die Nummer 6 Rue Mouffetard,
ebenfalls 5. Arrondissement.
In der Nähe wohnte der Polizeioffizier
François-Jacques Guillotte,
der ein Freund Diderots wurde.
Seit 1747 wohnte die Familie Diderot
in der Nummer 3 Rue de l’Estrapade,
von 1754 bis 1784 dann im 4. und 5. Stockwerk
eines Hauses in der Rue Taranne,
am 7. und 6. Arrondissement liegend.
In seinem Essay Regrets sur ma vieille robe de chambre
ou Avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune
beschrieb Diderot sein Arbeitszimmer
im vierten Stockwerk.
Ein Stuhl aus Strohgeflecht,
ein einfacher Holztisch
und Bücherbretter aus Tannenholz,
an den Wänden einfache italienische Farbtapeten,
zusätzlich rahmenlose Kupferstiche,
einige Alabasterbüsten
von Horaz, Vergil und Homer.
Der Tisch war bedeckt mit Druckbögen und Papieren.
Im fünften Stockwerk,
unter dem Dachgeschoss hatte er
die Redaktion der Enzyklopädie eingerichtet.
Bei einem Freund, dem Juwelier Étienne-Benjamin Belle,
in Sèvres, Nummer 26 Rue Troyon,
mietete Diderot im November 1767
ein zusätzliches Appartement.
Dorthin zog er sich bis kurz vor seinem Tode
regelmäßig zum Arbeiten zurück.
Sein letztes Domizil – hier verbrachte er
die letzten Tage seines Lebens –
lag in der Nummer 39 Rue de Richelieu
im 2. Arrondissement von Paris.
Das Paar hatte vier Kinder,
von denen drei sehr früh starben,
Angélique, Jacques François Denis, Denis-Laurant
sowie Marie-Angélique. Marie-Angélique
heiratete am 9. September 1772 den Industriellen
Abel François Nicolas Caroillon de Vandeul.
Er war der Sohn von Diderots Jugendliebe
Simone la Salette
und ihrem Ehemann Nicolas Caroillon.
Diderot hatte zwei Enkel,
Marie Anne, früh verstorben, und den späteren Politiker
Denis-Simon Caroillon de Vandeul,
der Eugénie Cardon heiratete.
Dieser Ehe entstammen die drei Urenkel Diderots,
Abel François Caroillon de Vandeul,
Marie Anne Wilhelmine Caroillon de Vandeul
und Louis Alfred Caroillon de Vandeul.
Ein interessantes Faktum ist,
dass sein Bruder Didier-Pierre Diderot
von 1743 bis 1744 ebenfalls
zum Studieren in Paris lebte.
Er besuchte ein Katholisches Priesterseminar
und studierte zusätzlich noch Jurisprudenz.
Am Freitag den 9. Dezember 1746
beendete er sein Studium
und ging zurück nach Langres.
Denis’ Verhältnis zu seinem Bruder
Didier-Pierre Diderot war immer schwierig.
Die Einladung zur Hochzeit Marie-Angéliques
beantwortete dieser rüde und kam nicht.
Am 14. November 1772 kam es
zum endgültigen Bruch zwischen den Brüdern.
Seine Frau, die Mutter seiner Kinder,
war die Seele seines Hauses,
und Diderot tolerierte auch ihre strenge Gläubigkeit.
Während der Zeit dieser Ehe
führte er aber daneben weitere intime Beziehungen:
Ab 1745 war er mit Madeleine de Puisieux liiert,
einer Abenteurerin, wie emanzipierte
und unverheiratet lebende Frauen
(meist besserer Herkunft und Bildung) genannt wurden.
Im Jahr 1755 lernte Diderot Sophie Volland kennen,
die ihm eine lebenslange Gefährtin
und Seelenfreundin wurde,
beide führten einen regen empfindsamen Briefwechsel.
Es war das Jahr des Erdbebens von Lissabon,
das die Theodizee-Diskussion neu aufwarf.
Vom Frühjahr 1769 bis 1771 hatte Diderot
dann eine weitere intime Beziehung
mit Jeanne-Catherine Quinault,
die er bereits seit 1760 kannte.
Im August 1770 traf er sich mit ihr
und ihrer Tochter in Bourbonne-les-Bains
und kurte dort mit ihnen im Thermalbad.
Kurz danach schrieb er
Die beiden Freunde aus Bourbonne.
Diderot verkehrte weiter mit Pariser Intellektuellen,
im Café Procope, auch im Café Landelle.
So lernte er Alexis Piron kennen.
Über diesen Kreis kam er in Kontakt
zur Salonnière und Schriftstellerin Louise d’Épinay
sowie zu Paul Henri Thiry d’Holbach.
Er wurde Teil des Coterie holbachique.
Im Café de la Régence am Place du Palais-Royal
spielte Diderot regelmäßig Schach.
Mit François-André Danican Philidor,
dem besten Spieler dieser Zeit, war er befreundet;
beider Familien trafen sich regelmäßig.
Philidors Schachlehrer François Antoine de Legall,
einem regelmäßigen Besucher des Cafés,
setzte Diderot in „Rameaus Neffe“
ein literarisches Denkmal.
Diderots philosophische Ansichten hatten sich
inzwischen weit von den christlichen Ideen
des Vaterhauses entfernt.
Seine Zweifel daran, sein Übergang
zu einem von der Vernunft geprägten Theismus
wurden 1746 öffentlich
mit dem zu Ostern verfassten Essay
Pensées philosophiques.
Dieser machte ihn, obgleich anonym erschienen,
einer größeren Leserschaft bekannt.
Das religionskritische Werk
wurde vom Pariser Parlament verurteilt
und öffentlich verbrannt.
Die weitere Entwicklung seiner Positionen
hin zu einem eindeutigen Materialismus
markieren La promenade du sceptique
und der Brief über die Blinden
zum Gebrauch für die Sehenden,
später dann die Pensées sur l’interprétation de la nature.
Ab 1747 folgte die intensive Arbeit an der Encyclopédie.
Im Jahre 1749 wurde sie jedoch unterbrochen.
Der Kriegsminister Frankreichs,
Marc-Pierre d’Argenson,
forderte am 22. Juli 1749 den Generalleutnant
der Polizei Nicolas René Berryer auf,
einen königlichen Haftbefehl für Diderot auszustellen.
Am 24. Juli 1749, um halb acht Uhr morgens,
wurde Diderot von Joseph d’Hémery,
Kommissar und Inspektor
der königlichen Zensurbehörde, verhaftet.
Er wurde verhört
und in die Festung Vincennes gebracht.
Diderot wurde die Veröffentlichung
der Pensées philosophiques
und des Briefes über die Blinden
zum Gebrauch für die Sehenden,
in denen er seine materialistische Position dargelegt hatte,
sowie das Arbeiten an weiteren
gegen die Religion gerichteten Schriften
zur Last gelegt. Schon zwei Jahre zuvor
war er vom Pfarrer seiner Gemeinde
Saint-Médard, Pierre Hardy de Lévaré,
als gottloser, sehr gefährlicher Mensch
beschrieben worden. Eine gewisse Rolle
soll auch gespielt haben, dass eine einflussreiche Frau,
Madame Dupré de Saint-Maur, sich
für eine herabsetzende Äußerung Diderots rächen wollte.
Rousseau besuchte ihn regelmäßig im Gefängnis.
Die Buchhändler, an zügiger Arbeit
an der Encyclopédie interessiert,
beschwerten sich über die Verhaftung.
Diderot selbst intervenierte brieflich
bei René Louis d’Argenson
und Nicolas René Berryer.
Am 3. November 1749 wurde er entlassen.
Er musste sich hierfür schriftlich verpflichten,
keine blasphemischen Schriften mehr
zu veröffentlichen. Um den Fortgang
der Encyclopédie nicht zu gefährden,
ließ er daher in den folgenden Jahren vieles unpubliziert.
Die Erfahrung seiner Inhaftierung
prägte sich Diderot tief ein
und ließ ihn künftig mit größerer Vorsicht vorgehen.
Viel später, am 10. Oktober 1766,
bekannte Diderot in einem Brief an Voltaire,
bezogen auf seine Arbeit an der Encyclopédie,
dass seine Seele voller Angst
vor einer möglichen Verfolgung sei,
er aber dennoch nicht fliehen werde,
da eine innere Stimme ihm befehle, weiter zu machen,
teils aus Gewohnheit, teils aus Hoffnung,
dass schon am nächsten Tage
alles anders aussehen könne.
1747 übernahm Diderot die Leitung der Arbeit
an der Encyclopédie als Herausgeber,
zunächst gemeinsam mit d’Alembert,
ab 1760 mit Louis de Jaucourt.
Den Gesamtplan zu entwerfen,
Autoren zu gewinnen
und deren Zusammenarbeit zu organisieren,
um das Druckprivileg
und gegen die Zensur zu kämpfen
und außerdem noch mehr als 3000 Artikel
selbst zu schreiben, war Arbeit für Jahre.
Wo nötig erweiterte Diderot hierfür
seinen Wissensbereich. So besuchte er
von 1754 bis 1757 regelmäßig
die Chemievorlesungen Guillaume-François Rouelles.
Bei den unausweichlichen Kämpfen
wurde Diderot durch die Freimaurer unterstützt.
Diderot schrieb in dieser Zeit außerdem
Romane und Erzählungen, Stücke für das Theater,
er arbeitete an einer Theatertheorie
und zur Erkenntnistheorie.
Vieles hiervon wurde zunächst nicht publiziert,
manches kam jedoch durch Abschriften
bereits an die Öffentlichkeit.
Ein wichtiger Mitarbeiter wurde ihm hierbei
Jacques-André Naigeon,
auch als Sekretär d’Holbachs tätig,
der Texte redigierte und bearbeitete
und auch für die Encyclopédie schrieb.
Er gab später, 1798, eine erste,
wenn auch unvollständige, Werkausgabe heraus.
Trotz all dieser Arbeit nahm Diderot
am regen gesellschaftlichen Leben
der Philosophen teil – der kritisch eingestellten
Pariser Intellektuellen,
wie Condillac, Turgot, Helvétius und d’Holbach –
ebenso besuchte er adlige Salons.
Seit dem Winter 1752/53 hatte er auch Briefkontakt
zu Madame de Pompadour,
die dem Journal von Marc-Pierre d’Argenson zufolge
1752 Verbindung zu den Enzyklopädisten
aufgenommen hatte. Später empfing sie
einige von ihnen, auch Diderot,
zu informellen Diners und Gesprächen.
Spannungen gab es jedoch.
So beklagte Diderot sich 1757 bei Grimm
über eine Einladung durch d’Holbach
auf das Château du Grand Val:
er zweifle, ob er ihr folgen solle,
sei der Baron doch ein despotischer
und launischer Mensch.
Später hielt er sich allerdings mehrfach dort auf,
ebenso auf dem Château de la Chevrette
in Deuil-la-Barre, dem Besitz von Louise d’Épinay.
In Briefen an Sophie Volland schilderte Diderot
seinen Tagesablauf im Grand-Val:
Neben Lesen, Nachdenken und Schreiben,
Spaziergang und Gesprächen mit d’Holbach,
allgemeiner Konversation und den Mahlzeiten
gehörten auch Tric Trac und Piquet dazu.
Im Juli 1765 beendete Diderot
die Arbeit an der Encyclopédie.
Fast 20 Jahre hatten er und seine Familie
von den Zahlungen der Verleger und Buchhändler gelebt,
Rechte auf Tantiemen besaß er nicht.
So kamen nun lediglich Einnahmen
aus dem väterlichen Erbe aus Langres.
Dmitri Alexejewitsch Golizyn und Grimm
retteten die Situation.
Sie vermittelten den Verkauf von Diderots Bibliothek
an Katharina II. von Russland,
sie wurde nach seinem Tod
nach Sankt Petersburg transportiert,
für 16.000 Livre. Katharina II. besoldete ihn zudem
zeitlebens als Bibliothekar seiner eigenen Bibliothek
mit 1000 Livre pro Jahr und stattete ihn mit Geld
für Neuanschaffungen aus.
1773 fuhr Diderot für einige Monate
an den Hof von Sankt Petersburg.
Das Geld ermöglichte es seiner Tochter
Marie-Angélique, ab 1765
Cembalo-Unterricht zu nehmen,
zunächst bis 1769 bei der Pianistin
Marie-Emmanuelle Bayon Louis,
dann bei dem Musiktheoretiker
und Komponisten Anton Bemetzrieder.
Dieser machte sie 1771 zu einer Hauptperson
seines musikalischen Lehrwerks,
den Leçons de Clavecin,
et Principes d’Harmonie.
Diderots Bibliothek ging
(wie auch die Voltaires)
in die 1795 gegründete Russische Nationalbibliothek ein.
Mit deren Beständen wurde sie jedoch später zerstreut,
eine begleitende Aufstellung ging verloren.
Sie konnte nur lückenhaft über die Register
der Diderot mit Büchern versorgenden Verleger
rekonstruiert werden.
Die Zarin Katharina II. hatte Denis Diderot
schon im Jahr 1762 nach Russland eingeladen,
dort sollte er die Enzyklopädie vollenden.
Diderot sagte ab, blieb aber mit dem General
und Schulreformer Iwan Iwanowitsch Bezkoi
in Verbindung, um eventuell später
eine zweite redigierte Ausgabe der Enzyklopädie
in Russland zu veröffentlichen.
Als Diderot 1773 nach Russland aufbrach,
war die Enzyklopädie fertiggestellt,
seine Tochter verheiratet
und er seiner Mäzenin zu Dank verpflichtet.
Am 11. Juni 1773 verließ Diderot Paris
zu seiner einzigen längeren Reise
mit dem Ziel Sankt Petersburg.
Die Reise ging zunächst über Den Haag
in das Herzogtum Kleve,
wo er seinen späteren Reisebegleiter
Alexei Wassiljewitsch Naryschkin traf.
In Den Haag wohnte er bis zum 20. August 1773
bei dem russischen Botschafter
Dmitri Alexejewitsch Fürst von Gallitzin
und seiner Ehefrau Amalie von Gallitzin.
Nach krankheitsbedingter Pause
fuhr Diderot weiter ins Kurfürstentum Sachsen.
Über Leipzig und Dresden ging es,
unter Vermeidung der preußischen Residenzen
Potsdam und Berlin, weiter nach Königsberg,
Memel, Mitau, Riga und Narva.
Am 8. Oktober 1773 erreichte Diderot
den Zarensitz an der Newa.
In Sankt Petersburg kam Diderot,
krankheitsgeschwächt, zunächst bei Naryschkin
und dessen älteren Bruder Semjon unter.
Dort hütete er zunächst noch das Bett.
Vom 15. Oktober 1773 an wurde Diderot
von der Zarin – mitunter dreimal pro Woche –
zu regelmäßigen Audienzen empfangen.
Als Vertreterin des aufgeklärten Absolutismus
versprach sie sich davon Anregungen
für ihre Reformpolitik.
Sie hatte bereits mit Voltaire korrespondiert
und sich gerade den französischen aufklärerischen Denkern
als nahestehend empfohlen,
seit sie 1767 ihre umfangreiche Instruktion
über Rechtsgrundsätze an die russische
gesetzgebende Kommission veröffentlicht hatte,
in der sie sich insbesondere an die Schriften
Montesquieus sehr stark angelehnt hatte.
Aufgabe der neu gebildeten Kommission war,
ein System einheitlicher Rechtsprechung
für das gesamte Russische Reich zu schaffen.
Diderot hatte während seines Aufenthalts
kaum Gelegenheit, die Verhältnisse
im Zarenreich genau und direkt kennenzulernen,
so dass seine Empfehlungen gemeinhin
abstrakt bleiben mussten.
Den Inhalt seiner Gespräche mit der Zarin
legte er in den Entretiens avec Catherine II nieder.
Er unterstützte etwa das Bemühen
um eine einheitliche Rechtsprechung,
kritisierte aber nachdrücklich die autokratische,
absolutistische Monarchie.
Die Gespräche und Erfahrungen
in Sankt Petersburg ließen Diderot später,
besonders in seiner Auseinandersetzung
mit der Instruktion der Zarin unter dem Titel
Observations sur l’instruction de l’impératrice de Russie,
deutlich abrücken von der in Gesetze gegossenen
„monarchie pure“, wie sie Katharina II. vorschwebte.
Er propagierte Glück und Freiheit
als Ziele aller Gesellschaften und als Aufgabe,
der sich Herrscher wegbereitend zu stellen hätten.
Er forderte die vollständige Beseitigung
der Leibeigenschaft und ein Ende
des kirchlichen politischen Machteinflusses.
Weiter erwartete Diderot,
am Leitbild der Volkssouveränität orientiert,
von der Kaiserin eine deutliche Selbstbeschränkung
ihrer absoluten Macht.
Dies erfuhr die Zarin erst nach Diderots Tod.
Vor seiner Abreise beauftragte sie ihn,
einen Plan zur Reform
des russischen Erziehungssystems zu entwickeln,
um die Ideen der französischen Aufklärung
im Zarenreich zu verbreiten.
Diderot schrieb den Plan des gesamten Schulwesens
für die russische Regierung
oder einer öffentlichen Erziehung
in allen Wissenschaften.
Darin forderte er etwa, die akademische Ausbildung
dürfe sich nicht einzig an der unmittelbaren
Verwendbarkeit durch die Krone
oder an der Staatsräson orientieren.
Grimm brachte die Abhandlung nach Russland.
Gegenüber Louis-Philippe de Ségur,
dem französischen Gesandten in Sankt Petersburg
von 1783 bis 1789, äußerte die Zarin:
Hätte sie alle Ideen und Vorstellungen Diderots
in das politische Handeln einfließen lassen,
wäre das gesamte Zarenreich
auf den Kopf gestellt worden.
Und sie sagte Diderot zum Ende
seines Aufenthaltes in Russland,
dass sie mit größtem Vergnügen
seine brillanten Ausführungen hörte,
dass sie aber im Unterschied zu ihm
nicht mit Papier sondern mit Menschen arbeite.
Am 1. November 1773 wurde Diderot
zusammen mit Grimm auf Order der Zarin hin
als membre étranger
in die Russische Akademie
der Wissenschaften aufgenommen.
Die anwesenden Akademiker zeigten hierüber
„eine sehr gedämpfte Begeisterung“.
Diderot legte der Akademie einen Katalog
mit 24 Fragen zur Naturgeschichte Sibiriens vor.
Erik Gustavovich Laxmann war beauftragt,
sie zu beantworten.
Während seines Aufenthaltes in Sankt Petersburg
bemühte Diderot sich, die russische Sprache zu erlernen.
Er wurde oft in die Paläste
der russischen Aristokraten eingeladen.
Am 5. März 1774 begann die Rückreise
mit der Postkutsche. Über Hamburg, Osnabrück
ging es wieder nach Den Haag,
wo er am 5. April eintraf
und dann einige Zeit verweilte.
Erst am 21. Oktober 1774 war er wieder in Paris.
In seiner Abhandlung
Essai sur la vie de Sénèque et sur les règnes
de Claude et de Néron von 1778
verteidigte Diderot die Zarin gegen den Vorwurf,
sie sei ähnlich der Julia Agrippina,
welche ihren Ehemann,
den römischen Kaiser Claudius, ermordete,
eine Gattenmörderin
an Peter III. von Russland gewesen.
Diderots gesundheitlicher Zustand
verschlechterte sich seit der Rückkehr
aus Russland zusehends.
Herz- und Kreislaufprobleme
machten ihm zu schaffen,
er litt unter geschwollenen Beinen
und Kurzatmigkeit.
1774 schrieb er an Sophie Volland,
er erwarte in zehn Jahren sein Ende.
Häufiger als früher zog es ihn
in sein Ausweichquartier in Sèvres
oder auf das Landgut Château de Grand-Val
seines Freundes d’Holbach.
Ein letztes Mal sollte Diderot
nur knapp einer erneuten Inhaftierung entgehen.
Im Jahr 1782 erschien im damaligen
unabhängigen Fürstentum Bouillon
der Essai sur les règnes de Claude et de Néron.
Laut Lenoir verlangte König Ludwig XVI.
Diderots Bestrafung. Diderot wurde vorgeladen,
konnte aber die Vorwürfe entkräften,
zumal man ihm seitens der Administration
eine gewisse Sympathie entgegenbrachte.
Er vollzog einen rhetorischen Kniefall
und beschwichtigte seine Ankläger
noch durch einen Widerruf.
Diderot traf sich in der Folgezeit regelmäßig
mit dem Polizeileutnant Lenoir
zum Gedankenaustausch, war dieser doch
ein liberaler Geist
und Logenmitglied der Freimaurer.
Im Februar, dem Winter 1784,
starb Diderots langjährige Freundin Sophie Volland
mit 67 Jahren und im April seine Enkelin
Marie Anne Caroillon de Vandeul, Minette,
im Alter von zehn Jahren.
Am 19. Februar 1784 erlitt er einen plötzlichen
Zusammenbruch, möglicherweise einen Herzinfarkt,
begleitet von einer Herzinsuffizienz.
Er starb am Samstag, dem 31. Juli 1784,
beim Mittagessen.
Bei der Obduktion am Folgetag
wurden eine vergrößerte Leber
und ein vergrößertes Herz gefunden.
Anne-Antoinette Diderot, die Ehefrau,
und der Schwiegersohn
Abel François Nicolas Caroillon de Vandeul
organisierten die Bestattung
in der Pfarrkirche St-Roch in Paris.
Hierzu wurde dem Priester diskret
ein Betrag von 1800 Livre als Spende zugesichert.
Bei der Zeremonie sollen 50 Priester
anwesend gewesen seien.
Denis Diderot wurde im Ossuarium
unterhalb des Hauptaltars beigesetzt.
VIERTER GESANG
Erbaut wurde sie als Bastille Saint-Antoine
im 14. Jahrhundert unter König Karl V.
als befestigtes östliches Tor
und als ein Eckpfeiler der Befestigungsanlagen
der Hauptstadt gegen Angriffe
der englischen Truppen,
die während des Hundertjährigen Krieges
in Frankreich herumzogen.
Seit der Zeit Ludwigs XIII. diente sie
als Staatsgefängnis mit 80 teils unterirdisch
liegenden Kerkern. Berühmte Häftlinge
waren 1717/1718 und 1726
der Schriftsteller Voltaire
und 1784–1789 der Marquis de Sade.
Die Bastille besaß acht Zinnentürme
mit eigenen Namen: Feldseite von Norden nach Süden:
Eckturm, Kapellenturm, Schatzturm, Grafschaftsturm;
Stadtseite von Norden nach Süden: Brunnenturm,
Freiheitsturm, Bertaudièreturm, Basinièreturm.
Zwischen Basinièreturm und Grafschaftsturm
lag südlich der Eingang mit Zugbrücke.
Zwischen Kapellen- und Schatzturm
war das zugemauerte ehemalige Stadttor zu sehen.
Das Gebäude besaß außerdem einen Festungsgraben,
der mit Wasser gefüllt war.
Eines der interessantesten Dokumente
aus dem Innenleben der Bastille
ist René Auguste Constantin de Rennevilles
1715 veröffentlichter Bericht „Inquisition Françoise“
über seine elfjährige Gefangenschaft.
Renneville beschreibt darin ausführlich
verschiedene Zellen und die je nach Status
unterschiedlichen Haftbedingungen.
Die Gefangenen erhielten eine Pension des Königs.
Das Gefängnis selbst funktionierte
als vom Staat verpachtetes kommerzielles Unternehmen.
Wenn bei längerer Haft Gefangene verarmten
oder von ihren Familien nicht mehr unterstützt wurden,
wurden sie in immer tiefer gelegenen Zellen untergebracht.
Die unmenschlichsten Haftbedingungen
herrschten in den Kellern.
Haftstrafen in der Bastille waren gefürchtet,
da mit ihnen der Entzug jedweder Öffentlichkeit
verbunden war. Eine größere Chance,
sich zu verteidigen
und in der Außenwelt um Sympathien zu werben,
hatten Straftäter am Pranger.
Anne-Marguerite Petit du Noyer zugeschrieben
wird der Bericht einer spektakulären Flucht
aus der Bastille, der 1719 als
Die Hölle der Lebendigen erschien.
Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789
wurde zum Symbol für die französische Revolution.
Teilweise wird dieses Ereignis auch
als Beginn der Revolution interpretiert.
Eine wirkliche Erstürmung
hat es aber nicht gegeben,
da ihr Kommandant der Aufforderung
zur Übergabe nachkam.
Zudem saßen hierin nur noch sieben Häftlinge,
bewacht von einem Kommandanten,
dem 80 Kriegsveteranen
und 32 Soldaten assistierten.
Im Juli 1789 befand sich das Volk von Paris in Unruhe:
Einerseits setzte es große Hoffnungen
in die Generalstände, andererseits
war es durch die hohen Brotpreise
vom Hunger bedroht.
Seit dem 10. Juli wurden Zollhäuser
rund um Paris in Brand gesteckt,
in der Hoffnung, dass die Waren
in der Stadt billiger würden,
wenn keine Akzise erhoben würde.
Am 11. Juli entließ der König
den Finanzminister Jacques Necker,
der beim Volk beliebt war.
Außerdem hatte er Truppen
in Versailles zusammengezogen,
eine deutliche Drohung
für die Nationalversammlung.
Am 12. Juli erreichte die Nachricht
von der Entlassung Neckers Paris.
Agitatoren im Palais Royal heizten
die Stimmung weiter an;
der berühmteste Redner war hier Camille Desmoulins,
der die Patrioten aufforderte,
sich als Erkennungszeichen Kastanienblätter
an die Hüte zu stecken.
Am Tag darauf kam es zu ersten gewalttätigen
Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten
und dem Kavallerieregiment „Royal Allemand“.
In den darauf folgenden Tagen
wurden Waffenhandlungen geplündert
und am 14. Juli belagerte eine Menschenmenge,
die sich zuvor im Hôtel des Invalides
Waffen beschafft hatte, die Bastille,
um an die dort gelagerten
Munitionsvorräte zu gelangen.
Der Kommandant ließ bei der ersten Ansammlung
der Menschenmenge vor der Zugbrücke
auf die bewaffnete Menschenmenge schießen.
Mehr als 90 Personen fanden den Tod.
Nach erneutem Aufmarsch
mit verbesserter Bewaffnung (Kanonen)
und nach der Kapitulation der Wachmannschaft
stürmte die Menge das Gefängnis
und befreite die Gefangenen:
vier Urkundenfälscher, zwei Geisteskranke
und den adligen Schriftsteller Marquis de Sade,
den seine Familie wegen seines wüsten
Lebenswandels in der Bastille
hatte festsetzen lassen (andere Quellen berichten,
dass er einige Tage zuvor in die Irrenanstalt
in Charenton-le-Pont verlegt wurde,
da er von seiner Zelle aus
einer demonstrierenden Menschenmenge zurief:
„Sie töten die Gefangenen hier drinnen!“).
Der Kommandant wurde auf dem Weg zum Rathaus
trotz Zusicherung des freien Geleits
wegen seines Schießbefehls
von einem Metzger geköpft,
ein Wachsoldat wurde ebenfalls umgebracht.
Ein Adeliger, Jacques de Flesselles,
Oberhaupt des Pariser Magistrats,
der den Kommandanten retten wollte,
wurde ebenfalls geköpft.
Die Köpfe trug man anschließend
unter dem Jubel der Bevölkerung
auf Heugabeln durch die Straßen der Hauptstadt.
Es waren die ersten adligen Opfer der Revolution.
Der Sturm auf die Bastille
war Anlass zur Aufstellung einer Nationalgarde
unter Marquis de La Fayette,
damit die Nationalversammlung
ergebene Truppen zur Verfügung hatte.
Außerdem wurde der königliche Gouverneur
von Paris abgesetzt;
an seine Stelle trat der Generalrat der Commune,
ein Gremium, das bei der Radikalisierung
der Revolution eine Rolle spielte.
Obwohl keine bedeutenden Gefangenen
befreit wurden und die militärische Bedeutung
des Sieges über die aus Veteranen
und Invaliden bestehende Wachmannschaft
gering war, wurde der Sturm auf die Bastille
in der Folge zum Mythos
und zu einem einschneidenden Ereignis verklärt,
was vermutlich auf die hohe Symbolwirkung
eines ersten Sieges
über eine Befestigung der Monarchie
zurückzuführen ist.
So ist der 14. Juli noch heute der Nationalfeiertag
in Frankreich, allerdings nicht
wegen des Sturmes auf die Bastille,
sondern vor allem wegen des ein Jahr später
gefeierten Föderationsfestes,
als der König und Vertreter aller Stände
und aller Departemente einen feierlichen Treueeid
auf die Nation leisteten.
Von der Bastille ist heute nichts mehr zu sehen.
Unter der Leitung eines Bauunternehmers
begann bereits zwei Tage nach dem Sturm,
am 16. Juli 1789, der Abriss der Festung
als Symbol des Ancien Régime,
der sich bis in den Oktober 1790 hinzog.
Man ließ nur einen 50 Zentimeter hohen
Mauerrest stehen, der später
komplett entfernt wurde.
Aus Steinen der Bastille ließ der Bauunternehmer
detailgetreue Modelle
des ehemaligen Gefängnisses meißeln,
die in die 83 neuen Departement-Hauptstädte
geliefert und dort mit Pomp
als Trophäen eingeweiht wurden.
Aus den eisernen Schlössern der Zellen
und den Ketten und Fußkugeln der Gefangenen
ließ er 60.000 Medaillen
mit Freiheitsmotiven prägen.
Der „patriote“ verbreitete auch ungezählte
eigene und fremde Lieder,
Pamphlete, Plakate, Zeitungen,
Bilder (überwiegend Karikaturen)
und Flugblätter zum revolutionären Geschehen.
Jährlich richtete er zur Hinrichtung
des ehemaligen Königs Ludwig XVI.
ein Schweinekopfessen aus.
FÜNFTER GESANG
Marat wurde am 24. Mai 1743
als zweites von acht Kindern
in Boudry im Fürstentum Neuenburg geboren,
das als zugewandter Ort
mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft
assoziiert war und zu dieser Zeit
von der preußischen Königsfamilie
der Hohenzollern regiert wurde.
Sein Vater wurde bei der Registrierung
seines Sohnes als „Jean Mara“ eingetragen,
in den Bibliographien wird er auch
„Jean-Baptiste Mara“ genannt.
1753 zog die Familie nach Yverdon,
wo der Vater in einer Tuchfabrik
als Zeichner arbeitete.
1755 zog man nach Neuchâtel weiter,
wo der Vater nunmehr
als Fremdsprachenlehrer tätig wurde.
Hier fügte er seinem Namen das Schluss-„t“ an.
Den dadurch französisch klingenden Nachnamen
„Marat“ übernahm nun auch der Sohn Jean Paul.
In der Literatur wird der Vater
je nach Sprache Giovanni Mara,
Juan Salvador Mara
oder Jean Marat genannt.
Er war in Cagliari auf Sardinien geboren;
seine Mutter, Louise Cabrol, stammte
aus der ebenfalls mit der Eidgenossenschaft
verbundenen Stadtrepublik Genf.
Durch eine Hautkrankheit
(mit einem heftigen Juckreiz verbunden)
bedingt, litt Marat unter Entstellungen.
Als er sechzehn Jahre alt wurde,
verließ er die Schweiz und wanderte allein
nach Bordeaux nahe der französischen Atlantikküste aus,
wo er Medizin studierte.
Um sein Auskommen zu sichern,
arbeitete er für den vornehmen Reeder Jean-Paul Nairac.
1762 zog er nach Paris,
wo er drei Jahre blieb
und an der Universität Vorlesungen
in Medizin, Physik und Philosophie besuchte.
Wegen seiner Erfolge bei der Heilung
von Gonorrhoe konnte er sich
als Arzt einen Namen machen.
Danach zog es ihn nach England.
Zehn Jahre lang praktizierte er als Arzt
in London, Newcastle und Dublin.
In England wurde er Freimaurer;
am 15. Juli 1774 stellte man ihm
ein Großlogen-Zertifikat aus,
das von James Heseltine, dem Großsekretär,
unterzeichnet war. Später wurde er Mitglied
der Loge La Bien Aimee in Amsterdam.
Etwa im Jahr 1762 schrieb Jean Paul Marat
sein erstes Buch „Polnische Briefe“,
das aber nicht veröffentlicht wurde.
Auch der 1771 in London fertiggestellte Roman
„Die Abenteuer des jungen Grafen Potowski –
ein Herzensroman“ blieb
zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht.
Der Roman enthält auch Gedanken zum Strafrecht,
die Marat später in seinem „Plan
einer Strafgesetzgebung“ wieder aufgriff.
Marats erstes veröffentlichtes Werk
erschien 1772 als „Eine Untersuchung
über die menschliche Seele“.
Es wurde 1773 erneut publiziert
als Teil seiner Abhandlung
„Eine Philosophische Studie über den Menschen“.
Ein Jahr später veröffentlichte Marat in England
eines seiner berühmtesten Werke:
„Ketten der Sklaverei“.
Am 30. Juni 1775 erhielt Marat
einen akademischen Titel in Medizin
an der St. Andrews University in Schottland.
Im Juni 1777 kehrte er wieder nach Frankreich zurück
und wurde Arzt bei der Leibgarde
des Grafen von Artois,
des jüngsten Bruders Ludwigs XVI.
Dort führte er einige Experimente
mit Feuer, Licht und Elektrizität durch.
Er schrieb Bücher über die Elektrizität,
das Feuer, das Licht, die Optik,
wobei er mit seinem hitzköpfigen Stil
so heftige Gegenkritiken auf sich zog,
dass Johann Wolfgang von Goethe
sich veranlasst sah, ihn in Schutz zu nehmen.
1779 veröffentlichte er ein Buch
über seine neuen Erkenntnisse
im Bereich der Physik.
Weitere Bücher über Physik,
Theorie der Politik, Recht und Physiologie
folgten in den folgenden Jahren.
Im Jahre 1783 beendete Marat
seine medizinische Laufbahn und widmete sich
ganz den Naturwissenschaften.
Gleichzeitig mit seinen naturwissenschaftlichen
Studien befasste er sich mit Politik und Recht
und beteiligte sich an einem 1777
von der Société économique de Berne
veranstalteten Wettbewerb
zur Reform des Strafrechts
mit einem 1780 herausgegebenen Plan
einer Kriminalgesetzgebung.
Die erste Auflage wurde durch die Zensurbehörde
beschlagnahmt, die weiteren Auflagen
blieben unbeachtet.
Im Juli 1788 fühlte sich Marat sterbenskrank
und schrieb deshalb sein Testament.
Er bat einen Freund,
den Uhrmacher Abraham Louis Breguet,
ihn am Totenbett seelisch zu unterstützen
und alle seine Manuskripte
an eine Akademie für Wissenschaften zu schicken.
Angeblich erzählte ihm Abraham
am Totenbett von den revolutionären Ereignissen.
Dies soll bei ihm einen so großen Eindruck
hinterlassen haben, so sagt der Mythos,
dass sich sein Gesundheitszustand besserte
und er fortan die Revolution
mit voller Kraft und allen Mitteln unterstützte.
Im Februar 1789 veröffentlichte er
eine „Opfergabe an das Volk“,
in der er sich an den Dritten Stand richtet,
um dessen Position gegenüber
„unseren Feinden“ mit einer neuen
Verfassung zu stärken.
Die Schrift blieb unbeachtet,
eine Ergänzung wurde beschlagnahmt.
Im Juli oder August 1789 versuchte er es erfolglos
mit einer ersten Zeitung, dem Moniteur patriote
(„Patriotischer Anzeiger“).
Mehr Erfolg hatte er mit der
ab 12. September 1789 herausgegebenen Zeitung
Publiciste Parisien („Pariser Blatt“),
die er von der 6. Nummer an
in Ami du Peuple („Freund des Volkes“) umbenannte.
Diese Zeitung war eine stark beachtete Zeitung
Frankreichs, die manchmal zweimal am Tag erschien,
und sich als die Stimme des revolutionären
Volkes verstand. Marat griff darin
mit scharfen Worten alle gemäßigten Girondisten
in der Nationalversammlung an.
Er bezeichnete alle wirklichen
oder angeblichen Gegner der Revolution
als Verräter und Volksfeinde,
veröffentlichte deren Namen in seiner Zeitung
und lieferte sie damit der Rache des Volkes aus.
Dies führte dazu, dass am 6. Oktober 1789
ein Haftbefehl des Châtelet-Gerichts
gegen ihn erlassen wurde.
Man versuchte, ihn zu verhaften,
was am 12. Dezember 1789 auch gelang;
jedoch wurde er nach einem Verhör
wieder freigelassen. Als man im Januar 1790
zweimal erneut – teils unter Aufbietung
hunderter von Soldaten – versuchte,
ihn zu verhaften, floh er nach England,
kehrte aber im Mai 1790
wieder nach Frankreich zurück.
Nun befürwortete er die Enthauptung
von 600 Gegnern. Im September 1790
forderte er 10.000 Opfer,
im Januar 1791 sogar 100.000.
Er wurde von den Behörden gesucht,
schaffte es aber, seine Zeitung
weiter herauszugeben und sich trotzdem
in Paris verborgen zu halten.
Erst im Dezember 1791 nahm er „endgültig“
Abschied von seinen Lesern,
um nach London abzureisen,
wurde aber schon im Februar 1792
wieder in Paris gesehen.
Nach dem Sturz der Monarchie
im August 1792 schloss sich Marat
den Jakobinern an und wurde,
mit großer Unterstützung des Volkes,
ein einflussreicher Delegierter
im Nationalkonvent wie auch
für eine Wahlperiode der Präsident
des Klubs der Jakobiner.
Die Septembermassaker 1792
an Unabhängigen und Royalisten
hat er in seinem Ami du Peuple
publizistisch gefördert.
Nachdem die jakobinische Bergpartei
die gemäßigten Girondisten verdrängt hatte,
beschloss Charlotte Corday,
eine Anhängerin der Girondisten,
Marat zu ermorden.
Sie fuhr in einer Postkutsche nach Paris,
wo sie ein Küchenmesser erstand.
Eigentlich wollte sie Marat
am 14. Juli, dem Jahrestag
des Sturms auf die Bastille,
in aller Öffentlichkeit erstechen.
Doch Marat war wegen seiner Hautkrankheit
an das Haus gebunden.
Unter dem Vorwand, dass sie einige Girondisten
aus ihrer Heimatstadt Caen,
einer Hochburg der Konterrevolution,
denunzieren wolle, suchte sie Marat
am 13. Juli 1793 auf.
Marats Lebensgefährtin Simone Évrard
ließ sie jedoch nicht ein.
Sie fuhr zurück in ihr Hotel,
kündigte ihren Besuch schriftlich an
und kehrte noch am selben Tag zurück
zu Marats Wohnung,
ohne Antwort erhalten zu haben.
Im Badezimmer stach sie ihm
nach einem kurzen Gespräch
heftig in Hals und Brust,
wobei sie so stark zustieß,
dass eine große Schlagader riss
und Marat sofort bewusstlos wurde.
Der Komponist Guillaume Pierre Antoine Gatayes
hatte den Leblosen aufgefunden,
und einen herbeieilenden Redakteur
des Ami du Peuple hatte
Charlotte Corday niedergeschlagen,
woraufhin sie festgenommen wurde.
Zu keinem Zeitpunkt leistete sie Widerstand.
Am 17. Juli 1793 wurde sie guillotiniert.
Durch ihre Tat wurde Marat zunächst
zu einem noch größeren Helden und Märtyrer.
Seine Mörderin erlangte durch ihre Hinrichtung
den Status einer Märtyrerin der Konterrevolution.
Jean Paul Marat wurde am 16. Juli 1793
unter den Bäumen des Kreuzganges
des ehemaligen Couvent des Cordeliers
beigesetzt, Ende September 1794 exhumiert
und im Panthéon bestattet.
Das Attentat bildet den Stoff
des schrecklichen Dramas „Die Verfolgung
und Ermordung Jean Paul Marats
dargestellt durch die Schauspielgruppe
des Hospizes zu Charenton
unter Anleitung des Herrn de Sade“
vom schwedischen Kommunisten Peter Weiss.
SECHSTER GESANG
Robespierre wurde als erstes
von vier Kindern des angesehenen Advokaten
Maximilien-Barthélémy-François de Robespierre
im heutigen Département Pas-de-Calais
am 6. Mai 1758 geboren.
Seine Geschwister waren Charlotte, Henriette Robespierre
und Augustin. Die Familie väterlicherseits
stammte ursprünglich aus dem katholischen Irland,
war aber aufgrund religiöser Verfolgung
unter dem Protestanten Heinrich VIII.
nach Frankreich ausgewandert.
Seine Mutter war Jacqueline Margarethe Carrault,
die Tochter eines wohlhabenden Brauers.
Im Juli 1764, als er gerade sechs Jahre alt war,
verstarb seine Mutter im Kindbett.
Am 6. November 1777 starb sein Vater in München;
einige Jahre zuvor hatte er Arras
aus ungeklärten Gründen verlassen
und war nur noch sporadisch
in den Ort zurückgekehrt.
Am Collège von Arras galt Robespierre
als Musterschüler und erlangte
eines von vier Stipendien
für das renommierte Pariser Collège Louis le Grand,
das er ab 1769 besuchte.
Nach zwölf Jahren des Studiums,
aufgeteilt in sieben Jahre allgemeiner Studien
und vier Jahre rechtswissenschaftlicher Studien,
legte Robespierre 1780 sein Examen als Anwalt ab
und wurde 1781 Lizenziat.
In den Jahren 1772 und 1774 galt Robespierre
als Klassenbester, 1775 wurde er zudem
als bester Schüler der Universität
ausgezeichnet und ausgewählt,
die Begrüßungsrede beim Besuch
von Ludwig XVI. zu halten.
Noch als Student hatte er den von ihm verehrten
Jean-Jacques Rousseau in dessen Sterbejahr 1778
besucht und gesprochen.
1781 ließ sich Robespierre
in seiner Heimatstadt Arras als Anwalt nieder.
Hier übernahm Robespierre verschiedenste Fälle
und erarbeitete sich währenddessen
einen Ruf als „Anwalt der Armen“.
Widersprüchlich zu dieser Position
steht Robespierres juristische Karriere in Arras,
die er mit Gutheißen
und fortwährender Unterstützung
der Mächtigen machte.
Nationale Bekanntheit erreichte er 1783
durch den sogenannten „Blitzableiterfall“,
in welchem er einen Mann,
der sein Haus mit einem Blitzableiter versehen hatte,
gegen Vorurteile der Gefährdung
der Allgemeinheit verteidigte
und ihn stattdessen als Förderer
der wissenschaftlichen Erkenntnis darstellte.
Kurze Zeit war Robespierre auch als Richter
an einem bischöflichen Patrimonialgericht tätig,
legte sein Amt jedoch bald nieder,
da er einen Verbrecher zum Tode verurteilen sollte,
er jedoch zum damaligen Zeitpunkt noch
ein strikter Gegner der Todesstrafe war.
Nach seiner Aufnahme in die Akademie von Arras
1783 publizierte Robespierre
Flugschriften und Pamphlete,
in denen er sich gegen die Privilegien des Adels
und der Geistlichkeit aussprach,
gleichzeitig Sippenhaft verurteilte
und sich für die Rechte unehelich geborener Kinder
und von Frauen sowie Menschenrechte
im Allgemeinen einsetzte. 1786
wurde er zum Vorsitzenden der Akademie gewählt.
Schließlich sah er in Paris die Möglichkeit,
durch sein politisches Engagement
die Gesellschaftsform des monarchistischen Frankreichs
nach der Staatstheorie seines geistigen Mentors
Jean-Jacques Rousseau umzugestalten:
31-jährig wurde er gleich zum Delegierten
des dritten Standes für die Stadt Arras
in die Versammlung der Generalstände gewählt,
die von Ludwig XVI. 1789 ursprünglich
dazu einberufen worden war, das Steuerproblem
des Staates zu lösen.
Am 17. Juni 1789 erklärten sich die Vertreter
des dritten Standes (Bürger und Bauern)
zur Nationalversammlung.
Nach dem Beitritt der Vertreter
des Klerus und des Adels
schafften die Vertreter der drei Stände
die Privilegien der Priester und Adligen ab.
Dies war die Geburtsstunde
der Französischen Revolution.
In der Nationalversammlung fiel Robespierre
mit radikalen Forderungen auf,
die aber zunächst von der gemäßigteren Mehrheit
nicht geteilt wurden. So setzte er sich
unter anderem für Pressefreiheit,
die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien,
die Aufhebung der Todesstrafe,
die Beseitigung der Privilegien des Klerus
sowie die Abschaffung des Zölibats ein.
Außerdem war er gegen das aufschiebende
Veto-Recht des Königs
in der ersten Verfassung von 1791
und sprach sich für das allgemeine Wahlrecht
für alle Männer aus. Für die Wahl
der Volksvertreter dürften keine anderen Kriterien gelten
als „die der Tugend und der Begabung“.
Zudem forderte er eine Beschränkung
von deren Amtszeit. Im August 1789
hatte Robespierre bereits einen Gesetzesentwurf
ausgearbeitet, welcher eine „ruhige Beratung“
in der Versammlung garantieren sollte,
so dass „ein jeder ohne Furcht vor Störungen
seine Meinung darlegen“ könne.
Bald galt Robespierre als radikaler Demokrat
und trat dem linken „Club der Jakobiner“ bei,
der sich regelmäßig in Paris traf.
Im März 1790 wurde er zu deren Präsident
und zum stellvertretenden Sekretär
der Nationalversammlung gewählt.
Im Oktober wurde er auch zum Richter
am Distriktgericht von Versailles gewählt.
Bis 1791 war Robespierre
trotz seiner radikalen Forderungen
ein Anhänger der konstitutionellen Monarchie.
Allerdings war er gleichwohl der Ansicht,
dass der König nicht das Recht haben sollte,
über Krieg und Frieden zu entscheiden.
Dieser würde nämlich im Zweifel
immer ein Interesse daran haben,
seine eigenen Machtbefugnisse zu erweitern,
die Vertreter der Nation würden hingegen
ein Interesse daran haben,
den Krieg zu verhindern.
Er änderte jedoch seine Meinung im Juni 1791,
als Ludwig XVI. mit der Flucht
nach Varennes heimlich versuchte,
Frankreich zu verlassen,
um die Revolution von außen zu zerstören.
Ludwig wurde nach Paris zurückgebracht
und blieb König.
Er bemühte sich jedoch weiterhin,
die Revolution mit Hilfe der anderen Königreiche
rückgängig zu machen, wodurch er
sowohl Robespierre und die Jakobiner
als auch die Girondisten weiter
gegen sich aufbrachte. Allerdings
war für Robespierre die Revolution weniger
durch einen Krieg mit den anderen
europäischen Nationen gefährdet
als durch die Helfer des Königs in Paris
und die Konterrevolutionäre.
Im Juni 1791 wurde Robespierre
zum öffentlichen Ankläger
am Kriminalgericht von Paris gewählt.
Ende des Jahres war er nicht mehr Abgeordneter
der Nationalversammlung,
da er zuvor die Begrenzung der Amtszeit
durchgesetzt hatte. Im April 1792
legte Robespierre auch sein Amt
als Ankläger am Kriminalgericht von Paris nieder,
um sich seinen Ruf als
„der Unbestechliche“ zu bewahren.
Nach dem Tuileriensturm am 10. August 1792
wurde der König von der Nationalversammlung
für abgesetzt erklärt. Am selben Tag
wurde Robespierre Mitglied der Kommune von Paris.
Im September 1792 befanden sich
die Armeen der Preußen und der Österreicher
auf dem Vormarsch. Paris war bedroht
und die zum Kampf bereiten Pariser
fühlten sich von den Anhängern des Königs bedroht.
Unter den in den Gefängnissen einsitzenden
Königstreuen und jenen,
die dafür gehalten wurden,
richteten sie daher ein Blutbad an.
Diesem Septembermassaker fielen
über tausend Menschen zum Opfer.
In dieser aufgeheizten Stimmung
wurde Robespierre mit 338 von 525 Stimmen
zum Mitglied der neuen Volksvertretung,
des Nationalkonvents, gewählt.
Gegen den König wurde Anklage
wegen Hochverrats erhoben.
Während die Girondisten und Danton
Partei für den König ergriffen,
schloss sich Robespierre in einer Rede
der Forderung von Louis Antoine de Saint-Just
nach des Königs Hinrichtung an,
da der König eine zu große Gefahr
für die Revolution darstelle.
Er erklärte den König zum Verräter Frankreichs
und zum Verbrecher an der Menschheit.
Der Nationalkonvent sprach sich am 18. Januar 1793
bei 361 zu 334 Stimmen
für die sofortige Hinrichtung Ludwigs XVI. aus.
Am 21. Januar wurde Ludwig XVI.
durch die Guillotine enthauptet.
Robespierre war es, der 1792
in einem Brief verkündete, dass es darum gehe,
auf den Trümmern des Thrones
die heilige Gleichheit einzurichten.
Die Gleichheit des Vermögens,
von der die Armen träumten, meinte er nicht.
Dies erklärte er im April 1793
vor dem Nationalkonvent und versicherte
den Reichen, dass er ihre Schätze
auf keinen Fall anrühren wolle.
Diese Gleichheit war auch nicht für Frauen vorgesehen.
Olympe de Gouges wurde 1793 verhaftet
und unter anderem für ihre Erklärung
der Rechte der Frau und Bürgerin,
in der sie die volle rechtliche, politische
und soziale Gleichstellung
beider Geschlechter forderte, hingerichtet.
Am 27. Juli 1793 wurde Robespierre
vom Nationalkonvent zum Mitglied
des zwölfköpfigen Wohlfahrtsausschusses berufen.
In der Folgezeit unterstützte Robespierre
alle Maßnahmen gegen sogenannte
„Feinde der Revolution“,
was ihm seinen Ruf als „Blutrichter“
der Französischen Revolution eintrug.
Am 30. März 1794 ließ der Wohlfahrtsausschuss
Danton und dessen Anhänger verhaften
und am 5. April auf der Guillotine hinrichten,
weil sie angeblich Teil einer
„Verschwörung des Auslands“ seien
mit dem Ziel, die Monarchie wiederherzustellen.
Im Nationalkonvent war zunächst Kritik
an den Verhaftungen laut geworden,
die Robespierre aber mit Drohungen
zum Schweigen brachte:
„Ich behaupte, dass, wer immer
in diesem Augenblick zittert, schuldig ist,
denn die Unschuld hat von der öffentlichen
Überwachung nichts zu befürchten.“
Insgesamt waren es in jenem April
258 Hinrichtungen auf Geheiß des Ausschusses.
Im Juni 1794 gab es 688 Hinrichtungen,
denn der von Robespierre
und Saint-Just dominierte Wohlfahrtsausschuss
erließ am 10. Juni 1794 ein neues Gesetz,
nach dem Angeklagten kein Rechtsbeistand
zukommen durfte und jeder
ohne einen Mehrheitsbeschluss des Konvents
vor das Revolutionstribunal
gebracht werden konnte.
Ihn unterstützten dabei seine engsten Vertrauten,
unter anderem Couthon und Saint-Just,
der allerdings zunächst gegen dieses Gesetz gewesen war.
Jedoch überzog Robespierre
im Wohlfahrtsausschuss seinen Machtanspruch
und verlor endgültig seinen Rückhalt im Konvent.
In seiner gesamten politischen Tätigkeit
bemühte sich Robespierre,
die Ideale Rousseaus zu verwirklichen.
Gemäß Jean-Jacques Rousseau erzeugen
alle Mitglieder einer Gemeinschaft
in freiwilliger Übereinkunft einen Gemeinwillen.
Der Gemeinwille orientiert sich am Gemeinwohl
und hat dabei immer Recht.
Er gilt absolut, auch wenn Einzelne ihn ablehnen.
Er ist nicht einfach der Wille der Mehrheit,
sondern derjenigen, die tugendhaft
und im Besitz der Wahrheit sind.
Jeder, der den Gemeinwillen angreift,
stellt sich außerhalb der aufgeklärten Gemeinschaft.
Für Robespierre bedeutete dies,
dass die Gegner der Republik nur die Wahl
zwischen einer Änderung ihrer Überzeugungen
und dem Tod haben durften.
Je grausamer die Regierung
gegenüber den Verrätern auftrete,
desto wohltätiger sei sie gegenüber
den braven Bürgern,
ließ Robespierre 1793 verlauten.
Die Terrorherrschaft war demzufolge
ein notwendiges Übel, um das Volk
für den von Rousseau empfohlenen
Gesellschaftsvertrag bereit zu machen.
Ohne Tugend, meinte Robespierre,
sei Terror verhängnisvoll,
ohne Terror die Tugend machtlos.
In den 15 Monaten zwischen dem 10. März 1793,
der Gründung des Revolutionstribunals,
und dem 10. Juni 1794 hatte das Revolutionstribunal
1579 Todesurteile verhängt.
In den nur 49 Tagen zwischen der Einführung
des Dekretes zur Verurteilung ohne Rechtsbeistand
und dem Sturz Robespierres am 27. Juli 1794
wurden 1376 Personen verurteilt.
Seit dem Frühjahr 1794 propagierte Robespierre
auch den „Kult des Höchsten Wesens“,
der im Mai 1794 in der Verfassung verankert wurde.
Am 26. Juli erschien Robespierre
für eine Rede vor dem Parlament.
Diese Rede dauerte etwa zwei Stunden.
Robespierre bekräftigte seine Überzeugung,
nur der Terror gegen das Verbrechen
verschaffe der Unschuld Sicherheit.
Er konnte aber keinen programmatischen Entwurf
für einen Weg aus der politischen Krise aufzeigen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich
die militärische Lage stabilisiert,
die Wirtschaft erholte sich,
der Wohlfahrtsausschuss hatte sich
als faktische Zentralgewalt etabliert.
Terror war gerade in den letzten Monaten
nur noch als Mittel der Machterhaltung
und teilweise zur Beseitigung
persönlicher Gegner und Rivalen
gebraucht worden. Robespierres Programm
lief aber auf eine immer weitere Verschärfung
des Terrors hinaus. Er spielte auf Verräter an,
die mit aller Härte bestraft werden müssten.
Er kenne sie, doch Namen nennen wolle er nicht.
Damit kündigte er eine neue „Säuberungswelle“ an.
Nun konnte jeder im Konvent betroffen sein.
Nach dem Dekret, welches auch Konvents-Mitglieder
der ungeschützten Willkür des Terrors aussetzte,
waren nach dieser Ankündigung kaum noch
Befürworter für die Erhaltung der Macht
Robespierres zu finden.
In der folgenden Nacht traf eine Koalition
von unterschiedlichen Politikern zusammen.
Viele befürchteten, als Verräter bezeichnet
und hingerichtet zu werden.
Andere strebten selbst nach der Macht
und wollten die Politik
nach ihren Vorstellungen gestalten.
Manche sahen durch ihn die Revolution verraten.
Robespierre selbst hatte mit seiner zunehmend
irrationalen Politik
zu dieser Koalition beigetragen.
Am nächsten Tag, dem „9. Thermidor“,
debattierte das Parlament
über den Wohlfahrtsausschuss.
Man wollte dem blindwütigen Terror
ein Ende setzen und seinen Führer entmachten.
Robespierre wollte sich verteidigen,
doch seine Worte gingen im Stimmentumult unter.
Schließlich wurde die Verhaftung
von Robespierre, Saint-Just und Georges Couthon
gefordert und einstimmig beschlossen.
Robespierre wurde abgeführt,
die von Robespierre und seinen Anhängern
etablierten Maßnahmen, die „Verdächtige“
weitgehend rechtlos stellten,
wandten sich gegen sie selbst.
Es gelang ihm jedoch, sich zu befreien
und sich mit aus dem Kerker befreiten Freunden
im Rathaus zu versammeln.
Nach dem von Léonard Bourdon geführten Sturm
der Nationalgarde auf das Stadthaus
wurde Robespierres Unterkiefer
von einer Kugel zerschmettert.
Einige seiner Kameraden, die sich
mit ihm verschanzt hatten,
begingen Selbstmord,
indem sie sich erschossen
oder aus dem Fenster sprangen.
Der schwerverletzte Robespierre
wurde notdürftig ärztlich behandelt.
Ob er versucht hatte, sich durch einen Schuss
in den Mund das Leben zu nehmen,
oder ob er von einer verirrten Kugel getroffen wurde,
ließ sich nie eindeutig klären.
Am 28. Juli 1794 wurden Robespierre
und 21 seiner Anhänger ohne vorherigen Prozess
durch die Guillotine enthauptet;
in den Tagen darauf
folgten noch 83 weitere Anhänger.
SIEBENTER GESANG
Mirabeaus Vater war der französische Volkswirt
und Schriftsteller Victor Riquetti,
Marquis de Mirabeau.
Mit drei Jahren erlitt Mirabeau
einen heftigen Pockenanfall,
der sein Gesicht entstellte.
Von seinem Vater erhielt er weder Zuwendung
noch finanzielle Unterstützung
und ging als junger Mann zum Militär.
Er wohnte seit 1771 in Paris,
wo er 1772 Marie Emilie de Marignane heiratete.
Auf Anzeige seines Vaters wurde er
von Ludwig XV. von seinen Besitzungen verbannt
und 1775 verhaftet.
In der Haftzeit – während der er das Gefängnis
Château de Joux verlassen durfte –
lernte er Marie Thérèse de Monniers kennen.
Beide verliebten sich ineinander
und flüchteten in die Schweiz.
Er wurde wegen Ehebruchs in Abwesenheit
zum Tode verurteilt
und 1777 wiederum verhaftet.
Es gelang ihm, sein Todesurteil
annullieren zu lassen.
Er musste aber bald wieder ins Exil gehen,
nachdem er sich in einen Prozess
zwischen seinen Eltern eingeschaltet hatte.
Vom Januar 1786 bis zum Januar 1787
hielt er sich zweimal für mehrere Monate
in Potsdam und Berlin auf.
In Braunschweig ist er Mitglied der Illuminaten
mit dem Ordensnamen Adramelech
oder Leonidas geworden.
Danach hielt er sich in Holland auf,
wo er in Amsterdam Freimaurer wurde.
Später zog er nach London.
Während der Anfangszeit
der Französischen Revolution
war Mirabeau Abgeordneter
und Wortführer des Dritten Standes
in den Generalständen.
1790 wurde er Präsident des Jakobinerclubs
und hielt 1791 den präsidialen Vorsitz
der Nationalversammlung.
Mirabeau starb am 2. April 1791 plötzlich,
sodass man einen Giftmord vermutet.
Er wurde in einem Staatsbegräbnis
im Panthéon beigesetzt.
Heinrich von Kleist schildert Mirabeau
in seinem Essay „Über die allmähliche Verfertigung
der Gedanken beim Reden“ sehr anschaulich:
„Mir fällt jener Donnerkeil des Mirabeau ein,
mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte,
der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung
des Königs am 23. Juni,
in welcher dieser den Ständen auseinanderzugehen
anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal,
in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte,
und sie befragte, ob sie den Befehl
des Königs vernommen hätten?
Ja, antwortete Mirabeau,
wir haben des Königs Befehl vernommen. –
Ich bin gewiss, dass er, bei diesem humanen Anfang,
noch nicht an die Bajonette dachte,
mit welchen er schloss: Ja, mein Herr,
wiederholte er, wir haben ihn vernommen. –
Man sieht, dass er noch gar nicht recht weiß,
was er will. Doch was berechtigt Sie
(fuhr er fort, und nun plötzlich
geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf)
uns hier Befehle anzudeuten?
Wir sind die Repräsentanten der Nation. –
Das war es, was er brauchte!
Die Nation gibt Befehle und empfängt keine. –
Um sich gleich auf den Gipfel
der Vermessenheit zu schwingen:
Und damit ich mich ihnen ganz deutlich erkläre
(und erst jetz findet er, was den ganzen Widerstand,
zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt)
so sagen Sie Ihrem Könige,
dass wir unsere Plätze anders nicht,
als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden. –
Worauf er sich, selbstzufrieden,
auf einen Stuhl niedersetzte.“
ACHTER GESANG
Sie erblickte am 2. November 1755
als letzte Tochter und fünfzehntes Kind
von Kaiserin Maria Theresia
und Kaiser Franz I. Stefan von Lothringen
in Wien das Licht der Welt
und erhielt die Namen Maria Antonia Josepha Johanna,
Erzherzogin von Österreich.
Sie wurde nach der Jungfrau Maria,
dem heiligen Antonius von Padua,
dem heiligen Josef
und dem heiligen Johannes benannt.
Kaiserin Maria Theresia hatte
bis zu der Entbindung des vorletzten Kindes
nie unter Problemen während
und nach den Geburten ihrer Kinder gelitten.
Doch während der Geburt von Maria Antonia
traten zum ersten Mal Komplikationen auf,
so dass um das Leben der Mutter
gefürchtet werden musste.
Die schwere Entbindung
und das Erdbeben von Lissabon,
das am 1. November 1755 stattgefunden
und zahlreiche Menschenleben gefordert hatte,
wurden als schlechte Vorzeichen
für den weiteren Lebensweg
der Erzherzogin gedeutet,
zumal der König und die Königin von Portugal
die Taufpaten des Kindes waren.
Maria Antonia (die französische Version
ihres Namens erhielt sie erst bei ihrer Hochzeit)
entwickelte sich zu einem Mädchen,
die mit ihrem fröhlichen Verhalten
die Erzieher beeindruckte.
Schon sehr früh zeigte sie einen Hang zur Unruhe
und mied oft die Unterrichtsstunden,
um sich zu zerstreuen.
Die Erzherzogin zeigte keinerlei Neigung,
sich zu konzentrieren
oder sich ihren Aufgaben zu widmen.
Maria Antonia verbrachte ihre Kindheit
im Kreis einer großen Familie,
die liebevoll und sittlich war.
Sie musste schon mit drei Jahren
genauso wie die anderen weiblichen
Familienmitglieder engste Korsetts tragen,
die ihr oft schwere Atemprobleme bereiteten.
Die Erziehung beruhte wie bei ihren Geschwistern
von frühester Kindheit an
auf einem Schulungsprogramm,
das Maria Theresia speziell
für ihre Kinder ausgearbeitet hatte.
Der Stundenplan für Maria Antonia
enthielt Tanz- und Musikunterricht
(Cembalo, Harfe und Gesang −
ihr Gesangslehrer war Gluck),
Theateraufführungen, Geschichte, Malen,
Rechtschreibung, Staatskunde, Mathematik
und Fremdsprachen. Die Mädchen
wurden zudem in Handarbeiten
und in der klugen und höflichen
Konversation unterwiesen.
Maria Theresia verfolgte das ehrgeizige Ziel,
die politischen Beziehungen Österreichs
zu den ausländischen Staaten
und die Stellung Österreichs
in Europa zu verbessern, und versuchte,
die kaiserlichen Kinder vorteilhaft zu verheiraten.
Sie schmiedete sehr früh Heiratspläne
für ihre 14 Kinder.
In ständiger Furcht vor Friedrich II. von Preußen
und vor Russland konzentrierte sie sich
bei diesen Eheplänen vor allem
auf die Erweiterung der familiären Verbindungen
zu den damals in Frankreich, Spanien,
Neapel-Sizilien und Parma regierenden Bourbonen.
Sowohl Maria Antonia wie auch ihre Geschwister
heirateten Personen, die ihre Mutter
für sie ausgesucht hatte.
Als erstes Heiratsprojekt
aus einer Reihe von geplanten Verbindungen
zwischen Bourbonen und Habsburgern
fand die Vermählung zwischen Erzherzog Joseph,
dem späteren Kaiser Joseph II.,
mit Maria Isabella von Bourbon-Parma statt.
Als Nächstes ehelichte Josephs Bruder Leopold,
der spätere Kaiser Leopold II.,
Prinzessin Maria Ludovika von Spanien.
Der dritte Sohn, Erzherzog Ferdinand Karl,
wurde mit der Erbin von Modena,
Herzogin Beatrix von Modena-Este, verheiratet.
Im Vergleich zu der reibungslosen Realisierung
der Heiratsprojekte ihrer Söhne
wurde Maria Theresia
bei den Eheverhandlungen ihrer Töchter
mit zahlreichen Problemen konfrontiert.
Die älteste Tochter, Erzherzogin Maria Anna,
blieb aufgrund ihrer schlechten Gesundheit
unverheiratet. Das kurz vor der Verwirklichung
stehende Heiratsprojekt zwischen
der hübschen Erzherzogin
Marie Elisabeth von Österreich
und dem französischen König Ludwig XV.
von Frankreich scheiterte
an einer Pockenerkrankung der Erzherzogin.
Während sich Erzherzogin Maria Christine
von Österreich ihren Ehemann,
Herzog Albert von Sachsen-Teschen,
selbst wählen durfte, wurde
Erzherzogin Maria Amalia von Österreich
gegen ihren Willen mit Herzog Ferdinand I.
von Bourbon-Parma verheiratet.
Erzherzogin Johanna Gabriele
und ihre Schwester Erzherzogin Maria Josepha
starben beide an den Pocken,
sodass Erzherzogin Maria Karolina von Österreich
den Platz als Braut von König Ferdinand I.
von Neapel-Sizilien einnahm.
Im Zuge dieser traditionellen Heiratspolitik
der Habsburger wurde frühzeitig
eine Eheschließung zwischen Maria Antonia
und dem Dauphin Louis-Auguste ins Auge gefasst.
Die Vermählung zwischen der österreichischen
Erzherzogin und dem französischen Dauphin
sollte das letzte und zugleich ehrgeizigste
Heiratsprojekt aus einer Reihe
von Eheschließungen zwischen Habsburgern
und Bourbonen sein und den Frieden
zwischen Frankreich und Österreich besiegeln.
Nach langwierigen Verhandlungen
ersuchte 1769 König Ludwig XV. von Frankreich
um die Hand der Erzherzogin Maria Antonia
für seinen Enkel und Erben, den Dauphin.
Nachdem der Heiratsvertrag unterzeichnet worden war,
analysierte Maria Theresia die Erziehung
ihrer Tochter Maria Antonia und bemerkte
gravierende Mängel in der Allgemeinbildung
und in der Beherrschung der französischen Sprache.
Erst jetzt wurden Erzieher,
Tanz- und Sprachlehrer engagiert,
die die österreichische Erzherzogin
innerhalb kürzester Zeit
auf das Amt einer französischen Königin
vorbereiten sollten. Von nun an bestand
die Kaiserin darauf, dass ihre Tochter
bis zu ihrer Abreise das Schlafgemach
mit der Mutter teilte.
Ihr Französischlehrer lobte ihre Freundlichkeit,
ihre Intelligenz und ihre musikalischen Fertigkeiten,
jedoch sei sie ansonsten weitgehend ungebildet.
Die Faulheit und insbesondere die Leichtfertigkeit
der Prinzessin mache es ihm schwer,
sie zu unterrichten.
Am 19. April 1770 fand die Vermählung
in der Augustinerkirche in Wien statt.
In den folgenden Tagen wurde die Abreise
von Maria Antonia vorbereitet,
und Maria Theresia versuchte,
das weinende Kind mit den Worten zu beruhigen:
„Seien Sie gut zu dem französischen Volk,
damit man sagen kann,
ich hätte ihm einen Engel geschickt.“
Das vierzehnjährige Mädchen
verabschiedete sich am 21. April 1770
von ihrer Mutter und von den Geschwistern in Wien
und trat mit einem imponierenden Brautzug
seine Reise nach Frankreich an.
Sie fuhr die Donau entlang,
und über München und Augsburg gelangte sie
unter anderem nach Ulm und Freiburg im Breisgau.
Danach erfolgte am 7. Mai die „Übergabe“
auf „neutralem Gebiet“,
einer unbewohnten Rheininsel vor Straßburg.
Im Rahmen dieser Übergabe
musste sich das junge Mädchen
von allen österreichischen Freunden
und Bekannten trennen
und vollständig entkleiden.
Anschließend wurde sie mit französischen
Gewändern bekleidet.
An diesem Tag wurde aus der österreichischen
Erzherzogin Maria Antonia
die französische Dauphine Marie Antoinette.
In Straßburg und in Saverne
war Marie Antoinette Gast
von Kardinal Louis de Rohan,
der später eine wichtige Rolle
in der Halsbandaffäre spielen sollte.
Erst am 16. Mai 1770 fand die eigentliche Vermählung
von Marie Antoinette und dem Dauphin
im Schloss Versailles statt,
und die Dauphine wurde offiziell
am französischen Hof eingeführt.
Ein Fest anlässlich der Hochzeit folgte dem anderen,
Empfänge, Bälle, Theaterveranstaltungen.
Als Abschlussveranstaltung war am 30. Mai 1770
ein riesiges Volksfest geplant,
das auf der Place Louis Quinze stattfand:
mit Musik, Feuerwerk, Wein, Brot und Fleisch
auf Staatskosten. Die Menschenmassen
drängten sich auf dem und rund um den Platz,
wo sich riesige, unzulänglich abgesicherte
Baugruben für Prachtbauten befanden.
Feuerwerkskörper, die krachend und zischend
in der Menschenmenge explodierten,
lösten eine Panik aus.
Die Festbesucher flüchteten nach allen Seiten,
stießen und drängten, viele stürzten
in die Baugruben oder wurden zu Tode getrampelt.
Das mangelhaft organisierte Fest
forderte 139 Tote und hunderte Verletzte.
Die Toten wurden auf dem Friedhof
cimetière de la Madeleine bestattet –
23 Jahre später wurde hier der Leichnam
der Königin in einem Massengrab verscharrt.
Am französischen Hof
fiel die junge und unerfahrene Marie Antoinette
meist negativ auf. Als erste Hofdame
wurde ihr die sittenstrenge
Madame Noailles zugewiesen,
doch Marie Antoinette fühlte sich
von der älteren Dame bevormundet
und bezeichnete sie zumeist als Madame l’Étiquette.
Der Prinzessin waren die französischen Sitten fremd,
und sie stützte sich fast ausschließlich
auf den österreichischen Botschafter,
den Grafen von Mercy-Argenteau.
Dieser war ihr von Maria Theresia
als Mentor beigegeben
und sollte zugleich Maria Theresia
auf dem Laufenden halten.
So entstand die berühmte Korrespondenz
Mercy-Argenteaus, eine wertvolle Chronik
von Marie Antoinettes Leben,
ihrer Heirat 1770, bis zum Tode
Maria Theresias im Jahr 1780.
In ihren ersten drei Ehejahren
stand sie nicht nur unter dem Einfluss von Mercy,
sondern auch unter dem von drei
unverheirateten Töchtern des Königs,
Adelaide, Madame Victoire und Madame Sophie.
Diese benutzten die naive und gutmütige Dauphine
für ihre diversen Ränkespiele,
die vornehmlich gegen die Mätresse
des Königs gerichtet waren,
die für die drei Damen eine Persona non grata war.
Beeinflusst durch die sogenannten Tanten
hegte Marie Antoinette eine große Abneigung
gegen die Mätresse Ludwigs XV.,
Madame Dubarry. Obwohl diese
viele Verbindungen am Hofe hatte,
weigerte sich die Dauphine, mit ihr zu sprechen,
und der Dubarry war es nicht gestattet,
das Wort an die künftige Königin zu richten.
Erst nachdem die Kronprinzessin
dem schriftlichen Rat ihrer Mutter folgte,
sich bei Hofe anzupassen,
sprach sie nach zwei Jahren
der Dubarry gegenüber die berühmten Worte
„Il y a bien du monde aujourd’hui à Versailles“.
Das waren die ersten und die letzten Worte,
die die Dauphine an Gräfin Dubarry richtete.
Nachdem Marie Antoinette
die Prinzessin Lamballe kennengelernt
und einen Zirkel eigener Freunde
um sich geschart hatte, wandte sie sich langsam
vom Einfluss der „Tanten“ ab,
was diese ihr mit zunehmender Missgunst dankten.
Die Dauphine begann die Möglichkeiten
ihrer Stellung auszunutzen und besuchte
Bälle oder die Pariser Oper,
auch protegierte sie den Komponisten Gluck,
ihren ehemaligen Gesangslehrer.
Eine ihrer Leidenschaften war das Pharo-Spiel,
bei dem sie immer wieder große Summen verspielte.
Sie gab monatlich etwa 15.000 Livres aus.
Ein Großteil der Franzosen hungerte
und diese Verschwendung trug
nicht zur Beliebtheit Marie Antoinettes bei.
Die Thronbesteigung des jungen Königspaars
nach dem Tod Ludwigs XV. im Mai 1774
wurde enthusiastisch begrüßt.
Ihre ersten Schritte brachten Marie Antoinette
aber bereits in offene Konflikte
mit der anti-österreichischen Partei.
So drängte sie hartnäckig auf die Entlassung
des Herzogs von Aiguillon und tat alles,
was in ihrer Macht stand,
um den früheren Außenminister Choiseul zu berufen,
der aufgrund einer Intrige der Madame Dubarry
sein Amt hatte aufgeben müssen.
Daher hatte sie alle Feinde Choiseuls
und der österreichischen Allianz gegen sich.
Die Tanten Ludwigs XVI.
nannten Marie Antoinette verächtlich
l’Autrichienne, „die Österreicherin“.
Dabei handelte es sich um ein Wortspiel,
da es im Französischen beinahe wie
l’autre chienne („die andere Hündin“)
ausgesprochen wird. Ihr legerer Umgang
mit der ihr verhassten Hofetikette
schockierte viele Höflinge,
und ihr Hang zu Vergnügungen
ließ sie die Gesellschaft des Bruders des Königs,
des späteren Königs Karl X.,
und seines jungen und ausschweifenden Zirkels suchen.
Marie Antoinette gehörte schon in Wien
zu den Schülerinnen des von ihr
an der Pariser Oper protégierten Gluck.
In Versailles nahm sie weiter Harfenunterricht
bei Philipp Joseph Hinner,
ihrem ursprünglich aus Wetzlar stammenden
Harfenlehrer („maître de harpe de la reine“).
Nach 1760 nahm die Harfenliteratur
in Paris deutlich zu. Dies wurde speziell
durch ihr Beispiel, unter anderem
durch ihre Harfenkonzerte
in ihrem Salon, begünstigt.
Ihre dynastische Hauptaufgabe –
Mutter eines Thronfolgers zu werden –
erfüllte Marie-Antoinette dagegen lange nicht.
Für das jahrelange Ausbleiben
eines männlichen Erben
machten die Öffentlichkeit und der Hof
die Königin selbst verantwortlich,
der in Schmähschriften statt Interesse an ihrem Mann
eine immer größere Anzahl an Affären
nachgesagt wurde. Ab dem Herbst 1774
wurden ihr in Pamphleten
auch lesbische Neigungen vorgeworfen.
Ihr verschwenderischer Lebensstil –
ihr Interesse galt Modefragen
und extravaganten Frisuren –
brachte sie ebenso in Misskredit
wie ihre freundschaftlich-geschäftliche Beziehung
zur Modistin Rose Bertin.
Über die Ausgaben für ihr kleines Schloss
Le Petit Trianon, das sie von Ludwig 1774
als Ort der Erholung abseits der Versailler Etikette
zum Geschenk erhielt, wurden
überzogene Berichte verbreitet.
Indem sie den Zugang zum Petit Trianon
auf ihre Freunde und Gönner reduzierte,
beleidigte sie die ausgeschlossenen
Mitglieder des Hofes.
Marie Antoinettes Freundschaft
zur Prinzessin Lamballe verlor an Intensität
und deren Stellung wurde zunehmend
von der Gräfin Polignac eingenommen.
Der Gräfin gelang es, mehr und mehr
Mitglieder ihrer eigenen Familie
an den Hof zu holen und durch Marie Antoinettes
Einflussnahme mit Ämtern und Titeln zu versehen,
was der Versailler Hof schlichtweg
als skandalös empfand.
Die Zahl ihrer Feinde und Neider wuchs.
Unter ihnen waren die Tanten des Königs,
der Graf von Provence,
der Herzog von Orléans
und seine Anhänger im Palais Royal.
In dieser kritischen Zeit besuchte ihr Bruder,
Kaiser Joseph II., Frankreich.
Er hinterließ der Königin ein Memorandum,
das ihr in unmissverständlichen Worten
die Gefahren ihres Verhaltens aufzeigte.
Joseph drängte das Königspaar zudem,
sich endlich der Frage der Nachkommenschaft
anzunehmen. Im Dezember 1778 wurde darauf –
nach acht Jahren Ehe
und vier Jahren auf dem französischen Thron –
die Tochter Marie Thérèse Charlotte,
Madame Royale, geboren,
die spätere Herzogin von Angoulême.
Nach der Geburt des Kindes,
das nicht der erhoffte männliche Erbe war,
lebte die Königin zurückgezogener.
Mit dem Tod ihrer Mutter Maria Theresia
am 29. November 1780
verlor Marie Antoinette eine strenge,
aber umsichtige Beraterin.
Die Stellung der Königin wurde
durch die lang erwartete Geburt des Dauphins
Louis Joseph Xavier François
am 22. Oktober 1781 gestärkt.
Auch hätte sie nach dem Tode des Ersten Ministers,
des Grafen von Maurepas,
erheblichen Einfluss auf die öffentlichen
Angelegenheiten ausüben können.
Der Einfluss der Familie Polignac
erreichte nun einen weiteren Höhepunkt.
Madame de Polignac gelang
die Ernennung Calonnes
zum Generalkontrolleur der Finanzen,
und sie folgte Madame de Guise
nach dem Konkurs des Prinzen Guise
als Gouvernante der Kinder.
Sie unterstützte auf Anraten Mercys
die Bestellung von Loménie de Brienne
zum Generalkontrolleur; eine Ernennung,
die zwar allgemein gutgeheißen wurde,
aber nach dessen Scheitern
der Königin zur Last gelegt wurde.
Von ihr war die Anekdote im Umlauf,
sie habe auf die Vorhaltung,
die Armen könnten sich kein Brot kaufen,
geantwortet: „Wenn sie kein Brot haben,
dann sollen sie Gebäck essen.“
Dieser Ausspruch wurde allerdings bereits
Jahre vor Marie Antoinettes Thronbesteigung
1774 von Jean-Jacques Rousseau um 1766 zitiert.
Im sechsten Buch seiner 1770 vollendeten
und 1782 veröffentlichten Autobiografie
Die Bekenntnisse findet sich die Stelle:
„Endlich erinnerte ich mich des Notbehelfs
einer großen Prinzessin, der man sagte,
die Bauern hätten kein Brot,
und die antwortete: Dann sollen sie Gebäck essen!“
Es könnte sich um eine Wanderanekdote handeln,
die auch schon der ersten Frau
von Ludwig XIV. zugeschrieben wurde.
Wie unpopulär Marie Antoinette nun war,
zeigte sich 1785 in einem Betrugsskandal,
der sogenannten Halsbandaffäre.
An dieser Affäre war Marie Antoinette
nicht aktiv beteiligt, doch ihr Lebenswandel
machte es dem Volk nahezu unmöglich,
an ihre Unschuld zu glauben.
Mit ihrem Weiler beim Petit Trianon,
in dem sie spielerisch das Leben
einer einfachen Bauersfrau nachahmte,
brüskierte sie den Hochadel
ebenso wie das Landvolk.
Marie Antoinette war aber oft auch
ein Opfer der Umstände,
die ihr häufig keine Wahl
zu umsichtigem Handeln ließen.
Als sie sich, mit den ewigen
Verschwendungsvorwürfen konfrontiert,
im Jahr 1783 in einem schlichten Leinenkleid
porträtieren ließ, gingen die Seidenweber
auf die Straßen und beklagten,
„eine Königin, die sich so schlecht kleide, sei schuld,
wenn die Seidenweber verhungerten“.
Am Tag nach Allerheiligen 1783
erlitt Marie Antoinette erneut eine Fehlgeburt
im dritten Monat ihrer Schwangerschaft.
Marie Antoinette gebar in den folgenden Jahren
zwei weitere Kinder,
am 27. März 1785 Louis-Charles,
Herzog der Normandie, später Dauphin
und von den Royalisten
als König Ludwig XVII. bezeichnet,
sowie am 9. Juli 1786 Sophie-Beatrix,
die allerdings elf Monate später verstarb.
Bei einem Theaterbesuch
kurz nach der Halsbandaffäre
wurde sie vom Publikum ausgebuht.
Nun erst wurde ihr klar,
was sich über Monate und Jahre
an Hass und Feindschaft gegenüber
dem Herrscherhaus beim Volke aufgestaut hatte.
Sie war nun bereit, ihren Lebensstil zu ändern,
und verzichtete auf kostspielige Annehmlichkeiten.
Es gab keine Hasardspiele mehr in ihren Salons,
Günstlinge in Trianon verloren ihre Positionen.
Sie mied das Theater, Bälle und Empfänge.
Sie zog sich in den Kreis ihrer Familie zurück,
wo sie sich mit den Kindern beschäftigte,
und versuchte ein neues, stilleres Leben zu führen.
Diese Einsicht kam jedoch zu spät.
Das Jahr 1789 stellte einen Wendepunkt
im Leben Marie Antoinettes dar.
Am 4. Juni 1789 starb ihr ältester Sohn.
Die schlechte Finanz- und Wirtschaftslage Frankreichs
sollte durch die Generalstände beraten werden.
Mit der Erklärung des dritten Standes,
sich als Nationalversammlung zu betrachten,
begann die Französische Revolution.
Am 5. und 6. Oktober 1789
zwangen die Revolutionäre
die königliche Familie,
von Versailles nach Paris
in den Tuilerienpalast umzuziehen.
Da Marie Antoinette sich in Paris hilflos
und isoliert vorkam, stützte sie sich
auf ihre Freunde außerhalb Frankreichs.
Am 20. Juni 1791 versuchte die königliche Familie,
ins Ausland zu fliehen.
Marie Antoinettes langjähriger Freund
Graf Hans Axel von Fersen
spielte bei der Flucht nach Varennes
eine führende Rolle. In Varennes
wurde der König erkannt und verhaftet.
Die königliche Familie wurde daraufhin
unter Bewachung nach Paris zurückgebracht.
Am 25. Juli 1792 veröffentlichte
der Oberbefehlshaber der gegen Frankreich
alliierten Truppen, Karl Wilhelm Ferdinand,
Herzog von Braunschweig-Lüneburg,
auf Bitten Marie Antoinettes
das sogenannte Manifest des Herzogs von Braunschweig.
In diesem wurde Gewalt samt der Zerstörung
von Paris für den Fall angedroht,
dass der königlichen Familie etwas zustoße.
Daraufhin stürmte das Volk am 10. August
die Tuilerien und brachte die königliche Familie
in den Temple, eine ehemalige Festung
des Templerordens. Dort wurde
die Königsfamilie zwar streng bewacht,
aber es gab immer noch Möglichkeiten,
mit der Außenwelt zu kommunizieren.
Die Teilnahmslosigkeit des Königs
führte dazu, dass die Königin
in den Verhandlungen mitwirkte.
Wegen ihrer Unerfahrenheit und Unkenntnis
sowie unsicherer Informationen aus dem Ausland,
war es schwierig für sie,
eine klare Politik zu verfolgen.
Ihre Haltung bei der Rückkehr
aus Varennes hatte Antoine Barnave beeindruckt,
der im Namen der Feuillants
und der konstitutionellen Partei
Kontakt mit ihr aufnahm.
Ungefähr ein Jahr verhandelte sie mit Mercy
und dem Kaiser Leopold II., ihrem Bruder.
In geheimen Botschaften versuchte sie
die Herrscher Europas
zu einer bewaffneten Intervention
zur Niederschlagung der Revolution zu bewegen.
Da sie merkte, dass Barnaves Partei
bald machtlos gegen die radikalen
Republikaner sein würde,
wurden ihre Appelle immer dringlicher.
Aber die Verhandlungen dauerten an.
Am 1. März 1792 starb Leopold II.,
ihm folgte Franz II.
Marie Antoinette fürchtete nicht zu Unrecht,
dass der neue Kaiser keine Intervention
zu ihren Gunsten wagen würde.
Während der Gefangenschaft
erkrankte Marie Antoinettes Sohn.
Am 21. Jänner 1793 wurde Ludwig XVI.
nach einem Schauprozess hingerichtet.
Durch Marie Antoinettes Freunde
wurden mehrere Versuche unternommen,
sie und ihre Kinder zu retten.
Auch mit Danton wurden Verhandlungen
über ihre Freilassung
oder einen Austausch geführt.
Man hatte ihr bereits ihren Sohn weggenommen
und trennte sie jetzt auch von ihrer Tochter
und von Madame Élisabeth,
der Schwester des Königs.
Am 1. August 1793 überstellte man sie
in das Conciergerie-Gefängnis.
Am 14. Oktober 1793 begann der Prozess
gegen die „Witwe Capet“.
Man beschuldigte sie des Hochverrats
und der Unzucht. Ihre Haltung
angesichts der Anschuldigungen
nötigte selbst manchen ihrer Feinde Respekt ab,
und ihre Antworten während der langen Verhöre
waren klar und durchdacht.
Die Geschworenen entschieden einstimmig
auf schuldig und verurteilten sie zum Tode.
Die Hinrichtung fand am 16. Oktober statt.
Um 12 Uhr wurde Marie Antoinette
auf dem Revolutionsplatz,
dem heutigen Place de la Concorde, enthauptet.
Eine Zeichnung des Malers Jacques-Louis David
zeigt die Verurteilte auf dem Henkerskarren
bei ihrer Fahrt zur Guillotine.
Er stand am Fenster, als sie unten
auf der Straße vorbeigefahren wurde.
Marie Antoinette wurde in einem Massengrab
in der Nähe der heutigen Kirche
La Madeleine verscharrt.
Mehr als 20 Jahre nach ihrem Tod
wurde ihr Leichnam exhumiert,
und Marie Antoinette wurde nun
in der Basilika Saint-Denis in Saint-Denis,
der traditionellen Grablege
der französischen Könige,
an der Seite ihres Gatten beigesetzt.
NEUNTER GESANG
Nach der Eröffnung der Generalstände
durch König Ludwig XVI. am 5. Mai 1789
kam es in Frankreich und insbesondere in Paris
zur Gründung politischer Klubs.
Als sich am 17. Juni 1789
die Nationalversammlung konstituierte
und drei Tage später schwor,
erst dann wieder auseinanderzugehen,
wenn sie eine Verfassung geschaffen hätte
(Ballhausschwur), bildeten sich
ausgehend von den Klubs politische Lager
mit unterschiedlichen Auffassungen.
Ursprünglich wurde der Klub
am 30. April 1789 als Bretonischer Klub gegründet.
Dieser stellte seine Aktivitäten im August 1789 ein,
da keine Einigung über das Vetorecht
des Königs zustande kam.
Nach einer Anregung von Sieyès im Oktober
gründete Claude-Christophe Gourdan
im Dezember des Jahres unter dem Namen
„Gesellschaft der Freunde der Verfassung“
den Klub neu. Als Versammlungsort
hatte er die ehemalige Bücherei
des Jakobinerklosters in Paris gefunden.
In den folgenden Monaten entstanden
in ganz Frankreich eine Vielzahl
von Revolutionsklubs,
in denen in den wirren Monaten bis 1791
die als Cordeliers bezeichneten
radikalen Demokraten wie
Louis-Antoine-Léon de Saint-Just,
Jean Paul Marat und Georges Danton
immer mehr dominierten.
Die meisten der gemäßigten „Feuillants“,
die das Modell einer konstitutionellen
Monarchie vertraten, waren
bis zum Sommer 1791 aus dem Klub ausgeschieden.
Durchdrungen von den Gedanken
Jean-Jacques Rousseaus wollten sie
die in der Französischen Revolution erreichte
konstitutionelle Monarchie
durch eine Republik ersetzen.
Durch Flugblätter, Zeitungsartikel
und demagogische Reden
beeinflussten sie zunehmend die Massen
und fanden im ganzen Land Anhänger.
Vor allem das einfache Volk, die Arbeiter
und Kleinbürger, Sansculotten genannt,
waren auf Seiten der Jakobiner.
Diese waren fester organisiert
als andere politische Klubs
und unterhielten ein Netz von Filialgesellschaften
in den Provinzen, so dass sie auch dort
durch Flugblätter, Zeitungsartikel
und demagogische Reden
auf die öffentliche Meinung einwirken konnten.
Die Französische Revolution war ein Prozess,
weshalb auch langjährige Klubmitglieder
ihre ursprünglichen politischen Meinungen änderten.
So war Maximilien de Robespierre
ursprünglich Monarchist,
den soziale Fragen nicht interessierten.
Die Jakobiner machten Politik für das einfache Volk.
Arbeiter und Kleinbürger waren ursprünglich
gegen den Krieg, forderten den Verkauf
der Nationalgüter – das war der enteignete Besitz
der Kirche und von Emigranten –
in kleinen Parzellen, wollten ein geeintes,
zentralistisches Frankreich
und forderten eine Plan-Wirtschaft.
1792 erzwangen die Jakobiner
gegen den Willen ihrer gemäßigten Gegenspieler,
der Girondisten, einen Prozess gegen den König.
Unter der Führung von Maximilien de Robespierre
errichteten sie ab 1793 ein Schreckensregime,
die Terrorherrschaft,
die hauptsächlich durch Massenhinrichtung
politischer Gegner, energische und blutige
Unterdrückung von konterrevolutionären
Bewegungen in den Provinzen
und durch eine Zwangswirtschaft
gekennzeichnet war. 1793 ließen
die Jakobiner eine von den Ideen Rousseaus
beeinflusste Verfassung verabschieden,
die die direkte Demokratie stärkte,
ein verpflichtendes Staatsziel
(das „allgemeine Glück“) annahm
und soziale Rechte (auf Arbeit
und Bildung) enthielt. Diese Verfassung
wurde aber nicht in Kraft gesetzt;
bis zum Sieg über die Feinde
müsse die Terror nach Robespierres Meinung
fortgesetzt werden. Während die Jakobiner
damit ihr eigenes Ideal von Freiheit verrieten,
gelang es ihnen, die inneren und äußeren
Gegner der Revolution zu besiegen.
Allerdings verloren sie durch den Terror
mehr und mehr Anhänger.
Im Sommer 1794 wurden
zu den Höchstpreisen auch Höchstlöhne eingeführt,
weshalb sich auch das Interesse der Sansculotten
an der jakobinischen Politik verringerte.
Im Juli siegte die Revolutionsarmee
bei Fleurus entscheidend.
Zwangsmaßnahmen schienen jetzt
nicht mehr so dringend nötig.
Durch die Hinrichtung einstiger Gefährten
verlor Robespierre seinen Rückhalt im Konvent.
Am 27. Juli 1794 wurde er gestürzt
und am 28. Juli 1794 hingerichtet.
Das war das Ende des Terrors.
Am 11. November 1794 wurde
der Pariser Jakobinerklub geschlossen.
In der Folgezeit musste das Direktorium
aber noch immer mit jakobinischen
Aufständen rechnen. So sammelten sich
1796 ehemalige Jakobiner,
Sansculotten und Sozialrevolutionäre
um die von François Noël Babeuf
initiierte Verschwörung der Gleichen
mit dem Ziel, das Direktorium zu stürzen
und eine kommunistische Gesellschaft
in Frankreich durchzusetzen.
In den von Frankreich besetzten
oberitalienischen Regionen Piemont
und Lombardei versuchte Filippo Buonarroti,
einer der Wortführer der Gleichen,
mit Hilfe italienischer Jakobiner,
Aufstände anzuzetteln.
Die Pläne und Maßnahmen
der Verschwörung der Gleichen
wurden jedoch schon relativ früh verraten,
ihre Anführer im Mai 1796 verhaftet
und im darauffolgenden Jahr
entweder zum Tode (Babeuf)
oder zur Verbannung (Buonarroti) verurteilt.
Von ihren Gegnern wird der Name „Jakobiner“
beleidigend genutzt: Wer so bezeichnet wurde,
wird öffentlich als Königsmörder gebrandmarkt.
ZEHNTER GESANG
Danton stammte aus einer kleinbürgerlichen Familie.
Sein Vater war der Steuerbevollmächtigte
Jacques Danton, seine Mutter Madeleine
war eine geborene Camut.
Er war das sechste von sieben überlebenden
Kindern der Eheleute. Als er zwei Jahre alt war,
starb sein Vater. 1770 heiratete seine Mutter
den Besitzer einer Baumwollspinnerei
Jean Recordain. Als Junge hatte er
zwei Unfälle mit Rindern,
von denen er eine gespaltene, wulstige Oberlippe
und eine eingedrückte Nase davontrug.
Außerdem hatten die Pocken
Narben in seinem Gesicht hinterlassen.
Er besuchte zunächst die Schule in Sézanne
und verließ dann dreizehnjährig sein Elternhaus,
um in das Priesterseminar in Troyes einzutreten;
zusätzlich nahm er am Schulunterricht
der dortigen Oratorianer teil.
Im Juli 1775 wanderte er auf eigene Faust nach Reims,
um an der Königsweihe Ludwigs XVI. teilzunehmen.
1775 verließ er Schule und Seminar.
1780 ging er nach Paris und wurde Schreiber
bei einem Anwalt beim Parlament.
Hier lernte er die Praxis des französischen
Rechtswesens kennen und las auch
die gängige aufklärerische Literatur seiner Zeit.
1784 legte er in Reims das juristische Examen ab
und durfte sich fortan Advokat nennen.
Für das Jahr 1788 wird er in den Registern
der Freimaurerloge Neuf Soeurs erwähnt.
1787 kaufte er dem Anwalt Charles-Nicolas Huet
für 68.000 Livres die Klientel
und den Titel eines der 73 Rechtsanwälte
bei den Conseils du Roi ab.
Das Geld musste er sich großenteils leihen,
wobei ihm Verwandte aus Arcis
und sein künftiger Schwiegervater halfen.
Außerdem musste Danton eine weitere
juristische Prüfung einer lateinisch
gehaltenen Rede über ein vorgegebenes Thema ablegen,
was ihm im Juli 1787 gelang.
Anschließend konnte er sich als Anwalt installieren.
Bis zum Rückkauf aller gekauften Ämter
im Jahre 1791 führte „maitre d'Anton“,
wie er sich nun nannte
(das eingefügte Apostroph sollte
einen Adelstitel suggerieren) 22 Prozesse.
Diese Tätigkeit erlaubte ihm und seiner Familie –
er hatte im Juni 1787 geheiratet –
ein auskömmliches Leben
in einer Sechszimmerwohnung
in der rue des Cordeliers, nur wenige Häuser entfernt
von Jean-Paul Marat.
Im Juli 1789 meldete er sich freiwillig
zur Garde nationale im Pariser Distrikt
der Cordeliers, zu dessen Präsidenten er
im Oktober gewählt wurde.
Nach der Aufhebung der Distrikte 1790
engagierte er sich gemeinsam
mit Camille Desmoulins und Jean Paul Marat
im radikalen Club des Cordeliers,
wenig später begann er auch
den Jakobinerclub zu besuchen.
Danton beteiligte sich nach der misslungenen Flucht
des Königs Ludwig XVI.
als engagierter Befürworter einer Republik
an einer Versammlung auf dem Marsfeld,
die am 17. Juli 1791
in einer Unterschriftensammlung
den Sturz des Königs sowie
die Einführung der Republik forderte.
Dabei feuerten Soldaten der Regierung in die Menge.
Als Mitorganisator des Protestes wurde Danton
polizeilich gesucht, entzog sich aber seiner Verhaftung
durch eine Flucht, zunächst nach Arcis-sur-Aube,
dann nach London, von wo er anlässlich
der Wahlen zur Gesetzgebenden Nationalversammlung
im September 1791 zurückkehrte.
Danton wurde als Wahlmann
der Pariser Sektion Théâtre Français gewählt.
Im gleichen Jahr wurde er zum Stellvertreter
des Staatsanwalts der Kommune von Paris gewählt.
Nach eigenen Angaben spielte Danton
durch diese Propaganda
eine wesentliche Rolle beim Sturm
auf die Tuilerien und der Inhaftierung
der königlichen Familie am 10. August 1792.
Im selben Jahr übernahm er den Posten
des Justizministers im mehrheitlich
girondistischen Exekutivrat, wo er bald
eine dominierende Rolle spielte.
Während des Ersten Koalitionskriegs
trat er für entschlossenen Widerstand
gegen die Invasionstruppen ein.
Gegen Innenminister Jean-Marie Roland de La Platière
setzte er durch, dass die Regierung in Paris blieb
und nicht in das sicherer scheinende Gebiet
südlich der Loire floh.
Während der Septembermorde des Jahres 1792
schritt er nicht ein. Laut Madame Roland
erklärte er, das Schicksal der Gefängnisinsassen
sei ihm vollkommen gleichgültig.
Im September 1792 wurde Danton
als Abgeordneter für Paris
in den Nationalkonvent gewählt,
woraufhin er sein Ministeramt niederlegte.
Im Nationalkonvent suchte Danton
zunächst den Ausgleich zwischen den Parteien,
der jakobinischen Bergpartei
und den regierenden Girondisten.
Diese jedoch versuchten die Opposition
zu vernichten und erhoben
Korruptionsvorwürfe
gegen den ehemaligen Minister Danton,
weshalb dieser sich der demokratischen
Opposition annäherte. An der Debatte darüber,
ob der ehemalige König Ludwig XVI.
hingerichtet werden sollte, nahm Danton nicht teil,
weil er sich auf Truppenbesuch
bei General Charles-François Dumouriez
in Belgien aufhielt. Bei der Abstimmung im Konvent
votierte er für die Todesstrafe.
Am 31. Januar 1793 sprach sich Danton
für die Annexion Belgiens
und weiterer Gebiete aus:
„Frankreichs Grenzen sind
von der Natur vorgezeichnet.
Wir werden sie in vier Richtungen erreichen:
Am Ozean, am Rhein, an den Alpen, an den Pyrenäen.“
Nach Dumouriez‘ Misserfolgen und Verrat
rief er wie schon im Jahr zuvor
zu verstärkten militärischen Anstrengungen auf.
Am 9. März 1793 machte er sich
die Forderung mehrerer Sektionen
nach einem außerordentlichen Gerichtshof
zur Aburteilung feindlicher Agenten
im Innern zu eigen: In Anspielung
auf die Septembermorde rief er aus:
„Wir müssen das tun, was die gesetzgebende
Versammlung nicht getan hat:
wir müssen schrecklich sein,
um dem Volk zu ersparen, es zu sein“.
Am 10. März wurden vom Konvent
gegen die Stimmen der Girondisten,
die Danton vorwarfen, er strebe
nach der Diktatur,
die Revolutionstribunale beschlossen.
Sein weiterer Vorschlag, ein Komitee
mit weitreichenden Exekutivvollmachten
einzurichten, wurde zunächst zurückgewiesen.
Weil Danton kurz zuvor als Abgesandter
des Konvents zu Dumouriez geschickt worden war,
bezichtigten ihn die Girondisten,
mit dem General gemeinsame Sache zu machen;
Danton drehte den Vorwurf am 1. April geschickt um
und trug so zum Niedergang der Girondisten bei.
Am 6. April 1793 wurde der von Danton
vorgeschlagene Wohlfahrtsausschuss
schließlich eingerichtet, in dem Danton
ein dominierendes Mitglied wurde.
Nach dem gewaltsamen Sturz der Girondisten
durch die Erhebung der Pariser Sansculotten
vom 31. Mai bis 2. Juni 1793 verbündete er sich
endgültig mit der jakobinischen Bergpartei.
„Ohne die Kanonen vom 31. Mai,
ohne den Aufstand, würden
die Verschwörer triumphieren“,
rief er am 13. Juni 1793 aus.
Trotz seiner wirkungsvollen Rhetorik
blieben die konkreten Abwehrmaßnahmen
von Dantons Wohlfahrtsausschuss kraftlos
und ohne große Erfolge. Seine Versuche,
durch diplomatische Verhandlungen
mit dem britischen Außenminister Lord Grenville
eine Lösung der Krise zu finden,
scheiterten rasch und trugen ihm
Verdächtigungen von Cordeliers ein,
er plane, die gefangene Königin
Marie Antoinette freizulassen
oder sogar die radikalen Demokraten
wiedereinzuführen. Dies führte zum Bruch
zwischen Danton und seinen Anhängern
und den Cordeliers. Bei der Neuwahl
des Wohlfahrtsausschuss am 10. Juli 1793
wurde er nicht wiedergewählt.
Stattdessen übernahm er am 25. Juli
den Vorsitz des Nationalkonvents.
In dieser Position forderte Danton
in einer Rede am 1. August 1793,
angesichts der Bedrohungen der Revolution
durch den Koalitionskrieg und den Aufstand
der Vendée
den Wohlfahrtsausschuss des Nationalkonvents
als Notstandsregierung einzusetzen.
Darin rief er erneut zu Terrormaßnahmen
gegen die Feinde der Revolution
und einer verstärkten Anstrengung im Krieg auf.
Nachdem der Wohlfahrtsausschuss
am 10. Oktober tatsächlich die
von ihm geforderten unbeschränkten
Vollmachten erhalten hatte,
zog sich Danton für mehrere Wochen
nach Arcis-sur-Aube zurück.
Als Danton im November 1793
nach Paris zurückkehrte,
war die Kampagne der Hébertisten
für eine radikale Entchristlichung
In vollem Gange.
Danton solidarisierte sich mit Robespierre,
der gegen diese Bewegung vorging.
Unter Wortführung Camille Desmoulins‘,
des Herausgebers des Vieux cordelier,
polemisierten die Dantonisten
gegen die Hébertisten
und die radikalen Revolutionäre,
denen sie unterstellten, allesamt Agenten
des britischen Premierministers William Pitt zu sein.
Am 1. Dezember 1793 erklärte Danton,
die Sansculotten, die wiederholt
mit Piken bewaffnet in die Politik eingegriffen hatten,
hätten nun ausgespielt:
„Wir müssen uns bewusst sein,
dass man mit der Pike wohl den Umsturz schafft,
dass man aber das Gebäude der Gesellschaft
nur mit dem Kompass der Vernunft
und des Geistes erreichen und fest verankern kann.“
Deswegen wurden Danton und seine Anhänger
von Robespierre abschätzig
„die Nachgiebigen“ genannt.
Im März 1794 beendete der Wohlfahrtsausschuss
die Polemik zwischen den Dantonisten,
die für eine Mäßigung des Terrors eintraten,
und den Hébertisten, die seine Verschärfung verlangten,
indem er letztere zum Tode verurteilen ließ.
Noch vor der Hinrichtung Jacques-René Héberts
beschloss der Wohlfahrtsausschuss
auch die Verhaftung Dantons und seiner Anhänger.
Ihr Sprachrohr, der Vieux cordelier,
durfte nicht mehr erscheinen.
Robespierre erklärte, gemeinsam
mit den von ihnen bekämpften Hébertisten
seien die Dantonisten Teil
der „Verschwörung des Auslands“,
deren Ziel eine Niederlage Frankreichs
im Koalitionskrieg sei.
Trotz wiederholter Warnungen kehrte Danton,
der sich zu einem Kurzurlaub in Sèvres aufhielt,
am 29. März nach Paris zurück,
weil er sich nicht vorstellen konnte,
dass sich der Terror gegen ihn selbst richten würde:
„Sie werden es nicht wagen“,
hatte er wiederholt gesagt.
Am 30. März 1794 wurde Danton
gemeinsam mit Desmoulins,
Jean-François Delacroix und Pierre Philippeaux
verhaftet und zunächst
in das Luxembourg-Gefängnis verbracht.
Im Nationalkonvent wurde am gleichen Tag
zunächst Kritik an den Verhaftungen laut,
die Robespierre mit Drohungen
zum Schweigen brachte:
„Ich behaupte, dass, wer immer in diesem Augenblick
zittert, schuldig ist, denn die Unschuld
hat von der öffentlichen Überwachung
nichts zu befürchten.“
Saint-Just trug die Vorwürfe
gegen die Dantonisten
im Zusammenhang vor:
Beide Fraktionen, Héberts „falsche Patrioten“
und Dantons „Nachgiebige“,
würden bei aller Gegensätzlichkeit
in Wahrheit dasselbe Ziel verfolgen,
nämlich die Revolution rückgängig zu machen.
Es gebe nur zwei politische Richtungen
in Frankreich, die wahren Patrioten
und die bestechlichen
„Komplizen des Auslands“.
Ausführlich ließ Saint-Just die nicht immer
konsequenten Handlungen und Unterlassungen
Dantons und seine persönlichen Beziehungen
seit 1790 Revue passieren und deutete sie alle
als Belege für konterrevolutionäre
Konspiration und Korruption:
„Ich bin davon überzeugt, dass diese Fraktion
der Nachsichtigen mit allen anderen verbunden ist,
dass sie immer scheinheilig war,
zunächst an die neue Dynastie verkauft,
dann an alle Fraktionen.
Es ist klar, dass sie das Ziel verfolgten,
das Ende des gegenwärtigen Regimes herbeizuführen,
und es ist offensichtlich, dass es die Monarchie war,
die man an seine Stelle setzen wollte!“
Der Konvent stimmte daraufhin einstimmig dafür,
Danton und seine Freunde als royalistische
Verschwörer anzuklagen.
Die Verhafteten wurden nun in die Conciergerie überstellt.
Gegen seine erklärte Absicht, sich selbst zu verteidigen,
bekam Danton einen Pflichtverteidiger zugewiesen.
Im Prozess vor dem Revolutionstribunal,
der am 2. April unter dem Vorsitz
von Martial Joseph Armand Herman
in der Salle de la Liberté des Justizpalastes
eröffnet wurde, pflichtete er zumeist
dem Ankläger Antoine Quentin Fouquier-Tinville bei.
Unter den insgesamt vierzehn Angeklagten
befanden sich neben Danton
und seinen oben erwähnten Anhängern
auch Fabre d’Eglatine,
General François-Joseph Westermann,
der den Vendée-Aufstand niedergeschlagen hatte,
der Abgeordnete Marie-Jean Hérault de Séchelles
sowie einige bestechliche Konventsabgeordnete,
angebliche Agenten des Auslands und Spekulanten.
Diese Kombination politischer und finanzieller
Delikte sollte einen Schuldspruch garantieren.
Die Richter waren für den Fall, dass sie Milde zeigten,
mit Bestrafung bedroht worden,
und statt der üblichen zwölf
gab es nur sieben Geschworene,
da man für die heikle Aufgabe,
den beliebten Revolutionär abzuurteilen,
sonst niemand fand.
Während des Prozesses gab Danton
sarkastische Bonmots zum Besten.
So erwiderte er zu Beginn auf die Frage
nach seinem Wohnort: „Bald im Nichts,
danach im Pantheon der Geschichte!
Was macht es mir schon aus!“
Er forderte, Entlastungszeugen vorzuladen
und im Konvent einen Ausschuss zu bilden,
der das diktatorische System
des Wohlfahrtsausschusses untersuchen solle.
Am 3. April hielt er eine großangelegte
Verteidigungsrede, in der er alle Vorwürfe
der Anklage zurückwies und sich
als konsequenten und uneigennützigen
Kämpfer für die Revolution darstellte.
Da das Protokoll des Prozesses
als unzuverlässig gilt, besteht
über den genauen Inhalt seiner Ausführungen
keine Sicherheit. Es scheint ihm jedoch
gelungen zu sein, das Publikum
auf seine Seite zu ziehen. Richter Herman
unterbrach nach einigen Stunden Dantons Rede
und schlug vor, den Rest auf den Folgetag
zu verschieben. Danton willigte ein,
bekam am folgenden Tag das Wort
aber nicht wieder erteilt. Zunächst wurden
die Aussagen anderer Angeklagter gehört,
dann brachte ein Bote einen Beschluss des Konvents,
wonach „jeder Verschwörer,
der sich Gerichtsbarkeit der Nation widersetzt
oder sie beschimpft, von der Sitzung
ausgeschlossen werden“ könne.
Dieser Beschluss, um den Fouquier-Tinville
und Herman dringlich gebeten hatten,
war von Saint-Just ohne Aussprache
durchs Parlament beschlossen worden.
Herman wendete ihn am 5. April an,
als die Angeklagten heftig
gegen Fouquier-Tinvilles Vorschlag protestierten,
die Anhörung vorzeitig zu beenden,
falls die Geschworenen sich für hinreichend
informiert erklärten. Alle Angeklagten
wurden zurück in die Conciergerie gebracht.
Im Gerichtssaal wurde anschließend
ein angebliches Beweisstück präsentiert:
Ein in Dantons Wohnung gefundener Brief
eines englischen Agenten vom September 1793,
der einen Bankier anwies, „C.D.“
für konterrevolutionäre Dienste zu entlohnen.
Das konnte „citoyen Danton“ heißen,
aber auch „Camille Desmoulins“,
die Zuordnung ist nicht sicher.
Die Geschworenen erklärten sich nun
für hinreichend informiert und sprachen
alle vierzehn Angeklagten schuldig;
ein klarer Justizmord.
Das Todesurteil wurde den Angeklagten
von einem Gerichtsdiener im Gefängnis vorgelesen,
anschließend wurden sie auf Karren
zur Place de la Révolution transportiert,
wo die Guillotine stand.
Danton bestieg als letzter der Vierzehn das Schafott.
Seine letzten Worte waren an den Henker gerichtet:
„Vergiss vor allem nicht,
dem Volk meinen Kopf zu zeigen;
er ist gut anzusehen“.
Sein Leichnam wurde in einem Massengrab
auf dem Cimetière des Errancis bestattet.
ELFTER GESANG
Der Wohlfahrtsausschuss diente
als Exekutivorgan des Nationalkonvents.
Hatte er anfangs 25 Mitglieder,
so änderte sich die Organisation bereits
mit dem 6. April, als der Wohlfahrtsausschuss
vom eigentlichen Sicherheitsausschuss
getrennt wurde und nun neun
(später zwölf) Mitglieder hatte.
Seine Hauptaufgabe bestand ursprünglich
in der Kontrolle des Konvents und der Regierung.
Die Koordination der Verteidigung
der Revolution nach innen und außen
gehörte auch zu seinen Aufgaben.
In dringenden Fällen konnte er auch
die Verfügungen der Minister suspendieren
und selbständig nötige Maßregeln ergreifen.
Seine Vollmacht war auf einen Monat beschränkt
und musste dann erneuert werden,
wie auch die Mitglieder nur
auf einen Monat gewählt waren.
Nachdem die weniger radikalen Girondisten
Mitte 1793 beseitigt worden waren,
gelang es den Führern der Jakobiner
(Robespierre, Danton und Saint-Just),
den Ausschuss unter ihre Kontrolle zu bringen.
Sie bauten den Wohlfahrtsausschuss
bis Ende 1793 zur zentralen Schaltstelle der Macht um.
Am 10. Oktober erhielt das Gremium
unbeschränkte Vollmachten zugebilligt.
Vor allem unter dem Einfluss Robespierres
wurde der Wohlfahrtsausschuss,
ausgestattet mit diktatorischen Vollmachten,
zum Organ der jakobinischen Schreckensherrschaft.
Die Terrormaßnahmen durch den Wohlfahrtsausschuss
und das Revolutionstribunal
führten letztlich zu Sturz und Hinrichtung Robespierres
und seiner Anhänger am 27./28. Juli 1794.
Die Einflussmöglichkeiten des Ausschusses
wurden danach auf die Leitung
der militärischen und diplomatischen
Geschäfte begrenzt. Im Oktober 1795
wurde er schließlich ganz aufgelöst.
ZWÖLFTER GESANG
Marie Anne Charlotte Corday d’Armont
wird meist kurz als Charlotte Corday bezeichnet,
obwohl sie selbst ihre Korrespondenz
stets mit Marie Corday
oder nur mit Corday signierte.
Einer verarmten Familie
des alten normannischen Kleinadels entstammend
war sie die zweite Tochter
von Jacques-François de Corday d’Armont
und seiner Gattin Charlotte-Jacqueline-Marie
de Gautier des Authieux de Mesnival.
Sie wurde in der ehemaligen Ortschaft Les Ligneries
im Weiler Ronceray geboren
und in der Kirche Saint-Saturnin katholisch getauft.
Sie hatte zwei Brüder,
Jacques-François-Alexis
und Charles-Jacques-François,
sowie zwei Schwestern,
Marie-Charlotte-Jacqueline, die als Kind verstarb,
und Jacqueline-Jeanne-Éléonore.
In den 1770er Jahren zog sie mit ihren Eltern
in die nächste größere Stadt Caen um.
Ihr Vater, sechstes Kind von Jacques-Adrien de Corday
und Marie de Belleau,
hatte als Leutnant in der Armee
des französischen Königs gedient
und war um 1763 aus dem Militärdienst ausgeschieden.
Er war Opfer der Erstgeburtsgesetze,
da er ihretwegen in für seinen Stand sehr bescheidenen
finanziellen Verhältnissen leben musste.
In einer Schrift L’égalité des partages, fille de la justice
wandte er sich 1790 gegen das Erstgeburtsrecht.
Die Mutter von Charlotte Corday
starb bereits am 8. April 1782 im Kindbett.
Nachdem sich der Vater vergeblich
um einen Platz für seine Töchter
in dem prestigeträchtigen Maison de Saint-Cyr
bemüht hatte, konnte er die damals 13-jährige
Charlotte und ihre jüngere Schwester
in Caen in der römisch-katholischen Abtei
Sainte-Trinité unterbringen,
in der eine von Charlotte Cordays Tanten,
Madame de Louvagny, als Nonne lebte.
Indessen war die Abtei keine Erziehungsanstalt
und nur der König hatte das Recht,
hier fünf dem armen normannischen Adel angehörige
Mädchen beherbergen zu lassen.
Die Gunst, seine Töchter aufzunehmen,
wurde Jacques-François de Corday wohl
dank der Vermittlung von Madame de Pontécoulant,
der Stellvertreterin der Äbtissin
Madame de Belsunce, gewährt.
Charlotte Corday freundete sich
mit zwei Mitschülerinnen an,
Mademoiselle de Faudois
und Mademoiselle de Forbin.
Laut einem Brief von Madame de Pontécoulant
ließ sie sich nicht anmerken,
wenn sie einmal krank war.
Sie genoss relativ viele Freiheiten
und entwickelte einen stolzen, energischen
und selbständigen Charakter.
Royalistisch gesinnte Autoren
dichteten ihr eine Liebesbeziehung
zum jungen de Belsunce,
dem Neffen der Äbtissin, an.
Früh wurde sie mit den Ideen der Aufklärung vertraut.
In der Klosterbibliothek las sie die Bibel
sowie Werke von Guillaume Thomas François Raynal,
Jean-Jacques Rousseau und Voltaire.
Sie wurde bei ihrem späteren Attentat auf Marat
durch die Figur der alttestamentlichen
Judith inspiriert.
Beispielhaft dürften für sie auch
in Plutarchs Viten beschriebene,
republikanisch gesinnte antike Helden gewesen sein.
Die Abtei wurde am 1. März 1791
im Zuge der Französischen Revolution aufgelöst
und die nunmehr 22-jährige Charlotte Corday
kehrte zu ihrem Vater zurück.
Dieser war ein gemäßigter Royalist,
während seine Tochter die 1789 ausgebrochene
Französische Revolution zunächst begrüßte.
Im Juni 1791 zog sie nach Caen
zu einer reichen, einsamen, verwitweten Tante,
Madame Le Coustellier de Bretteville-Gouville,
deren Gesellschafterin sie wurde.
Die zwei Brüder von Charlotte Corday
waren eifrige Royalisten
und emigrierten Ende 1791.
Beim Abschiedsessen für ihren älteren Bruder,
der nach Koblenz aufbrach, weigerte sie sich,
auf die Gesundheit Ludwigs XVI. zu trinken,
da er ein schwacher König sei.
In der Anfangsphase der Französischen Revolution
hatten die gemäßigten Republikaner,
die Girondisten, das politische Übergewicht.
Diese Partei, mit der Charlotte Corday sympathisierte,
verlor ihren Einfluss aber immer mehr
an die radikale jakobinische Bergpartei.
In Caen erlebte Charlotte Corday
die politischen Kämpfe aus der Sicht der Provinz,
die zu den Girondisten tendierte
und den extremen Jakobinern abgeneigt war.
Sie las gemäßigte Journale
wie den Courrier français
und das Journal von Charles Frédéric Perlet.
Im Laufe der immer gewaltsamer werdenden
Ausschreitungen sah sie ihre aufklärerischen
Ideale verraten.
Ende Mai/Anfang Juni 1793 wurde
der Nationalkonvent von bewaffneten Sansculotten
umstellt und durch diese Machtdemonstration
die Girondisten gestürzt.
18 ihrer geächteten Vertreter flohen nach Caen,
wo sie vorerst sicher waren.
Dort hielten sie politische Versammlungen ab
und planten, bewaffneten Widerstand
gegen die Jakobiner zu leisten.
Einigen Treffen der in Caen versammelten Girondisten
wohnte die als attraktive, braunhaarige Frau
geschilderte Charlotte Corday bei
und war über die Wirren,
die ihr Vaterland erschütterten, tief bewegt.
Sie entschied sich dazu, selbst
und allein zu versuchen, das Blutregime
der Jakobiner zu beenden.
Einen Führer der Jakobiner, Jean Paul Marat,
betrachtete sie als den Hauptübeltäter,
der durch seine Nähe zum Volk
dieses manipuliere
und es zu unzivilisierten Gräueltaten
und Morden aufhetze, so etwa
in seiner verbreiteten Zeitschrift L’Ami du Peuple.
Nun wollte sie Marat, die in ihren Augen
treibende Kraft hinter den Septembermorden
und der Vernichtung der Girondisten,
damit also den Hauptverantwortlichen
für die Schreckensherrschaft, töten.
Offenbar glaubte sie, dass die alleinige
Beseitigung des ohnehin bereits sehr kranken Marat,
dessen Einfluss sie überschätzte, genüge,
um eine Konterrevolution einzuleiten
und Frankreich so zu retten.
Sie hielt ihre vielleicht schon seit längerem
geplante Mordtat nicht für einen kriminellen,
sondern – wie sie in ihrem anschließenden Prozess
betonte – patriotischen Akt,
um einen Beitrag zur Wiederherstellung
des Friedens in ihrem Vaterland zu leisten.
Dafür war sie bereit, ihr Leben zu opfern.
Ihren Mitbürgern warf sie in einem
im Gefängnis verfassten Brief
mangelnde Zivilcourage vor.
Um möglichst große Aufmerksamkeit zu erzielen
und anderen Patrioten als Beispiel zu dienen,
hatte Charlotte Corday vor,
Marat am 14. Juli, dem Jahrestag
des Sturms auf die Bastille,
in der Öffentlichkeit zu erstechen.
Sie wandte sich am 7. Juli 1793
an den in Caen weilenden Girondisten
Charles Barbaroux und erhielt von ihm
ein Empfehlungsschreiben
für dessen noch im Konvent sitzenden Freund,
den Deputierten Claude Romain Lauze de Perret.
Durch diesen erhoffte sie,
Einlass in den Konvent zu erhalten,
wo sie Marat inmitten von dessen Genossen
zu ermorden beabsichtigte.
Sie gab gegenüber Barbaroux vor,
sich für ihre Jugendfreundin,
Mademoiselle de Forbin, einsetzen zu wollen,
die als einstige Kanonikerin ihre Rente nicht erhielt.
Ihren mittlerweile in der Rue du Beigle
in Argentan lebenden, nichtsahnenden Vater
suchte sie nicht persönlich auf,
um ihm Lebewohl zu sagen,
sondern schrieb ihm stattdessen brieflich,
dass sie nach England auswandere,
da sie sich in Frankreich schon seit langem
nicht mehr ruhig und glücklich fühle.
Als Grund für diesen Schwindel
gab sie bei späteren Befragungen an,
dass sie geglaubt habe, nach dem von ihr
geplanten öffentlichen Mord an Marat
sofort von dessen Anhängern
in Stücke gerissen zu werden,
ohne dass ihr Name je bekannt geworden wäre;
so hätte sie ihre Familie heraushalten können.
Bereits im April 1793 hatte sich Charlotte Corday
einen Reisepass für Paris besorgt.
Am 9. Juli desselben Jahres fuhr sie von Caen,
wo sie bei ihrer Tante gelebt hatte,
in einer Postkutsche nach Paris.
Laut ihrer Darstellung soll ihr ein junger Mann
während der Reise einen von ihr abgelehnten
Heiratsantrag gemacht haben.
Nach ihrer Ankunft in Paris
am Mittag des 11. Juli
bezog sie im Hôtel de la Providence
in der Rue des Vieux-Augustins Nr. 17 Quartier.
Mit Barbaroux’ Empfehlungsbrief
begab sie sich am nächsten Tag
zu Lauze de Perret, der ihr mitteilte,
dass Marat wegen seines Hautleidens
stets daheim blieb und nicht mehr
im Konvent erschien.
So musste sie ihren ursprünglichen Mordplan aufgeben
und stattdessen versuchen, in Marats Wohnung
zu gelangen und ihn dort zu erdolchen.
Am Morgen des 13. Juli 1793
erstand Charlotte Corday unter den Arkaden
des Palais Royal um 40 Sous
ein Küchenmesser
mit einer 20 cm langen Klinge und einer Scheide.
In ihrem Hotelzimmer schrieb sie die Adresse
„An Frankreichs Freunde von Recht und Frieden“,
in der sie Marat als Urheber
aller damals in Frankreich herrschender Übel
beschuldigte und ihre geplante Tat erklärte.
Unter dem Vorwand, dass sie einige Girondisten
aus ihrer Heimatstadt Caen,
einer Hochburg der Konterrevolution,
denunzieren wolle, suchte sie Marat
am Mittag des 13. Juli in dessen Domizil
in der Rue des Cordeliers Nr. 20 auf,
wurde aber zweimal von Simone Évrard,
Marats ihr gegenüber misstrauischen Lebensgefährtin,
nicht eingelassen. Sie fuhr zurück in ihr Hotel,
bat Marat schriftlich um eine Unterredung
und fuhr noch am Abend desselben Tages
zurück zu Marats Wohnung,
ohne Antwort erhalten zu haben.
So kam die ein weißes Kleid
und eine schwarze Haube tragende Charlotte Corday
am 13. Juli etwa eine halbe Stunde nach 19 Uhr
wieder in der Rue des Cordeliers an.
Unter dem Gewand hatte sie das Messer versteckt.
Außerdem hatte sie ein vorbereitetes Billet bei sich,
in dem sie ihre Hoffnung ausdrückte,
von Marat empfangen zu werden,
da sie ihm wichtige Dinge zu enthüllen habe.
Die Pförtnerin wollte die Fremde abweisen,
doch konnte diese sich an der Angestellten vorbei
ins Haus drängen.
Simone Évrard öffnete auf den Lärm hin
die Wohnungstür, suchte aber Charlotte Corday
erneut den Eintritt zu verwehren.
Marat saß gerade in einer Wanne im Badezimmer,
weil das Wasser, in dem sich Heilkräuter befanden,
den durch seine Hautkrankheit ausgelösten
Juckreiz linderte.
Er hörte den lauten Wortwechsel am Eingang
und befahl, dass die Besucherin
zu ihm geführt werden solle.
Daraufhin ließ Simone Évrard sie zu Marat vor
und ließ die beiden allein.
Der Revolutionsführer hatte ein feuchtes Handtuch
um seine ungepflegten Haare gewickelt
und seinen Oberkörper mit einem Tuch bedeckt;
nur seine Schultern, sein Gesicht
und sein rechter Arm waren sichtbar.
Es kam zwischen ihm und seiner Besucherin
zu einem etwa viertelstündigen Gespräch,
dessen Ablauf nur aus den Aussagen
der Attentäterin vor dem Revolutionstribunal
bekannt ist. Demnach berichtete sie
dem Präsidenten der Jakobiner
von einem in Caen geplanten Aufstand.
In der Wanne sitzend notierte er
auf einem Schreibbrett die Namen
der nach Caen geflüchteten Girondisten,
die sie ihm angab. Als Marat äußerte,
alle Genannten innerhalb weniger Tage
auf der Guillotine hinrichten zu lassen,
zog Charlotte Corday das Messer
aus ihrem Dekolleté
und stach ihn so heftig in die Brust,
dass die Lunge, die linke Herzkammer
und die Aorta zerrissen wurden.
Nur noch der Holzgriff der Mordwaffe
ragte aus seinem Brustkorb.
Marat rief nach seiner Freundin um Hilfe,
die herbei hastete.
Charlotte Corday konnte zunächst
aus dem Badezimmer flüchten.
Es kam zwischen ihr
und einigen Bediensteten zu einem Gerangel.
Ein Falzer des Journals Ami du Peuple,
Laurent Bas, schlug sie mit einem Sessel nieder,
woraufhin sie bald festgenommen wurde.
Marat war noch am Leben,
als er aus der Wanne gezogen wurde,
starb aber kurz danach.
Noch in der Wohnung des Ermordeten
unterzogen die Polizei und Abgeordnete
des Komitees für Öffentliche Sicherheit
die Attentäterin einem ersten Verhör.
Bei ihrer Durchsuchung wurde ihr Brief
an das französische Volk in ihrem Korsett gefunden.
Sie blieb gelassen und sagte aus,
dass sie die Tat aus eigenem Entschluss
und allein ausgeführt habe.
Gleichzeitig bestritt sie,
unter den Girondisten Komplizen gehabt zu haben.
In der Nacht auf den 14. Juli 1793
fand ihre Überführung in das Prison de l‘Abbaye statt,
wobei sie von der Polizei davor geschützt werden musste,
sofort von aufgebrachten, sie schmähenden Bürgern
gelyncht zu werden.
Noch am Tag von Charlotte Cordays Überstellung
in das Abbaye-Gefängnis verfügte der Konvent,
dass ihre Mordtat vor das Revolutionstribunal
gebracht werden solle. Als ihre angeblichen
Komplizen standen der konstitutionelle
Bischof Claude Fauchet
und der Abgeordnete Lauze de Perret
ebenfalls unter Anklage.
Fauchet wurde der Unterstützung
der Aufstandsbewegung der Girondisten
in Caen beschuldigt;
außerdem habe er Marats Mörderin
den Zugang zum Konvent ermöglicht.
Zu diesem Zweck soll sie sich gleich
nach ihrer Ankunft in Paris,
da sie dort niemanden kannte,
an den Bischof gewandt haben.
Dieser bestritt die auf einer sehr zweifelhaften
Zeugenaussage beruhenden Vorwürfe energisch.
Auch die Hauptangeklagte
blieb bei ihrer Darstellung,
dass sie keinerlei Mithelfer gehabt hatte.
Brieflich gab sie die Auskunft,
dass sie Fauchet kaum gekannt
und nicht geschätzt habe.
Fauchet und Lauze de Perret
wurden zunächst freigelassen,
später aber wegen ihrer politischen Tätigkeit
als Girondisten erneut verhaftet
und am 31. Oktober 1793 hingerichtet.
In einem Brief an das Komitee
für Öffentliche Sicherheit
beklagte sich Charlotte Corday
über ihre allzu strenge Überwachung,
die ihr keinerlei Privatsphäre lasse.
Am Morgen des 16. Juli 1793
erfolgte ihre Verlegung in eine andere Haftanstalt,
die Conciergerie.
Am Abend desselben Tages
verfasste sie einen Brief
an den Deputierten Barbaroux,
in dem sie den Mord am „Ami du Peuple“
rechtfertigte; dieses Schreiben
wurde freilich nicht an den Adressaten weitergeleitet,
sondern den Prozessakten beigefügt.
Ebenfalls noch am 16. Juli schrieb sie
ihrem Vater und bat ihn um Vergebung,
dass sie ohne seine Erlaubnis
über ihr Leben verfügt habe;
er solle sich über ihr Los freuen,
dessen Ursache so schön sei,
und folgenden Vers von Corneille nicht vergessen:
„Verbrechen macht Schmach und nicht das Blutgericht.“
Am Morgen des 17. Juli 1793 erschien
die Angeklagte zur Verhandlung ihres Falles
vor dem Revolutionstribunal.
Zu ihrem Verteidiger hatte sie sich
den Girondisten Louis-Gustave Doulcet
de Pontécoulant gewünscht,
doch kam der an diesen gerichtete Brief zu spät an.
An seiner Stelle bestellte der Präsident des Tribunals,
Jacques Bernard Marie Montané,
den Jakobiner Claude François Chauveau-Lagarde
zu ihrem Verteidiger, der später auch
Marie Antoinette vertreten sollte.
Als öffentlicher Ankläger
trat Antoine Quentin Fouquier-Tinville auf.
Marats Lebensgefährtin Simone Évrard
wurde als erste Zeugin einvernommen.
Während des Prozesses zeigte Charlotte Corday
große Ruhe und Gelassenheit.
Sie glorifizierte die Ermordung Marats
als patriotische Tat,
und ihre kurzen, unerschrockenen Antworten
auf die Fragen der Richter
riefen unter den Zuhörern Erstaunen
und Bewunderung hervor.
Wohl in Anspielung auf eine Äußerung Robespierres
vor der Hinrichtung König Ludwigs XVI. sagte sie:
„Ich habe einen Mann getötet,
um hunderttausend zu retten.“
Als ein Gerichtsdiener ihr aber
die blutbefleckte Mordwaffe überreichte,
reagierte sie erschreckt, stieß das Messer zurück
und bestätigte mit unsicherer Stimme,
dass sie es wiedererkenne.
Um jeden Anschein von patriotischem Idealismus
zu vertuschen, wünschte der Ankläger
Fouquier-Tinville, dass Chauveau-Lagarde
im Namen seiner Mandantin
auf Geisteskrankheit plädierte.
Der für die Tat viel Verständnis aufbringende
Verteidiger weigerte sich jedoch.
Gegen 13 Uhr erfolgte die Urteilsverkündung,
laut der über Charlotte Corday
die Todesstrafe verhängt wurde.
Die Verurteilte war mit ihrem Anwalt sehr zufrieden
und bedankte sich bei ihm für seine Bemühungen.
Während der Verhandlung
hatte der Maler Johann Jakob Hauer
auf Wunsch Charlotte Cordays
ein Porträt von ihr begonnen,
das er während ihrer letzten Stunden
in ihrer Gefängniszelle
in der Conciergerie fertigstellte.
Auf diesem Bild erscheint sie völlig ruhig.
Sie bat den Künstler anschließend,
eine kleine Kopie davon herzustellen,
die ihre Familie erhalten sollte.
Bis zum Schluss blieb Charlotte Corday
äußerst gefasst und unerschütterlich.
Die Ablegung der Beichte
vor einem zu ihr gesandten Priester
lehnte sie höflich ab,
da sie Marats Ermordung nicht als Sünde betrachtete.
Der Scharfrichter erschien mit seinen Helfern
in ihrer Zelle. Ihr langes Haar
wurde bis zum Nacken abgeschnitten
und sie musste wie alle verurteilten Mörder
ein rotes Hemd anziehen.
Am Abend des 17. Juli 1793,
vier Tage nach ihrem Attentat,
machte sie sich gemeinsam mit ihrem Henker
in einem offenen Karren auf den Weg
von der Conciergerie zu ihrem Hinrichtungsort,
der Place de la Révolution.
Unterwegs wurde sie von zahlreichen
Schaulustigen beschimpft;
sie ließ die Schmähungen
gleichmütig über sich ergehen.
Während der Fahrt zum Schafott
ging ein Gewitterregen nieder,
doch noch vor dem Erreichen der Enthauptungsstätte
machten die Wolken wieder der Sonne Platz.
Gegen 19 Uhr wurde Corday schließlich guillotiniert,
nachdem sie noch selbst ihren Kopf
unter dem Beil zurechtgelegt hatte.
Nach der Exekution der erst 25-jährigen
Delinquentin hob ein Henkersknecht
ihren abgeschlagenen Kopf aus dem Korb,
zeigte ihn der Menge
und versetzte ihm einen Schlag.
Augenzeugen berichteten,
dass die Wangen der Toten
vor Empörung errötet seien.
Der Schlag wurde als inakzeptable Verletzung
der selbst bei Hinrichtungen geltenden
Etikette betrachtet und der Henkersknecht
mit drei Monaten Gefängnis bestraft.
Charlotte Cordays Leiche
wurde in einem Massengrab
nahe Ludwig XVI. beerdigt;
unklar ist, ob auch ihr Kopf mit ihr bestattet
oder als Kuriosität zurückbehalten wurde.
Angeblich soll sich der Schädel
bis ins 20. Jahrhundert
im Besitz der Familie Bonaparte
und ihrer Nachkommen befunden haben.
DREIZEHNTER GESANG
Die Vorfahren von Louis Antoine de Saint-Just
sind väterlicherseits Bauern in der Picardie,
einem fruchtbaren Gebiet
im Norden Frankreichs, gewesen.
Sein Vater, Louis Jean de Saint-Just de Richebourg,
der schon 1777 starb,
war Kavalleriehauptmann bei den Soldaten
des Herzogs von Berry.
Seine Mutter, Marie Anne, geborene Robinot,
stammte aus dem Nivernais,
einem waldreichen Gebiet im Osten Frankreichs.
Seine Jugend verbrachte Louis Antoine
in Verneuil, Decize und Blérancourt.
Von 1777 bis 1785 besuchte er
die Schule Saint-Nicolas der Oratorianer in Soissons.
Um sich für das Rechtsstudium zu qualifizieren,
war er 1786 zweiter Gehilfe
beim öffentlichen Ankläger in Soissons.
Im Oktober 1787 begann er an der Universität
in Reims zu studieren
und schloss das Studium bereits im April 1788
mit dem Hochschulgrad
für die Rechtswissenschaften ab.
Wie jeder bildungsbeflissene Mensch
im damaligen Frankreich
hat auch Saint-Just die griechischen
und römischen Dichter und Denker gelesen.
Neben Platons Staat
werden ihm dabei wohl einige Biografien,
wie die des spartanischen Gesetzgebers Lykurg,
in Plutarchs Lebensbeschreibungen
die ersten Anregungen
für sein eigenes republikanisches
Denken gegeben haben.
Plutarchs Lebensbeschreibungen
wurden damals überall in Europa gelesen,
aber am stärksten hatten sie sich
in Frankreich verbreitet.
Weitere Ideen und Gedanken
fand er bei französischen Denkern
wie Montesquieu oder Rousseau,
die von verschiedenen Ebenen aus
den Zustand der Gesellschaft
und des Staates betrachtet haben.
Im Mai 1789 erschien von Saint-Just
ein erster literarischer Versuch:
der Organt, ein erzählendes Gedicht
in zwanzig Gesängen,
über das die meisten Forscher abfällig geurteilt haben,
was ihm aber wohl nicht ganz gerecht wird.
Es ist das Werk eines blutjungen Menschen,
der noch um Form und Stoff ringt,
und die wenigen schlüpfrigen Stellen in dem Gedicht,
die ihm mit Vorliebe vorgehalten werden,
waren üblich zu jener Zeit,
auch in reiferen Werken.
Ein zweiter literarischer Versuch
ist nur noch in Bruchstücken vorhanden:
Arlequin Diogène, ein einaktiges Theaterstück,
ein Schäferspiel, an dem nur bemerkenswert ist,
dass es wohl Saint-Justs eigene Haltung
zur Liebe wiedergibt: „Die Liebe
ist nichts als ein eitler Wunsch;
einem großen Herzen bedeutet sie nichts.“
Am 14. Juli 1789 erlebte Saint-Just in Paris
die Erstürmung der Bastille mit.
Der Organt war schon im Juni
wegen Majestätsbeleidigung verboten worden,
und so war der junge Autor,
um polizeilichen Nachstellungen zu entgehen,
bei Bekannten in Paris untergetaucht.
Ende Juli wagte er sich wieder
nach Blérancourt zurück,
wo er sich politisch stark zu betätigen begann.
Trotz seiner Jugend war er hier angesehen
und erhielt auch bald ehrenhafte Anerkennungen.
So wurde er im Juni 1790
von der Kommune zum Oberstleutnant
der Nationalgarde in Blérancourt ernannt
und im Juli zum Ehrenbefehlshaber
der Nationalgarden im ganzen Kanton.
Am 10. August 1790 schrieb er
seinen ersten Brief an Robespierre,
der später unter dessen nachgelassenen
Papieren gefunden worden ist:
„Sie, der Sie das wankende Vaterland
gegen den Ansturm von Gewaltherrschaft
und verräterische Umtriebe behaupten;
Sie, den ich nur wie Gott kenne,
nämlich aus Wundern;
ich wende mich an Sie, mein Herr,
helfen Sie mir bitte bei der Rettung
meiner beklagenswerten Heimat.“
Bei den Wahlen zur Gesetzgebenden
Nationalversammlung im Jahre 1791
wurde er von seiner Gemeinde
als Abgeordneter gewählt,
aber ein Gegner, der Notar Gellé,
focht auf dem Rechtsweg diese Wahl an,
weil Saint-Just noch zu jung war
und deshalb nicht Abgeordneter werden konnte.
Dem wurde stattgegeben
und der Wahlbeschluss der Gemeinde
vom Distrikt aufgehoben.
Ein Jahr später aber wurde er rechtmäßig
als Abgeordneter des Departments Aisne
in den Nationalkonvent gewählt
und am 18. September 1792 traf
der junge Abgeordnete Louis Antoine de Saint-Just
in Paris ein.
Zuvor war von ihm am 20. Juni 1791
in Paris die Schrift „Der Geist der Revolution
und der Verfassung in Frankreich“ erschienen.
In diesem Werk, das aus fünf Abschnitten bestand,
machte er sich Gedanken über die Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft Frankreichs,
und er war dabei noch lange nicht so radikal wie später.
So konnte er sich darin zum Beispiel
das Königtum als eine mögliche Regierungsform
immer noch vorstellen.
Das Buch war sogar ein Erfolg;
die erste Auflage war schnell vergriffen
und wurde von hellsichtigen Politikern
in der verfassungsgebenden Versammlung sehr geschätzt.
Das Buch endete mit den Worten:
„Wenn alle Menschen frei sind, sind alle gleich;
wenn sie gleich sind, sind sie gerecht.“
„Europa soll erfahren,
dass ihr auf französischem Territorium
weder einen Unglücklichen
noch einen Unterdrücker mehr sehen wollt,
dass dieses Beispiel auf der Erde Früchte trage
und die Liebe zur Tugend und das Glück ausbreite!
Das Glück ist ein neuer Gedanke in Europa!“
In Paris wurde Saint-Just zum ersten Mal
öffentlich wahrgenommen,
als er am 22. Oktober 1792
im Jakobiner-Klub sprach.
Die Rede fand große Beachtung
und unter dem Vorsitz von Danton
beschlossen die Jakobiner, den Text drucken zu lassen
und an die einzelnen Verbände weiterzuleiten.
Unter dem Eindruck einer zweiten Rede,
die er am 13. November im Konvent
in der Debatte, ob Ludwig XVI.
angeklagt werden sollte oder nicht, gehalten hatte,
wurde er in den Ausschuss im Jakobiner-Klub gewählt,
der die neue Verfassung für Frankreich vorbereiten sollte.
In der großen Abstimmung am 15. Januar 1793
im Konvent über das Schicksal des Königs
stimmte er für den Tod ohne Aufschub und Appellation.
Die Gründe bezog er aus Rousseaus Contrat social,
einem Werk über die Legitimität der Macht.
Saint-Just hat die Ideen Rousseaus
in die Geschichte eingeführt.
Das Wesentliche seiner Beweisführung daraus war,
dass der König nicht durch das Urteil eines Gerichts,
sondern durch das Urteil der gesetzgebenden Versammlung
gefasst werden müsse, da der König
außerhalb des „Contrat social“ stehe.
Sein leidenschaftliches Denken,
mit dem er all das verwirklichen wollte,
was er für das Glück der Menschen hielt,
spiegelte sich wohl in allen seinen öffentlichen Reden wider,
am umfassendsten aber in den Institutionen,
an denen er irgendwann in dieser Zeit
zu arbeiten begann. Wo auch immer,
ob im Konvent, auf Reisen, bei der Armee,
überall schrieb er Gedanken auf,
die er sich über einen zukünftigen Staat machte,
Einfälle dazu, wie sie ihm kamen.
Alles wollte er in diesem neuen Frankreich reglementieren,
sogar Kindheit und Alter; Hochzeit und Beerdigung.
Die Institutionen sind voller Gegensätze:
klarem Denken stehen naive Träume gegenüber.
Dabei macht sich Saint-Just auch Gedanken
über die Freundschaft und schreibt dazu:
„Jeder Mann mit einundzwanzig Jahren ist gehalten,
im Tempel zu erklären, welches seine Freunde sind.
Wenn ein Mann einen Freund aufgibt, ist er gehalten,
die Gründe dafür vor dem Volke im Tempel darzulegen.“
Nachdem Saint-Just im April 1793
mehrmals im Konvent
über eine neue Verfassung gesprochen hatte,
wurde er im Mai zusammen mit Hérault de Séchelles
und Georges Couthon dem Wohlfahrtsausschuss
beigeordnet, um eine neue Verfassung auszuarbeiten.
Die alte Verfassung aus dem Jahre 1791
hatte noch eine gewisse Macht dem König zugestanden,
aber nach Abschaffung des Königtums
war nun eine neue nötig geworden.
Schon im Juni war das neue Gesetzeswerk,
das hauptsächlich von Saint-Just stammte,
fertig und wurde vom Konvent angenommen
und im Juli mit großer Mehrheit
in einer Volksabstimmung bestätigt.
Wegen des kirchlichen Sprachgebrauchs im Text
nannte man diese neue Verfassung
im Jahre I der Republik später scherzweise
„L’évangile selon Saint-Just“.
Die Verfassung des Jahres I wurde allerdings
vom Konvent nicht in Kraft gesetzt,
weil man meinte, dass sie der augenblicklichen
Lage Frankreichs nicht entspreche.
Wegen des herrschenden Krieges
wurde der Missbrauch der verfassungsmäßig
gewährten Freiheit befürchtet.
Nach Beendigung des Krieges
sollte die Verfassung ihre Rechtsgültigkeit erlangen;
aber dazu ist es nie gekommen.
Nur die Tafeln der Menschenrechte
wurden überall in den öffentlichen Gebäuden angebracht
und wie es heißt, soll Saint-Just
während seiner Verhaftung
auf solch eine Tafel gezeigt und gesagt haben,
dass das immerhin sein Werk sei.
Im Herbst 1793 wurde Saint-Just
zusammen mit Philippe-François-Joseph Le Bas
in das Elsass zur Überwachung der Truppen gesandt.
Am 22. Oktober 1793 trafen die beiden
„Volksvertreter mit außerordentlicher Vollmacht
bei der Rheinarmee“ in Saverne,
Département Bas-Rhin, ein,
zwei Tage später waren sie in Straßburg.
Sie begannen sofort mit ihrer Arbeit
und gaben unzählige Erlasse und Befehle heraus,
deren deutliche Sprache verkündete,
dass jetzt andere und nicht die üblichen Abgeordneten
des Konvents erschienen waren.
Ihr Auftrag verlangte eigentlich nur,
dass sie die Ereignisse im Raum Wissembourg
und Lauterbourg beobachten
und ihnen nötig erscheinende Maßnahmen
für das öffentliche Wohl ergreifen sollten,
aber sie kümmerten sich überall um alles.
Mit unmissverständlichen Befehlen und Aufrufen
reorganisierten sie die Armee,
wendeten sich an die Zivilverwaltungen
und auch direkt an die Bürger.
So hieß es zum Beispiel in einem Befehl
an den Oberbefehlshaber der Rheinarmee:
„General, sie befehlen allen Offizieren im Generalsrang
an der Spitze Ihrer Divisionen und Brigaden,
in ihren Zelten zu schlafen und zu essen.“
Am 31. Oktober verordneten sie,
dass die Reichen Straßburgs
9 Millionen zu zahlen hatten,
von denen zwei Millionen
für die Unterstützung bedürftiger Patrioten
verwendet werden sollten. Und in einem Aufruf
wurden die Straßburgerinnen aufgefordert,
das Tragen der deutschen Tracht aufzugeben,
da sie in ihren Herzen doch französisch seien.
Am 3. Dezember 1793 kehrten
die beiden Volksvertreter kurzzeitig
nach Paris zurück.
Zwischendurch waren am 31. Oktober
die Girondisten, deren Sturz er mit betrieben hatte,
hingerichtet worden. Am 9. Dezember
waren sie wieder im Elsass
und haben dort an verschiedenen Stellen
der Ostfront gewirkt.
Nachdem die französischen Truppen
am 28. Dezember 1793 siegreich
in Landau eingezogen waren,
hatten die beiden Volksvertreter ihre Aufgabe erfüllt
und kehrten nach Paris zurück.
Bereits am 26. Januar 1794
verließen Saint-Just und Le Bas wieder Paris,
um zur Nordarmee zu gehen.
Dort trafen sie auf ähnliche Zustände,
wie sie sie schon im Elsass
bei der Rheinarmee vorgefunden hatten
und gingen in erprobter Manier dagegen vor.
Mit ihren Maßnahmen trugen sie nicht unwesentlich
zum Erfolg des kommenden Feldzuges bei.
Aber Saint-Just wartete den Abschluss
der wichtigsten Vorgänge diesmal nicht ab
und kehrte am 12. Februar 1794 schon wieder
nach Paris zurück, wo er am 19. Februar
vom Konvent zum Vorsitzenden gewählt wurde.
Am 26. Februar 1794 hielt er eine Rede
über die Verdächtigen in Haft,
die als eine seiner besten Reden gilt.
In dieser und einer weiteren Rede
am 3. März 1794 legte er dann dem Konvent
die sogenannten „Ventose-Gesetze“ vor,
die vorsahen, dass alle Schuldigen enteignet wurden
und ihr Besitz an die armen und verdienten Bürger fiel.
Wenige Tage später sprach Saint-Just dann
über umstürzlerische Bemühungen des Auslandes
und entsprechende Pläne in Frankreich,
womit er einen Angriff gegen Hébert vorbereitete.
Vom Konvent forderte er dann schließlich
einen Erlass, der ermöglichte,
die Verschwörer in den Reihen
der Revolutionäre zu verhaften.
Der Konvent stimmte zu,
und Hébert und seine Anhänger
wurden noch in der folgenden Nacht verhaftet
und am 24. März 1794 verurteilt und hingerichtet.
Am 17. März 1794 folgte eine weitere Rede,
diesmal gegen Hérault de Séchelles,
der geheime Unterlagen an den Feind
geliefert haben sollte. Er wurde später
gemeinsam mit Danton und anderen
verurteilt und hingerichtet.
Am 31. März 1794 hielt Saint-Just dann
eine Anklagerede gegen Danton und Desmoulins.
Das Kernstück dieser Rede
soll Robespierre verfasst haben.
Gegen diese beiden herausragenden Gestalten
der Revolution war es nicht schwer,
Anklagepunkte zu finden.
Besonders Danton mit seinem oftmaligen Wechseln
der Seiten und seiner Bestechlichkeit
war gut angreifbar. Saint-Just forderte,
die Angeklagten vor das Revolutions-Tribunal zu stellen,
weil sie das Königtum wieder hatten einführen wollen.
Dem wurde stattgegeben,
und am 5. April 1794 wurden
Danton und Desmoulins verurteilt und hingerichtet.
Seine letzte große Rede vor dem Konvent,
die wahrscheinlich von ihm zusammen
mit dem Ausschuss ausgearbeitet wurde,
hielt Saint-Just am 15. April 1794,
in der es um Recht und Ordnung ging.
In einem der wesentlichsten Punkte
beantragte er, das Wirken
der allgemeinen Polizei neu zu regeln.
Sie sollte ab sofort ihre eigentliche Aufgabe
in der Überwachung der Amtsträger sehen.
Nach langer Debatte wurde der Vorschlag angenommen,
und fortan war die allgemeine Polizei
beim Wohlfahrtsausschuss vertreten.
Diese Einrichtung von Saint-Just,
die die Mitglieder des Konvents ja fürchten mussten,
hatte wesentlich zu seinem Sturz beigetragen.
Im 29. April 1794 verließ Saint-Just Paris
und ging zur Nordarmee,
wo er die zu Anfang des Jahres begonnenen
Vorbereitungen für einen Angriff weiter fortsetzte.
Er stellte dazu auch strategische Überlegungen an,
die er mit dem Oberbefehlshaber,
Jean-Baptiste Jourdan, besprach und durchsetzte.
Tatkräftig hat er sich dann
an verschiedenen Gefechten beteiligt.
So an der östlichen Flanke der Front von Fleurus,
wo der Übergang über die Sambre
erst im siebten Versuch gelang,
und danach Charleroi, die größte Festung,
die ein Weiterkommen an dieser Stelle blockiert hatte,
endlich eingeschlossen werden konnte
und sich sieben Tage später,
am Morgen des 25. Juni 1794, ergeben musste.
Die Übergabe von Charleroi
hat Saint-Just selbst entgegengenommen.
Sein Verhalten dabei ist von einem hohen
französischen Offizier
in einem Bericht beschrieben worden.
Als ein österreichischer Offizier
einen Brief überbrachte,
öffnete ihn Saint-Just nicht und sagte,
dass er nicht die Übergabe eines Blattes Papier,
sondern die der Stadt erwarte.
Der Parlamentär meinte dazu, dass seine Truppen
entehrt wären, wenn sie sich bedingungslos
ergeben würden. Darauf antwortete Saint-Just
wörtlich: „Wir können Sie weder ehren
noch entehren, ebenso wenig wie Sie
die französische Nation ehren oder entehren können.
Zwischen Ihnen und uns gibt es nichts Gemeinsames.“
Danach forderte er schroff,
die Festung bedingungslos zu übergeben,
dem der österreichische Befehlshaber
dann bald darauf nachkam.
Auch in der eigentlichen Schlacht bei Fleurus
am nächsten Tag, hat er tatkräftig mitgewirkt
und die Kolonnen unablässig zum Angriff
und damit zum Sieg geführt,
durch den in der Folge die Engländer nach Holland
und die Österreicher bis an den Rhein
zurückgehen mussten und ein anhaltender Erfolg
der Revolutionsarmee gesichert war.
Es ist oft behauptet worden,
dass der Sieg von Fleurus der Sieg
von Louis Antoine de Saint-Just gewesen ist.
Sogar sein Gegner, der französische Schriftsteller
Lamartine, hat in diesem Zusammenhang
höchst anerkennend von ihm gesprochen.
Während dieser Zeit tat Robespierre in Paris
einen entscheidenden Schritt
zum Sturz des Regimes hin,
als er die Annahme der Prairial-Gesetze
im Konvent durchsetzte,
durch die sich die Abgeordneten
mit dem Tode bedroht fühlen mussten.
Sie genossen jetzt keinen Schutz mehr
und konnten jederzeit vor das Tribunal geladen werden.
Einer von Saint Justs Freunde hatte später
den Kommentar von Saint-Just
zu dem Gesetzestext so wiedergegeben:
„Man kann kein hartes
und heilsames Gesetz vorschlagen,
dessen sich nicht nach Laune
und Leidenschaft Ränkespiel,
Verbrechen und Raserei bemächtigen,
um daraus ein Werkzeug des Todes zu machen.“
Am 30. Juni 1794 traf Saint-Just
wieder in Paris ein,
das er dann nicht mehr verlassen hat.
Den Sieg von Fleurus vor dem Konvent zu verkünden,
wurde von ihm abgelehnt und so kommentiert:
„Ich halte sehr viel davon,
Siege zu verkünden,
aber ich möchte nicht,
dass sie zum Vorwand für Eitelkeit werden.
Man hat den Tag von Fleurus angekündigt,
und andere, die nichts darüber gesagt haben,
sind dabei gewesen;
man hat von Belagerungen gesprochen,
und andere, die nichts dazu gesagt haben,
waren in den Gräben.“
An seiner Stelle hat dann Barère
diese Aufgabe übernommen
und die Begeisterungsstürme
der Abgeordneten entgegengenommen.
Aber solche Einmütigkeit war ansonsten
im politischen Leben nicht vorhanden.
Die Lage war verworren,
und im Konvent und in den Ausschüssen
standen sich Gruppen und Personen
unversöhnlich gegenüber.
Seit Inkrafttreten der Prärial-Gesetze
gab es zahllose Verhaftungen
und Hinrichtungen. Robespierre,
jetzt verhasster und gefürchteter denn je,
zeigte sich nicht mehr in der Öffentlichkeit.
Über einen Monat lang nahm er
an keiner Sitzung im Ausschuss
und im Konvent teil.
Erst wieder am 26. Juli 1794 erschien er im Konvent
und hielt dort eine zweistündige Rede,
in der er anklagte, verdächtigte,
aber auch nach Aufforderung keine Namen nannte,
wodurch sich jeder Abgeordneter
bedroht fühlen musste und viele
für ein Komplott bereit machte.
Am Abend sprach Robespierre zum letzten Mal
im Jakobiner-Club.
Zur gleichen Zeit arbeitete Saint-Just
im Arbeitsraum des Wohlfahrtsausschusses
an einer Rede, die er,
um die prekäre Lage zu bereinigen,
am nächsten Tag vor dem Konvent halten wollte.
Die Sitzung des Konvents
am 27. Juli 1794 wurde um 11 Uhr eröffnet,
und um 12 Uhr ergriff Saint-Just das Wort.
Dass er einen neutralen Standpunkt hatte
und keine bestimmte Ansicht
oder Richtung bevorzugen wollte,
wird schon aus den wenigen
und berühmt gewordenen Worten deutlich,
die er noch sprechen konnte,
bevor er unterbrochen wurde:
„Ich gehöre keiner der rivalisierenden Parteien an;
ich werde sie alle bekämpfen.
Sie werden jedoch nur durch Verfassungen
ganz verschwinden, die dem Menschen
seine Rechte garantieren,
der Herrschaft ihre Grenzen setzen
und den menschlichen Stolz
ohne die Möglichkeit einer Umkehr
unter das Joch
der öffentlichen Freiheit beugen werden.“
Dann wurde er am Weitersprechen
durch die Verschwörer gehindert.
Es gab einen großen Tumult,
und schließlich wurden Robespierre,
Saint-Just, Couthon und andere
festgenommen und abgeführt.
Ein Aufstandsversuch der Kommune von Paris
brachte ihnen noch einmal kurz die Freiheit zurück,
die sie zu einem gewaltsamen Vorgehen
gegen den Konvent hätten nutzen können,
womit auch dort gerechnet wurde.
Aber sie waren wie gelähmt
und warteten den Gnadenstoß ab,
anstatt zur Place de Grève hinunterzueilen
und sich an die Spitze
der aufständischen Kämpfer zu stellen.
So aber nahm Barras um 2 Uhr morgens
mit einem Überraschungsangriff das Rathaus ein,
und alles war für sie aus.
Am Abend des 28. Juli 1794
wurden Robespierre, Saint-Just, Couthon
und 19 ihrer Anhänger
auf dem Platz der Revolution
unter dem Fallbeil hingerichtet.
Die letzten Augenblicke im Leben
von Louis Antoine de Saint-Just
hat der Henker von Paris so geschildert:
Als Saint-Just an der Reihe war, hinaufzusteigen,
umarmte er Couthon,
und bei Robespierre vorübergehend,
sagte er nur: „Lebe wohl.“
Seine Stimme verriet keine Aufregung.
Friedrich Nietzsche nennt Saint-Just
in seinem gleichnamigen Gedicht „teuflisch“.
VIERZEHNTER GESANG
Jeanne-Marie Roland war die Tochter
des Pariser Graveurs Gratien Philipon,
Angehörige und Freunde nannten sie Manon.
Das intelligente und wissbegierige Mädchen
konnte früh lesen und interessierte sich
schon bald auch für geschichtliche,
philosophische und religiöse Themen.
Im Alter von neun Jahren entdeckte sie
Plutarchs vergleichende Biographien
berühmter Griechen und Römer.
Plutarch gehörte immer zu den
von ihr geschätzten Autoren;
er begeisterte sie für die Idee der Republik.
In ihrem elften Lebensjahr hatte Jeanne-Marie
den ernsten Wunsch, Nonne zu werden,
und mit dem Einverständnis ihrer Eltern
lebte sie vom Mai 1765 bis ins Frühjahr 1766
in einer religiösen Ordensgemeinschaft
in der Pariser Vorstadt Saint-Michel.
Vom Klosterleben dann doch nicht überzeugt,
verbrachte sie ein Jahr bei ihrer Großmutter Phlipon
auf der Seine-Insel Saint-Louis.
Bei einem ihrer gelegentlichen Ausflüge
in die Pariser Gesellschaft wurde sie
einer wohlhabenden adligen Dame vorgestellt,
deren anmaßendes und arrogantes Verhalten
sie ein Leben lang nicht vergaß.
Dieser Eindruck bestärkte das Kind
aus dem bürgerlichen Mittelstand
in ihrer kritischen Haltung gegenüber
der Aristokratie des Ancien régime.
Zurück im elterlichen Haushalt,
gehörte Voltaire zu ihren beliebtesten Autoren.
Sie las aber in dieser Zeit auch Shakespeare
und englische Romane und Gedichte;
sie sprach neben englisch auch italienisch.
Als Jeanne-Marie vierzehn Jahre alt wurde,
kamen ihr Zweifel am katholischen Glauben
ihrer Kindheit, und sie wandte sich,
wie viele Aufklärer,
der deistischen Gottesauffassung zu:
Gott schuf die Welt,
aber er übt keinen Einfluss mehr auf sie aus.
Gleichzeitig beschäftigte sie sich
mit den Schriften der berühmten Prediger
Jacques-Bénigne Bossuet
und Jean-Baptiste Massillon.
Im Juni 1775 starb Jeanne-Maries Mutter,
und sie musste sich nun um den Haushalt
des Vaters kümmern,
der in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war.
Sie zog sich mit ihren Büchern zurück
und beschloss, niemals zu heiraten.
Junge Verehrer wies sie ab,
sie bevorzugte die ihr geistigen Gewinn
bringende Gesellschaft älterer gebildeter Männer.
In dieser Zeit las sie Rousseau,
der sie ebenso beeindruckte wie Plutarch;
seine Ideen bestimmten ihr künftiges
politisches Denken und Handeln.
Im Januar 1776 begegnete Jeanne-Marie Phlipon
dem zwanzig Jahre älteren
Jean-Marie Roland de La Platière,
dem Inspektor des Handels
und der Manufakturen in Amiens.
Sie schätzte seine vielfältigen Interessen
und seinen scharfen Verstand.
Trotz der Einwände ihrer Familien
heiratete das ungleiche Paar
im Februar 1780.
Während der ersten sechs Monate ihrer Ehe
wohnten die Rolands in Paris,
obwohl Monsieur Roland sein Büro in Amiens hatte.
Madame Roland assistierte ihrem Mann
bei der Publizierung seiner Schriften.
Sie machte die Bekanntschaft
von Schriftstellern und Wissenschaftlern
der Aufklärung, und mit Bedauern verließ sie
im Herbst 1780 die Hauptstadt,
um nach Amiens zu ziehen.
Dort wurde im Oktober 1781
ihre Tochter Eudora geboren.
Im Mai 1784 reiste Madame Roland nach Paris,
um für ihren Mann als Anerkennung
für seine langjährigen Dienste
die Ausstellung eines Adelspatents
der höheren Rangstufe zu erreichen.
Sie hatte keinen Erfolg, erwirkte aber
seine Beförderung zum Generalinspektor
und die Versetzung nach Lyon.
Die Rolands zogen in das von Lyon nicht weit entfernte
Villefranche-sur-Saone auf den ärmlichen
alten Landsitz der Familie.
Mit dem Ausbruch der Revolution 1789
fand das ruhige Leben ein Ende.
Von Anfang an unterstützten die Rolands
die revolutionäre Bewegung.
Sie waren überzeugt, dass die Abschaffung
des Königtums notwendig sei.
Madame Roland schrieb unter dem Namen
ihres Mannes Artikel im Courrier de Lyon,
die auch in der Hauptstadt beachtet wurden.
Daraus ergab sich eine Korrespondenz,
unter anderem mit Jacques Pierre Brissot de Warville,
den die Rolands seit 1787 kannten.
In der Folgezeit schrieb Madame Roland
auch Artikel für den Le Patriote Français,
eine von Brissot herausgegebene revolutionäre Zeitung.
Im November 1790 dominierten die Anhänger
der Revolution den Stadtrat von Lyon,
und Jean-Marie Roland wurde
mit öffentlichen Aufgaben betraut:
Der städtischen Schulden wegen reiste er
im Februar 1791 zu Verhandlungen
mit dem Parlament nach Paris.
Madame Roland begleitete ihren Mann
und eröffnete ihren ersten politischen Salon
im Hôtel Britannique in der rue Guénégaud.
Viele Führungspersönlichkeiten der Revolution
waren ihre Gäste: Jacques-Pierre Brissot,
Jérôme Pétion de Villeneuve,
Maximilien de Robespierre,
François Buzot und andere.
Im September 1791 kehrten die Rolands
nach Lyon zurück, da der Auftrag erfüllt war.
Das Amt des Inspektors der Manufakturen
war inzwischen abgeschafft worden,
und Monsieur Roland konnte
seiner beruflichen Tätigkeit nicht länger nachgehen.
Um nach fast vierzig Dienstjahren
einen Anspruch auf Pension durchzusetzen,
reisten die Rolands schon im Dezember
wieder nach Paris, wo sie sofort
aufs Neue in das revolutionäre
Geschehen verwickelt wurden.
Roland wurde Mitglied
im Pariser Klub der Jakobiner,
in dem die künftigen Girondisten,
die Männer um Brissot,
und die künftigen Jakobiner
noch gemeinsam debattierten.
Im März 1792 wurde Jean-Marie Roland
vom König als Innenminister
in das neue Kabinett berufen.
Seine Ehefrau, die ihm schon immer
eine geschickte Helferin war,
wurde ihm nun unentbehrlich.
Madame Roland erledigte einen Teil
seiner Korrespondenz und stand ihm
auch in politischen Fragen
mit Rat und Tat zur Seite.
Mit der Wiedereröffnung ihres Salons
in ihrem neuen Domizil
in der rue Neuve des Petits Champs
stand Madame Roland im gesellschaftlichen
und politischen Zentrum der neuen Regierung.
Zweimal wöchentlich lud sie zum Diner:
Brissot, Pétion, Charles-Jean-Marie Barbaroux,
Jean-Baptiste Louvet de Couvray und François Buzot,
mit dem sie eine gegenseitige Zuneigung verband,
und andere waren die Gäste
"einer empfindsamen und leidenschaftlich
für die Gerechtigkeit eintretenden Frau.
Madame Roland war die Seele der Gironde.“
Am 10. Juni 1792 sandte Innenminister Roland
einen Brief an den König,
weil dieser die Gesetzgebung
durch Vetos behinderte.
Madame Roland, die den Brief redigiert hatte,
forderte vom König neben der Rücknahme
seines Einspruchs gegen zwei Dekrete
auch größeren Patriotismus.
Dieser Brief löste die Entlassung Rolands
und seiner girondistischen Kollegen aus
und damit auch die Massendemonstration
gegen den König am 20. Juni in den Tuilerien.
Nach der Absetzung König Ludwigs XVI.
am 10. August 1792
war Jean-Marie Roland im neu gebildeten
provisorischen Vollzugsrat
und nach dem Zusammentritt
des Nationalkonvents am 21. September
wieder für die Innenpolitik zuständig.
Bestürzt über den Verlauf
der revolutionären Ereignisse,
geriet er bald in Opposition zum Jakobinerklub,
der ihn immer wieder heftig attackierte.
Wegen seiner Haltung im Prozess gegen den König
warf man ihm Royalismus vor.
Die Angriffe richteten sich auch gegen seine Frau.
Am 7. Dezember wurde Madame Roland
vor den Nationalkonvent geladen,
um sich dort gegen alle Vorwürfe zu verteidigen.
Nach einer leidenschaftlich vorgetragenen Rechtfertigung
der Politik ihres Ehemanns wurde sie
nicht nur in allen Punkten freigesprochen,
sondern auch in Ehren verabschiedet.
Sie erhielt die Ehrenbezeugungen der Versammlung,
die honneurs de la séance,
und verließ unter dem Beifall
aller Abgeordneten den Saal.
Zwei Tage nach der Hinrichtung
König Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793
trat Jean-Marie Roland resignierend
von seinem Ministeramt zurück.
Trotz wiederholter Petitionen
durften die Rolands Paris nicht verlassen.
Nach der Verhaftung führender Girondisten
am 31. Mai gelang Jean-Marie Roland
die Flucht nach Rouen.
Madame Roland blieb auf eigenen Wunsch zurück
und wurde am 1. Juni verhaftet.
Sie kam in das Gefängnis der Abbaye,
dann nach Sainte-Pélagie
und schließlich in die Conciergerie.
Von ihren Wächtern respektiert,
erhielt sie Schreibmaterial
und konnte gelegentlich auch Besuch empfangen.
Im Gefängnis schrieb sie ihren
Appel à l’impartiale postérité,
ihre der Tochter Eudora gewidmeten Memoiren.
Nach der Hinrichtung von 21 Girondisten
am 31. Oktober 1793 fand ihr Prozess
vor dem Revolutionstribunal am 8. November statt.
Zum Tode verurteilt, starb Madame Roland
noch am selben Abend
auf der Place de la Révolution,
der heutigen Place de la Concorde
unter dem Fallbeil der Guillotine.
Bevor sie ihr Haupt auf den Block legte,
rief sie beim Anblick der Freiheitsstatue
die berühmt gewordenen Worte:
„Oh Freiheit, welche Verbrechen
begeht man in deinem Namen!“
FÜNFZEHNTER GESANG
Marianne ist die Nationalfigur
der Französischen Republik.
Der Name Marianne kann als Metonym
für die französische Nation stehen.
In der Französischen Revolution
wurde Marianne – bis dahin lediglich
ein im Volke weit verbreiteter Name –
zum Symbol der Freiheit
und damit gleichzeitig der französischen Republik.
Sie trat also in die Nachfolge
der Francia oder Gallia,
der Allegorie des Königreichs Frankreich,
die in höfischen Bilddarstellungen
den französischen König begleitete.
Auf Bildern der Marianne
ist ihr Kopf gewöhnlich
mit der phrygischen Mütze bedeckt,
meist eine oder beide Brüste nackt.
Berühmt ist die Verherrlichung der Freiheit,
die Eugène Delacroix
in der Julirevolution 1830 gemalt hat.
Marianne schmückt als Büste
praktisch alle französischen Rathäuser,
als Statue viele Plätze.
Erste schriftliche Erwähnung des Namens Marianne
als Bezeichnung für die französische Republik
datiert vom Oktober 1792
in Puylaurens im Département Tarn.
Man sang seinerzeit im provenzalischen Dialekt
das Lied „La garisou de Marianno“
(„Mariannes Erholung“)
des Dichters Guillaume Lavabre.
Die Büste der Marianne
wird von Zeit zu Zeit wechselnd regelmäßig
nach dem Vorbild prominenter Französinnen
neu gefertigt
und in den örtlichen Rathäusern ausgestellt:
1968 war Brigitte Bardot das Modell für Marianne.
Im Jahr 2000 war die schöne Laetitia Casta
das Model für die Göttin Frankreichs.
DER DEUTSCHE KOMMUNISMUS
ERSTER GESANG
Karl Marx wurde 1818
als drittes Kind des Anwaltes Heinrich Marx
und von Henriette Marx in Trier geboren.
Karl Marx war mütterlicherseits
Cousin dritten Grades von Heinrich Heine,
der auch aus einer jüdischen Familie stammte
und mit dem Marx während seiner Pariser Zeit
in engem Kontakt stand.
Heinrich Marx stammte mütterlicherseits
aus einer bedeutenden Rabbinerfamilie.
1812 schloss er sich dort
der französischen Freimaurerloge
„L’Etoile Hanséatique“
(Der Hanseatische Stern) an.
Zwischen 1816 und 1822 konvertierte der Vater
zum Protestantismus, da er als Jude
unter der preußischen Obrigkeit
sein unter napoleonischer Regierung angetretenes Amt
als Advokat nicht hätte weiterführen dürfen.
Die Mutter von Karl
ließ sich erst am 20. November 1825 taufen,
da sie fürchtete, ihre Familie,
allen voran ihr Vater, würde dies missbilligen.
Von 1830 bis 1835 besuchte Karl Marx
das Gymnasium zu Trier,
wo er mit 17 Jahren das Abitur
mit einem Durchschnitt von 2,4 ablegte.
1836 verlobte sich Marx in Trier
mit Jenny von Westphalen.
1835 ging er zum Studium der Rechtswissenschaften
und der Kameralistik nach Bonn.
Dort trat er der „Landsmannschaft der Treveraner“ bei.
Bekannt ist, dass er wegen „nächtlichen Lärmens
und Trunkenheit“ verurteilt wurde
und gegen ihn wegen „Tragens eines Säbels“
ermittelt wurde. In Bonn besuchte er
unter andrem Vorlesungen August Wilhelm Schlegels.
Marx schloss sich einem poetischen Kränzchen an,
dem unter andren Emanuel Geibel angehörte.
Ein Jahr später wechselte er
an die Friedrich-Wilhelms-Universität nach Berlin
und besuchte juristische Vorlesungen.
Er ließ aber das Jura-Studium
gegenüber Philosophie und Geschichte
in den Hintergrund treten.
Hier stieß Marx zum Kreis der Jung-
oder Linkshegelianer („Doctorclub“).
Hegel, der 1831 starb, hatte zu seiner Zeit
einen starken Einfluss auf das geistige Leben
in Deutschland. Das hegelianische Establishment
(„Alt- oder Rechtshegelianer“)
sah den preußischen Staat als Abschluss
einer Serie von dialektischen Entwicklungen:
eine effiziente Bürokratie, gute Universitäten,
Industrialisierung und ein hoher Beschäftigungsgrad.
Die Linkshegelianer, zu denen Marx gehörte,
erwarteten weitere dialektische Änderungen,
eine Weiterentwicklung der preußischen Gesellschaft,
die sich mit Problemen wie Armut,
staatlicher Zensur und der Diskriminierung
der Menschen, die sich nicht
zum lutherischen Glauben bekannten,
zu befassen hatte.
Nach dem Tod seines Vaters Heinrich Marx
am 10. Mai 1838 bekam Marx,
weil er erst mit 25 Jahren volljährig wurde,
einen gesetzlichen Vormund.
Am 15. April 1841 wurde Marx in absentia
an der Universität Jena mit einer Arbeit
zur Differenz der demokritischen
und epikureischen Naturphilosophie
zum Doktor der Philosophie promoviert.
Auf eine Professur rechnend,
zog Marx hierauf nach Bonn;
doch verwehrte die Politik
der preußischen Regierung ihm –
wie Ludwig Feuerbach und anderen –
die akademische Laufbahn,
galt Marx doch als ein führender Kopf
der oppositionellen Linkshegelianer.
Unter seinem Namen veröffentlichte er
im Januar 1841 in der junghegelianischen Zeitschrift
Athenäum zwei Gedichte
unter dem Titel Wilde Lieder.
Um diese Zeit gründeten liberale Bürger in Köln
die Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe
als gemeinsames Organ der verschiedenen
oppositionellen Strömungen
von monarchistischen Liberalen
bis zu radikalen Demokraten.
Marx wurde ein Hauptmitarbeiter des Blattes,
das 1842 erstmals erschien.
Marx übernahm die Redaktion der Zeitung,
welche von da an einen noch radikaleren
oppositionellen Standpunkt vertrat.
Marx, Arnold Ruge und Georg Herwegh
gerieten zu dieser Zeit
in einen politischen Dissens
zu dem Kreis um ihren Berliner Korrespondenten
Bruno Bauer, dem Marx vorwarf,
das Blatt „vorwiegend als ein Vehikel
für theologische Propaganda
und Atheismus, statt für politische
Diskussion und Aktion“ zu benutzen.
Als Friedrich Engels, der als ein Freund
und Parteigänger der Berliner Linkshegelianer galt,
am 16. November 1842 die Kölner Redaktion besuchte
und erstmals mit Marx zusammentraf,
verlief die Begegnung daher relativ kühl.
Aufgrund der Karlsbader Beschlüsse
unterlag das gesamte Pressewesen der Zensur,
die hinsichtlich der Rheinischen Zeitung
besonders streng war.
Die preußische Obrigkeit schickte zunächst
einen Spezialzensor aus Berlin.
Als dies nicht half, musste jede Ausgabe
in zweiter Instanz dem Kölner
Regierungspräsidenten vorgelegt werden.
Weil Marx’ Redaktion auch diese doppelte Zensur
regelmäßig unterlief, wurde schließlich
das Erscheinen der Zeitung 1843 untersagt.
Marx trat als Mitarbeiter und Redakteur zurück,
weil die Eigentümer hofften,
durch Änderung der Linie des Blattes
bei der Zensurbehörde eine Aufhebung
des Verbotes erreichen zu können.
1843 heiratete Marx seine vier Jahre ältere
Verlobte Jenny von Westphalen in Kreuznach.
Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor,
von denen nur die drei Töchter Jenny, Laura
und Eleanor das Kindesalter überlebten.
Im Oktober 1843 trafen Marx und seine Frau
in Paris ein. Marx begann dort,
zusammen mit Arnold Ruge,
die Zeitschrift Deutsch-Französische Jahrbücher
herauszugeben. Aufgrund seiner Tätigkeit
begann auch der briefliche Kontakt
mit Friedrich Engels, der zwei Artikel
beigetragen hatte. Von der Zeitschrift erschien
allerdings nur ein Doppelheft
und dies auch nur in deutscher Sprache,
weil Louis Blanc und Proudhon
keine Artikel lieferten.
Die Fortsetzung scheiterte aus verschiedenen Gründen.
Marx begann, sich mit politischer Ökonomie
zu beschäftigen und durch Kritik
an den französischen Sozialisten
einen eigenständigen Standpunkt zu entwickeln.
Ende 1843 lernte Marx in Paris
Heinrich Heine kennen.
Zeitlebens blieben sie freundschaftlich verbunden.
Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte
aus dem Jahre 1844
sind Marx’ erster Entwurf
eines ökonomischen Systems, der zugleich
die philosophische Richtung deutlich macht.
Marx entwickelt dort erstmals ausführlich
seine an Hegel angelehnte Theorie
der „entfremdeten Arbeit“.
Allerdings beendete Marx
diese sogenannten „Pariser Manuskripte“ nicht,
sondern verfasste kurz darauf zusammen
mit Friedrich Engels das Werk
Die heilige Familie.
Über die gemeinsame Arbeit
an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern
hatte sich mit Engels
ein reger Briefwechsel entwickelt,
der schließlich zu einer lebenslangen Freundschaft
sowie einer engen politischen
und publizistischen Zusammenarbeit führte.
Deren erstes Ergebnis war die im März 1845
veröffentlichte Schrift
Die heilige Familie,
die sich als Streitschrift verstand,
zu der Engels allerdings nur zehn Seiten
beigetragen hat. Marx polemisiert hier
gegen die Berliner Junghegelianer;
einen wichtigen Angehörigen dieser Gruppe
erwähnt er zunächst aber nicht: Max Stirner,
dessen Buch Der Einzige und sein Eigentum
im Oktober 1844 erschienen war
und von Engels in einem Brief an Marx
zunächst vorwiegend positiv eingeschätzt wurde.
Marx sah Stirners Buch kritischer als Engels
und überzeugte diesen in einer Antwort
auf den genannten Brief von seiner Auffassung.
Gleichwohl schien er sich Stirners Kritik
an Feuerbach partiell zu eigen zu machen
und verfasste im Frühjahr 1845
seine berühmten, aber erst postum veröffentlichten
Thesen über Feuerbach.
Erst im Herbst 1845, nachdem Marx
die Verteidigung Feuerbachs
gegen die Kritik Stirners an ihm
sowie Stirners Replik darauf gesehen hatte,
entschloss er sich, selbst eine Kritik Stirners zu verfassen:
das Kapitel „Sankt Max“ in der gemeinsam
verfassten Streitschrift
Die deutsche Ideologie,
das aber erst nach Marx’ Tod veröffentlicht wurde.
Im ersten, der Kritik des junghegelianischen
Religionskritikers Ludwig Feuerbach
gewidmeten Kapitel der Deutschen Ideologie
entwickeln Marx und Engels
ein Modell des „praktischen Entwicklungsprozesses“
der menschlichen Geschichte,
die sie im Gegensatz zu den Hegelianern
nicht als Entwicklungsgang des Geistes,
sondern als Geschichte menschlicher Praxis
und der sozialen Beziehungen verstehen:
„Es wird von den wirklich tätigen Menschen
ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess
auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe
und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt“.
Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei
der Moment der Teilung der Arbeit
als des bestimmenden Faktors
der geschichtlichen Entwicklung.
Dem ebenfalls materialistisch
argumentierenden Feuerbach werfen sie dabei vor,
den Menschen als etwas Wesenhaftes,
nicht aber als Subjekt sinnlich-praktischer Tätigkeit
verstanden zu haben.
Die weiteren Kapitel der Deutschen Ideologie
beinhalten eine scharfe Kritik
der übrigen Junghegelianer als Vertreter einer –
so Marx und Engels – wesentlich
idealistischen Gesellschaftskritik.
Auch den Vertretern des sogenannten
„wahren Sozialismus“ ist ein Kapitel gewidmet.
Zu Lebzeiten Marx’ wurde allerdings
nur dieses Kapitel abgedruckt..
Marx’ und Engels’ in Abgrenzung
gegen die zeitgenössischen
sozialistischen und junghegelianischen
Strömungen entworfene Grundlegung
eines „historischen Materialismus“
stellt durch die Betonung der sozialen
und materiellen Triebkräfte der Geschichte
einen unmittelbaren Vorläufer der Soziologie dar.
Marx hatte sich außerdem an der Redaktion
des in Paris erscheinenden deutschen Wochenblattes
Vorwärts! beteiligt, das den Absolutismus
der deutschen Länder – besonders Preußens – angriff,
unter Marx’ Einfluss bald mit deutlich
sozialistischer Ausrichtung.
Die preußische Regierung setzte deswegen
seine Ausweisung aus Frankreich durch,
so dass Marx 1845 nach Brüssel übersiedeln musste,
wohin Engels ihm folgte.
Bei einer gemeinsamen Studienreise nach England
1845 knüpften sie Verbindungen
zum revolutionären Flügel der Chartisten.
Marx gab Anfang Dezember 1845
die preußische Staatsbürgerschaft auf
und wurde staatenlos, nachdem er erfahren hatte,
dass die preußische Regierung
vom belgischen Staat
seine Ausweisung erwirken wolle.
Spätere Gesuche, seine Staatsbürgerschaft
wiederherzustellen, blieben erfolglos.
In Brüssel veröffentlichte Marx 1847 die Schrift
Misère de la philosophie.
Réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon,
eine Kritik der ökonomischen Theorie
Pierre-Joseph Proudhons und darüber hinausgehend
der kapitalistischen Gesellschaft selbst.
Außerdem schrieb er gelegentlich Artikel
für die Deutsche-Brüsseler-Zeitung.
Anfang 1846 gründeten Marx und Engels
in Brüssel das Kommunistische Korrespondenz-Komitee,
dessen Ziel die inhaltliche Einigung
und der organisatorische Zusammenschluss
der revolutionären Kommunisten
und Arbeiter Deutschlands und anderer Länder war;
so wollten sie den Boden für die Bildung
einer proletarischen Partei bereiten.
Schließlich traten Marx und Engels in Verbindung
mit Wilhelm Weitlings sozialistischem Bund
der Gerechten, in dem sie 1847 Mitglieder wurden.
Noch im selben Jahr setzte Marx
die Umgründung zum Bund der Kommunisten durch
und erhielt den Auftrag, dessen Manifest zu verfassen.
Es wurde im Revolutionsjahr 1848 veröffentlicht
und ging als Kommunistisches Manifest
(Manifest der Kommunistischen Partei)
in die Geschichte ein.
Am 15. September 1850 stellte Marx den Antrag,
die Zentralbehörde nach Köln zu verlegen
und in London zwei Kreise des Bundes zu bilden.
Der Beschluss wurde gegen eine einzige Gegenstimme
angenommen. Am 17. September 1850
traten Marx, Engels, Liebknecht und andere
aus dem Londoner Arbeiterbildungsverein aus.
Kurz darauf löste die französische Februarrevolution 1848
in ganz Europa politische Erschütterungen aus;
als diese Brüssel erreichten, wurde Marx verhaftet
und aus Belgien ausgewiesen.
Da ihn inzwischen die neu eingesetzte
provisorische Regierung der Französischen Republik
wieder nach Paris eingeladen hatte,
kehrte er dorthin zurück;
nach Ausbruch der deutschen Märzrevolution
ging Marx nach Köln.
Dort war er einer der Führer
der revolutionären Bewegung
in der preußischen Rheinprovinz
und gab die Neue Rheinische Zeitung,
Organ der Demokratie, heraus,
in der unter anderen erstmals
die unvollendet gebliebene Schrift
Lohnarbeit und Kapital abgedruckt wurde.
Die Zeitung konnte am 19. Mai 1849
zum letzten Mal erscheinen, bevor
die preußische Reaktion ihr Erscheinen unterband.
Marx kehrte zunächst nach Paris zurück,
wurde aber schon einen Monat später
vor die Wahl gestellt, sich entweder
in der Bretagne internieren zu lassen
oder Frankreich zu verlassen.
Marx ging daraufhin mit seiner Familie
ins Exil nach London,
wo er vor allem anfangs in dürftigen Verhältnissen
von journalistischer Tätigkeit
sowie finanzieller Unterstützung
vor allem von Engels überlebte,
der Marx nach England folgte.
Politisch widmete er sich
der internationalen Agitation für den Kommunismus,
theoretisch entwickelte er wesentliche Elemente
seiner Analyse und Kritik des Kapitalismus.
In London erschien zunächst Marx’ Werk
„Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“;
daran anknüpfend „Der achtzehnte Brumaire
des Louis Bonaparte“
zur Machtergreifung Napoleons III.
Von 1852 an war Marx Londoner Korrespondent
der New York Daily Tribune
und jahrelang deren Korrespondent für Europa.
Die Artikel sind keine gewöhnlichen Berichte,
sondern umfassende Analysen
der politischen und ökonomischen Lage
einzelner europäischer Länder,
oft als ganze Artikelreihe.
Die Mitarbeit an der Tribune endete,
als Charles Anderson Dana die Mitarbeit
von Marx wegen inneramerikanischer Angelegenheiten
am 28. März 1862 kündigte.
1859 schrieb Marx zahlreiche Artikel
für die Arbeiterzeitung „Das Volk“.
Marx wurde Korrespondent der Wiener Presse
und stürzte sich in das Studium
der politischen Ökonomie.
1861 versuchte er, auch mit gerichtlichen Mitteln
und unterstützt von Ferdinand Lassalle,
seine preußische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen,
doch die preußische Regierung verweigerte dies.
Während des Januaraufstands 1863
nahm Marx Kontakt zu polnischen Aufständischen auf
und veranlasste den Deutschen Arbeiterbildungsverein
in London, sich an der Unterstützung
der Polen zu beteiligen.
In der Folge entstanden Marx’
ökonomische Hauptwerke.
Als erste systematische Darstellung
der marxschen ökonomischen Grundgedanken
erschien 1859 Zur Kritik der politischen Ökonomie,
das ursprünglich als erstes Heft
zur Fortsetzung bestimmt war.
Doch Marx war mit der Detailausführung
des Gesamtplans noch nicht zufrieden,
und so begann er seine Arbeit von neuem.
Erst 1867 erschien der erste der drei Bände
seines Hauptwerks Das Kapital.
Während er das Kapital ausarbeitete,
bot sich Marx auch wieder Gelegenheit
zu praktischer Tätigkeit in der Arbeiterbewegung:
1864 beteiligte er sich federführend
an der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation
(„Erste Internationale“)
und leitete sie bis zur faktischen Auflösung 1872.
Marx entwarf die Statuten
und das grundlegende Programm,
die „Inauguraladresse
der Internationalen Arbeiter-Assoziation“,
das so disparate Sektionen wie deutsche Kommunisten,
englische Gewerkschafter, Schweizer Anarchisten
und französische Proudhonisten zusammenführte.
In den deutschen Staaten trieb Marx zunächst
die Schaffung einer revolutionären
sozialistischen Partei voran;
dies geschah in Abgrenzung
zum sozialreformerisch ausgerichteten
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein
des früheren Marx-Schülers Ferdinand Lassalle,
mit dem er sich in den politischen Zielen entzweit hatte.
Wilhelm Liebknecht stand
seit seiner Übersiedlung nach Berlin 1862
in Kontakt mit Marx und Engels.
Beide unterstützten ihn durch Beiträge
in den Zeitungen Demokratisches Wochenblatt
und Der Volksstaat. Wilhelm Liebknecht
war 1869 Mitbegründer der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei, die sich 1875 mit den Lassalleanern
zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands vereinigte,
der späteren Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).
Auch nach der Auflösung der Ersten Internationale
blieb Marx in ständiger Verbindung
mit fast allen wichtigen Personen
der europäischen und amerikanischen Arbeiterbewegung,
die sich oft mit ihm persönlich berieten.
An der Vollendung seiner stetig vorangetriebenen
ökonomischen Arbeiten hinderte Marx
seine zunehmende Kränklichkeit.
In den Jahren von 1862 bis 1874
litt er an einer Hautkrankheit, die ihn stark behinderte.
Um sicher nach dem Kontinent zu reisen,
stellte Marx am 1. August 1874 einen Antrag
auf die britische Staatsbürgerschaft,
der aber am 17. August abgelehnt wurde
mit der Begründung, er sei ein “notorius agitator,
the head of the International Society,
and an advocate of Communistic principles.
This man has not been loyal
to his own King and Country”.
Am 2. Dezember 1881 starb seine Frau Jenny Marx,
am 11. Januar 1883 „die vom Mohr
am meisten geliebte Tochter“ Jenny.
Marx verstarb am 14. März 1883
im Alter von 64 Jahren in London
und wurde am 17. März 1883
auf dem Highgate Cemetery beigesetzt.
Friedrich Engels hielt eine Trauerrede.
Die wissenschaftlichen Leistungen von Karl Marx
hat Engels in seiner Grabrede
in zwei wesentliche Entdeckungen zusammengefasst:
„Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung
der organischen Natur, so entdeckte Marx
das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte:
dass also die Produktion der unmittelbaren
materiellen Lebensmittel
und damit die jedesmalige ökonomische
Entwicklungsstufe eines Volkes
oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet,
aus der sich die Staatseinrichtungen,
die Rechtsanschauungen, die Kunst
und selbst die religiösen Vorstellungen
der betreffenden Menschen entwickelt haben,
und aus der sie daher auch erklärt werden müssen –
nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.
Damit nicht genug.
Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz
der heutigen kapitalistischen Produktionsweise
und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft.
Mit der Entdeckung des Mehrwerts
war hier plötzlich Licht geschaffen.“
ZWEITER GESANG
Engels war das erste von neun Kindern
des erfolgreichen Baumwollfabrikanten
Friedrich Engels und dessen Frau
Elisabeth Franziska Mauritia Engels.
Engels’ Vater entstammte einer angesehenen,
seit dem 16. Jahrhundert im Bergischen Land
ansässigen Familie
und stand dem Pietismus nahe.
Seine Mutter stammte aus einer Philologenfamilie.
In seiner Geburtsstadt Barmen
besuchte er die Städtische Schule.
Im Herbst 1834 schickte ihn sein Vater
auf das liberale Gymnasium zu Elberfeld.
Der äußerst sprachbegabte Schüler
begeisterte sich für humanistische Ideen
und geriet in zunehmende Opposition
zu seinem Vater.
Auf dessen Drängen musste Engels
zum 25. September 1837 das Gymnasium,
ein Jahr vor dem Abitur, verlassen,
um als Handlungsgehilfe im Handelsgeschäft
seines Vaters in Barmen zu arbeiten.
Im Juli 1838 reiste er nach Bremen,
um dort im Hause des Großhandelskaufmanns
und sächsischen Konsuls Heinrich Leupold
seine Ausbildung bis April 1841 fortzusetzen.
Er wohnte im Haushalt von Georg Gottfried Treviranus,
Pastor an der Martini-Kirche.
Im weltoffenen Bremen hatte Engels Gelegenheit,
neben seiner kaufmännischen Ausbildung
die durch Presse und Buchhandel
verbreiteten liberalen Ideen zu verfolgen.
Er fühlte sich vor allem von den liberalen Dichtern
und Publizisten des „Jungen Deutschland“
angesprochen und unternahm selbst
literarische Versuche.
Noch im Frühjahr 1839 begann Engels,
mit dem radikalen Pietismus
seiner Geburtsstadt abzurechnen.
In seinem Artikel Briefe aus dem Wuppertal,
der 1839 im Telegraph für Deutschland erschien,
schilderte er, wie der religiöse Mystizismus
im Wuppertal alle Bereiche des Lebens durchdrang,
und machte auf den Zusammenhang
zwischen der pietistischen Lebenseinstellung
und dem sozialen Elend aufmerksam.
Engels betätigte sich als Bremer Korrespondent
des Stuttgarter Morgenblatts für gebildete Leser,
ab 1840 bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung.
Er schrieb zahlreiche Literaturkritiken,
Gedichte, Dramen und verschiedene Prosaarbeiten.
Darüber hinaus verfasste er Berichte
zur Auswanderungsfrage
und über die Schraubendampfschifffahrt.
Wichtige Förderer seiner literarisch-politischen
Interessen waren zu dieser Zeit Ludwig Börne,
Ferdinand Freiligrath und insbesondere Karl Gutzkow.
In dessen Telegraph für Deutschland
erschienen von 1839 bis 1841
unter dem Pseudonym „Friedrich Oswald“
zahlreiche Beiträge von Engels.
Ab September 1841 leistete Engels
seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger
bei der Garde-Artillerie-Brigade in Berlin ab
und besuchte dort Vorlesungen zur Philosophie
an der Universität. Er näherte sich
dem Kreis der Junghegelianer
und schloss sich der Gruppe um Bruno und Edgar Bauer,
den sogenannten „Freien“, an.
Zur Jahreswende 1841/42 veröffentlichte Engels –
unter dem Eindruck von Schellings
Berliner Hegel-Vorlesungen –
einen Artikel und zwei Broschüren,
die sich gegen die Philosophie Schellings richteten.
Seit seinen Streitschriften gegen Schelling
widmete Engels der Philosophie
immer größere Aufmerksamkeit.
Er studierte die Werke Hegels,
beschäftigte sich ausführlich mit dem Stand
der religionskritischen Forschungen
und wandte sich zum ersten Mal
der Philosophie der französischen Materialisten zu.
Ab Mitte 1842 begann er,
sich mit Ludwig Feuerbach
(Das Wesen des Christentums)
auseinanderzusetzen, der in seinen Werken
die Religion sowie den Hegelschen Idealismus verwarf.
Unter dem Eindruck dieser Studien
entfernte sich Engels zunehmend
vom Junghegelianismus und fing an,
Positionen des Materialismus einzunehmen.
Damit bekamen für ihn politische Tagesfragen
ein immer stärkeres Gewicht.
Seit April 1842 veröffentlichte er
gegen den reaktionären Kurs
des preußischen Staates gerichtete Artikel
in der Rheinischen Zeitung,
dem damals führenden Organ der oppositionellen
bürgerlichen Bewegung in Deutschland.
Engels interessierte sich schon sehr früh
für die prekäre Lage der Arbeiterschaft.
Im bereits 1839 im Telegraph für Deutschland
veröffentlichten Aufsatz
Briefe aus dem Wuppertal
beschreibt er unter anderem
die Degenerationserscheinungen
deutscher Industriearbeiter –
wie die Verbreitung des Mystizismus
und der Trunkenheit –
und die Kinderarbeit in den Fabriken.
Daneben beschäftigte sich Engels
in der Folgezeit stark mit den Junghegelianern,
insbesondere mit David Friedrich Strauß.
In den Jahren 1842/43 erschienen –
unter dem Eindruck von Schellings
Hegel-Vorlesungen in Berlin –
Artikel und Broschüren zu Schelling
und dessen Hegel-Kritik.
Engels kritisiert darin den Versuch Schellings,
die christliche Religion zu rechtfertigen,
und verteidigt die Hegelsche Dialektik.
Schellings Philosophie stelle einen Rückfall
in die Scholastik und Mystik dar
und sei der Versuch, die Philosophie wieder
zur „Magd der Theologie“ zu erniedrigen.
Im November 1842 reiste Engels über Köln –
wo er bei einem Redaktionsbesuch
der Rheinischen Zeitung erstmals
Karl Marx persönlich begegnete –
nach Manchester, wo er im Stadtteil
Chorlton-on-Medlock wohnte,
um seine kaufmännische Ausbildung
in der seinem Vater und dessen Partner Ermen
gehörenden Baumwollspinnerei
Ermen & Engels zu vollenden.
Im industriell viel weiter entwickelten England
lernte Engels die Realität der dortigen
Arbeiterklasse kennen,
was seine politische Haltung veränderte
und auf Lebenszeit prägte.
Der Feudalismus war dort bereits überwunden,
und die Widersprüche zwischen Bourgeoisie
und Arbeiterklasse traten für Engels offen zutage.
Er suchte den Kontakt mit der sich formierenden
englischen Arbeiterbewegung
und lernte deren Kampfformen
wie Streiks, Meetings und Gesetzesinitiativen kennen.
Die irische Arbeiterin Mary Burns,
Engels’ Lebensgefährtin,
spielte dabei eine wichtige Rolle.
1843 nahm Engels in London
Kontakt mit der ersten revolutionären
deutschen Arbeiterorganisation,
dem „Bund der Gerechten“, auf
und begegnete dort führenden Mitgliedern.
Gleichzeitig trat er mit den englischen
Chartisten in Leeds in Verbindung
und schrieb erste Artikel, die in den Zeitungen
der Owenisten (The New Moral World)
und Chartisten (The Northern Star) erschienen.
In den Herbst 1843 geht seine Freundschaft
mit dem Chartistenführer Julian Harney
und dem Handelsgehilfen
und Dichter Georg Weerth zurück,
der später das Feuilleton
der Neuen Rheinischen Zeitung
in den Revolutionsjahren 1848/49 leiten sollte.
Bewegt von den zähen Kämpfen
des englischen Proletariats,
vertiefte sich Engels in das Studium
der bestehenden Theorien
der kapitalistischen Gesellschaft.
Er griff zu den Werken der englischen
und französischen Utopisten
(Robert Owen, Charles Fourier,
Claude-Henri de Saint-Simon)
und der klassischen bürgerlichen
politischen Ökonomie (Adam Smith,
David Ricardo). Die Resultate seiner Studien
veröffentlichte er in der Rheinischen Zeitung,
in englischen Arbeitsblättern
und in einer Schweizer Zeitschrift.
Im Februar 1844 entstanden dann die Schriften
Die Lage Englands und Umrisse
zu einer Kritik der Nationalökonomie
in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern,
die von Karl Marx und Arnold Ruge
in Paris herausgegeben wurden.
Er versuchte darin eine erste Antwort
auf die Frage zu geben, welche Rolle
die ökonomischen Bedingungen und Interessen
für die Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft spielen.
Kurz nach seiner Ankunft in Manchester
hatte Engels die irischen Arbeiterinnen
Mary und Lizzie Burns kennengelernt,
mit denen er zeitlebens in Liebe verbunden war;
einen Tag vor Lizzies Tod ging er
noch offiziell die Ehe mit ihr ein.
Mit Marx stand Engels seit seiner Mitarbeit
an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern
im regelmäßigen Briefwechsel.
Bei seiner Rückreise nach Deutschland,
Ende August 1844, besuchte er ihn
in Paris für zehn Tage.
Die beiden stellten fest,
dass ihre Ansichten übereinstimmten,
und beschlossen, weiterhin eng zusammenzuarbeiten.
Mit seiner Ankunft in England 1842,
der Konfrontation mit dem Chartismus
und den ersten historischen Auseinandersetzungen
der Arbeiterbewegung verlagerte sich
Engels’ Interesse auf die Analyse
der sozialen und politischen Situation
der Arbeiterschaft. Er kam zu der Überzeugung,
dass der Kampf der materiellen Interessen
der Hauptantrieb der gesellschaftlichen Entwicklung ist,
welcher seinen politischen Ausdruck
im Klassenkampf findet.
Seine theoretischen Ansichten zu dieser Zeit
kommen am besten in der Schrift
Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie
zum Ausdruck. Engels formuliert darin
seine Kritik an der idealistischen
und materialistischen Philosophie.
Als zentrale Kategorie des Kapitalismus
stellt er das Privateigentum heraus,
das den Grund für die Entfremdung der Arbeit,
für die Bildung von Monopolen
und für die wiederkehrenden Krisen darstelle.
Die Lösung der Probleme des Kapitalismus
sieht Engels in einer rationellen
Organisation der Produktion.
Nach seiner Rückkehr nach Barmen
fand Engels veränderte Verhältnisse vor.
Der Aufstand der schlesischen Weber im Juni 1844
hatte auch in anderen Teilen Deutschlands
Arbeiterstreiks ausgelöst.
Diese beeinflussten auch die bürgerlichen Kräfte
in Rheinpreußen zur Opposition
gegen die preußische Regierung.
Um die oppositionellen Kräfte zu unterstützen,
bemühte sich Engels, Verbindung
zu den im Rheinland wirkenden
Sozialisten aufzunehmen, deren führender
Theoretiker Moses Hess war.
Mit ihm und dem Maler und Dichter
Gustav Adolf Koettgen entfaltete er
ab dem Herbst 1844 in Elberfeld
eine rege agitatorische Tätigkeit.
In den Elberfelder Reden vom Februar 1845
propagierte Engels eine kommunistische Gesellschaft,
worauf ihm von der Provinzialregierung
alle öffentlichen Versammlungen
verboten wurden. Er konzentrierte sich
nun darauf, die Verbindungen
zwischen den illegal arbeitenden
sozialistischen Gruppen zu festigen,
und pflegte seine internationalen Beziehungen,
vor allem zu den englischen Sozialisten
und Chartisten. Für die sozialistische
Zeitschrift The New Moral World,
an der er bereits in England mitgearbeitet hatte,
schrieb er mehrere Artikel, in denen er
über die Entwicklung sozialistischer
Strömungen in Deutschland berichtete.
Darüber hinaus bemühte er sich,
die verschiedenen Gruppen für die von Marx
und ihm vertretenen Ideen zu gewinnen
und die vorherrschenden idealistischen
und utopisch-sozialistischen
Vorstellungen zu überwinden.
Ein wichtiges Ereignis war dabei
das Erscheinen der Heiligen Familie,
ein Gemeinschaftswerk mit Marx, im Februar 1845.
Die wissenschaftliche Öffentlichkeit in Deutschland
reagierte darauf mit zumeist heftigen Angriffen
auf das darin enthaltene
materialistisch-sozialistische Ideengut.
Um die Theorie vom Klassenkampf
weiter voranzutreiben, arbeitete Engels
seit seiner Ankunft in Barmen
intensiv an seinem Werk
Die Lage der arbeitenden Klasse in England,
das im März 1845 erschien.
Es wurde von den wichtigsten deutschen
Zeitungen und Zeitschriften besprochen
und fand bei den demokratischen Kräften
des Bürgertums großes Interesse.
Im April 1845 übersiedelte Engels nach Brüssel,
um Marx zu unterstützen,
der unter dem Druck der preußischen Reaktion
von der französischen Regierung
aus Frankreich ausgewiesen worden
und in das junge Königreich Belgien gezogen war.
Noch im gleichen Jahr folgte ihm Mary Burns
aus England. Marx und Engels bauten in Brüssel
einen gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreis auf.
Marx und Engels stellten fest,
dass sich in der kommunistischen Bewegung
Ideen ausbreiteten, die die Aufnahme
ihrer neuen Erkenntnisse hemmten.
Sie begannen daher mit der Arbeit an der Schrift
Die deutsche Ideologie,
die eine Kritik an Feuerbach und dem
„seitherigen deutschen Sozialismus“ umfasste.
Nach sechs Monaten beendeten sie
im Mai 1846 ihr Werk. Engels bemühte sich
bis 1847 vergeblich um einen Verleger
und verfasste als Ergänzung Anfang 1847
noch die Arbeit Die wahren Sozialisten.
Nachdem sie aus ihrer Sicht
die theoretischen Grundlagen
für die künftige Umgestaltung der Gesellschaft
gelegt hatten, sahen Marx und Engels
ihre wichtigste Aufgabe darin, das europäische
und zunächst das deutsche Proletariat
für ihre Überzeugungen zu gewinnen.
Sie widmeten sich nach 1846 immer stärker
der praktischen Tätigkeit für die Bildung
einer proletarischen Partei.
Im Februar 1846 gründeten sie in Brüssel
das Kommunistische Korrespondenz-Komitee,
das die Verbindung zwischen den Kommunisten
in den verschiedenen Ländern herstellen sollte.
Im Laufe des Jahres 1846 kam es
zur Gründung weiterer Komitees
in zahlreichen europäischen Städten.
Marx und Engels hielten diese zumeist kleinen Gruppen
für die Basis, um ihre Ideen
in die Arbeiterbewegung hineinzutragen
und sich mit jenen weltanschaulichen Konzepten
auseinanderzusetzen, die bis dahin
die Vorstellungswelt der Arbeiter bestimmten.
Dazu gehörten vor allem der utopische Kommunismus,
die Lehren des französischen Sozialisten Proudhon
und die Auffassungen des wahren Sozialismus.
Ende Januar 1847 traten Marx und Engels
dem „Bund der Gerechten“ bei,
der sich ihren Ideen inzwischen angenähert hatte.
Sie arbeiteten nun energisch darauf hin,
den „Bund“ in eine Partei
der Arbeiterklasse umzuwandeln.
Währenddessen schrieb Marx in Brüssel
an seiner theoretischen Streitschrift
Misère de la philosophie (Das Elend der Philosophie),
die im Juli 1847 in Frankreich herauskam
und eine Kritik an den Reformplänen
Proudhons enthielt. Engels propagierte in Paris
die in dem Buch behandelten theoretischen Fragen
unter den deutschen Kommunisten
und den Führern der französischen Sozialisten.
Im Juni 1847 fand der erste der beiden Bundeskongresse
des „Bundes der Gerechten“ statt,
der sich nun in den „Bund der Kommunisten“
umbenannte, da für deren Mitglieder
nicht mehr die „Gerechtigkeit“,
sondern der Angriff auf „die bestehende
Gesellschaftsordnung und das Privateigentum“
im Vordergrund stand. An die Stelle
der alten Bundesdevise „Alle Menschen sind Brüder“
trat nun die revolutionäre Klassenlosung
„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
In Form von 22 Fragen und Antworten
beschloss der Kongress
den „Entwurf eines Kommunistischen
Glaubensbekenntnisses“.
Im August 1847 gründete Engels
gemeinsam mit Marx
den Brüsseler Deutschen Arbeiterverein.
Anfang November 1847 verfasste Engels,
beauftragt von den Pariser Mitgliedern
des „Bundes der Kommunisten“,
die Grundsätze des Kommunismus.
Noch im selben Monat nahmen Marx und Engels
am zweiten Kongress des „Bundes
der Kommunisten“ in London teil,
wo sie beauftragt wurden, das Programm
des Bundes weiter auszuarbeiten, woraus
Das Kommunistische Manifest entstand,
das im Februar 1848 in London erschien.
Im Hintergrund ihrer Arbeit stand die Erwartung,
dass die bürgerliche Revolution von 1848
den proletarischen Umsturz der bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland
nach sich ziehen werde. Aktiv wurde Engels
auch in der Auseinandersetzung
mit dem wahren Sozialismus.
Nach seiner Rückkehr von England
nach Deutschland verfasste Engels
Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
Das 1845 erschienene Werk stellt Engels’
erste größere eigenständige Veröffentlichung dar.
Es fiel in eine Zeit besonderer sozialer Spannungen
in Deutschland (Weberaufstand).
Engels wendet sich hier der sozialen Frage zu,
ausgehend von den Verhältnissen in England,
die er aus eigener Anschauung kannte.
Er beschreibt die elenden Wohnquartiere der Arbeiter
in den englischen Industriestädten
und schildert die Arbeitssituation des Proletariats,
weist auf Kinderarbeit, Berufskrankheiten
und Sterblichkeitsraten hin.
Schließlich informiert er über die zusätzliche
Knebelung der Arbeiterfamilien
durch den Zwang, bei den Unternehmern
Lebensmittel einzukaufen
und in den von ihnen bereitgestellten
Wohnungen zu wohnen.
Die im September 1844 geschlossene Freundschaft
mit Marx führte zunächst
zu einer gemeinsamen Aufarbeitung
ihrer philosophischen Vergangenheit.
Ihre erste gemeinsame Schrift
Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik
markiert ihren Übergang vom Idealismus
zum Materialismus. Marx und Engels
rechnen darin mit ihren früheren
junghegelianischen Gesinnungsgenossen ab.
Bauers „kritischer Kritik“ werfen sie vor,
dass in ihrem Zentrum nicht Menschen,
sondern „Kategorien“ – Geist und Selbstbewusstsein –
stehen und sie hinter das von Feuerbach
erreichte Niveau zurückfalle,
die den spekulativen Idealismus der Hegelschen
Philosophie längst überwunden habe.
Als Antwort auf polemische Beiträge
Bruno Bauers und Max Stirners
in Wiegands Vierteljahresschrift entstand
bis Mai 1846 die wohl wichtigste Schrift
dieser Periode, Die deutsche Ideologie.
Kritik der neuesten deutschen Philosophie
in ihren Repräsentanten, Feuerbach,
Bruno Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus
in seinen verschiedenen Propheten.
In der Schrift fassen Marx und Engels
ihre Kritik an der junghegelianischen
Philosophie zusammen, deren Forderung
nach Bewusstseinsveränderung darauf hinauslaufe,
das Bestehende nur anders zu interpretieren,
es aber ansonsten anzuerkennen.
Feuerbachs Materialismus,
Bauers Philosophie des Selbstbewusstseins
und Stirners individualistischer Anarchismus
ließen trotz aller theoretischen Radikalität
die praktischen Verhältnisse unangetastet bestehen.
Daneben kritisieren sie den deutschen Sozialismus,
der sich zwar kosmopolitisch gebe,
aber „nationale Borniertheit“ zeige.
Er sei von einer sozialen zu einer
nur noch literarischen Bewegung verkommen
und befriedige so einzig die Bedürfnisse
des deutschen Kleinbürgertums.
Mit der Trennung von den Junghegelianern
und Sozialisten radikalisierten sich
die Positionen von Marx und Engels.
1847 wurden sie vom zweiten Kongress
des Bundes der Kommunisten mit der Ausarbeitung
des Manifests der Kommunistischen Partei beauftragt.
Das Werk formuliert den Klassenkampf als Prinzip
der bisherigen Geschichte
und begreift den Aufstieg der modernen Bourgeoisie
als Sieg einer revolutionären Klasse.
Mit ihrem Sieg verliere aber die Bourgeoisie
ihre revolutionäre Rolle und hemme
die weitere Entwicklung der Produktivkräfte.
Die Bourgeoisie habe in ihrem Kampf
gegen den Feudalismus sämtliche
überkommenden Verhältnisse der Menschen
untereinander zerstört und an deren Stelle
das reine Geldverhältnis gesetzt.
Bedingung der von ihr geschaffenen
kapitalistischen Gesellschaft sei die Lohnarbeit,
ihre Konsequenz das Proletariat,
das durch seine Arbeit das Kapital vermehre,
ohne sich selbst Eigentum beschaffen zu können.
Die Bourgeoisie produziere so „vor allem
ihre eignen Totengräber“.
Das Manifest schließt mit dem Kampfaufruf
„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Es erlangte zwar keine unmittelbare
politische Wirksamkeit, wurde jedoch später
zur Grundlage sozialistischer
und kommunistischer Parteiprogramme.
Nach dem Ausbruch der Märzrevolution in Wien
und Barrikadenkämpfen in Berlin (März 1848)
trafen sich Marx und Engels in Paris
und arbeiteten dort die Forderungen
der Kommunistischen Partei in Deutschland aus,
die als Flugblatt gedruckt wurden.
Danach verließen beide Paris
und trafen im April in Köln ein,
um mit den Vorbereitungen zur Gründung
der Neuen Rheinischen Zeitung zu beginnen;
unter den Bedingungen der eben erkämpften
Pressefreiheit erschien eine große Tageszeitung
als das wirksamste Mittel, die politischen Ziele
in aller Öffentlichkeit zu vertreten.
Marx wurde Chefredakteur der neuen Zeitung,
Engels sein Stellvertreter.
Wegen drohender Verhaftung musste Engels
im September 1848 Köln verlassen
und fuhr in die Schweiz, um dort
an der Organisation der Arbeitervereine mitzuwirken.
Im Januar 1849 kehrte er nach Köln zurück,
wo er in dem Presseprozess
gegen die Neue Rheinische Zeitung
vom Kölner Geschworenengericht
freigesprochen wurde.
Im Mai 1849 unterstützte Engels zeitweise
aktiv den Elberfelder Aufstand.
Einen Monat später trat er
in die badisch-pfälzische Armee ein
und nahm als Adjutant Willichs
an den revolutionären Kämpfen
gegen Preußen in Baden im Gefecht in Gernsbach
und der Pfalz teil. Hier begegnete er
erstmals Johann Philipp Becker,
dem Kommandeur der badischen Volkswehr,
mit dem ihn später eine enge Freundschaft verband.
Seine Kritik an der halbherzigen Politik
der badischen Revolutionsregierung
und dem letztlich unglücklichen Feldzug
legte er später in seinem Werk
Die deutsche Reichsverfassungskampagne nieder.
Nach der Niederlage der Märzrevolution
flüchtete Engels wie viele revolutionäre Emigranten
über die Schweiz nach England.
Im September 1850 spaltete sich
der Bund der Kommunisten.
Zwei Monate später arbeitete Engels wieder
bei Ermen & Engels in Manchester
und übernahm später den Anteil seines Vaters,
den er schließlich 1870 an Ermen verkaufte.
Engels begann, Militärwesen zu studieren;
aufgrund seiner praktischen militärischen Erfahrungen
im Wehrdienst sowie den Kämpfen in Baden
entwickelte er sich zum Militärexperten,
was ihm den Spitznamen „General“ einbrachte.
Ende 1850 begann er zudem, die russische
und andere slawische Sprachen zu erlernen,
und beschäftigte sich mit der Geschichte und Literatur
der slawischen Völker.
Seine Sprachstudien setzte er im Jahre 1853
mit dem Erlernen des Persischen fort.
Engels beherrschte zwölf Sprachen aktiv
und zwanzig passiv, darunter Altgriechisch,
Altnordisch, Arabisch, Bulgarisch, Dänisch,
Englisch, Französisch, Friesisch, Gotisch, Irisch,
Italienisch, Latein, Niederländisch, Norwegisch,
Persisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch,
Schottisch, Schwedisch, Serbokroatisch,
Spanisch, Tschechisch.
Auf das Jahr 1850 geht auch der Beginn
des ständigen brieflichen Gedankenaustauschs
mit Marx zurück. Unter dem Namen
seines Freundes schrieb er ab 1851 bis 1862
regelmäßig für die Zeitschrift New York Daily Tribune.
Von 1853 bis 1856 veröffentlichte er diverse Artikel
über den Krimkrieg und andere
internationale Ereignisse
in der New York Daily Tribune
und in der Neuen Oder-Zeitung.
Von 1857 bis 1860 arbeitete Engels
an der von Charles Anderson Dana in New York
herausgegebenen New American Cyclopaedia mit
und erstellte eine Reihe von Militärartikeln
sowie biographische und geographische Artikel.
Zudem verfasste er zahlreiche Zeitungsartikel,
unter anderem zu dem Krieg in Italien von 1859
auch für die Arbeiterzeitung Das Volk.
Ende der 1850er und Anfang der 1860er Jahre
befasste sich Engels in zwei Schriften
mit dem aufkommenden europäischen Nationalismus.
Im April 1859 erschien in Berlin
als anonyme Broschüre die Arbeit Po und Rhein,
in der er sich gegen die österreichische
Vorherrschaft in Italien wandte
und die Überzeugung vertrat, dass nur
ein unabhängiges Italien
im Interesse Deutschlands liege.
Für die Deutschen forderte er die „Einheit,
die allein uns nach innen und außen
stark machen kann“. Anfang 1860
veröffentlichte er ebenfalls anonym die Schrift
Savoyen, Nizza und der Rhein,
in der er sich gegen die Annexion Savoyens und Nizzas
durch Napoleon III. aussprach
und vor einer russisch-französischen Allianz warnte.
Während Engels zu Beginn der 1860er Jahre
von einer Reihe von privaten Vorkommnissen
erschüttert wurde – dem Tod seines Vaters,
dem seiner Ehefrau Mary Burns
und seines langjährigen Kampfgenossen Wilhelm Wolff,
zogen zwei politische Ereignisse die Aufmerksamkeit
von Engels und Marx auf sich.
Den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865)
betrachteten beide als ein „Schauspiel
ohne Parallele in den Annalen der Kriegsgeschichte“.
Engels forderte von den Nordstaaten,
den Krieg auf revolutionäre Weise zu führen
und die Volksmassen stärker einzubeziehen.
Er betonte, dass der Kampf für die Befreiung
der Schwarzen die ureigenste Sache
der Arbeiterklasse sei und auch die weißen Arbeiter
so lange nicht frei sein könnten,
wie die Sklaverei existiere.
Im polnischen Aufstand gegen das zaristische Russland
(1863) sah Engels eine wichtige Voraussetzung,
den reaktionären Einfluss des Zarismus
in Europa zu schwächen
und die demokratische Bewegung in Preußen,
Österreich und Russland selbst zu entfalten.
Nach dem Tod Ferdinand Lassalles 1864
arbeitete Engels nach Vorschlag Marx’
an der Zeitung des Social-Demokrat mit,
um deren Mitglieder für eine revolutionäre
Politik zu gewinnen. Im Februar 1865
stellten beide ihre Mitarbeit ein,
da das Blatt immer deutlicher Bismarcks Nähe suchte.
1865 erschien in Hamburg die Broschüre
Die preußische Militärfrage
und die deutsche Arbeiterpartei,
in der es Engels primär darum ging,
gegen die Lassalleaner und den Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein
eine revolutionäre Position in Erinnerung zu rufen.
Nachdem Marx seit den 1850er Jahren
an der Erstellung des Kapitals gearbeitet hatte,
erschien der erste Band im September 1867.
Engels hatte die langjährigen ökonomischen Studien
von Marx überhaupt erst ermöglicht,
indem er den „hündischen Commerce“
auf sich nahm und den Lebensunterhalt
der Familie Marx zu einem großen Teil bestritt.
Engels vermochte Marx auf allen Gebieten
der ökonomischen Theorie zu beraten.
Von größtem Wert war auch sein Rat
in praktischen Fragen.
Da für die Verbreitung der im Kapital
enthaltenen Ideen zunächst
noch keine Arbeiter-Zeitungen zur Verfügung standen,
veröffentlichte Engels unter dem Deckmantel
der Kritik in der bürgerlichen Presse
mehrere Rezensionen zu Marx’ Werk.
Im Jahr 1868 konnte er dann im von Wilhelm Liebknecht
neu herausgegebenen Demokratischen Wochenblatt
ohne die vorherigen Beschränkungen
das Werk als das wichtigste Buch
für die Arbeiterschaft würdigen.
Im Oktober 1870 zog Engels mit Lizzie Burns
nach London in die Nähe der Marxschen Wohnung.
Unterdessen war in Mitteleuropa
der Deutsch-Französische Krieg ausgebrochen.
Marx und Engels fiel es schwer,
„sich mit dem Gedanken zu versöhnen,
dass, anstatt für die Zerstörung des Kaiserreichs zu kämpfen,
das französische Volk sich für seine Vergrößerung opfert“.
Sie vertraten die Ansicht, dass der Krieg
von Seiten Frankreichs ein dynastischer Krieg war,
der die persönliche Macht Bonapartes sichern sollte.
Die deutschen Arbeiter müssten daher
den Krieg unterstützen, solange er
ein Verteidigungskrieg gegen Napoleon III.,
den Hauptfeind der nationalstaatlichen
Einigung Deutschlands, bliebe.
Von Ende Juli 1870 bis Februar 1871
verfasste Engels über den Verlauf des Krieges
anonym 59 Artikel für die Londoner Tageszeitung
Pall Mall Gazette, die aufgrund
ihres militärischen Sachverstands in London
großes Aufsehen erregten.
Hatte Engels bis zur Niederlage Napoleons III.
in seinen Artikeln noch die Ansicht vertreten,
dass Deutschland sich gegen den französischen
Chauvinismus verteidigte, so verwandelte sich
danach der Krieg für ihn „langsam aber sicher
in einen Krieg für die Interessen
eines neuen deutschen Chauvinismus“.
Im Oktober 1870 wurde Engels
auf Vorschlag von Marx zum Mitglied
des Generalrats der Internationalen
Arbeiterassoziation gewählt.
In der Folgezeit war er als korrespondierender
Sekretär für Belgien, Spanien, Portugal,
Italien und Dänemark tätig.
Nach der Niederlage der Kommunarden
der Pariser Kommune bildete
der Generalrat ein Flüchtlingskomitee
für die Pariser Flüchtlinge,
die meist nach London strömten.
Auf Engels’ Anstoß verfasste Marx die Schrift
Der Bürgerkrieg in Frankreich,
die für alle Mitglieder der „Internationale“
die Bedeutung des Pariser Kampfes herausstellen sollte;
Engels übersetzte diese Schrift Mitte 1871
aus dem Englischen ins Deutsche.
Seit 1873 beschäftigte sich Engels intensiv
mit philosophischen Problemen
der Naturwissenschaften.
Seine Absicht war, nach gründlichen Vorarbeiten
ein Buch zu schreiben, in dem er eine
dialektisch-materialistische Verallgemeinerung
der theoretischen Erkenntnisse
der Naturwissenschaften geben wollte.
Inmitten dieser Studien erging von Liebknecht
und Marx an ihn die Bitte,
der „Dühringsseuche“ in Deutschland
entgegenzuwirken. Dieser Aufgabe
kam er 1876 bis 1878 mit der Schrift
Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft
(Anti-Dühring) nach.
Sie erschien zuerst im Vorwärts,
dem Zentralorgan der Sozialistischen
Arbeiterpartei Deutschlands,
1878 in Buchform.
1878 verstarb seine Ehefrau Lydia Burns.
Nach dem Rückzug aus der Firma 1869
zielten Engels’ Veröffentlichungen
auf die „begriffliche Präzisierung,
historische Vertiefung und methodische
Abgrenzung des wissenschaftlichen Sozialismus“.
Von 1873 bis 1882 entstand das Fragment
Dialektik der Natur.
Engels wurde zu dem Werk motiviert
durch die Kritik der aufkommenden
Naturwissenschaften an der Philosophie Hegels
und die Übertragung naturwissenschaftlicher Theorien
auf die Gesellschaft. Engels will nachweisen,
dass sich in der Natur dieselben Bewegungsgesetze
entdecken lassen, die auch in der Geschichte gelten.
Neben den Thesen von der Ewigkeit der Materie
und der Bewegung formuliert er
die drei Grundgesetze der Dialektik.
Der Dialektik stellt Engels
das „metaphysische“ Denken gegenüber,
das sich an starren Kategorien
statt an widersprüchlichen Prozessen orientiere.
Anhand vieler Beispiele will Engels zeigen,
dass die Natur nicht „metaphysisch“,
sondern dialektisch strukturiert ist.
In großer Detailtreue verarbeitet er dabei
fast alle naturwissenschaftlichen Einsichten
und Entdeckungen seiner Zeit.
In dem 1877/78 als Artikelserie im Vorwärts
unter Mitarbeit von Karl Marx erschienenen Werk
Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft
(„Anti-Dühring“) setzt sich Engels kritisch
mit einigen Werken von Eugen Dühring auseinander.
Seine Kritik richtet sich dabei
gegen den dogmatisch-metaphysischen Charakter
von Dührings Wirklichkeitsphilosophie
und dessen Unfähigkeit, den „dialektischen“
Entwicklungsprozess der Welt zu verstehen.
Gleichzeitig ist das Werk ein erster Versuch
einer enzyklopädischen Zusammenfassung
sowohl der Geschichte des Sozialismus
als auch der Lehrmeinungen
des Marxschen Kommunismus.
Der auf den Anti-Dühring aufbauende
und 1880 zuerst erschienene Aufsatz
Die Entwicklung des Sozialismus
von der Utopie zur Wissenschaft
entwickelt die Grundsätze
des Historischen Materialismus.
Für Engels war der Frühsozialismus
(Saint-Simon, Fourier, Owen) „utopisch“,
weil er undialektisch
an zeitlose Vernunftwahrheiten appellierte.
Diesen Mangel habe Hegel behoben,
indem er die gesamte Wirklichkeit
als einen dialektischen Entwicklungsprozess ansah –
allerdings in verkehrter Weise
als die Entfaltung der „Idee“.
Erst Marx machte durch seine Auffassung der Geschichte
als Geschichte von Klassenkämpfen
und der Entdeckung des „Mehrwerts“
als des „Geheimnisses der kapitalistischen Produktion“
den Sozialismus zur Wissenschaft.
Er wies nach, dass die bürgerliche Gesellschaft
an der Logik ihres Grundwiderspruchs
von gesellschaftlicher Produktion
und privater Aneignung notwendig scheitern müsse.
Während es die historische Aufgabe der Bourgeoisie war,
die Produktivkräfte zu entwickeln,
sei es jetzt die Aufgabe des Proletariats,
deren gesellschaftliche Aneignung durchzusetzen.
Nach dem Tode von Marx 1883
wurde Engels zum Hauptberater
des marxistisch beeinflussten Teils
der internationalen, besonders
der deutschen Arbeiterbewegung.
Er nahm Einfluss auf die Entwicklung
der deutschen Sozialdemokratie
und deren Erfurter Programm 1891.
Außerdem übernahm er die Bearbeitung
und Herausgabe von Marx’ Werken
sowie die Aufsicht neuer Übersetzungen.
Unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes
in Deutschland (1878–1890)
brachte Engels noch im Jahre 1883
eine neue Auflage des ersten Bandes des Kapitals heraus.
1884 veröffentlichte er die unter anderem
auf Marxschen Manuskripten basierende Schrift
Der Ursprung der Familie,
des Privateigentums und des Staats,
in der er die Gesellschaftsformation der Urgesellschaft
und den Übergang zur Klassengesellschaft analysierte.
Dann begann Engels, die Marxschen Manuskripte
zu ordnen und zu entziffern.
1885 veröffentlichte er Marx’
Das Elend der Philosophie
und den zweiten Band des Kapitals.
Es folgte die englische Übersetzung
des ersten Bandes, die er gemeinsam
mit seinem Freund Samuel Moore
und Marx’ Schwiegersohn Edward Aveling vorbereitete.
1890 erschien die vierte, von Engels
nochmals redigierte Fassung des ersten Bandes
des Kapitals, worin er einige Fußnoten ergänzte,
die den veränderten geschichtlichen
Umständen Rechnung tragen sollten.
Sehr schwierig gestaltete sich die Edition
des dritten Bandes, für die Engels
neun Jahre benötigte. Er nahm
das Marxsche Manuskript von 1865 zur Grundlage,
das er stark redigierte.
Neben der Edition des Kapitals
publizierte Engels 1886 die Schrift
Ludwig Feuerbach und der Ausgang
der klassischen deutschen Philosophie,
1891 die 1875 von Marx verfasste Kritik
des Gothaer Programms. Daneben führte er
regen Schriftverkehr mit Sozialisten
und Kommunisten in ganz Europa.
Engels starb am 5. August 1895 in London
im Alter von 74 Jahren an Kehlkopfkrebs.
Da seine Vorliebe für das Seebad Eastbourne
bekannt war, wurde die Urne mit seiner Asche
am 27. September 1895 fünf Seemeilen
vor der dortigen Küste bei Beachy Head
ins Meer versenkt.
DRITTER GESANG
Karl Liebknecht wurde 1871 in Leipzig geboren.
Er war der zweite von fünf Söhnen
Wilhelm Liebknechts
und dessen zweiter Ehefrau Natalie.
Sein älterer Bruder war Theodor Liebknecht,
sein jüngerer Otto Liebknecht.
Der Vater gehörte ab den 1860er Jahren
mit August Bebel zu den Gründern
und bedeutendsten Anführern der SPD
und ihrer Vorläuferparteien.
Karl wurde in der Thomaskirche
evangelisch getauft. Seine Taufpaten
waren Karl Marx und Friedrich Engels.
In den 1880er Jahren verbrachte Karl Liebknecht
einen Teil seiner Kindheit in Borsdorf,
am östlichen Stadtrand von Leipzig.
Dort hatte sein Vater mit August Bebel
eine Vorstadt-Villa bezogen,
nachdem sie aufgrund des kleinen Belagerungszustandes,
einer Bestimmung des zwischen 1878 und 1890
gegen die Sozialdemokratie gerichteten
Sozialistengesetzes, aus Leipzig
ausgewiesen worden waren.
1890 machte er an der Alten Nikolaischule
in Leipzig sein Abitur
und begann am 16. August 1890
an der Universität Leipzig Rechtswissenschaften
und Kameralwissenschaften zu studieren.
Als die Familie nach Berlin zog,
setzte er dort am 17. Oktober 1890
an der Friedrich-Wilhelms-Universität
sein Studium fort. Aus dieser Zeit
stammt das sozialkritische Gedicht
Hüte dich! Sein Abgangszeugnis
datiert vom 7. März 1893.
Am 29. Mai 1893 bestand er sein Referendarexamen.
Von 1893 bis 1894 leistete Liebknecht
seinen Wehrdienst bei den Gardepionieren
in Berlin ab. Er verkürzte die Zeit
durch die Meldung als Einjährig-Freiwilliger.
Nach langer Suche nach einer Referendarstelle
schrieb er seine Doktorarbeit
„Compensationsvorbringen nach gemeinem Rechte“,
die von der Juristischen
und Staatswissenschaftlichen Fakultät
der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
1897 mit dem Prädikat magna cum laude
ausgezeichnet wurde. Am 5. April 1899
bestand er seine Assessorprüfung mit „gut“.
Zusammen mit seinem Bruder Theodor
und Oskar Cohn eröffnete er 1899
in der Berliner Chausseestraße 121
eine Rechtsanwaltskanzlei.
Im Mai 1900 heiratete er Julia Paradies,
mit der er zwei Söhne (Wilhelm und Robert)
und eine Tochter (Vera) hatte.
1904 wurde er gemeinsam mit seinem Kollegen
Hugo Haase als politischer Anwalt
auch im Ausland bekannt,
als er neun Sozialdemokraten
im „Königsberger Geheimbundprozess“ verteidigte.
In anderen aufsehenerregenden Strafprozessen
prangerte er die Klassenjustiz des Kaiserreichs
und die brutale Behandlung
von Rekruten beim Militär an.
1900 wurde Karl Liebknecht Mitglied
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
1902 sozialdemokratischer Stadtverordneter
in Berlin. Dieses Mandat behielt er bis 1913.
Er war aktives Mitglied der Zweiten Internationale
und zudem einer der Gründer
der Sozialistischen Jugendinternationale.
Er wurde 1907 im Rahmen der ersten
Internationalen Konferenz der sozialistischen
Jugendorganisationen zum Vorsitzenden
des Verbindungsbüros gewählt.
Für die Jugendarbeit der SPD
veröffentlichte er 1907 die Schrift
Militarismus und Antimilitarismus,
für die er noch im selben Jahr
wegen Hochverrats verurteilt wurde.
In dieser Schrift führte er aus,
der äußere Militarismus brauche
gegenüber dem äußeren Feind
chauvinistische Verbohrtheit
und der innere Militarismus benötige
gegen den inneren Feind
Unverständnis und Hass
gegenüber jeder fortschrittlichen Bewegung.
Der Militarismus brauche außerdem
den Stumpfsinn der Menschen,
damit er die Masse
wie eine Herde Vieh treiben könne.
Die antimilitaristische Agitation
müsse über die Gefahren des Militarismus aufklären,
jedoch müsse sie dies im Rahmen der Gesetze tun.
Letzteren Hinweis nahm ihm später
das Reichsgericht im Hochverratsprozess nicht ab.
Den Geist des Militarismus charakterisierte Liebknecht
in dieser Schrift mit einem Hinweis
auf eine Bemerkung des damaligen preußischen
Kriegsministers General Karl von Einem,
wonach diesem ein königstreuer
und schlecht schießender Soldat lieber sei
als ein treffsicherer Soldat,
dessen politische Gesinnung fraglich
und bedenklich sei. Am 17. April 1907
beantragte Karl von Einem
bei der Reichsanwaltschaft,
wegen der Schrift Militarismus und Antimilitarismus
gegen Karl Liebknecht ein Strafverfahren einzuleiten.
Im Oktober 1907 fand bei großem Publikumsandrang
der Hochverratsprozess gegen Liebknecht
vor dem Reichsgericht unter dem Vorsitz
des Richters Ludwig Treplin statt.
Am ersten Verhandlungstag sagte Liebknecht,
dass kaiserliche Befehle null und nichtig seien,
wenn sie einen Bruch der Verfassung bezweckten.
Dagegen betonte das Reichsgericht später
in seinem Urteil, die unbedingte Gehorsamspflicht
der Soldaten gegenüber dem Kaiser
sei eine zentrale Bestimmung
der Verfassung des Kaiserreichs.
Als Liebknecht auf eine entsprechende Frage
des Vorsitzenden antwortete,
dass diverse Zeitungen sowie
der ultrakonservative Politiker
Elard von Oldenburg-Januschau
den gewaltsamen Bruch der Verfassung
fordern würden, schnitt dieser ihm
das Wort mit der Bemerkung ab,
das Reichsgericht könne unterstellen,
dass Äußerungen gefallen seien,
die er als Aufforderung
zum Verfassungsbruch verstanden habe.
Am dritten Verhandlungstag wurde er
wegen Vorbereitung zum Hochverrat
zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt.
Kaiser Wilhelm II., der ein Exemplar der Schrift
Militarismus und Antimilitarismus besaß,
wurde über diesen Prozess mehrfach
telegrafisch informiert. Dem Kaiser
wurde nach der Urteilsverkündung
ein ausführlicher Prozessbericht übersandt,
dagegen wurde Liebknecht das schriftliche Urteil
erst am 7. November 1907 zugestellt.
Seine Selbstverteidigung im Prozess
brachte ihm große Popularität
bei den Berliner Arbeitern ein,
so dass er in einem Pulk
zum Haftantritt geleitet wurde.
Um Karl Liebknecht in seiner wirtschaftlichen
Existenz zu treffen, wurde
beim Anwaltsgerichtshof der Provinz Brandenburg
in Berlin beantragt, ihn aufgrund seiner Verurteilung
wegen Vorbereitung zum Hochverrat
durch das Reichsgericht
aus der Anwaltschaft auszuschließen.
Am 29. April 1908 lehnte der Anwaltsgerichtshof
unter seinem Vorsitzenden Dr. Krause
diesen Antrag ab. Zur Begründung
führte er unter anderem aus,
dass zwar die tatsächlichen Feststellungen
des Reichsgerichts im Hochverratsprozess
bindend seien, jedoch dies nicht zwingend
eine ehrengerichtliche Bestrafung nach sich ziehe.
Gegen dieses Urteil legte der Oberreichsanwalt
am 7. Mai 1908 Einspruch ein.
Am 10. Oktober 1908 lehnte daraufhin
der Ehrengerichtshof in Anwaltssachen
unter dem Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten
Rudolf von Seckendorff es ab,
Liebknecht aus der Rechtsanwaltschaft
auszuschließen. Zur Begründung hieß es,
dass schon das Reichsgericht
in diesem Strafurteil eine ehrlose Gesinnung
des Angeklagten verneint habe.
Im Jahr 1908 wurde er Mitglied
des Preußischen Abgeordnetenhauses,
obwohl er noch nicht aus der Festung
Glatz in Schlesien entlassen worden war.
Er gehörte zu den ersten acht
Sozialdemokraten überhaupt,
die trotz des Dreiklassenwahlrechts
Mitglied im Preußischen Landtag wurden.
Dem Landesparlament
gehörte Liebknecht bis 1916 an.
Seine erste Frau Julia starb am 22. August 1911
nach einer Gallenoperation. Liebknecht heiratete
im Oktober 1912 Sophie.
Im Januar 1912 zog er als einer der jüngsten
SPD-Abgeordneten in den Reichstag ein.
Liebknecht gewann – nach zwei vergeblichen
Anläufen 1903 und 1907 –
den „Kaiserwahlkreis“ Potsdam-Spandau-Osthavelland,
der bis dahin eine sichere Domäne
der Deutschkonservativen Partei gewesen war.
Im Reichstag trat er sofort
als entschiedener Gegner einer Heeresvorlage auf,
die dem Kaiser Steuermittel
für die Heeres- und Flottenrüstung bewilligen sollte.
Er konnte außerdem nachweisen,
dass die Firma Krupp durch die Bestechung
von Mitarbeitern des Kriegsministeriums
unerlaubterweise an wirtschaftlich
relevante Informationen gekommen war.
In der ersten Julihälfte 1914 war Liebknecht
nach Belgien und Frankreich gereist,
mit Jean Longuet und Jean Jaurès zusammengetroffen
und hatte auf mehreren Veranstaltungen gesprochen.
Den französischen Nationalfeiertag
verbrachte er in Paris.
Über die unmittelbare Gefahr
eines großen europäischen Krieges
wurde er sich erst am 23. Juli –
nach Bekanntwerden des österreichisch-ungarischen
Ultimatums an Serbien – völlig klar.
Ende Juli kehrte er über die Schweiz
nach Deutschland zurück.
Als der Reichstag am 1. August,
dem Tag der Verkündung der Mobilmachung
und der Kriegserklärung an Russland,
zum 4. August zusammengerufen wurde,
stand für Liebknecht noch außer Frage,
dass „die Ablehnung der Kriegskredite
für die Mehrheit der Reichstagsfraktion
selbstverständlich und zweifellos sei.“
Am Nachmittag des 4. August stimmte jedoch
die sozialdemokratische Fraktion –
nachdem es am Vortag
in der vorbereitenden Fraktionssitzung
zu „ekelhaften Lärmszenen“ gekommen war,
weil sich Liebknecht und 13 weitere Abgeordnete
entschieden gegen diesen Schritt aussprachen –
geschlossen für die Bewilligung der Kriegskredite,
die der Regierung die vorläufige Finanzierung
der Kriegführung ermöglichten.
Vor der Fraktionssitzung am 3. August
hatten die Befürworter der Bewilligung
nicht mit einem solchen Erfolg gerechnet
und waren sich keineswegs sicher,
überhaupt eine Mehrheit in der Fraktion zu erhalten;
noch in der Sitzungspause nach der Rede
des Reichskanzlers – unmittelbar
vor der Abstimmung am 4. August –
kam es in der Fraktion zu Tumulten,
weil einige Bethmann Hollwegs Ausführungen
demonstrativ beklatscht hatten.
Liebknecht, der die ungeschriebenen Regeln
der Partei- und Fraktionsdisziplin
in den Jahren zuvor immer wieder
gegen Vertreter des rechten Parteiflügels
verteidigt hatte, beugte sich dem Beschluss
der Mehrheit und stimmte
der Regierungsvorlage im Plenum
des Reichstags ebenfalls zu.
Hugo Haase, der in der Fraktion wie Liebknecht
gegen die Bewilligung aufgetreten war,
erklärte sich aus ähnlichen Gründen
sogar zur Verlesung der
von den bürgerlichen Parteien
mit Jubel aufgenommenen Erklärung
der Fraktionsmehrheit bereit.
Liebknecht hat den 4. August,
den er als katastrophalen politischen
und persönlichen Einschnitt empfand,
privat und öffentlich immer wieder thematisiert
und durchdacht. 1916 notierte er dazu:
„Der Abfall der Fraktionsmehrheit
kam selbst für den Pessimisten überraschend;
die Atomisierung des bisher überwiegenden
radikalen Flügels nicht minder.
Die Tragweite der Kreditbewilligung
für die Umschwenkung der gesamten Fraktionspolitik
ins Regierungslager lag nicht auf der Hand:
Noch bestand die Hoffnung, der Beschluss
vom 3. August sei das Ergebnis
einer vorübergehenden Panik
und werde alsbald korrigiert,
jedenfalls nicht wiederholt
und gar übertrumpft werden.
Aus diesen und ähnlichen Erwägungen,
allerdings auch aus Unsicherheit und Schwäche
erklärte sich das Misslingen des Versuchs,
die Minderheit für ein öffentliches Separatvotum
zu gewinnen. Nicht übersehen werden darf dabei
aber auch, welche heilige Verehrung damals
noch der Fraktionsdisziplin entgegengebracht wurde,
und zwar am meisten vom radikalen Flügel,
der sich bis dahin in immer zugespitzterer Form
gegen Disziplinbrüche oder Disziplinbruchsneigungen
revisionistischer Fraktionsmitglieder
hatte wehren müssen.“
Einer Erklärung Rosa Luxemburgs
und Franz Mehrings, in der diese
wegen des Verhaltens der Fraktion
ihren Parteiaustritt androhten,
schloss sich Liebknecht ausdrücklich nicht an,
weil er sie „als Halbheit empfand:
Dann hätte man schon austreten müssen.“
Rosa Luxemburg bildete am 5. August 1914
die Gruppe Internationale,
in der Liebknecht mit zehn weiteren
SPD-Linken Mitglied war
und die eine innerparteiliche Opposition
gegen die SPD-Politik des Burgfriedens
zu bilden versuchte. Im Sommer und Herbst 1914
reiste Liebknecht mit Rosa Luxemburg
durch ganz Deutschland, um –
weitgehend erfolglos – Kriegsgegner
zur Ablehnung der Finanzbewilligung
für den Krieg zu bewegen.
Er nahm auch Verbindung
zu anderen europäischen Arbeiterparteien auf,
um diesen zu signalisieren, dass nicht alle
deutschen Sozialdemokraten für den Krieg seien.
In den ersten großen, von einer breiteren Öffentlichkeit
beachteten Konflikt mit der neuen Parteilinie
geriet Liebknecht, als er zwischen dem 4.
und 12. September Belgien bereiste,
dort mit einheimischen Sozialisten zusammentraf
und sich über die von deutschen Militärs
angeordneten Massenrepressalien informieren ließ.
Liebknecht wurde daraufhin in der Presse –
auch der sozialdemokratischen –
des „Vaterlandsverrats“ und „Parteiverrats“ bezichtigt
und musste sich am 2. Oktober
vor dem Parteivorstand rechtfertigen.
Er war danach umso mehr entschlossen,
bei der nächsten einschlägigen Abstimmung
gegen die neue Kreditvorlage zu votieren
und diese demonstrative Stellungnahme
gegen die „Einigkeitsphrasen-Hochflut“
zur Grundlage einer Sammlung
der Kriegsgegner zu machen.
Im Vorfeld dieser Sitzung,
zu der der Reichstag am 2. Dezember 1914
zusammentrat, versuchte er
in stundenlangen Gesprächen
auch andere oppositionelle Abgeordnete
für diese Haltung zu gewinnen,
scheiterte aber. Otto Rühle,
der Liebknecht zuvor zugesichert hatte,
ebenfalls offen mit Nein zu stimmen,
hielt dem Druck nicht stand
und blieb dem Plenum fern,
Fritz Kunert, der auch schon am 4. August
so gehandelt hatte, verließ kurz
vor der Abstimmung den Saal.
Liebknecht stand schließlich als einziger
Abgeordneter nicht auf,
als Reichstagspräsident Kaempf
das Haus aufforderte, dem Ergänzungshaushalt
durch Erheben von den Sitzen zuzustimmen.
Bei der nächsten Abstimmung
am 20. März 1915 votierte Rühle
gemeinsam mit Liebknecht.
Eine Bitte von etwa 30 anderen Fraktionsmitgliedern,
während der Abstimmung mit ihnen gemeinsam
den Saal zu verlassen,
hatten beide zuvor abgelehnt.
Im April 1915 gaben Franz Mehring
und Rosa Luxemburg die Zeitschrift
Die Internationale heraus,
die nur einmal erschien und sofort
von den Behörden beschlagnahmt wurde.
Liebknecht konnte sich an diesem Vorstoß
nicht mehr beteiligen.
Nach dem 2. Dezember 1914
hatten Polizei- und Militärbehörden
darüber nachgedacht, wie Liebknecht
„das Handwerk gelegt“ werden könne.
Das Oberkommando in den Marken
berief ihn Anfang Februar 1915
zum Dienst in ein Armierungs-Bataillon ein.
Damit unterstand Liebknecht den Militärgesetzen,
die ihm jegliche politische Betätigung
außerhalb des Reichstages
und des preußischen Landtages verboten.
Er erlebte, jeweils beurlaubt zu Sitzungen
des Reichstages und des Landtages,
als Armierungssoldat den Krieg
an der West- und Ostfront.
Es gelang ihm dennoch, die Gruppe Internationale
zu vergrößern und die entschiedenen Kriegsgegner
in der SPD reichsweit zu organisieren.
Daraus ging am 1. Januar 1916
die Spartakusgruppe hervor
(nach der endgültigen Loslösung
von der Sozialdemokratie
im November 1918 umbenannt in Spartakusbund).
Am 12. Januar 1916 schloss
die SPD-Reichstagsfraktion
mit 60 gegen 25 Stimmen
Liebknecht aus ihren Reihen aus.
Aus Solidarität mit ihm trat Otto Rühle
zwei Tage später ebenfalls aus der Fraktion aus.
Im März 1916 wurden weitere 18
oppositionelle Abgeordnete ausgeschlossen
und bildeten daraufhin
die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft,
der sich Liebknecht und Rühle
allerdings nicht anschlossen.
Liebknecht hatte während des Krieges
kaum eine Möglichkeit, sich im Plenum
des Reichstages Gehör zu verschaffen.
Die von ihm schriftlich eingereichte Begründung
seiner Stimmabgabe am 2. Dezember 1914
nahm der Reichstagspräsident entgegen
der üblichen Gepflogenheiten nicht
in das amtliche Protokoll auf
und lehnte es in der Folge
unter verschiedenen Vorwänden ab,
Liebknecht das Wort zu erteilen.
Erst am 8. April 1916 konnte Liebknecht
zu einer untergeordneten Etatfrage
von der Rednertribüne aus sprechen.
Dabei kam es zu einer im Reichstag
bis dahin nicht gesehenen „wüsten Skandalszene“:
Liebknecht wurde von „wie besessen“
tobenden liberalen und konservativen
Abgeordneten niedergeschrien,
als „Lump“ und „englischer Agent“ beschimpft
und aufgefordert, das „Maul zu halten“;
der Abgeordnete Hubrich entriss ihm
die schriftlichen Notizen
und warf die Blätter in den Saal,
der Abgeordnete Ernst Müller-Meiningen
musste von Mitgliedern der Sozialisten-Fraktion
daran gehindert werden, Liebknecht
körperlich zu attackieren.
Zur „Osterkonferenz der Jugend“
sprach Liebknecht in Jena vor 60 Jugendlichen
zum Antimilitarismus und zur Änderung
der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland.
Am 1. Mai 1916 trat er als Führer
einer Antikriegsdemonstration,
die von Polizei umzingelt war,
auf dem Potsdamer Platz in Berlin auf.
Er ergriff das Wort mit den Worten
„Nieder mit dem Krieg!
Nieder mit der Regierung!“
Danach wurde er verhaftet
und wegen Hochverrats angeklagt.
Der erste Prozesstag, eigentlich gedacht
als Exempel gegen die sozialistische Linke,
geriet zum Fiasko für die kaiserliche Justiz:
Organisiert von den Revolutionären Obleuten
fand in Berlin ein spontaner Solidaritätsstreik
mit über 50.000 Beteiligten statt.
Statt die Opposition zu schwächen,
gab Liebknechts Verhaftung
dem Widerstand gegen den Krieg neuen Auftrieb.
Am 23. August 1916 wurde Liebknecht
zu vier Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt,
die er von Mitte November 1916
bis zu seiner Amnestierung und Freilassung
am 23. Oktober 1918
im brandenburgischen Luckau ableistete.
Hugo Haase, bis März 1916 SPD-Vorsitzender,
setzte sich vergeblich für seine Freilassung ein.
In Liebknechts Haftzeit fiel die Spaltung
der SPD und die Gründung der USPD
im April 1917. Die Spartakusgruppe
trat nun in diese ein, um auch dort
auf revolutionäre Ziele hinzuwirken.
Neben dem katholischen Reichstagsabgeordneten
Matthias Erzberger vom Zentrum,
der wie Liebknecht später
von Rechtsextremisten ermordet wurde,
war Liebknecht der einzige deutsche Parlamentarier,
der öffentlich die massiven Menschenrechtsverletzungen
der türkisch-osmanischen Verbündeten
im Nahen Osten anprangerte, insbesondere
den Völkermord an den Armeniern
und das brutale Vorgehen gegen weitere
nicht-türkische Minderheiten,
insbesondere in Syrien und dem Libanon.
Von der SPD und den liberalen Parteien
wurde diese Praxis stillschweigend gebilligt
und zum Teil sogar öffentlich
mit strategischen Interessen Deutschlands
und der angeblichen existenziellen Bedrohung
der Türkei durch armenischen
und arabischen Terrorismus gerechtfertigt.
Im Zuge einer allgemeinen Amnestie
wurde Liebknecht begnadigt
und am 23. Oktober 1918 vorzeitig
aus der Haft entlassen.
Er reiste sofort nach Berlin,
um dort den Spartakusbund zu reorganisieren,
der nun als eigene politische Organisation hervortrat.
Bei seinem Eintreffen gab die Gesandtschaft
des seit Ende 1917 nach der Oktoberrevolution
unter kommunistischer Führung stehenden Russlands
ihm zu Ehren einen Empfang.
Liebknecht drängte nun auf eine
von den Revolutionären Obleuten,
die den Januarstreik organisiert hatten,
der USPD und dem Spartakusbund
gemeinsam koordinierte Vorbereitung
einer reichsweiten Revolution.
Man plante einen gleichzeitigen Generalstreik
in allen Großstädten und Aufmarsch
von bewaffneten Streikenden
vor den Kasernen von Heeresregimentern,
um diese zum Mitmachen
oder Niederlegen ihrer Waffen zu bewegen.
Die Obleute, die sich an der Arbeiterstimmung
in den Fabriken orientierten
und eine bewaffnete Konfrontation
mit Heerestruppen fürchteten,
verschoben mehrfach den festgelegten Termin dafür,
zuletzt auf den 11. November 1918.
Am 8. November griff die unabhängig
von diesen Plänen vom Kieler Matrosenaufstand
ausgelöste Revolution auf das Reich über.
Daraufhin riefen die Berliner Obleute
und die USPD ihre Anhänger für den Folgetag
zu den geplanten Umzügen auf.
Am 9. November 1918 strömten Bevölkerungsmassen
von allen Seiten ins Zentrum Berlins.
Dort rief Liebknecht mittags im Berliner Tiergarten
und nachmittags nochmals
vor dem Berliner Stadtschloss
eine „Freie Sozialistische Republik Deutschland“ aus
und schwor die Kundgebungsteilnehmer
auf die internationale Revolution ein.
Kurz zuvor hatte der SPD-Politiker
Philipp Scheidemann
die Abdankung des Kaisers verkündet
und eine „deutsche Republik“ ausgerufen,
um Liebknecht zuvorzukommen.
Liebknecht wurde nun zum Sprecher
der revolutionären Linken.
Um die Novemberrevolution
in Richtung einer sozialistischen
Räterepublik voranzutreiben,
gab er mit Rosa Luxemburg täglich die Zeitung
Die Rote Fahne heraus.
Bei den folgenden Auseinandersetzungen
stellte sich jedoch bald heraus,
dass die meisten Arbeitervertreter in Deutschland
eher sozialdemokratische
als sozialistische Ziele verfolgten.
Eine Mehrheit trat auf dem Reichsrätekongress
vom 16. bis 20. Dezember 1918
für baldige Parlamentswahlen
und damit Selbstauflösung ein.
Liebknecht und Luxemburg wurden
von der Teilnahme am Kongress ausgeschlossen.
Seit Dezember 1918 versuchte Ebert,
die Rätebewegung gemäß seinem Geheimabkommen
mit dem General Wilhelm Groener
mit Hilfe von kaiserlichem Militär zu entmachten,
und ließ dazu immer mehr Militär
in und um Berlin zusammenziehen.
Am 6. Dezember 1918 versuchte er,
den Reichsrätekongress militärisch zu verhindern,
und, nachdem dies missglückte,
Resolutionen zur Entmachtung des Militärs
beim Kongress zu entschärfen.
Am 24. Dezember 1918 setzte er
kaiserliches Militär
gegen die den revolutionären Kieler Matrosen
nahestehende Volksmarinedivision ein,
die eigentlich die Reichskanzlei schützen sollte
und nicht ohne Sold zum Abrücken bereit war.
Daraufhin traten die drei USPD-Vertreter
am 29. Dezember aus dem Rat
der Volksbeauftragten aus,
so dass dieser gemäß der Vereinbarung
bei seiner Gründung keine Legitimation mehr besaß.
Er wurde dennoch von den drei SPD-Vertretern
allein weitergeführt.
Daraufhin planten die reichsweit Zulauf
erhaltenden Spartakisten
die Gründung einer neuen,
linksrevolutionären Partei
und luden ihre Anhänger
zu deren Gründungskongress
Ende Dezember 1918 nach Berlin ein.
Am 1. Januar 1919 stellte sich
die Kommunistische Partei Deutschlands
der Öffentlichkeit vor.
Ab dem 8. Januar nahm Liebknecht
zusammen mit anderen KPD-Vertretern
am Spartakusaufstand teil,
mit dem die Revolutionären Obleute
auf die Absetzung des zuvor rechtmäßig
eingesetzten Berliner Polizeipräsidenten
Emil Eichhorn (USPD) reagierten.
Sie versuchten, die Übergangsregierung
Friedrich Eberts mit einem Generalstreik zu stürzen,
und besetzten dazu mehrere Berliner Zeitungsgebäude.
Liebknecht trat in die Streikleitung ein
und rief gegen den Rat von Rosa Luxemburg
zusammen mit der USPD zur Volksbewaffnung auf.
KPD-Abgesandte versuchten erfolglos,
einige in Berlin stationierte Regimenter
zum Überlaufen zu bewegen.
Nach zweitägigen ergebnislosen Beratungen
trat die KPD aus dem Führungsgremium aus,
dann brachen die USPD-Vertreter
parallele Verhandlungen mit Ebert ab.
Daraufhin setzte dieser das Militär
gegen die Streikenden ein.
Es kam zu blutigen Straßenkämpfen
und Massenexekutionen hunderter Personen.
Nach den führenden Köpfen der jungen KPD
wurde durch „zahlreiche Spitzeldienste
diverser staatstragender Verbände“
intensiv gefahndet. Schon im Dezember
waren in Berlin zahlreiche großformatige
rote, gegen den Spartakusbund gerichtete
Plakate angeschlagen worden,
die in der Aufforderung
„Schlagt ihre Führer tot!
Tötet Liebknecht!“ gipfelten.
Handzettel gleichen Inhalts
wurden hunderttausendfach verbreitet.
Verantwortlich dafür war unter anderem
die Antibolschewistische Liga Eduard Stadtlers.
Im Vorwärts wurde Liebknecht wiederholt
als „geisteskrank“ dargestellt.
Der gesamte Rat der Volksbeauftragten
unterzeichnete am 8. Januar ein Flugblatt,
in dem angekündigt wurde,
dass „die Stunde der Abrechnung naht“.
Am 13. Januar druckte der Vorwärts ein Gedicht
Artur Zicklers ab, das die Verszeilen enthielt:
„Vielhundert Tote in einer Reih –
Proletarier!
Karl, Rosa, Radek und Kumpanei –
Es ist keiner dabei, es ist keiner dabei!“
Unter Zivilisten und Militärangehörigen
kursierten Gerüchte, die besagten,
dass auf die „Spartakistenführer“
regelrechte Kopfgelder ausgesetzt worden seien.
Am 14. Januar erschien in einem Mitteilungsblatt
für die sozialdemokratischen Regimenter
Reichstag und Liebe ein Artikel,
in dem es hieß, dass „schon die nächsten Tage“
zeigen würden, dass nunmehr auch
mit den „Häuptern der Bewegung
Ernst gemacht wird.“
Liebknecht und Luxemburg hatten sich –
da ihr Leben nun offenkundig in Gefahr war –
nach dem Einmarsch der Noske-Truppen
zunächst in Neukölln verborgen,
waren nach zwei Tagen aber
in ein neues Quartier
in der Mannheimer Straße in Wilmersdorf
ausgewichen. Der Wohnungsinhaber
war Mitglied der USPD
und gehörte dem Arbeiter- und Soldatenrat
Wilmersdorf an, seine Frau
war mit Rosa Luxemburg befreundet.
In dieser Wohnung schrieb Liebknecht
am 14. Januar seinen Artikel Trotz alledem!,
der tags darauf in der Roten Fahne erschien.
Am frühen Abend des 15. Januar
drangen fünf Angehörige der Wilmersdorfer Bürgerwehr –
einer von Zivilisten gebildeten bürgerlichen Miliz –
in die Wohnung ein
und nahmen Liebknecht und Luxemburg fest.
Sicher ist, dass es sich nicht um eine mehr
oder weniger zufällige Durchsuchung,
sondern um einen gezielten Zugriff handelte.
Gegen 21 Uhr wurde auch Wilhelm Pieck verhaftet,
der die Wohnung nichtsahnend betreten hatte.
Liebknecht wurde zunächst
zur Wilmersdorfer Cäcilienschule transportiert.
Von dort aus rief ein Angehöriger der Bürgerwehr
direkt in der Reichskanzlei an
und informierte deren stellvertretenden
Pressechef Robert Breuer
(Mitglied der Wilmersdorfer SPD)
über die Ergreifung Liebknechts.
Breuer kündigte einen Rückruf an,
der aber nicht erfolgte.
Angehörige der Bürgerwehr lieferten Liebknecht
gegen 21.30 Uhr per Automobil
bei ihrer vorgesetzten Dienststelle ab –
dem Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division
im Eden-Hotel an der Ecke Budapester Straße/Kurfürstenstraße,
worauf unter anwesenden Hotelgästen
und Militärs ein „kollektiver Erregungszustand“
ausbrach. Liebknecht,
der bis zu diesem Zeitpunkt seine Identität
geleugnet hatte, wurde in Anwesenheit
des faktischen Kommandeurs der Division
anhand der Initialen auf seiner Kleidung identifiziert.
Der Kommandeur entschied
nach wenigen Minuten des Nachdenkens,
Liebknecht und die gegen 22 Uhr
eintreffende Rosa Luxemburg „erledigen“ zu lassen.
Er rief in der Reichskanzlei an,
um mit Noske das weitere Vorgehen zu besprechen.
Noske forderte ihn auf, noch mit General von Lüttwitz
Rücksprache zu halten und von diesem
nach Möglichkeit eine formelle Anordnung zu erwirken.
Der Kommandeur hielt das für ausgeschlossen.
Daraufhin erwiderte Noske:
„Dann müssen Sie selbst wissen, was zu tun ist.“
Mit der Ermordung Liebknechts
beauftragte der Kommandeur
eine Gruppe ausgewählter Marineoffiziere.
Diese verließen gegen 22.45 Uhr
mit Liebknecht das Hotel.
Beim Verlassen des Gebäudes
wurde Liebknecht von Hotelgästen bespuckt,
beschimpft und geschlagen.
Das Automobil fuhr in den nahegelegenen Tiergarten.
Hier täuschte der Fahrer an einer Stelle,
„wo ein völlig unbeleuchteter Fußweg abging“
eine Panne vor. Liebknecht wurde
aus dem Auto geführt und nach wenigen Metern
am Ufer des Neuen Sees
„aus nächster Nähe“ von hinten erschossen.
Die Täter lieferten den Toten um 23.15 Uhr
als „unbekannte Leiche“
in der dem Eden-Hotel gegenüberliegenden
Rettungswache ein
und erstatteten anschließend Meldung.
Eine halbe Stunde später wurde die
in einem offenen Wagen abtransportierte
Rosa Luxemburg etwa 40 Meter
vom Eingang des Eden-Hotels entfernt erschossen.
Ihren Leichnam warf man zwischen
Lichtenstein- und Corneliusbrücke
in den Landwehrkanal.
Ein Presseoffizier verbreitete anschließend
ein Kommuniqué, in dem behauptet wurde,
dass Liebknecht „auf der Flucht erschossen“
und Luxemburg „von der Menge getötet“ worden sei.
Liebknecht wurde am 25. Januar
zusammen mit 31 weiteren Toten
der Januartage beigesetzt.
Die von der KPD zunächst geplante Bestattung
auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain
wurde sowohl von der Regierung
als auch dem Berliner Magistrat untersagt.
Stattdessen verwies man die Beisetzungskommission
an den an der städtischen Peripherie gelegenen
Armenfriedhof in Friedrichsfelde.
Der Trauerzug entwickelte sich
zu einer Massendemonstration,
an der trotz massiver Militärpräsenz
mehrere zehntausend Menschen teilnahmen.
VIERTER GESANG
Rosa Luxemburgs Geburtsdatum ist unsicher.
Ihren Vornamen Rosalia verkürzte sie
umgangssprachlich zu Rosa.
Sie war das fünfte und letzte Kind
des Holzhändlers Eliasz Luxenburg
und seiner Frau Line.
Die Eltern waren Juden
in der ländlichen Mittelstadt Zamość
im von Russland kontrollierten Teil Polens.
Die väterlichen Vorfahren waren
als Landschaftsarchitekten,
die mütterlichen Vorfahren
als Rabbiner und Hebraisten
nach Zamość gekommen.
Über ein Drittel der Einwohner
waren polnische Juden,
meist Haskala-Vertreter
mit hohem Bildungsstand.
Die Eltern gehörten zu keiner Religionsgemeinschaft
und politischen Partei, sympathisierten aber
mit der polnischen Nationalbewegung
und förderten die lokale Kultur.
Sie besaßen ein Haus am Rathausplatz
und bescheidenen Wohlstand,
den sie vor allem für die Bildung
ihrer Kinder einsetzten.
Die Söhne besuchten wie der Vater
höhere Schulen in Deutschland.
Die Familie sprach und las zu Hause
Polnisch und Deutsch, nicht Jiddisch.
Besonders die Mutter vermittelte den Kindern
die klassische und romantische
deutsche und polnische Dichtung.
Rosa erhielt eine umfassende humanistische Bildung
und lernte neben Polnisch, Deutsch und Russisch
auch Latein und Altgriechisch.
Sie beherrschte Französisch, konnte Englisch lesen
und Italienisch verstehen.
Sie kannte die bedeutenden Literaturwerke Europas,
rezitierte Gedichte, war eine gute Zeichnerin,
interessierte sich für Botanik und Geologie,
sammelte Pflanzen und Steine und liebte Musik,
besonders die Oper und die Lieder von Hugo Wolf.
Zu ihren zeitlebens geachteten Autoren
gehörte Adam Mickiewicz.
1873 zog die Familie nach Warschau.
1874 wurde ein Hüftleiden der Tochter
irrtümlich als Tuberkulose diagnostiziert
und falsch behandelt.
Dadurch blieb ihre Hüfte deformiert,
sodass sie fortan leicht hinkte.
Mit fünf Jahren, während der vom Arzt verordneten
fast einjährigen Bettruhe,
lernte sie autodidaktisch Lesen und Schreiben.
Mit neun Jahren übersetzte sie deutsche Geschichten
ins Polnische, schrieb Gedichte und Novellen.
Mit 13 Jahren schrieb sie in polnischer Sprache
ein sarkastisches Gedicht über Kaiser Wilhelm I.,
der damals Warschau besuchte.
Darin duzte sie ihn und forderte:
„Sage deinem listigen Lumpen Bismarck,
Tue es für Europa, Kaiser des Westens,
Befiehl ihm, dass er die Friedenshose
Nicht zuschanden macht“.
Ab 1884 besuchte Rosa
das Zweite Frauengymnasium in Warschau,
das nur in Ausnahmefällen polnische,
noch seltener jüdische Mädchen aufnahm
und in dem nur Russisch gesprochen werden durfte.
Auch deshalb engagierte sie sich ab 1886
in einem geheimen Fortbildungskreis.
Dort lernte sie die 1882 gegründete
marxistische Gruppe „Proletariat“ kennen,
die sich vom antizaristischen Terror
der russischen Narodnaja Wolja abgrenzte,
aber wie diese staatlich verfolgt
und aufgelöst wurde. Nur im Untergrund
arbeiteten einige Teilgruppen weiter,
darunter die 1887 von Martin Kasprzak
gegründete Warschauer Gruppe „Zweites Proletariat“.
Dieser trat Rosa Luxemburg bei,
ohne dies zu Hause und in der Schule zu verbergen.
Dort las sie erstmals Schriften von Karl Marx,
die damals illegal nach Polen gebracht
und ins Polnische übersetzt wurden.
1888 bestand sie das Abitur als Klassenbeste
und mit der höchsten Note „ausgezeichnet“.
Die ihr zustehende Goldmedaille
verweigerte die Schulleitung
„wegen oppositioneller Haltung
gegenüber den Behörden“.
Im Dezember 1888 floh sie vor der Zarenpolizei,
die ihre Mitgliedschaft im verbotenen „Proletariat“
entdeckt hatte, aus Warschau
und schließlich mit Hilfe Kasprzaks
aus Polen in die Schweiz.
Im Februar 1889 zog Rosa Luxemburg
nach Oberstrass bei Zürich,
weil im deutschsprachigen Raum
nur an der Universität Zürich
Frauen und Männer gleichberechtigt studieren durften.
Ab Oktober 1889 belegte sie Philosophie,
Mathematik, Botanik und Zoologie.
1892 wechselte sie in die Rechtswissenschaft,
wo sie Völkerrecht, allgemeines Staatsrecht
und Versicherungsrecht belegte.
1893 schrieb sie sich zudem
in Staatswissenschaften ein.
Dort belegte sie Volkswirtschaftslehre
mit den Schwerpunkten Finanzwissenschaft,
Wirtschafts- und Börsenkrisen.
Ferner studierte sie allgemeine Verwaltungslehre
und Geschichtswissenschaft,
hier vor allem Mittelalter
und Diplomatie-Geschichte seit 1815.
Sie studierte vor allem Adam Smith, David Ricardo
und Das Kapital von Karl Marx.
Sie war schon vor Studienbeginn
überzeugte Marxistin.
Zürich war attraktiv
für viele politisch verfolgte
ausländische Sozialisten.
Rosa Luxemburg fand rasch Kontakt
zu deutschen, polnischen und russischen
Emigrantenvereinen, die vom Schweizer Exil aus
den revolutionären Sturz
ihrer Regierungen vorzubereiten versuchten.
Sie wohnte im Haus der Familie Carl Lübecks (SPD),
der nach seiner Verurteilung
im Leipziger Hochverratsprozess 1872 emigriert war.
Durch ihn gewann sie Einblick
in die Entwicklung der SPD.
Sie lernte unter anderen die russischen Marxisten
Pawel Axelrod und Georgi Plechanow kennen
und bildete einen Freundes- und Gesprächskreis,
der regelmäßige Kontakte zwischen emigrierten
Studenten und Arbeitern pflegte.
Ab 1891 hatte sie eine Liebesbeziehung
zu dem polnischen Marxisten Leo Jogiches.
Er war bis 1906 ihr Partner
und blieb ihr zeitlebens politisch eng verbunden.
Er brachte ihr seine konspirativen Methoden bei
und finanzierte ihr Studium mit.
Sie half ihm beim Übersetzen marxistischer Texte
ins Russische, die er in Konkurrenz
zu Plechanow nach Polen
und Russland schmuggelte.
Plechanow isolierte Jogiches daraufhin
in der russischen Emigrantenszene.
Rosa Luxemburgs anfängliche Vermittlungsversuche
schlugen fehl.
1892 gründeten mehrere illegale
polnische Splitterparteien,
darunter auch ehemalige „Proletariat“-Angehörige,
die Polnische Sozialistische Partei (PPS),
die Polens nationale Unabhängigkeit
und Umwandlung in eine bürgerliche Demokratie anstrebte.
Das Programm war ein Kompromiss
aus verschiedenen Interessen,
die aufgrund der Verfolgungssituation
nicht ausdiskutiert worden waren.
Im Juli 1893 gründeten Rosa Luxemburg,
Leo Jogiches, Julian Balthasar Marchlewski
und Adolf Warski die Pariser Exilzeitung
„Arbeitersache“. Darin vertraten sie
gegen das PPS-Programm
einen streng internationalistischen Kurs:
Die polnische Arbeiterklasse könne sich nur
gemeinsam mit der russischen, deutschen
und österreichischen emanzipieren.
Nicht das Abschütteln der russischen Vorherrschaft
in Polen, sondern die solidarische Zusammenarbeit
zum Sturz des Zarismus, sodann des Kapitalismus
und der Monarchie in ganz Europa
müssten Vorrang erhalten.
Rosa Luxemburg war federführend für diese Linie.
Als Zeitungsredakteurin durfte sie
als polnische Delegierte am Kongress
der 2. Internationale (1893)
in der Tonhalle Zürich teilnehmen.
In ihrem Bericht über die Entwicklung
der Sozialdemokratie in Russisch-Polen
seit 1889 betonte sie, Polens drei Teile
seien ökonomisch mittlerweile so stark
in die Märkte der Besatzerstaaten integriert,
dass eine Wiederherstellung
eines unabhängigen polnischen Nationalstaats
ein anachronistischer Rückschritt wäre.
Daraufhin focht der PPS-Delegierte Ignacy Daszyński
ihren Delegiertenstatus an.
Ihre Verteidigungsrede machte sie international bekannt:
Sie erklärte, hinter dem innerpolnischen Streit
stehe eine prinzipielle, alle Sozialisten
betreffende Richtungsentscheidung.
Ihre Gruppe vertrete den genuin marxistischen Standpunkt
und somit das polnische Proletariat.
Doch eine Kongressmehrheit erkannte die PPS
als einzige legitime polnische Delegation an
und schloss Rosa Luxemburg aus.
Daraufhin gründete sie mit ihren Freunden
im August 1893 die Partei Sozialdemokratie
des Königreiches Polen (SDKP).
Der illegale Gründungsparteitag in Warschau
vom März 1894 nahm ihren Leitartikel
vom Juli 1893 als Parteiprogramm
und die Arbeitersache als Presseorgan an.
Die SDKP sah sich als direkte Nachfolgerin
des „Proletariats“ und strebte
in striktem Gegensatz zur PPS als Nahziel
eine liberaldemokratische Verfassung
für das ganze Russische Kaiserreich
mit einer Gebietsautonomie für Polen an,
um so eine gemeinsame polnisch-russische
sozialistische Partei aufbauen zu können.
Dazu sei eine enge, gleichberechtigte Zusammenarbeit
mit den russischen Sozialdemokraten,
deren Einigung und die Einbindung
in die Zweite Internationale unerlässlich.
Ein unabhängiges Polen
sei eine illusorische Fata Morgana,
die das polnische Proletariat
vom internationalen Klassenkampf ablenken solle.
Die polnischen Sozialisten sollten
den sozialdemokratischen Parteien
der drei Teilungsmächte beitreten
oder sich eng an sie anschließen.
Es gelang ihr, die SDKP in Polen zu etablieren
und später viele PPS-Anhänger
zu ihr hinüberzuziehen.
Rosa Luxemburg leitete die „Arbeitersache“
bis zu deren Einstellung im Juli 1896
und verteidigte das SDKP-Programm im Ausland
auch mit besonderen Aufsätzen.
In Das unabhängige Polen und die Sache der Arbeiter
schrieb sie: Sozialismus und Nationalismus
seien nicht nur in Polen, sondern überhaupt
miteinander unvereinbar.
Nationalismus sei eine Ausflucht des Bürgertums:
Bänden sich die Arbeiter daran,
würden sie ihre eigene Befreiung gefährden,
da das Bürgertum sich bei einer drohenden
Sozialrevolution eher mit den jeweiligen Herrschern
gegen die eigenen Arbeiter verbünden werde.
Dabei verknüpfte sie polnische Erfahrungen
stets mit denen anderer Länder,
berichtete häufig über ausländische Streiks
und Demonstrationen und versuchte so,
ein internationales Klassenbewusstsein zu fördern.
Seitdem war sie bei politischen Gegnern
inner- und außerhalb der Sozialdemokratie
verhasst und oft antisemitischen Angriffen ausgesetzt.
So schrieben Angehörige der Gruppe
Schwarze Hundert, ihr Gift rede
den polnischen Arbeitern Hass
auf das eigene Vaterland ein;
dieser „jüdische Auswurf“ leiste
ein „teuflisches Zerstörungswerk“
mit dem Ziel der „Ermordung Polens“.
Für den Kongress der Zweiten Internationale
1896 in London verteidigte Rosa Luxemburg
ihre Linie in sozialdemokratischen Zeitungen
wie dem Vorwärts und der Neuen Zeit.
Sie erreichte eine Debatte darüber
und fand unter anderen Robert Seidel,
Jean Jaurès und Alexander Parvus als Unterstützer.
Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht
und Victor Adler dagegen lehnten ihre Position ab.
Adler, Vertreter des Austromarxismus,
beschimpfte sie als „doktrinäre Gans“
und versuchte, eine Gegendarstellung
in der SPD zu verbreiten.
Beim Kongress wollte die PPS Polens Unabhängigkeit
als notwendiges Ziel der Internationale festlegen lassen
und verdächtigte mehrere SDKP-Vertreter
als zaristische Geheimagenten.
Rosa Luxemburg und die SDKP wurden diesmal jedoch
als eigenständige Vertreter der polnischen Sozialdemokratie
zugelassen. Sie überraschte den Kongress
mit einer Gegenresolution, wonach
nationale Unabhängigkeit kein möglicher Programmpunkt
einer sozialistischen Partei sein könne.
Die Mehrheit stimmte einer Kompromissfassung zu,
die das Selbstbestimmungsrecht der Völker
allgemein bejahte,
ohne Polen zu erwähnen.
Nach dem Kongress schrieb Rosa Luxemburg
Artikel für die Sächsische Arbeiterzeitung
über Organisationsprobleme der deutschen
und österreichischen Sozialdemokratie
und die Chancen der Sozialdemokratie
im Osmanischen Reich.
Sie plädierte für die Auflösung dieses Reichs,
um so den Türken und weiteren Nationen
zunächst eine kapitalistische Entwicklung zu gestatten.
Marx und Engels hätten zwar zu ihrer Zeit recht gehabt,
dass das zaristische Russland
der Hort der Reaktion
und mit allen Mitteln zu schwächen sei,
doch die Bedingungen hätten sich geändert.
Erneut widersprachen ihr führende Sozialdemokraten
wie Kautsky, Plechanow und Adler öffentlich.
So wurde sie weit über Polen hinaus
als sozialistische Denkerin bekannt,
mit deren Ansichten man sich auseinandersetzte.
Im Mai 1897 wurde Rosa Luxemburg
in Zürich mit dem Prädikat magna cum laude
zum Thema Polens industrielle Entwicklung promoviert.
Mit empirischem Material aus Bibliotheken
und Archiven von Berlin, Paris, Genf und Zürich
suchte sie nachzuweisen, dass Russisch-Polen
seit 1846 in den russischen Kapitalmarkt eingebunden
und sein Wirtschaftswachstum vollständig
von diesem abhängig sei.
Damit wollte sie die Ansicht, die Wiederherstellung
der nationalen Unabhängigkeit Polens sei illusorisch,
mit ökonomischen Fakten untermauern,
ohne explizit marxistisch zu argumentieren.
Nach der Veröffentlichung wollte Rosa Luxemburg
darauf aufbauend eine Wirtschaftsgeschichte
Polens verfassen; das von ihr öfter erwähnte Manuskript
dazu ging verloren, wurde aber nach ihrer Aussage
in Erläuterungen von Franz Mehring
zu von ihm herausgegebenen Marx-Texten
teilweise verarbeitet. Sie setzte ihren
kompromisslosen Kampf gegen den Nationalismus
in der Arbeiterbewegung zeitlebens fort.
Diese Haltung isolierte sie anfangs fast völlig
und brachte ihr viele erbitterte Konflikte ein,
unter anderem seit 1898 in der SPD
und seit 1903 mit Lenin.
Um die SPD und die Arbeiter
im deutsch besetzten Teil Polens
wirksamer für die SDKP zu gewinnen,
beschloss Rosa Luxemburg 1897
gegen den Willen von Leo Jogiches,
nach Deutschland zu ziehen.
Um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten,
heiratete sie am 19. April 1898
den 24-jährigen Schlosser Gustav Lübeck,
den einzigen Sohn ihrer Züricher Gastfamilie.
Ab 12. Mai 1898 wohnte sie in der Cuxhavener Straße 2
und trat sofort in die SPD ein,
die in der Arbeiterbewegung
als fortschrittlichste sozialistische Partei Europas galt.
Sie bot dem SPD-Bezirksvorsteher Ignaz Auer an,
Wahlkampf für die SPD bei polnischen
und deutschen Arbeitern in Schlesien zu machen.
Durch ihre Sprachgewandtheit
und erfolgreiche Wahlkampfreden
erwarb sie rasch Ansehen in der SPD
als gefragte Spezialistin
für polnische Angelegenheiten.
Bei den folgenden Reichstagswahlen
errang die SPD in Schlesien erstmals Mandate
und brach so die bisherige Alleinherrschaft
der katholischen Zentrumspartei.
1890 waren im Kaiserreich
nach zwölf Jahren die Sozialistengesetze
aufgehoben worden. Dadurch gewann die SPD
bei Wahlen weitere Reichstagssitze.
Die meisten SPD-Abgeordneten
wollten die neue Legalität der SPD bewahren
und setzten sich immer weniger
für einen revolutionären Umsturz,
immer mehr für die allmähliche Erweiterung
parlamentarischer Rechte und Sozialreformen
im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung ein.
Das Erfurter Programm von 1891
hielt die Sozialrevolution nur noch
als theoretisches Fernziel fest
und trennte den Alltagskampf für Reformen davon.
Eduard Bernstein, Autor des praktischen Programmteils,
rückte ab 1896 mit einer Artikelserie
über „Probleme des Sozialismus“ in der Neuen Zeit
vom Marxismus ab und begründete
die später Reformismus genannte Theorie:
Interessenausgleich und Reformen
würden die Auswüchse des Kapitalismus mildern
und den Sozialismus evolutionär herbeiführen,
so dass die SPD sich auf parlamentarische Mittel
beschränken könne. Kautsky,
enger Freund Bernsteins und Redakteur der Neuen Zeit,
ließ keine Kritiken an dessen Thesen abdrucken.
Alexander Parvus, inzwischen Chefredakteur
der Sächsischen Arbeiterzeitung,
eröffnete daraufhin im Januar 1898
den Revisionismusstreit mit einer polemischen
Artikelserie gegen Bernstein.
Am 25. September 1898 wurde Parvus
des Landes verwiesen.
Auf seinen dringenden Wunsch zog Rosa Luxemburg
nach Dresden und übernahm die Chefredaktion
der Sächsischen Arbeiterzeitung.
Daher durfte sie beim folgenden SPD-Parteitag
in Stuttgart (1898) zu allen Tagesthemen,
nicht nur zum Thema Polen reden.
Erstmals griff sie dort in die Bernsteindebatte ein,
positionierte sich auf dem marxistischen Parteiflügel,
betonte dessen Übereinstimmung
mit dem Parteiprogramm
und wies den Debattenstil zurück:
Persönliche Polemik zeige nur
das Fehlen von Sachargumenten.
Der Parteivorstand um August Bebel
vermied eine programmatische Entscheidung.
In den Folgewochen veröffentlichte sie
eine eigene Artikelserie gegen Bernsteins Theorie,
die später in ihr Buch Sozialreform
oder Revolution? einging.
Darin vertrat sie eine konsequent
klassenkämpferische Haltung:
Echte Sozialreformen müssten das Ziel
der sozialen Revolution stets
im Auge behalten und ihm dienen.
Sozialismus sei nur durch die Machtübernahme
des Proletariats und Umwälzung
der Produktionsverhältnisse zu erreichen.
Sie zog wieder nach Berlin
und schrieb von dort aus regelmäßig gegen Entgelt
anonyme Artikel für verschiedene SPD-Zeitungen
über wichtige wirtschaftliche
und technische Entwicklungen in aller Welt.
Dafür recherchierte sie täglich in Bibliotheken,
worauf sie ab Dezember 1898 zeitweise
polizeilich überwacht wurde.
Zu ihren engen Freunden gehörten Clara Zetkin,
die inner- und außerhalb der SPD
für eine selbstbestimmte
internationale Frauenbewegung eintrat,
und Bruno Schönlank, Chefredakteur
der Leipziger Volkszeitung.
Dort wies sie mit der Artikelserie Miliz und Militarismus
im Februar 1899 die Thesen von Max Schippel zurück:
Dieser wollte das SPD-Ziel einer Volksmiliz
als Alternative zum kaiserlichen Militär aufgeben
und sah die vorhandenen stehenden Heere
als unentbehrliche ökonomische Entlastung
und Übergang zu einem künftigen „Volksheer“ an.
Sie kritisierte Schippels Annäherung
an den kaiserlichen Militarismus
als logische Folge des Bernstein’schen Revisionismus
und dessen mangelnder Bekämpfung in der SPD.
Sie schlug vor, die internen Protokolle
der SPD-Reichstagsfraktion zu veröffentlichen
und beim nächsten Parteitag
über Schippels Thesen zu diskutieren.
Diesmal fand sie ein positives Echo
beim Parteivorstand. Kautsky lud sie
im März 1899 zu sich nach Hause ein
und schlug ihr ein Bündnis
gegen militaristische Tendenzen in der SPD vor.
Wilhelm Liebknecht erlaubte ihr
ein Referat über den aktuellen Kurs
der Regierung und der SPD in Berlin.
Bebel traf sich mit ihr, unterstützte ihre Forderungen,
lehnte aber eine eigene Stellungnahme weiterhin ab,
weil er Wahleinbußen für die SPD fürchtete.
Damit hatte die Parteiführung sie
als Dialogpartnerin anerkannt.
Sie nutzte dies, um für mehr Akzeptanz
der SDKP-Positionen zu werben.
Vom 4. bis 8. April 1899 antwortete Rosa Luxemburg
auf Bernsteins neues Buch
Die Voraussetzungen des Sozialismus
und die Aufgaben der Sozialdemokratie
mit einer zweiten Artikelserie zum Thema
Sozialreform oder Revolution?
in der Leipziger Volkszeitung.
Darin bejahte sie den Alltagskampf der SPD
um Reformen als notwendiges Mittel
zum Zweck der Abschaffung
des ausbeuterischen Lohnsystems.
Bernstein habe diesen Zweck aufgegeben
und das Mittel des Klassenkampfs,
die Reformen, zum Selbstzweck gemacht.
Damit habe er im Grunde die Mission der SPD
für historisch überholt erklärt.
Die SPD gäbe sich selbst auf, würde sie dem folgen.
Die Marx’sche Krisentheorie bleibe aktuell,
da das Wachstum der Produktivkräfte
im Kapitalismus zwangsläufig
periodische Absatzkrisen erzeuge und Kredite
und Unternehmerorganisationen diese Krisen
nur auf zwischenstaatliche Konkurrenz verlagerten,
aber nicht aufhöben. Sie forderte
die „Revisionisten“ auf, die SPD zu verlassen,
weil sie das Parteiziel aufgegeben hätten.
Dafür fand sie viel Zustimmung in der SPD.
Mehrere SPD-Wahlkreise beantragten
den Ausschluss der Revisionisten.
Beim Reichsparteitag in Hannover (1899)
bekräftigte Bebel als Hauptredner
das Erfurter Programm,
die freie und kritische Diskussion
über die Marx’sche Theorie
und lehnte den Ausschluss der Revisionisten ab.
Rosa Luxemburg stimmte ihm weitgehend zu:
Da die Revisionisten die SPD-Position
ohnehin nicht bestimmten,
sei ihr Ausschluss nicht notwendig.
Es genüge, sie ideologisch in die Schranken zu weisen.
Eine proletarische Revolution bedeute
die Aussicht auf ein Geringstmaß an Gewalt;
wieweit diese notwendig werde,
bestimme der Gegner.
Seit dieser innerparteilichen Auseinandersetzung
war Rosa Luxemburg als scharfzüngige
und intelligente Gegnerin
der „Revisionisten“ bekannt,
geachtet und zum Teil auch gefürchtet.
Sie erfuhr als Jüdin aus dem Ausland
viel Ablehnung in der SPD.
1900 starb ihr Vater.
Auf ihr Verlangen zog Leo Jogiches zu ihr nach Berlin.
Sie löste ihre Ehe mit Gustav Lübeck auf.
1903 wurde sie Mitglied
im Internationalen Sozialistischen Bureau.
Im Reichstagswahlkampf 1903
behauptete Kaiser Wilhelm II.,
er verstehe die Probleme der deutschen Arbeiter
besser als jeder Sozialdemokrat.
Darauf antwortete Rosa Luxemburg
in einer Wahlkampfrede:
„Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz
der deutschen Arbeiter spricht,
hat keine Ahnung von den Tatsachen.“
Dafür wurde sie im Juli 1904
wegen „Majestätsbeleidigung“
zu drei Monaten Gefängnis verurteilt,
von denen sie sechs Wochen verbüßen musste.
1904 kritisierte sie in der russischen Zeitung Iskra
erstmals Lenins zentralistisches Parteikonzept
(Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie).
Als Vertreterin der SPD und der SDKP
setzte sie beim Kongress der Zweiten Internationale
in Amsterdam klassenkämpferische
gegen reformistische Positionen durch.
1905 wurde sie Redakteurin
bei der SPD-Parteizeitung Vorwärts.
Im Dezember 1905 reiste sie unter dem Pseudonym
„Anna Matschke“ mit Leo Jogiches nach Warschau,
um die russische Revolution 1905 zu unterstützen
und die SDKP zur Teilnahme daran zu bewegen.
Im März 1906 wurde sie verhaftet.
Es gelang ihr, ein Kriegsgerichtsverfahren
mit drohender Todesstrafe abzuwenden.
Nach ihrer Freilassung gegen eine hohe Kaution
reiste sie nach Petersburg und traf dort
russische Revolutionäre, darunter Lenin.
In diesem Zusammenhang
warfen polnische Nationalisten ihr öffentlich vor,
sie lenke den „jüdischen“ internationalistischen Flügel
der Sozialdemokratie, der eine Verschwörung
zur Zerstörung Kongresspolens betreibe.
Der Antisemit Niemojewski machte das Judentum
für den Sozialismus verantwortlich.
Rosa Luxemburg erreichte daraufhin,
dass führende westeuropäische Sozialdemokraten
(der Franzose Jean Jaurès sowie
August Bebel, Karl Kautsky, Franz Mehring)
gemeinsam den Antisemitismus als Ideologie
des reaktionären Bürgertums verwarfen.
Sie warnte frühzeitig vor einem kommenden Krieg
der europäischen Großmächte,
griff immer stärker den deutschen Militarismus
und Imperialismus an und versuchte,
ihre Partei zu einem energischen
Gegenkurs zu verpflichten.
1906 wurde sie auf Antrag der Staatsanwaltschaft Weimar
wegen „Anreizung verschiedener Klassen
der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten“
in einer SPD-Parteitagsrede
zu zwei Monaten Haft verurteilt, die sie voll verbüßte.
Ihre Erfahrungen mit der russischen Revolution
verarbeitete sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland
in der Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften.
Um die „internationale Solidarität der Arbeiterklasse“
gegen den Krieg einzuüben,
forderte sie darin von der SPD die Vorbereitung
des Generalstreiks nach polnisch-russischem Vorbild.
Zugleich setzte sie ihr internationales Engagement fort
und nahm 1907 mit Leo Jogiches
am fünften Parteitag der russischen Sozialdemokraten
in London teil. Beim folgenden Kongress
der Zweiten Internationale in Stuttgart
brachte sie erfolgreich eine Resolution ein,
die gemeinsames Handeln aller europäischen
Arbeiterparteien gegen den Krieg vorsah.
Ab 1907 unterhielt sie eine mehrjährige
Liebesbeziehung zu Kostja Zetkin,
aus der etwa 600 Briefe erhalten sind.
Ebenfalls ab 1907 lehrte sie als Dozentin
für Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie
an der SPD-Parteischule in Berlin,
1911 kam noch das auf ihre Anregung hin
eingeführte Unterrichtsfach
„Geschichte des Sozialismus“ hinzu.
Einer ihrer Schüler war der spätere KPD-Gründer
und DDR-Präsident Wilhelm Pieck.
Als die SPD sich beim Aufstand
der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika,
dem heutigen Namibia, klar
gegen den Kolonialismus und Imperialismus
des Kaiserreichs aussprach,
verlor sie bei der Reichstagswahl 1907 –
den sogenannten „Hottentotten-Wahlen“ –
rund ein Drittel ihrer Reichstagssitze.
Doch den Generalstreik als politisches Kampfmittel
lehnten SPD- und Gewerkschaftsführung
weiterhin strikt ab. Darüber zerbrach 1910
Rosa Luxemburgs Freundschaft mit Karl Kautsky.
Damals machten Berichte der New York Times
über den Sozialistenkongress in Magdeburg
sie auch in den USA bekannt.
1912 reiste sie als Vertreterin der SPD
zu europäischen Sozialistenkongressen,
darunter dem in Paris, wo sie und Jean Jaurès
die europäischen Arbeiterparteien
zu einer feierlichen Verpflichtung brachten,
beim Kriegsausbruch zum Generalstreik aufzurufen.
Als der Balkankrieg 1913
fast schon einen Weltkrieg auslöste,
organisierte sie Demonstrationen gegen den Krieg.
In zwei Reden in Frankfurt-Bockenheim
am 25. September und in Fechenheim
bei Frankfurt am Main am 26. September 1913
rief sie eine Menge von Hunderttausenden
zu Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung auf:
„Wenn uns zugemutet wird,
die Mordwaffen gegen unsere französischen
oder anderen ausländischen Brüder zu erheben,
so erklären wir: Nein, das tun wir nicht!“
Daher wurde sie der „Aufforderung
zum Ungehorsam gegen Gesetze
und Anordnungen der Obrigkeit“ angeklagt
und im Februar 1914 zu insgesamt 14 Monaten
Gefängnis verurteilt. Ihre Rede
vor der Frankfurter Strafkammer
wurde später unter dem Titel
Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse veröffentlicht.
Vor dem Haftantritt konnte sie Ende Juli
noch an einer Sitzung des Internationalen
Sozialistischen Büros teilnehmen.
Dort erkannte sie ernüchtert:
Auch in den europäischen Arbeiterparteien,
vor allem den deutschen und französischen,
war der Nationalismus stärker
als das internationale Klassenbewusstsein.
Am 2. August, in Reaktion auf die Kriegserklärung
des Deutschen Reiches an Russland und Frankreich
vom Vortag, erklärten die deutschen Gewerkschaften
einen Streik- und Lohnverzicht
für die gesamte Dauer des bevorstehenden Krieges.
Am 4. August 1914 stimmte die SPD-Reichstagsfraktion
einstimmig und gemeinsam
mit den übrigen Reichstagsfraktionen
für die Aufnahme der ersten Kriegskredite
und ermöglichte damit die Mobilmachung.
Rosa Luxemburg erlebte diesen Bruch
der SPD-Vorkriegsbeschlüsse
als schweres, folgenreiches Versagen der SPD
und dachte deswegen an Selbstmord.
Aus ihrer Sicht hatte der Opportunismus,
den sie immer bekämpft hatte, gesiegt
und das Ja zum Krieg nach sich gezogen.
Am 5. August gründete sie
mit Hermann Duncker, Hugo Eberlein,
Julian Marchlewski, Franz Mehring,
Ernst Meyer und Wilhelm Pieck
die „Gruppe Internationale“,
der sich wenig später auch Karl Liebknecht anschloss.
Darin sammelten sich diejenigen Kriegsgegner der SPD,
die deren Stillhaltepolitik komplett ablehnten.
Sie versuchten, die Partei zur Rückkehr
zu ihren Vorkriegsbeschlüssen
und zur Abkehr von der Burgfriedenspolitik zu bewegen,
einen Generalstreik für einen Friedensabschluss
vorzubereiten und so auch einer internationalen
proletarischen Revolution näherzukommen.
Daraus ging 1916 die reichsweite
„Spartakusgruppe“ hervor, deren Spartakusbriefe
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
gemeinsam herausgaben.
Rosa Luxemburg musste am 18. Februar 1915
die Haftstrafe im Berliner Weibergefängnis antreten,
die sie für ihre in Frankfurt am Main gehaltene Rede
erhalten hatte. Ein Jahr später wurde sie entlassen.
Schon drei Monate später wurde sie
nach dem damaligen Schutzhaft-Gesetz
zur „Abwendung einer Gefahr
für die Sicherheit des Reichs“
zu insgesamt zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.
Im Juli 1916 begann ihre „Sicherungsverwahrung“.
Drei Jahre und vier Monate verbrachte sie
zwischen 1915 und 1918 im Gefängnis.
Sie wurde zweimal verlegt,
zuerst nach Wronke nahe Posen,
dann nach Breslau.
Dort sammelte sie Nachrichten aus Russland
und verfasste einige Aufsätze,
die ihre Freunde herausschmuggelten
und illegal veröffentlichten.
In ihrem Aufsatz Die Krise der Sozialdemokratie,
erschienen im Juni 1916 unter dem Pseudonym Junius,
rechnete sie mit der „bürgerlichen Gesellschaftsordnung“
und der Rolle der SPD ab,
deren reaktionäres Wesen der Krieg offenbart habe.
Lenin kannte diese Schrift und antwortete positiv darauf,
ohne zu ahnen, wer sie verfasst hatte.
Im Februar 1917 weckte der revolutionäre Sturz
des Zaren in Russland Hoffnungen
auf ein baldiges Kriegsende.
Die Provisorische Regierung setzte den Krieg
gegen Deutschland jedoch fort.
Dort kam es im März in vielen Städten
zu monatelangen Protesten und Massenstreiks:
zuerst gegen die Mangelwirtschaft,
dann gegen Lohnverzicht
und schließlich gegen den Krieg und die Monarchie.
Im April 1917 erfolgte der Kriegseintritt der USA.
Nun gründeten die Kriegsgegner,
die die SPD ausgeschlossen hatte,
die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands,
die rasch Zulauf gewann.
Obwohl der Spartakusbund die Parteispaltung
bis dahin abgelehnt hatte,
trat er nun der neuen Linkspartei bei.
Er behielt seinen Gruppenstatus,
um weiterhin konsequent
für eine internationale sozialistische Revolution
werben zu können. Diesem Ziel folgten
nur wenige USPD-Gründer.
Während die SPD-Führung erfolglos versuchte,
die Oberste Heeresleitung (OHL)
zu Friedensverhandlungen
mit US-Präsident Woodrow Wilson zu gewinnen,
ermöglichte diese Lenin die Durchreise
aus seinem Schweizer Exil
nach Sankt Petersburg.
Dort gewann er die Führung der Bolschewiki
und bot den Russen einen sofortigen Separatfrieden
mit Deutschland an.
Damit gewannen die Bolschewiki
eine Mehrheit im Volkskongress,
doch nicht in der Duma,
dem russischen Nationalparlament.
In der Oktoberrevolution besetzten sie es,
lösten es auf und setzten die Arbeiterräte
(Sowjets) als Regierungsorgane ein.
Rosa Luxemburg ließ sich fortlaufend
über diese Ereignisse informieren
und schrieb dazu den Aufsatz
Zur russischen Revolution.
Darin begrüßte sie Lenins Revolution,
kritisierte aber zugleich scharf seine Strategie
und warnte vor einer Diktatur der Bolschewiki.
In diesem Zusammenhang formulierte sie
den berühmten Satz: „Freiheit
ist immer Freiheit des Andersdenkenden.“
Erst 1922 veröffentlichte ihr Freund
Paul Levi diesen Aufsatz.
Trotz ihrer Vorbehalte rief sie nun unermüdlich
zu einer deutschen Revolution
nach russischem Vorbild auf
und forderte eine „Diktatur des Proletariats“,
grenzte diesen Begriff aber gegen Lenins
Avantgardekonzept ab.
Sie verstand darunter die demokratische
Eigenaktivität der Arbeiter
im Revolutionsprozess,
Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung
und politische Streiks
bis zur Verwirklichung
sozialistischer Produktionsverhältnisse.
Im Januarstreik 1918 bildeten sich
in vielen bestreikten Betrieben
eigenständige Arbeitervertreter heraus,
die revolutionären Obleute.
Immer mehr Deutsche lehnten
die Fortsetzung des Krieges ab.
Nach dem Durchbruch der Triple Entente
an der Westfront am 8. August 1918
beteiligte die kaiserliche Regierung
auf Verlangen der Obersten Heeresleitung (OHL)
am 5. Oktober erstmals den Reichstag
an ihren Entscheidungen.
Max von Baden wurde Reichskanzler,
mehrere Sozialdemokraten traten
in die Regierung ein.
Diese bat die Entente um Waffenstillstandsverhandlungen.
Die Spartakisten sahen diese Verfassungsänderung
als Täuschungsmanöver zur Abwehr
der kommenden Revolution
und stellten am 7. Oktober reichsweit
ihre Forderungen nach einem grundlegenden
Umbau der Gesellschafts- und Staatsordnung.
Die Novemberrevolution erreichte am 9. November
Berlin, wo Philipp Scheidemann
eine deutsche, der vorzeitig
aus dem Gefängnis entlassene Karl Liebknecht
eine sozialistische Republik ausriefen.
Rosa Luxemburg wurde am 8. November
aus der Breslauer Haft entlassen
und traf am 10. November in Berlin ein.
Karl Liebknecht hatte bereits
den Spartakusbund reorganisiert.
Beide gaben gemeinsam die Zeitung
Die Rote Fahne heraus,
um täglich auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen.
In einem ihrer ersten Artikel forderte Rosa Luxemburg
eine Amnestie für alle politischen Gefangenen
und die Abschaffung der Todesstrafe.
Am 18. November schrieb sie:
„Der Bürgerkrieg, den man aus der Revolution
mit ängstlicher Sorge zu verbannen sucht,
lässt sich nicht verbannen.
Denn Bürgerkrieg ist nur ein anderer Name
für Klassenkampf, und der Gedanke,
den Sozialismus ohne Klassenkampf,
durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluß
einführen zu können, ist eine lächerliche
kleinbürgerliche Illusion.“
Sie trat damals für den Schutz der Berliner Kulturgüter
gegen Plünderer ein und sorgte dafür,
dass eine Wache für die Berliner
Museumsinsel abgestellt wurde.
Ebert hatte sich am Abend des 10. November
mit Ludendorffs Nachfolger,
General Wilhelm Groener,
im Ebert-Groener-Pakt heimlich
auf eine Zusammenarbeit gegen Versuche
einer Entmachtung der kaiserlichen Offiziere
und weitergehenden Revolution verständigt
und beorderte Anfang Dezember
ehemalige Fronttruppen nach Berlin.
Diese sollten unerwünschte Ergebnisse
des geplanten Reichsrätekongresses vereiteln,
der eine neue Verfassung und Wahlen
vorbereiten sollte. Am 6. Dezember
erschossen Soldaten dieser Truppen
bei Straßenkämpfen demonstrierende Arbeiter.
Am 10. Dezember zog
die Garde-Kavallerie-Schützen-Division
in Berlin ein. Rosa Luxemburg vermutete,
dass Ebert diese Reichswehreinheiten
gegen Berliner Arbeiter einzusetzen vorhatte,
und forderte daraufhin im Artikel
Was will der Spartakusbund?
am 14. Dezember in der Roten Fahne
alle Macht für die Räte,
die möglichst gewaltlose Entwaffnung
und die Umerziehung
der heimgekehrten Soldaten.
Beim Reichsrätekongress
vom 16. bis zum 20. Dezember
waren nur zehn Spartakisten vertreten.
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
erhielten kein Rederecht.
Eine Mehrheit stimmte gemäß
dem breiten Bevölkerungswillen
für parlamentarische Wahlen
zur Weimarer Nationalversammlung
am 19. Januar 1919
und die Selbstauflösung der Arbeiterräte.
Eine Kontrollkommission sollte das Militär überwachen,
eine Sozialisierungskommission sollte
die vielfach geforderte Enteignung
kriegswichtiger Großindustrie beginnen.
Infolge der Weihnachtskämpfe vom 24. Dezember
verließen die Mitglieder der USPD
am 29. Dezember den Rat der Volksbeauftragten.
Am 1. Januar 1919 gründeten die Spartakisten
und andere linkssozialistische Gruppen
aus dem ganzen Reich die KPD.
Diese nahm Rosa Luxemburgs Spartakusprogramm
kaum verändert als Parteiprogramm an.
Darin betonte sie, dass Kommunisten
die Macht niemals ohne erklärten
mehrheitlichen Volkswillen ergreifen würden.
Ihre dringende Empfehlung,
an den kommenden Parlamentswahlen teilzunehmen,
um auch dort für eine Fortsetzung
der Revolution zu werben,
lehnte eine deutliche Parteitagsmehrheit ab.
Als Ebert am 4. Januar 1919
den Berliner Polizeipräsidenten
Emil Eichhorn (USPD) absetzte,
Gustav Noske mit der Aufstellung
und Herbeirufung von Freikorps beauftragte
und dieser immer mehr Militär
um Berlin zusammenzog,
riefen Revolutionäre Obleute am 5. Januar
zu einem Generalstreik auf
und besetzten das Berliner Zeitungsviertel,
um zum Sturz der restlichen Übergangsregierung
aufzurufen. Während Karl Liebknecht
sie unterstützte und die KPD erfolglos
Berliner Regimenter zur Teilnahme
zu bewegen versuchte,
hielt Rosa Luxemburg
diesen zweiten Revolutionsversuch
für mangelhaft vorbereitet und verfrüht
und kritisierte Liebknecht deswegen intern scharf.
In Zeitungen kursierten seit Anfang Dezember
Mordaufrufe gegen die Spartakusführer;
Eduard Stadtler hatte damals mit Geldern
der Deutschen Bank und von Friedrich Naumann
eine „Antibolschewistische Liga“ gegründet,
deren Antibolschewistenfonds
ab 10. Januar 1919 Gelder
der deutschen Wirtschaft erhielt.
Damit wurden unter anderem die Anwerbung
und Ausrüstung der Freikorps
sowie Belohnungen zur Festsetzung
und Ermordung von Spartakisten bezahlt.
Der Vorwärts rief zur „Stunde der Abrechnung“
mit ihnen auf. Vermittlungsgespräche
zwischen dem Revolutionskomitee
und der Übergangsregierung scheiterten.
Von Noske befehligte kaiserliche Truppen
schlugen den sogenannten Spartakusaufstand
vom 8. bis 12. Januar gewaltsam nieder
und erschossen Hunderte von Aufständischen,
darunter auch viele Unbewaffnete,
die sich schon ergeben hatten.
Die Spartakusführer mussten untertauchen,
blieben aber in Berlin.
In ihren letzten Lebenstagen ging es
Rosa Luxemburg gesundheitlich sehr schlecht,
trotzdem verfolgte sie noch aktiv
das revolutionäre Geschehen.
In ihrer letzten Veröffentlichung
in der Roten Fahne bekräftigte sie nochmals
ihr unbedingtes Vertrauen in die Arbeiterklasse;
sie werde aus ihren Niederlagen lernen
und sich bald wieder zum „Endsieg“ erheben.
Am 15. Januar 1919 nahm eine „Bürgerwehr“,
die über genaue Steckbriefe verfügte,
sie und Karl Liebknecht
in einer Wohnung der Mannheimer Straße 27
in Wilmersdorf fest und brachte sie
in das Eden-Hotel.
Dort residierte der Stab
der Garde-Kavallerie-Schützen-Division,
der die Verfolgung von Spartakisten
in Berlin organisierte.
Die Gefangenen wurden nacheinander verhört
und dabei schwer misshandelt.
Kommandant Waldemar Pabst
beschloss mit seinen Offizieren,
sie zu ermorden; der Mord
sollte nach einer spontanen Tat
Unbekannter aussehen.
Der am Haupteingang bereitstehende Jäger
Otto Wilhelm Runge schlug Rosa Luxemburg
beim Verlassen des Hotels
mit einem Gewehrkolben zweimal,
bis sie bewusstlos war.
Sie wurde in einen bereitstehenden Wagen geworfen.
Der Freikorps-Leutnant Hermann Souchon
sprang bei ihrem Abtransport
auf das Trittbrett des Wagens auf
und erschoss sie
mit einem aufgesetzten Schläfenschuss
etwa an der Ecke Nürnberger Straße/Kurfürstendamm.
Kurt Vogel ließ ihre Leiche
in den Berliner Landwehrkanal
in der Nähe der Lichtensteinbrücke werfen.
FÜNFTER GESANG
Clara wurde als älteste Tochter
von Josephine Vitale,
deren Vater Jean Dominique
durch die Französische Revolution 1789
und seine Teilnahme an Napoleons Kriegen geprägt war,
und Gottfried Eißner,
Sohn eines Tagelöhners
und Dorfschullehrers von Wiederau, geboren.
Ihre Mutter stand mit Pionierinnen
der damals entstandenen bürgerlichen Frauenbewegung
in Kontakt, insbesondere Louise Otto-Peters
und Auguste Schmidt, las Bücher von George Sand
und gründete in Wiederau einen Verein
für Frauengymnastik.
Die Familie siedelte 1872 nach Leipzig über,
um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen.
Ab 1874 hatte die in Leipziger Privatseminaren ausgebildete
Volksschullehrerin Kontakte zur Frauen- und Arbeiterbewegung.
Clara Eißner trat 1878 der Sozialistischen Arbeiterpartei
Deutschlands bei, die 1890 in SPD umbenannt wurde.
Wegen des Sozialistengesetzes (1878–1890),
das sozialdemokratische Aktivitäten
außerhalb der Landtage und des Reichstags verbot,
ging sie 1882 zuerst nach Zürich,
dann nach Paris ins Exil.
Dort nahm sie den Namen ihres Lebenspartners,
des russischen Revolutionärs Ossip Zetkin an,
mit dem sie zwei Söhne hatte,
Maxim Zetkin und Kostja Zetkin.
In ihrer Zeit in Paris hatte sie 1889
während des Internationalen Arbeiterkongresses
einen bedeutenden Anteil an der Gründung
der Sozialistischen Internationale.
Im Herbst 1890 kehrte die Familie
nach Deutschland zurück
und ließ sich in Sillenbuch bei Stuttgart nieder.
Dort arbeitete Clara Zetkin als Übersetzerin
und seit 1892 als Herausgeberin
der Frauenzeitschrift Die Gleichheit.
Nach dem Tode Ossip Zetkins heiratete sie 1899
42-jährig in Stuttgart den 24-jährigen
Kunstmaler Friedrich Zundel aus Wiernsheim.
Nach zunehmender Entfremdung
wurde die Ehe 1927 geschieden.
1907 lernte Clara Zetkin
anlässlich des Internationalen Sozialistenkongresses
in Stuttgart den russischen Kommunisten Lenin kennen,
mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband.
In der SPD gehörte sie zusammen
mit ihrer engen Vertrauten, Freundin
und Mitstreiterin Rosa Luxemburg
wortführend zum revolutionären linken Flügel der Partei
und wandte sich mit ihr um die Jahrhundertwende
zum 20. Jahrhundert in der Revisionismusdebatte
entschieden gegen die reformorientierten
Thesen Eduard Bernsteins.
Einer ihrer politischen Schwerpunkte
war die Frauenpolitik.
Hierzu hielt sie beim Gründungskongress
der Zweiten Internationalen
am 19. Juli 1889 ein berühmt gewordenes Referat,
in dem sie die Forderungen
der bürgerlichen Frauenbewegung
nach Frauenwahlrecht, freier Berufswahl
und besonderen Arbeitsschutzgesetzen für Frauen,
wie sie um Helene Lange und Minna Cauer
vertreten wurden, im Rahmen
des herrschenden Systems kritisierte:
„Wir erwarten unsere volle Emanzipation
weder von der Zulassung der Frau zu dem,
was man freie Gewerbe nennt,
und von einem dem männlichen gleichen Unterricht –
obgleich die Forderung dieser beiden Rechte
nur natürlich und gerecht ist –
noch von der Gewährung politischer Rechte.
Die Länder, in denen das angeblich allgemeine,
freie und direkte Wahlrecht existiert,
zeigen uns, wie gering der wirkliche Wert desselben ist.
Das Stimmrecht ohne ökonomische Freiheit
ist nicht mehr und nicht weniger
als ein Wechsel, der keinen Kurs hat.
Wenn die soziale Emanzipation
von den politischen Rechten abhinge,
würde in den Ländern mit allgemeinem Stimmrecht
keine soziale Frage existieren.
Die Emanzipation der Frau
wie die des ganzen Menschengeschlechtes
wird ausschließlich das Werk der Emanzipation
der Arbeit vom Kapital sein.
Nur in der sozialistischen Gesellschaft
werden die Frauen wie die Arbeiter
in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen.“
Damit erklärte Zetkin die fehlende Gleichberechtigung
der Geschlechter zu einem Nebenwiderspruch
der herrschenden sozialen und ökonomischen Bedingungen,
den sie dem Hauptwiderspruch zwischen Kapital
und Arbeit unterordnete.
Ihre Verschiebung der formalpolitischen Emanzipation
der Frau auf die Zeit nach der Revolution
vertiefte die Konflikte der deutschen Frauenbewegung
vor dem Ersten Weltkrieg
und führte zu langwierigen Auseinandersetzungen
mit anderen, gemäßigteren Protagonistinnen
auch innerhalb der sozialdemokratischen Frauenbewegung,
etwa mit Lily Braun oder Luise Zietz.
Zetkin war von 1891 bis 1917
Herausgeberin der SPD-Frauenzeitung Die Gleichheit,
in deren programmatischer Eröffnungsnummer
sie sich erneut gegen die reformistische Vorstellung wandte,
durch rechtliche Gleichstellung mit den Männern
unter Beibehaltung des Kapitalismus einen Fortschritt
für die Frauen erreichen zu wollen:
„Die Gleichheit geht von der Überzeugung aus,
dass der letzte Grund der jahrtausendealten
niedrigen gesellschaftlichen Stellung
des weiblichen Geschlechts nicht
in der jeweils von Männern gemachten Gesetzgebung,
sondern in den durch wirtschaftliche Zustände
bedingten Eigentumsverhältnisse zu suchen ist.
Mag man heute unsere gesamte Gesetzgebung
dahin abändern, dass das weibliche Geschlecht
rechtlich auf gleichen Fuß mit dem männlichen gestellt wird,
so bleibt nichtsdestoweniger für die große Masse
der Frauen die gesellschaftliche Versklavung
in härtester Form weiterbestehen:
ihre wirtschaftliche Abhängigkeit
von ihren Ausbeutern.“
Später revidierte sie diese rigide Haltung
und trat nun ebenfalls für das Frauenwahlrecht ein,
das bereits seit 1891 zentraler Bestandteil
des Parteiprogramms der SPD war.
1907 wurde ihr die Leitung
des neu gegründeten Frauensekretariats
der SPD übertragen.
Beim Internationalen Sozialistenkongress,
der im August 1907 in Stuttgart stattfand,
wurde die Gründung der Sozialistischen
Fraueninternationale beschlossen,
mit Clara Zetkin als Internationaler Sekretärin.
Auf der Zweiten Internationalen
Sozialistischen Frauenkonferenz
am 27. August 1910 in Kopenhagen
initiierte sie gegen den Willen
ihrer männlichen Parteikollegen,
gemeinsam mit Käte Duncker,
den Internationalen Frauentag,
der erstmals im folgenden Jahr
am 19. März 1911 begangen werden sollte
(ab 1921 am 8. März).
Zusammen mit Franz Mehring,
Rosa Luxemburg und sehr wenigen weiteren
SPD-Politikern stimmte Zetkin 1914
kurz vor Beginn des Krieges
gegen die Bewilligung der Kriegskredite.
Sie blieb damit dem Grundsatz
der Zweiten Internationale treu,
keinen Angriffskrieg zu unterstützen
und stand fortan im Widerspruch
zur großen Mehrheit der im Reichstag vertretenen SPD.
In der Zeit des Ersten Weltkriegs
lehnte Zetkin mit Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg,
Franz Mehring und wenigen anderen
einflussreichen SPD-Politikern
die Burgfriedenspolitik ihrer Partei ab.
Neben anderen Aktivitäten gegen den Krieg
organisierte sie 1915 in Bern
die Internationale Konferenz sozialistischer Frauen
gegen den Krieg.
In diesem Zusammenhang entstand
das maßgeblich von ihr ausformulierte
Anti-Kriegs-Flugblatt „Frauen des arbeitenden Volkes!“,
das außerhalb der Schweiz polizeilich gesucht wurde.
Wegen ihrer Antikriegshaltung
wurde Clara Zetkin während des Krieges
mehrfach inhaftiert, ihre Post beschlagnahmt
und ihre Söhne, beide Ärzte im Militärdienst, schikaniert.
Sie war ab 1916 an der ursprünglich
von Rosa Luxemburg gegründeten
revolutionären innerparteilichen Oppositionsfraktion
der SPD, der Gruppe Internationale
oder Spartakusgruppe beteiligt,
die am 11. November 1918
in Spartakusbund umbenannt wurde.
1917 schloss sich Clara Zetkin der USPD
unmittelbar nach deren Konstituierung an.
Diese neue linkssozialdemokratische Partei
hatte sich aus Protest
gegen die kriegsbilligende Haltung der SPD
von der Mutterpartei abgespalten,
nachdem die größer gewordene Gruppe
der Kriegsgegner aus der SPD-Reichstagsfraktion
und der Partei ausgeschlossen worden war.
Nach der Novemberrevolution wurde –
ausgehend vom Spartakusbund
und anderen linksrevolutionären Gruppen –
am 1. Januar 1919 die Kommunistische
Partei Deutschlands (KPD) gegründet,
der auch Zetkin beitrat.
Von 1919 bis 1920 war Zetkin Mitglied
der Verfassunggebenden Landesversammlung
Württembergs und dort eine
unter den ersten 13 weiblichen Abgeordneten.
Sie beteiligte sich ab dem 25. Juli 1919
am Sonderausschuss für den Entwurf
eines Jugendfürsorgegesetzes.
Am 25. September 1919 stimmte Zetkin
gegen die Annahme der Verfassung
des freien Volksstaates Württemberg.
Von 1920 bis 1933 war sie für die KPD
im Reichstag der Weimarer Republik
als Abgeordnete vertreten.
Ab 1919 gab Clara Zetkin die Zeitschrift
Die Kommunistin heraus.
Von 1921 bis zu ihrem Tode war sie
Präsidentin der Internationalen Arbeiterhilfe.
In der KPD war Zetkin bis 1924
Angehörige der Zentrale,
und von 1927 bis 1929 des Zentralkomitees der Partei.
Des Weiteren war sie von 1921 bis 1933
Mitglied des Exekutivkomitee
der Kommunistischen Internationale.
1925 wurde Zetkin außerdem zur Vorsitzenden
der Roten Hilfe Deutschlands gewählt.
In der KPD saß Zetkin
im Lauf ihrer politischen Tätigkeit,
während der die dominierenden innerparteilichen Flügel
mehrfach wechselten, oft zwischen den Stühlen,
behielt jedoch zeitlebens einen bedeutenden
Einfluss in der Partei.
Im Allgemeinen wird sie von namhaften Historikern
eher dem „rechten“ Flügel der KPD zugeordnet,
vor allem, weil sie den ideologischen Vorgaben
der Komintern und aus der Sowjetunion
teilweise kritisch gegenüberstand.
So lehnte sie 1921 zusammen mit dem damaligen
von März 1919 bis Februar 1921 amtierenden
innerparteilich umstrittenen KPD-Vorsitzenden
Paul Levi (Parteiausschluss Mitte 1921)
die vom Komintern-Chef Sinowjew
befürwortete „Offensivstrategie“ als „Putschismus“ ab.
Bei der entsprechenden von der KPD mehrheitlich
unterstützten Kampagne war eine revolutionär
ausgerichtete Arbeiterrevolte, die Märzaktion
in der Provinz Sachsen, blutig gescheitert,
wobei über hundert Menschen
ums Leben gekommen waren.
Anders als die Parteivorsitzenden Levi und Ernst Däumig
blieb sie jedoch in der KPD
und schloss sich nicht der Kommunistischen
Arbeitsgemeinschaft an.
Am 21. Januar 1923, kurz nach dem Beginn
der Besetzung des Ruhrgebietes
durch französische und belgische Truppen
infolge der von Deutschland nicht erfolgten
Reparationszahlungen laut den Bestimmungen
des Versailler Vertrags von 1919,
warf Zetkin unter der Überschrift
Um das Vaterland der Großbourgeoisie vor,
ihr „Verrat“ sei schuld an der krisenhaften Zuspitzung
der Situation der Weimarer Republik
infolge von Hyperinflation und Reparationen.
Mit dem Flugblatt „Zur Befreiung
des deutschen Vaterlandes“
rief sie zum Sturz der Regierung
und zur Bildung einer Arbeiterregierung auf.
Diese nationalistisch anmutenden Töne,
die kurzzeitig dazu führten, dass Zetkin
von einigen Parteigenossen
der Versuch vorgeworfen wurde,
die bürgerlichen Parteien
mit nationalen Parolen rechts überholen zu wollen,
wurden zwei Tage später von der Parteizentrale korrigiert.
Darauf rief die KPD zur Solidarität der Proletarier
in Deutschland und in Frankreich auf
und bekräftigte damit die internationalistische
Ausrichtung der KPD.
Im Juni 1923 erregte Zetkin
auf der Tagung des Exekutivkomitees
der Komintern in Moskau mit ihren Thesen
zum Klassencharakter des Faschismus,
der im Jahr zuvor in Italien
an die Macht gekommen war, Aufsehen.
Der bei vielen Marxisten verbreiteten These,
Mussolinis Diktatur sei als „bloßer bürgerlicher Terror“
und als Angstreaktion der Kapitalisten
auf die Bedrohung durch die Oktoberrevolution zu verstehen,
erteilte sie eine scharfe Absage.
In Wahrheit habe der Faschismus
„eine andere Wurzel. Es ist das Stocken,
der schleppende Gang der Weltrevolution
infolge des Verrats der reformistischen Führer
der Arbeiterbewegung. Ein großer Teil
der proletarisierten und von der Proletarisierung
bedrohten klein- und mittelbürgerlichen Schichten,
der Beamten und bürgerlichen Intellektuellen
hatte die Kriegspsychologie
mit einer gewissen Sympathie
für den reformistischen Sozialismus ersetzt.
Sie erhofften vom reformistischen Sozialismus
dank der Demokratie eine Weltwende.
Diese Erwartungen sind bitter enttäuscht worden.
So kam es, dass sie nicht bloß den Glauben
an die reformistischen Führer verloren,
sondern an den Sozialismus selbst.“
Den Nationalsozialismus bezeichnete sie
als „Strafe“ für das Verhalten
der deutschen Sozialdemokratie
in der Novemberrevolution.
Im April 1925 polemisierte Zetkin
auf einer weiteren Tagung in Moskau
gegen die zu der Zeit aktuelle KPD-Führung
unter Ruth Fischer und Arkadi Maslow,
denen sie „sektiererische Politik“ vorwarf.
Damit half sie deren Absetzung vorzubereiten.
Nachfolger wurde im Herbst 1925 Ernst Thälmann,
den Stalin protegierte.
Zetkin lehnte die parlamentarische Demokratie
der Weimarer Republik strikt ab,
die sie als „Klassendiktatur der Bourgeoisie“
bezeichnete. Zugleich stand sie jedoch
auch der stalinschen Sozialfaschismusthese
kritisch gegenüber, die ein Bündnis
mit der Sozialdemokratie
gegen den Nationalsozialismus verhinderte.
Als Alterspräsidentin des Deutschen Reichstages
führte sie den Vorsitz auf der konstituierenden Sitzung
des Reichstages am 30. August 1932
„in der Hoffnung trotz meiner jetzigen Invalidität
das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin
den ersten Rätekongreß Sowjetdeutschlands zu eröffnen.“
Trotz des vorausgehenden Wahlerfolgs für die KPD
erkannte sie gleichwohl die Gefahr,
die von der inzwischen stärksten Fraktion des Reichstags,
der NSDAP, ausging, und rief in derselben Rede
zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten auf:
„Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit
müssen alle fesselnden und trennenden politischen,
gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen
Einstellungen zurücktreten.“
Nach der Machtergreifung durch die NSDAP
unter Adolf Hitler und dem Ausschluss der KPD
aus dem Reichstag infolge des Reichstagsbrands 1933
ging Clara Zetkin noch einmal,
das letzte Mal in ihrem Leben, ins Exil,
diesmal in die Sowjetunion,
wo sie bereits von 1924 bis 1929
ihren Hauptwohnsitz gehabt hatte.
Nach Angaben von Maria Reese,
einer KPD-Abgeordneten des Reichstags,
die sie dort unter Schwierigkeiten besuchte,
lebte sie bereits parteipolitisch isoliert.
Sie starb wenig später am 20. Juni 1933
im Alter von fast 76 Jahren.
Ihre Urne wurde in der Nekropole
an der Kremlmauer in Moskau beigesetzt.
Stalin selbst trug die Urne zur Beisetzung.
SECHSTER GESANG
Von 1893 bis 1900 besuchte Thälmann
die Volksschule. Rückblickend beschrieb er später
Geschichte, Naturgeschichte, Volkskunde, Rechnen,
Turnen und Sport als seine Lieblingsfächer.
Religion hingegen mochte er nicht.
Mitte der 1890er Jahre eröffneten seine Eltern
ein Gemüse-, Steinkohlen- und Fuhrwerksgeschäft
in Eilbek, einem Stadtteil von Hamburg.
In diesem Geschäft musste er nach der Schule aushelfen.
Seine Schularbeiten erledigte er am frühen Morgen
vor dem Unterrichtsbeginn. Seine Erfahrungen
im elterlichen Geschäft beschrieb er später so:
„Beim Einkaufen der Kunden im Geschäft
bemerkte ich schon die sozialen Unterschiede
im Volksleben. Bei den Arbeiterfrauen
Elend, Not und teilweise Hunger bei ihren Kindern
und geringe Einkäufe,
bei den bemittelten Kunden größere Einkäufe.“
Trotz dieser Belastung war Thälmann
ein guter Schüler, dem das Lernen
viel Freude bereitete. Sein Wunsch,
Lehrer zu werden oder ein Handwerk zu erlernen,
erfüllte sich nicht, da seine Eltern ihm
die Finanzierung verweigerten.
Er musste daher weiter im Kleinbetrieb
seines Vaters arbeiten, was ihm,
nach eigenen Aussagen, großen Kummer bereitete.
Durch das frühzeitige „Schuften“
im elterlichen Betrieb kam es zu vielen
Auseinandersetzungen mit seinen Eltern.
Thälmann wollte für seine Arbeit
einen richtigen Lohn und nicht nur ein Taschengeld.
Darum suchte er sich eine Arbeit als „Ungelernter“
im Hafen. Hier kam Thälmann bereits als Zehnjähriger
mit den Hafenarbeitern in Kontakt,
als sie vom November 1896 bis Februar 1897
im Hamburger Hafenarbeiterstreik
die Arbeit niederlegten. Der Arbeitskampf
wurde von allen Beteiligten erbittert geführt.
Er selbst schrieb 1936 aus dem Gefängnis
an seine Tochter, dass „der große Hafenarbeiterstreik
in Hamburg vor dem Kriege
der erste sozialpolitische Kampf“ gewesen sei,
„der sich für immer in sein Herz“ eingeprägt habe.
Der sozialpolitische Inhalt der Gespräche
der Hafenarbeiter soll ihn sehr geprägt haben.
Anfang 1902 verließ er im Streit das Elternhaus
und kam zunächst in einem Obdachlosenasyl unter,
später in einer Kellerwohnung.
Ab 1904 fuhr er als Heizer
auf dem Frachter AMERIKA zur See,
unter anderem in die USA.
Hier war er 1910 in der Nähe von New York
für kurze Zeit als Landarbeiter tätig.
In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg
betätigte sich Thälmann als konsequenter Streiter
für die Interessen der Hamburger Hafenarbeiter.
Von 1913 bis 1914 arbeitete er
als Kutscher für eine Wäscherei.
Anfang 1915 wurde er zum Kriegsdienst
bei der Artillerie eingezogen
und kam an die Westfront,
an der er bis zum Kriegsende als Kanonier kämpfte.
Zweimal kam er nach Verwundungen
in Lazarette in Köln und Bayreuth.
Er selbst gab an, an folgenden Schlachten
und Gefechten teilgenommen zu haben:
Schlacht in der Champagne,
Schlacht an der Somme, Schlacht an der Aisne,
Schlacht von Soissons, Schlacht von Cambrai
und Schlacht bei Arras.
Thälmann erhielt im Krieg mehrere Auszeichnungen.
Die Eltern waren parteilos;
im Unterschied zum Vater
war die Mutter tief religiös.
Nach der Geburt ihres Sohnes Ernst
übernahmen die Eltern eine Kellerwirtschaft
in der Nähe des Hamburger Hafens.
Im März 1892 wurden die Eltern Thälmanns
wegen Hehlerei zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt,
weil sie entwendete Waren gekauft
oder für Schulden in Zahlung genommen hatten.
Thälmann und seine jüngere Schwester
wurden getrennt und in unterschiedliche Familien
zur Pflege gegeben. Die Eltern wurden jedoch
vorzeitig aus der Haft entlassen.
Die Straftat seiner Eltern
wurde noch 36 Jahre später im Wahlkampf
gegen Ernst Thälmann verwendet.
Den politischen Gegnern kam es gelegen,
dass schon der Vater ein Zuchthäusler gewesen war.
Wenige Tage vor Beginn seines Kriegsdienstes
heiratete er am 13. Januar 1915 Rosa Koch.
Aus dieser Ehe ging die Tochter Irma Thälmann hervor.
Irma war nicht die einzige Nachkommin ihres Vaters.
Thälmann wurde am 15. Mai 1903 Mitglied der SPD.
Am 1. Februar 1904 trat er dem Zentralverband
der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter
Deutschlands bei, in dem er zum Vorsitzenden
der Abteilung Fuhrleute aufstieg.
1913 unterstützte er eine Forderung
von Rosa Luxemburg nach einem Massenstreik
als Aktionsmittel der SPD
zur Durchsetzung politischer Forderungen.
Im Oktober 1918 desertierte Thälmann
gemeinsam mit vier befreundeten Soldaten,
indem er aus dem Heimaturlaub nicht mehr
an die Front zurückkehrte,
und trat Ende 1918 der USPD bei.
In Hamburg beteiligte er sich am Aufbau
des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates.
Ab März 1919 war er Vorsitzender der USPD in Hamburg
und Mitglied der Hamburger Bürgerschaft.
Gleichzeitig arbeitete er als Notstandsarbeiter
im Hamburger Stadtpark,
dann fand er eine gut bezahlte Stelle beim Arbeitsamt.
Hier stieg er bis zum Inspektor auf.
Ende November 1920 schloss sich
der mitgliederstarke linke Flügel der USPD
der Kommunistischen Internationale (Komintern) an
und vereinigte sich damit mit deren deutscher Sektion,
der KPD. Thälmann war der wichtigste Befürworter
dieser Vereinigung in Hamburg.
Auf sein Betreiben hin traten 98 Prozent der Mitglieder
der Hamburger USPD der KPD bei.
Im Dezember wurde er in den Zentralausschuss
der KPD gewählt. Am 29. März 1921 wurde er
wegen seiner politischen Tätigkeit
vom Dienst im Arbeitsamt fristlos entlassen,
nachdem er unerlaubt seinem Arbeitsplatz
ferngeblieben war. Er war einem Aufruf
der KPD gefolgt, sich der März-Aktion anzuschließen.
Im Sommer des Jahres 1921
fuhr Thälmann als KPD-Vertreter
zum III. Kongress der Komintern nach Moskau
und lernte dort Lenin kennen.
Am 17. Juni 1922 wurde ein rechtsradikales Attentat
auf seine Wohnung verübt,
um Thälmann zu ermorden.
Thälmann war Teilnehmer
und einer der Organisatoren
des Hamburger Aufstandes
vom 23. bis 25. Oktober 1923.
Der Aufstand scheiterte,
und Thälmann musste für eine Weile untertauchen.
Später urteilte er in der Berliner Ausgabe
des Parteiorgans Die Rote Fahne:
„Unsere Partei als Ganzes war noch viel zu unreif,
um diese Fehler der Führung zu verhindern.
So scheiterte im Herbst 1923 die Revolution
am Fehlen einer ihrer wichtigsten Voraussetzungen:
dem Bestehen einer bolschewistischen Partei.“
Das Scheitern des Aufstandes wurde vor allem
den ehemaligen KPD-Vorsitzenden
und „Rechtsabweichlern“ Heinrich Brandler
und August Thalheimer vorgeworfen.
Die fehlende Bolschewisierung sei schuld
an der Niederlage gewesen.
Zu einem ähnlichen Schluss kam Georgi Dimitrow
nach dem gescheiterten „Antifaschistischen
Septemberaufstand“ 1923 in Bulgarien.
Ab Februar 1924 war er stellvertretender Vorsitzender
und ab Mai Reichstagsabgeordneter der KPD.
Unter seiner Führung lehnte die Partei
die Kritik Rosa Luxemburgs am Leninismus
als Luxemburgismus ab,
was sich in der unkritischen Solidarität
mit Stalin bemerkbar machte.
Die Entwicklung der bolschewistischen Partei
in der Sowjetunion, die sich mehr auf Stalin
und seine Interpretation des Kommunismus konzentrierte,
machte sich auch unter ihm in der KPD bemerkbar.
Den Posten im Reichstag hatte Thälmann
bis zum Ende der Weimarer Republik inne.
Im Sommer 1924 wurde er
auf dem V. Kongress der Komintern
in ihr Exekutivkomitee
und kurze Zeit später ins Präsidium gewählt.
Am 1. Februar 1925 wurde er Vorsitzender
des Roten Frontkämpferbundes
und am 1. September des Jahres
Vorsitzender der KPD,
als Nachfolger von Ruth Fischer,
die kurze Zeit später als „ultralinke Abweichlerin“
aus der KPD ausgeschlossen wurde.
Thälmann kandidierte bei der Reichspräsidentenwahl 1925
auch für das Amt des Reichspräsidenten.
Obwohl er im ersten Wahlgang
nur sieben Prozent der Stimmen bekommen hatte,
hielt er seine Kandidatur
auch für den zweiten Wahlgang aufrecht.
In diesem Zusammenhang wurde Thälmann vorgeworfen,
dass sein Wahlergebnis von 6,4 Prozent
dem Kandidaten der bürgerlichen Partei,
Wilhelm Marx (45,3 Prozent), fehlten
und den Sieg des Monarchisten
Paul von Hindenburg mit 48,3 Prozent ermöglichten.
Im Oktober 1926 unterstützte Thälmann in Hamburg
den dortigen Hafenarbeiterstreik.
Er sah dies als Ausdruck der Solidarität
mit einem englischen Bergarbeiterstreik,
der seit dem 1. Mai anhielt
und sich positiv auf die Konjunktur
der Unternehmen im Hamburger Hafen auswirkte.
Thälmanns Absicht war, dieses „Streikbrechergeschäft“
von Hamburg aus zu unterbinden.
Am 22. März 1927 beteiligte sich Ernst Thälmann
an einer Demonstration in Berlin,
wo er durch einen streifenden Säbelhieb
über dem rechten Auge verletzt wurde.
1928 fuhr Thälmann nach dem VI. Kongress
der Komintern in Moskau nach Leningrad,
wo er zum Ehrenmitglied der Besatzung
des Kreuzers Aurora ernannt wurde.
Die Komintern setzte Thälmann am 6. Oktober
nach innerparteilichen Streitigkeiten
auf eine Intervention Stalins hin
wieder in seine Parteifunktionen ein.
Stalin verurteilte die Fraktionsbildung
innerhalb der KPD, die Lenin schon
in seinem Werk Was tun? kritisiert hatte
und die bei den Mitgliedsparteien
der Komintern verboten war,
obgleich die Broschüre sich auf die besondere Rolle
der Parteien im damaligen zaristischen System konzentrierte,
da eine legale Parteiarbeit unmöglich erschien.
In den nachfolgenden Wochen
wurde in den KPD-Bezirken in Sitzungen
der Bezirksleitungen und Parteiarbeiterkonferenzen
die Resolution der Komintern diskutiert
und zur Abstimmung gestellt.
Die parteiinterne Abstimmung ergab
eine dominierende Majorität in der Partei.
Auf dem 12. Parteitag der KPD
vom 9. bis 15. Juni 1929 in Berlin-Wedding
ging Thälmann angesichts der Ereignisse des Blutmai,
der sich dort zuvor zugetragen hatte,
auf deutlichen Konfrontationskurs zur SPD.
Neben innenpolitischem Engagement
setzte er sich auch für außenpolitische
und nationale Belange ein,
insbesondere kritisierte er die Nationalsozialisten,
die nicht für die Anträge der KPD stimmten,
die einen Austritt aus dem Völkerbund
und eine Beseitigung der Reparationslasten forderten.
So schrieb er in einem Brief
in der Neuen Deutschen Bauernzeitung 1931:
„Die nationalsozialistischen
und deutschnationalen Betrüger
versprachen euch Kampf zur Zerreißung
des Youngplanes, Beseitigung der Reparationslasten,
Austritt aus dem Völkerbund,
aber sie wagten nicht einmal, im Reichstag
für den kommunistischen Antrag
auf Einstellung der Reparationszahlungen,
Austritt aus dem Völkerbund zu stimmen.“
In dem Brief betont er auch seine nationalen
Absichten mit „Vorwärts zur nationalen
und sozialen Befreiung!“
Am 13. März 1932 kandidierte er neben Adolf Hitler
und Theodor Duesterberg für das Amt
des Reichspräsidenten gegen Hindenburg.
Wahlspruch der KPD war:
„Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler,
wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“
Gegen den stärker werdenden Nationalsozialismus
propagierte er kurze Zeit später
eine „Antifaschistische Aktion“
als „Einheitsfront von unten“,
also unter Ausschluss der SPD-Führung.
Dieses Vorgehen entsprach der Sozialfaschismusthese
der Komintern. Die Zerschlagung der SPD
blieb ein zentrales Ziel der KPD.
Die Antifaschistische Aktion diente auch dazu,
deren Führer als Verräter der Arbeiterklasse
zu „entlarven“. Nach der Reichstagswahl
im November 1932, bei der die NSDAP
eine empfindliche Stimmeneinbuße verzeichnete,
schienen die Nationalsozialisten
auf einem absteigenden Ast.
Thälmann verschärfte den Kampf der KPD
gegen die Sozialdemokratie im Gegenzug abermals.
Als der NSDAP am 30. Januar 1933
die Macht übertragen wurde,
schlug Thälmann der SPD einen Generalstreik vor,
um Hitler zu stürzen,
doch dazu kam es nicht mehr.
Am 7. Februar des Jahres fand im Sporthaus Ziegenhals
bei Königs Wusterhausen eine vom ZK einberufene
Tagung der politischen Sekretäre, ZK-Instrukteure
und Abteilungsleiter der KPD statt.
Auf dem von Herbert Wehner vorbereiteten Treffen
sprach Thälmann zum letzten Mal
vor leitenden KPD-Funktionären
zu der am 5. März 1933 bevorstehenden Reichstagswahl
und bekräftigte die Notwendigkeit
eines gewaltsamen Sturzes Hitlers
durch das Zusammengehen aller linken
und liberalen Parteien zu einer Volksfront.
Am Nachmittag des 3. März 1933
wurde Thälmann festgenommen.
Dem war eine gezielte Denunziation vorausgegangen.
In den Tagen zuvor hatten allerdings
vier weitere Personen ihr Wissen über Thälmann
an die Polizei weitergegeben.
Die Unterkunftsmöglichkeit in der Lützower Straße
hatte Thälmann schon seit einigen Jahren
gelegentlich und nun wieder
seit Januar 1933 genutzt;
sie zählte zwar nicht zu den sechs illegalen Quartieren,
die der Apparat für Thälmann vorbereitet hatte,
galt aber nicht als polizeibekannt.
Thälmann hatte am 27. Februar
eine Sitzung des Politbüros
in einem Lokal in der Lichtenberger Gudrunstraße geleitet
und war bei seiner Rückkehr über den Brand
des Reichstages und die schlagartig
einsetzenden Massenverhaftungen
kommunistischer Funktionäre informiert worden.
In den nächsten Tagen verließ er die Wohnung nicht mehr
und stand nur noch über Mittelsmänner
mit der restlichen Parteiführung in Verbindung.
Für den 3. März plante Thälmann
den Wechsel in eines der vorbereiteten
illegalen Quartiere, ein Forsthaus
bei Wendisch Buchholz. Beim Packen der Koffer
wurde er von der Polizei überrascht.
Thälmanns Festnahme war rechtswidrig,
da seine nach Artikel 40a der Reichsverfassung
als Mitglied des Ausschusses zur Wahrung
der Rechte der Volksvertretung
gewährleistete Immunität
auch durch die Reichstagsbrandverordnung
nicht aufgehoben worden war.
Erst am 6. März stellte ein Berliner Staatsanwalt
„im Interesse der öffentlichen Sicherheit“
einen – formell ebenfalls rechtswidrigen –
Haftbefehl aus, der dann einfach rückdatiert wurde.
Einige Ungereimtheiten im Zusammenhang
mit der die KPD stark verunsichernden
Festnahme Thälmanns waren nach 1933
bereits Gegenstand von parteiinternen Untersuchungen.
Zu diesen Auffälligkeiten zählte etwa,
dass Thälmann trotz der offenen Verfolgung
der Partei wochenlang ein- und dieselbe,
für eine derartige Situation nicht vorgesehene
Wohnung genutzt hatte, vor allem aber
der erstaunliche Umstand, dass weder das Gebäude
noch die Wohnung selbst
von Angehörigen des Parteiselbstschutzes
gesichert worden war. Dadurch liefen
nach einigen Stunden auch noch
Erich Birkenhauer, Thälmanns politischer Sekretär,
und Alfred Kattner, der persönliche Kurier
des Parteichefs, in die Arme der Polizei.
Bei den KPD-Ermittlungen geriet insbesondere
Hans Kippenberger ins Zwielicht,
der als Leiter des Apparats die Verantwortung
für die Sicherheit des Parteichefs trug
und mit Blick auf die Ereignisse des 3. März
auch ausdrücklich übernahm
(„eine Katastrophe und eine Schande
vor der ganzen Internationale“).
In den folgenden Jahren kam es dennoch
wiederholt zu Vertuschungsversuchen
und gegenseitigen Verdächtigungen
der mittel- und unmittelbar beteiligten Personen,
die noch durch gezielte Desinformation
und vor allem durch weitere Verhaftungserfolge
der Gestapo angeheizt wurden.
Dieser war es gelungen, Kattner
in der Haft „umzudrehen“
und mit dessen Hilfe am 9. November 1933
den Thälmann-Nachfolger John Schehr
sowie am 18. Dezember auch Hermann Dünow,
der Kippenberger abgelöst hatte, festzunehmen.
Kattner, dem von der Gestapo obendrein
eine tragende Rolle im geplanten Prozess
gegen Thälmann zugedacht worden war,
wurde am 1. Februar 1934 in Nowawes
von Hans Schwarz, einem Mitarbeiter des Apparats,
erschossen. Birkenhauer, dem Thälmann
die Schuld an der Verzögerung
seines Quartierwechsels und damit
an seiner Festnahme gegeben hatte,
und Kippenberger wurden
im sowjetischen Exil hingerichtet,
Hirsch kam in sowjetischer Haft ums Leben.
Die nationalsozialistische Justiz plante zunächst,
Thälmann einen Hochverrats-Prozess zu machen.
Hierfür sammelte sie intensiv belastendes Material,
das die behauptete „Putschabsicht“
der KPD beweisen sollte.
Ende Mai 1933 wurde Thälmanns „Schutzhaft“
aufgehoben und eine formelle Untersuchungshaft
angeordnet. In diesem Zusammenhang
wurde er vom Polizeipräsidium am Alexanderplatz
in die Untersuchungshaftanstalt Moabit verlegt.
Dieser Ortswechsel durchkreuzte
den ersten einer Reihe von unterschiedlich
konkreten Plänen, Thälmann zu befreien.
Thälmann wurde 1933 und 1934
mehrfach von der Gestapo
in deren Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße verhört
und dabei auch misshandelt.
Bei einem Verhör am 8. Januar
schlug man ihm vier Zähne aus,
anschließend traktierte ihn ein Vernehmer
mit einer Nilpferdpeitsche.
Am 19. Januar suchte Hermann Göring
den zerschundenen Thälmann auf
und ordnete seine Rückverlegung
in das Untersuchungsgefängnis Moabit an.
Die in dieser Phase entstandenen Verhörprotokolle
wurden bis heute nicht aufgefunden
und gelten als verloren.
Thälmann blieb unterdessen lange
ohne Rechtsbeistand; der jüdische Anwalt
Friedrich Roetter, der sich seiner angenommen hatte,
wurde nach kurzer Zeit
aus der Anwaltschaft ausgeschlossen
und selbst in Haft genommen.
1934 übernahmen die Rechtsanwälte
Fritz Ludwig (ein NSDAP-Mitglied)
und Helmut R. Külz die Verteidigung Thälmanns.
Vor allem Ludwig, der für ihn Kassiber
aus der Zelle und Zeitungen und Bücher
in die Zelle schmuggelte
sowie die als Geheime Reichssache deklarierte
Anklageschrift an Unterstützer
im Ausland weiterleitete, vertraute Thälmann sehr.
Über die Anwälte – daneben auch über Rosa Thälmann –
lief ein Großteil der verdeckten Kommunikation
zwischen Thälmann und der KPD-Führung.
Mit Rücksicht auf das Ausland, vor allem aber,
weil die Beweisabsicht der Staatsanwaltschaft
erkennbar wenig gerichtsfest war
und ein mit dem Reichstagsbrandprozess
vergleichbares Desaster vermieden werden sollte,
einigten sich die beteiligten Behörden
im Laufe des Jahres 1935,
von einer „justizmäßigen Erledigung“
Thälmanns Abstand zu nehmen.
Am 1. November 1935 hob der II. Senat
des Volksgerichtshofes die Untersuchungshaft auf,
ohne das Verfahren als solches einzustellen,
und überstellte Thälmann gleichzeitig
als „Schutzhäftling“ an die Gestapo.
1936 erreichte die internationale Protestbewegung
gegen die Inhaftierung Thälmanns einen Höhepunkt.
Zu seinem 50. Geburtstag am 16. April 1936
bekam er Glückwünsche aus der ganzen Welt,
darunter von Maxim Gorki, Heinrich Mann,
Martin Andersen Nexö und Romain Rolland.
Im selben Jahr begann der Spanische Bürgerkrieg.
Die XI. Internationale Brigade
und ein ihr untergliedertes Bataillon
benannten sich nach Ernst Thälmann.
1937 wurde Thälmann von Berlin
in das Gerichtsgefängnis Hannover
als „Schutzhäftling“ überführt.
Thälmann bekam später eine größere Zelle,
in der er jetzt Besuch empfangen konnte.
Dies war ein Vorwand,
um Thälmann in der Zelle abzuhören.
Allerdings wurde ihm die Information
über das heimliche Abhören zugespielt.
Um sich dennoch frei „unterhalten“ zu können,
nutzten er und seine Besucher
kleine Schreibtafeln und Kreide.
Als Deutschland und die Sowjetunion 1939
ihre Beziehungen verbessert hatten
(Hitler-Stalin-Pakt),
setzte Stalin sich offenbar nicht
für Thälmanns Freilassung ein.
Nach der Befreiung seiner Familie
durch die Rote Armee erfuhren
die Angehörigen sogar,
dass Thälmanns Rivale Walter Ulbricht
alle ihre Bitten ignoriert und nicht für die Befreiung
von Thälmann Position bezogen hatte.
Anfang 1944 schrieb Ernst Thälmann
in Bautzen seine heute noch erhaltene Antwort
auf die Briefe eines Kerkergenossen.
Die genauen Umstände von Thälmanns Tod sind unklar.
SIEBENTER GESANG
Pieck war der Sohn eines Kutschers.
Er wuchs in Guben auf;
sein Elternhaus stand im östlichen Teil der Stadt,
dem nach 1945 polnischen Gubin.
Nach Abschluss der Volksschule
begann er 1890 eine Tischlerlehre
und begab sich anschließend auf Wanderschaft.
Dort kam der aus römisch-katholischem Hause stammende
junge Mann erstmals in Kontakt
mit der Arbeiterbewegung.
1894 wurde er Mitglied des gewerkschaftlichen
Deutschen Holzarbeiterverbandes
und 1895 trat er in die Sozialdemokratische
Partei Deutschlands ein.
Seit 1896 arbeitete er als Tischler in Bremen.
In der SPD wurde er 1897 Hauskassierer
und 1899 Stadtbezirksvorsitzender.
1900 übernahm er die Funktion des Vorsitzenden
der Zahlstelle Bremen des Holzarbeiterverbandes.
1904 wurde er in das Bremer Gewerkschaftskartell
delegiert und 1905 als Vertreter der 4. Klasse
in die Bremische Bürgerschaft gewählt,
der er bis 1910 angehörte.
1905 war er auch Vorsitzender der Pressekommission
und 1906 hauptamtlich Erster Sekretär
der Bremer SPD.
Pieck besuchte 1907/1908 die Reichsparteischule
der SPD in Berlin, wo er unter den Einfluss
Rosa Luxemburgs kam
und 1910 Zweiter Sekretär
des zentralen Bildungsausschusses der SPD wurde.
Während des Ersten Weltkrieges
nahm er als entschiedener Gegner
der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik
an Konferenzen linker Sozialdemokraten teil.
1915 wurde er zum Kriegsdienst einberufen.
Auch als Soldat agitierte er gegen den Krieg
und wurde vor ein Kriegsgericht gestellt.
Bevor es zu einem Urteil kommen konnte,
floh Pieck 1917 in den Untergrund nach Berlin,
und als Mitglied des Spartakusbundes
ging er später nach Amsterdam ins Exil.
Nach dem Krieg 1918 kehrte er nach Berlin zurück
und wurde Gründungsmitglied
der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).
Er nahm am Spartakusaufstand
(5. bis 12. Januar 1919) teil
und wurde am 15. Januar
mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verhaftet.
Luxemburg und Liebknecht wurden ermordet;
Pieck wurde freigelassen.
Piecks Entkommen hatte Verdächtigungen zur Folge,
die 1929 den KPD-Vorsitzenden
Ernst Thälmann veranlassten,
Pieck vor ein Ehrengericht der Partei zu stellen.
Die KPD gab die Entscheidung nicht bekannt.
Das Gericht hatte unter dem Vorsitz
Hans Kippenbergers getagt,
der 1937 in Moskau
nach einem Geheimprozess hingerichtet wurde.
Viel später behauptete der Offizier Waldemar Pabst,
der seinen Soldaten den Befehl
zur Ermordung von Liebknecht
und Luxemburg gegeben hatte,
er habe Pieck freigelassen, weil er ihn ausführlich
über militärische Pläne sowie Verstecke
führender Mitglieder der KPD informiert hatte.
1921 wählte ihn die KPD ins Exekutiv-Komitee
der Kommunistischen Internationale;
so lernte er Lenin kennen.
Zur gleichen Zeit wurde er als Nachrücker
von Adolph Hoffmann Abgeordneter
des Preußischen Landtags, dessen Mitglied er
bis zu seiner Wahl in den Reichstag 1928 blieb.
1922 war er Mitbegründer der Internationalen
Roten Hilfe und wurde 1925 Vorsitzender
der Roten Hilfe Deutschlands.
Seine internationale Tätigkeit brachte ihm
die Wahl ins Präsidium des Exekutiv-Komitees
der Kommunistischen Internationale 1931.
Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers
im Januar 1933 und der einsetzenden Verfolgung
deutscher Kommunisten nahm Pieck
am 7. Februar 1933 an der Funktionärstagung
der KPD im Sporthaus Ziegenhals bei Berlin teil.
Am 23. Februar 1933 trat Pieck
zur Vorbereitung der Märzwahlen
auf der letzten Großkundgebung der KPD
im Berliner Sportpalast als Hauptredner auf.
Im Mai 1933 musste er nach Paris ins Exil gehen.
Im August 1933 stand Piecks Name
auf der ersten Ausbürgerungsliste
des Deutschen Reichs.
Die KPD war nun nur noch im Untergrund
oder aus dem Ausland heraus tätig.
Nach der Ermordung von John Schehr
im Februar 1934 wurde Pieck
als dessen Stellvertreter
mit dem Parteivorsitz beauftragt.
1935 wurde Pieck auf der Brüsseler Konferenz
der KPD zum Parteivorsitzenden
für die Dauer der Inhaftierung Thälmanns gewählt
und verlegte sein Exil nach Moskau,
wo er unter anderem für Radio Moskau arbeitete.
Er überlebte den Großen Terror in den 1930er Jahren,
dem ein großer Teil der nach Moskau geflüchteten
deutschen Kommunisten zum Opfer fiel.
1943 gehörte er zu den Initiatoren
des Nationalkomitees Freies Deutschland.
Nachdem Pieck gemeinsam mit Angehörigen
der Gruppe Ulbricht und anderer KPD-Kader
von Stalin Instruktionen erhalten hatte,
kehrte er am 1. Juli 1945 nach Berlin zurück.
Es war sein Auftrag, die Durchsetzung
der hegemonialen Macht der Kommunisten
bei der Errichtung einer staatlichen Struktur
in der Sowjetischen Besatzungszone zu bewirken.
Zunächst forcierte er den Prozess
der Zwangsvereinigung von SPD und KPD
zur SED (Sozialistischen Einheitspartei).
Im April 1946 wurde er gemeinsam
mit Otto Grotewohl (SPD)
Vorsitzender der SED
und nach Gründung der Deutschen
Demokratischen Republik (DDR)
im Oktober 1949 deren erster und einziger Präsident;
er blieb dies bis zu seinem Tode 1960.
Der eigentliche Machthaber der DDR
war jedoch bereits Walter Ulbricht
als Generalsekretär und Erster Sekretär
des ZK der SED. Nach Piecks Tod
wurde der Staatsrat der DDR
als Nachfolgeorgan des Amtes
des Präsidenten geschaffen.
ACHTER GESANG
Als erstes Kind des gelernten Schneiders
Ernst August Ulbricht
und dessen Ehefrau Pauline Ida
wurde Walter Ulbricht 1893 in Leipzig geboren.
Ulbrichts Elternhaus war aktiv
sozialdemokratisch geprägt.
Nach seiner Volksschulzeit begann er 1907
eine Lehre als Möbeltischler,
die er 1911 erfolgreich abschloss.
Bereits 1908 trat Ulbricht
dem Arbeiterjugendbildungsverein Alt-Leipzig bei,
1912 wurde er Mitglied der SPD.
Als Jungfunktionär hielt Ulbricht Vorträge
vor Jugendgruppen der SPD
und übernahm ehrenamtliche Tätigkeiten
beim Arbeiterbildungsinstitut
sowie in der Leipziger Arbeiterjugendbewegung.
Im Jahr 1913 wurde er zum engsten SPD-Funktionärskreis,
der so genannten „Korpora“, zugelassen.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges
verfasste und veröffentlichte Walter Ulbricht
als Mitglied des linken Flügels der SPD
unter Führung von Karl Liebknecht
und Rosa Luxemburg zahlreiche Flugblätter
mit Aufrufen zur Beendigung des Krieges.
Auf einer Funktionärsversammlung
der SPD „Groß-Leipzig“ im Dezember 1914
forderte Ulbricht, die Reichstagsabgeordneten der SPD
sollten künftig gegen weitere Kriegskredite stimmen.
Er wurde für seine Haltung persönlich angegriffen,
der Antrag wurde abgelehnt.
Von 1915 bis 1918 diente Ulbricht
als Soldat an der Ostfront
und auf dem Balkan in Serbien
und Mazedonien als Gefreiter;
1917/18 war er wegen Malaria im Lazarett in Skopje.
Im Jahr 1917 trat er der USPD bei,
einer Abspaltung der SPD.
Obwohl er als Soldat nicht agitatorisch aktiv wurde,
galt er den Militärbehörden als politisch verdächtig.
Bei seiner Verlegung an die Westfront
desertierte Ulbricht 1918 auf dem Transport,
wurde wieder aufgegriffen
und zu zwei Monaten Haft verurteilt.
Kurze Zeit nach seiner Entlassung
und erneuten Verwendung als Soldat in Brüssel
wurde er wegen des Besitzes
von gegen den Krieg gerichteten Flugblättern
in Belgien erneut festgesetzt.
Einem weiteren Militärgerichtsverfahren
konnte Ulbricht sich bei Ausbruch
der Novemberrevolution
durch Flucht und Desertion entziehen.
Während der Novemberrevolution 1918
war Ulbricht Mitglied des Soldatenrates
des XIX. Armeekorps in Leipzig.
Seit 1920 war er Mitglied der KPD,
stieg jedoch als Parteifunktionär rasch auf.
So organisierte er den Parteibezirk Groß-Thüringen neu.
Ende 1920 hielt er sich anlässlich des IV. Weltkongresses
der Kommunistischen Internationale (Komintern),
für die er ab 1924 tätig war,
erstmals in Moskau und Petrograd auf.
Ulbricht vertrat das Organisationsprinzip
der Betriebszellen im Gegensatz
zur bisher üblichen Gliederung nach Wohnortgruppen.
Von 1926 bis 1929 war er sächsischer Landtagsabgeordneter
und ab 1928 für den Wahlkreis Westfalen-Süd
auch Mitglied des Reichstags
und kurz darauf auch im Zentralkomitee (ZK) seiner Partei
und ab 1929 Politischer Leiter des KPD-Bezirks
Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark.
In dieser Funktion war er maßgeblicher Befürworter
der Planung der Morde auf dem Berliner Bülowplatz
im August 1931. Zwischenzeitlich
war Ulbricht im Jahr 1928 Mitglied
der Kommunistischen Partei
der Sowjetunion (KPdSU) geworden.
Im November 1932 war er einer
der Mitorganisatoren des wilden Streiks
bei der Berliner Verkehrsgesellschaft,
hinter dem neben der KPD auch die NSDAP stand.
Bei einer Massenkundgebung trat Ulbricht
gemeinsam mit dem NSDAP-Gauleiter
von Berlin Joseph Goebbels auf.
Nach der Machtübernahme der NSDAP
im Januar 1933 nahm Ulbricht
am 7. Februar 1933 an der geheimen
Funktionärstagung der KPD
im Sporthaus Ziegenhals bei Berlin teil.
Er führte die Arbeit der KPD in der Illegalität weiter
und wurde daher steckbrieflich gesucht,
weswegen er nach Paris emigrierte.
Nach seinem Aufenthalt in Paris und Prag
zog er im Jahr 1938 nach Moskau.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs
verteidigte Ulbricht den deutsch-sowjetischen
Nichtangriffspakt mit dem Argument,
das Hitlerregime werde unter anderem
wegen der Stärke der Roten Armee
nun im Gegensatz zu England
notgedrungen einen friedlichen Weg einschlagen.
„Die deutsche Regierung erklärte sich
zu friedlichen Beziehungen zur Sowjetunion bereit,
während der englisch-französische Kriegsblock
den Krieg gegen die sozialistische Sowjetunion will“,
so Ulbricht. Im Jahr 1940 verurteilte Walter Ulbricht
in der von ihm herausgegebenen Stockholmer Zeitschrift
Welt die Vorschläge anderer Widerständler,
England im Krieg gegen Deutschland zu unterstützen.
Er schrieb, dass fortschrittliche Kräfte
nicht „den Kampf gegen den Terror
und gegen die Reaktion in Deutschland führen“,
nur um stattdessen dem „englischen Imperialismus“
zum Sieg zu verhelfen.
Unmittelbar nach Deutschlands Überfall
auf die Sowjetunion im Juni 1941
setzte die Kominternführung Ulbricht
beim deutschsprachigen Programm
von Radio Moskau ein.
Im Schützengraben forderte er deutsche Soldaten
in der Schlacht von Stalingrad
über Megaphon zur Kapitulation
und zum Überlaufen auf.
In sowjetischen Kriegsgefangenenlagern
versuchte er, deutsche Soldaten
für den Aufbau einer deutschen Nachkriegsordnung
im Sinne der KPD zu gewinnen.
Er war 1943 Mitbegründer
des „Nationalkomitees Freies Deutschland“.
Nach einer Idee der politischen Abteilung
der Roten Armee sollten kommunistische Emigranten
und deutsche Kriegsgefangene
im Sinne der Volksfronttaktik zusammenarbeiten.
Am 30. April 1945 kehrte Ulbricht als Chef
der nach ihm benannten Gruppe Ulbricht
in das zerstörte Deutschland zurück
und organisierte in der Sowjetischen Besatzungszone
die Neugründung der KPD
und 1946 den Vereinigungsparteitag
von KPD und SPD zur SED in Berlin.
Von 1946 bis 1951 war Ulbricht Abgeordneter
des Landtages der Provinz Sachsen.
Im Landtag gehörte er der Fraktion der SED an
und war Mitglied des Ausschusses für Recht und Verfassung
und des Wirtschaftsausschusses.
Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949
wurde er stellvertretender Vorsitzender
im Ministerrat unter dem Vorsitzenden Otto Grotewohl,
übertraf jedoch diesen und Staatspräsident Wilhelm Pieck
an Macht. Nach dem III. Parteitag der SED
wurde Ulbricht am 25. Juli 1950
vom ZK zum Generalsekretär des ZK der SED gewählt,
einer Position, die 1953 in Erster Sekretär
des ZK der SED umbenannt wurde.
Nachdem durch die strikte Ablehnung der Stalin-Noten
und den Deutschlandvertrag deutlich geworden war,
dass sich die westlichen Regierungen
nicht davon abhalten ließen,
den westdeutschen demokratischen Teilstaat aufzubauen,
setzte Ulbricht im Juli 1952
den Aufbau des Sozialismus nach sowjetischem Muster
in der DDR durch. Kurz zuvor hatte er sich
diesen Kurs von Josef Stalin,
dem eigentlichen Machthaber in der DDR,
genehmigen lassen. Auf der II. Parteikonferenz
der SED – Parteitage wurden erst wieder
ab 1954 durchgeführt – erklärte Ulbricht:
„Die politischen und die ökonomischen Bedingungen
der Arbeiterklasse sowie das Bewusstsein
der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Werktätigen
sind so weit entwickelt, dass
der Aufbau des Sozialismus
zur grundlegenden Aufgabe
in der Deutschen Demokratischen Republik geworden ist.“
In der Folge wurde die Abriegelung
der innerdeutschen Grenze forciert,
die bereits Ende Mai 1952
vom Ministerrat beschlossen worden war.
Auch die Kasernierte Volkspolizei,
die erste Armee der DDR,
war kurz vorher gegründet worden.
Sie wurde später (1956)
zur Nationalen Volksarmee ausgebaut.
Das 1950 eingerichtete Ministerium
für Staatssicherheit wurde gleichfalls ausgebaut
und verschärfte seine Tätigkeit
gegen echte und vermeintliche Staatsfeinde,
insbesondere gegen die Jungen Gemeinden der Christen;
die Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat
wurde eingestellt. Die Länder wurden abgeschafft,
seitdem wurde die DDR zentralistisch regiert.
Die Verstaatlichung von Wirtschaftsbetrieben
wurde vorangetrieben, wobei nach sowjetischem
Vorbild ein besonderes Gewicht
auf den Aufbau einer Schwerindustrie gelegt wurde.
Diesem Ziel wurde der Ausbau
der Konsumgüterindustrie nachgeordnet.
Auch begann die Kollektivierung der Landwirtschaft,
bei der Ulbricht indes auf Schwierigkeiten stieß:
Erst 1960 waren alle Landwirte
einer Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaft beigetreten.
Nach dem Tod Josef Stalins am 5. März 1953
war die Position Ulbrichts zeitweise stark gefährdet,
da er als Archetyp eines Stalinisten galt.
Auch wurde ihm der um ihn betriebene
Personenkult vorgeworfen, insbesondere
im Zusammenhang mit seinem 60. Geburtstag
am 30. Juni 1953, für den aufwändige
Jubelfeiern geplant waren,
auf die Ulbricht dann verzichtete.
Der vor dem Geburtstag (unter Beteiligung
namhafter Kulturschaffender) hergestellte Film
Baumeister des Sozialismus – Walter Ulbricht
blieb bis zum Ende der DDR unter Verschluss.
Paradoxerweise rettete ihn der Volksaufstand
des 17. Juni 1953, der durch den von Ulbricht
befohlenen forcierten Aufbau des Sozialismus
mit ausgelöst worden war. Die Sowjetunion
hätte seine geplante Absetzung
als Schwächezeichen verstanden,
jedoch wurde eine schon vorgestellte Briefmarke
mit Ulbrichts Porträt für das Standardporto
eines Briefes der DDR nicht ausgegeben.
Die mangelnde Rückendeckung
seiner innerparteilichen Rivalen
seitens der Besatzungsmacht stärkte seine Position,
so dass er den politischen Machtkampf
innerhalb der SED für sich entscheiden konnte.
1960 wurde er Vorsitzender
zweier neu geschaffener Gremien,
des Nationalen Verteidigungsrates und des Staatsrates,
der nach dem Tode Wilhelm Piecks
das Amt des Präsidenten der DDR ersetzte.
Ulbricht war damit Staatsoberhaupt der DDR
und hatte die entscheidenden Herrschaftsfunktionen
über Staat und Partei auf seine Person vereint.
Innerparteiliche Kritiker wurden ab 1958
als „Fraktionsbildner“ diffamiert
und politisch ausgeschaltet. Ulbricht
hatte die Machtfülle eines Diktators besessen.
Der Bau der Berliner Mauer
durch die DDR 1961 fand unter Ulbrichts
politischer Verantwortung statt,
nachdem er als Ergebnis
harter Verhandlungen die Moskauer Staatsführung
von der Notwendigkeit ihres Baues
aus Sicht der DDR-Regierung
(wegen der damaligen Abwanderung
der gut Ausgebildeten und der Elite,
des so genannten „Ausblutens“) überzeugt hatte.
Zunächst hatte er sich auf einer Pressekonferenz
am 15. Juni 1961 bemüht,
derartige Absichten öffentlich zu dementieren,
auch indem er auf die Frage
einer westdeutschen Journalistin einging.
Frage: „Ich möchte eine Zusatzfrage stellen.
Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung
einer freien Stadt Ihrer Meinung nach,
dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor
errichtet wird? Und sind Sie entschlossen,
dieser Tatsache mit allen Konsequenzen
Rechnung zu tragen?“
Ulbricht: „Ich verstehe Ihre Frage so,
dass es Menschen in Westdeutschland gibt,
die wünschen, dass wir die Bauarbeiter
der Hauptstadt der DDR mobilisieren,
um eine Mauer aufzurichten, ja?
Äh, mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht,
da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt
hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen,
und ihre Arbeitskraft dafür voll ausgenutzt wird,
voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht,
eine Mauer zu errichten!“
Obwohl nicht speziell nach der Art
der Abriegelungsmaßnahmen gefragt wurde,
war Ulbricht selbst damit der erste,
der den Begriff „Mauer“ diesbezüglich in den Raum stellte.
Ob er dies aus einer Unachtsamkeit heraus
oder mit Absicht tat, konnte
nie abschließend geklärt werden.
Zwei Monate später, am Sonntag,
dem 13. August 1961, begannen nachts
gegen 1 Uhr Streitkräfte der DDR,
die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin
sowie der zwischen West-Berlin und der DDR
auf ihrer vollen Länge praktisch lückenlos
und zur gleichen Zeit mit einem gewaltigen Aufwand
an Menschen und Material abzuriegeln
und Sperranlagen zu errichten.
Beim Aufbau der DDR forderte Ulbricht
auf dem III. Parteitag der SED
die Abkehr vom (westlichen,
im Bauhaus in Weimar begründeten) Formalismus.
Die Architektur habe der Form nach national zu sein.
Diese gespaltene Haltung spiegelte sich
in der Gründung einer Deutschen Bauakademie
und der Zeitschrift Deutsche Architektur,
sowie etlichen widersprüchlichen
Abbruch- und Baumaßnahmen wider.
Aus ideologischen Gründen
und vor dem Hintergrund des Aufbaus
sozialistischer Stadtzentren
wurden während der Herrschaft Walter Ulbrichts
in den 1950er und 1960er Jahren
zahlreiche wiederaufbaufähige Kriegsruinen
bedeutsamer und stadtbildprägender
historischer Gebäude abgerissen.
So wurden z. B. das Berliner Schloss (1950)
und das Potsdamer Stadtschloss (1959) gesprengt.
Etwa 60 Kirchenbauten,
darunter einige intakte oder wiederaufgebaute,
wurden gesprengt oder abgerissen,
darunter 17 Kirchen in Ostberlin.
Die Ulrichkirche in Magdeburg wurde 1956 gesprengt,
die Dresdner Sophienkirche 1963,
die Potsdamer Garnisonkirche am 23. Juni 1968
und die intakte 700 Jahre alte Leipziger
Universitätskirche am 30. Mai 1968.
Dabei kam es nach Bürgerprotesten
gegen die Kirchensprengung auch zu Inhaftierungen.
Viele der Neubauten wurden während der 1950er Jahre
im Stil des Sozialistischen Klassizismus errichtet,
zum Beispiel die Stalinallee in Berlin.
Ulbricht sah den Sozialismus
als eigenständige längerdauernde Phase
und setzte sich damit auch von anderen Ländern ab.
Einen in diesem Sinne
„nationalen Weg zum Sozialismus“
spiegeln auch die Verwendung von Elementen
der früheren Uniform der Wehrmacht
bei den NVA-Uniformen,
nach preußischen Militärs benannte Orden der NVA
wie dem Blücher- und dem Scharnhorst-Orden
sowie der später unter Honecker
nicht mehr gesungene Text
der DDR-Hymne wider.
Nach dem Mauerbau 1961
öffnete sich die DDR zunächst nach innen,
insbesondere gegenüber der Jugendkultur in der DDR.
Ulbricht beabsichtigte eine möglichst umfassende
eigene Jugendkultur der DDR zu schaffen,
die weitgehend unabhängig
von westlichen Einflüssen sein sollte.
Bekannt wurde seine auf das „Yeah, Yeah, Yeah“
der Beatles anspielende Aussage
„Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck,
der vom Westen kommt, nun kopieren müssen?
Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je,
und wie das alles heißt, ja,
sollte man doch Schluss machen.“
Prägend für die Neugliederung der DDR
war die Ausschaltung und Beseitigung
der Selbstverwaltung durch Auflösung der fünf Länder
und Neugliederung in 14 Bezirke,
zu denen Ost-Berlin als „Hauptstadt der DDR“ hinzukam.
Die Ende der 50er Jahre erhöhten Planzielerwartungen,
die weiter forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft
und die durch Drohungen Chruschtschows verschärfte
Berlin-Krise machten die Lage der DDR prekär.
Diese wurde durch das bekannteste
durch Walter Ulbricht begonnene Bauwerk,
die paradoxerweise dem ungeliebten Formalismus
verhaftete Berliner Mauer,
1961 wieder stabilisiert.
Ulbricht versuchte seit 1963
mit dem Neuen Ökonomischen System
der Planung und Leitung –
später kurz Neues Ökonomisches System –
eine größere Effizienz der Wirtschaft zu erreichen.
Der gesamtheitliche Plan sollte bestehen bleiben,
aber die einzelnen Betriebe sollten größere
Entscheidungsmöglichkeiten bekommen.
Es ging dabei nicht nur um den Anreiz
durch eigene Verantwortung, sondern auch darum,
dass konkrete Fragen vor Ort
besser entschieden werden können.
Mit der Modernisierung des ökonomischen Systems
gingen Reformen im gesellschaftlichen Bereich
(etwa durch das Bildungsgesetz von 1965) einher.
Die DDR nahm Züge einer „sozialistischen
Leistungsgesellschaft“ an,
in der nicht mehr nur politische Rechtgläubigkeit,
sondern auch fachliche Qualifikationen
über die berufliche und damit
gesellschaftliche Stellung entscheiden sollte.
Zunehmend rückten auch Fachleute
in politische Führungspositionen auf.
Verfassungsrechtlich wurden die gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Veränderungen 1968
in der zweiten Verfassung der DDR festgeschrieben.
Einer der Interessenschwerpunkte Ulbrichts
war die wissenschaftliche Leitung
der Wirtschaft und Politik,
unter anderem mittels „Kybernetik“,
Elementen der Psychologie und Soziologie,
aber vor allem stärker
auf naturwissenschaftlich-technischer Basis.
Grundpfeiler dessen war eine umfassende
Computerisierung und der Ausbau
der Elektronischen Datenverarbeitung.
Das NÖS sah auch die Verbindung der Ökonomie
mit der Wissenschaft vor, was in der Praxis hieß,
dass mehr und mehr Fachleute
die wichtigen Entscheidungen trafen
und einzelne Betriebe und Unternehmen
eine größere Selbständigkeit erlangten.
Im Frühjahr 1972 bestanden noch etwa
rund 11.400 mittelständische Betriebe in der DDR,
unter ihnen circa 6500 halbstaatliche Betriebe,
die insbesondere Konsumgüter
und Dienstleistungen anboten,
was von vielen Mitgliedern der SED
nicht gern gesehen wurde.
Schließlich kam es innerhalb der SED
zu größerem Widerstand gegen das NÖS.
Der Führer dieser Opposition,
die sich der Unterstützung Breschnews erfreute,
war Erich Honecker, der wiederum
auf die Stimmen zahlreicher Parteimitglieder
hoffen konnte und 1972 eine letzte
große Verstaatlichungswelle durchsetzte.
Ulbricht ignorierte „Widersprüche im Sozialismus“,
etwa bei den real vergleichsweise schlechten Beziehungen
der DDR zu den kleineren „Bruderstaaten“.
Sein dafür verwendeter Begriff „sozialistische
Menschengemeinschaft“ wurde nach seinem Tod
schnell fallengelassen. Wichtig und entscheidend
für die DDR wie auch die politische Karriere Ulbrichts
selbst war das Verhältnis zur Sowjetunion.
Mit Hinweis auf die vergleichsweise großen
wirtschaftlichen Erfolge propagierte Ulbricht
Ende der 60er Jahre das „Modell DDR“
als Vorbild aller entwickelten
realsozialistischen Industriegesellschaften
und geriet darüber in ideologische Konflikte
mit der KPdSU.
Der Niederschlagung des Prager Frühlings
stand Ulbricht wiederum positiv gegenüber.
Dem tschechoslowakischen Botschafter
hatte er vorher vorgeworfen,
mit ihrer entschiedenen Aufarbeitung
der eigenen Vergangenheit
würde die tschechoslowakische KP
den anderen sozialistischen Staaten
in den Rücken fallen:
„Jetzt liefern Sie das Material
für den psychologischen Krieg des Imperialismus
gegen den Sozialismus.
Jeden Tag bekommt die Weltpresse
von Ihnen Material für den Kampf
gegen das sozialistische Weltsystem.
Während in Westdeutschland die Jugendlichen
mutig auftreten, vom Imperialismus
geschlagen und getötet werden,
liefern Sie Material über den 'Terror
der Kommunisten'. Das ist zu viel,
das ist schlimmer als zu Zeiten Chruschtschows.“
Damit meinte Ulbricht die Auseinandersetzung
mit dem Stalinismus und dem damit
verbundenen Personenkult,
gegen die er selbst sich verwahrte,
da er seine Position gefährdet sah.
Beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts
in die ČSSR und der militärischen Zerschlagung
der Reformbewegung, die als „Konterrevolution“
oder „Sozialdemokratismus“ denunziert wurde,
nahm die Nationale Volksarmee nicht teil,
auch wenn die offizielle DDR-Propaganda
bis Ende der 1980er Jahre behauptete,
sie hätte an der Invasion teilgenommen.
Auf Ulbricht geht der Standpunkt
der DDR-Führung zurück,
dass es normale diplomatische Beziehungen
zwischen der DDR
und der Bundesrepublik Deutschland
nur geben könne, wenn beide Staaten
die volle Souveränität des jeweils anderen Staates
anerkannten (Ulbricht-Doktrin).
Dies stand im Gegensatz zur bundesdeutschen
Hallstein-Doktrin, der zufolge
die Bundesrepublik die Kontakte
zu einem Staat abbricht, der die DDR anerkennt.
Ab 1969 kam es zu Streitigkeiten
mit Mitgliedern des Politbüro der SED
zur weiteren Wirtschafts- und Außenpolitik der DDR.
Ulbricht war im Rahmen der Entspannungspolitik
von Bundeskanzler Willy Brandt bereit,
die Verhandlungen mit der Bundesrepublik
über eine völkerrechtliche Anerkennung
zurückzustellen. Er erhoffte sich
von der neuen Entspannungspolitik
der Bundesregierung wirtschaftliche Vorteile
für die DDR. Da die Mehrheit
im Politbüro nicht dieser Meinung folgte,
kam es ab 1970 zur Schwächung
seiner Position in der Partei.
Offiziell wurde in der DDR bis 1989 behauptet,
Ulbricht habe sich den deutschlandpolitischen
Entspannungsbemühungen zwischen
der neuen sozialliberalen Bundesregierung
und der Sowjetunion widersetzt.
Die Unterstützung der sowjetischen Führung
unter Leonid Breschnew verlor er aber bereits
ab 1967, als er die These aufstellte,
die DDR befinde sich auf dem Weg
in das „entwickelte gesellschaftliche
System des Sozialismus“
und dies stelle eine eigenständige
Gesellschaftsform dar.
Hierbei wollte er auch mit der KPdSU „gleichziehen“,
die behauptete, sie habe in der Sowjetunion
den Sozialismus bereits realisiert
und befinde sich auf dem Weg zum Kommunismus.
Damit stellte Ulbricht einen Monopolanspruch
der KPdSU auf deren Auslegung
der marxistisch-leninistischen Grundsätze in Frage
und beanspruchte für die SED bzw. für die DDR,
ein Vorbild für die anderen Ostblockstaaten
bei der Verwirklichung des Sozialismus
in einem industrialisierten Land zu sein.
Dafür wurde er von der sowjetischen Parteiführung
und Gesellschaftswissenschaftlern stark kritisiert.
Bei einem Gespräch zwischen Breschnew
und Erich Honecker am 28. Juli 1970 in Moskau
wurde vereinbart, dass Ulbricht
die Macht in der DDR abzugeben habe.
Bei der 14. Tagung des SED-Zentralkomitees
vom 9. bis 11. Dezember 1970
wurde dann über die Wirtschaftspolitik diskutiert
und die akuten Versorgungsprobleme,
welche man für die schlechte Stimmung
in der Bevölkerung gegenüber der SED
verantwortlich machte, allein auf die Politik
Ulbrichts geschoben. Zugleich
wurden sein Führungsstil und seine Alleingänge
in der Deutschlandpolitik kritisiert.
Am 21. Januar 1971 schrieben dann 13
(der damals 20) Mitglieder und Kandidaten
des Politbüros der SED
einen siebenseitigen geheimen Brief an Breschnew.
Mitverfasser dieses als „Geheime Verschlusssache“
deklarierten Briefes waren u. a. Willi Stoph,
Erich Honecker und Günter Mittag.
In diesem stellten sie dar, dass Ulbricht
nicht mehr in der Lage sei,
die wirtschaftlichen und politischen Realitäten
richtig einzuschätzen und mit seiner Haltung
gegenüber der Bundesrepublik eine Linie verfolge,
die das zwischen der SED und der KPdSU
abgesprochene Vorgehen empfindlich störe.
Sie schlugen Breschnew vor, die Entmachtung Ulbrichts
in der Art vorzunehmen, wie zwischen Honecker
und ihm im Juli 1970 besprochen.
Am 29. März 1971 reiste Ulbricht letztmals,
ohne das zu wissen, an der Spitze
einer SED-Delegation
zum XXIV. Parteitag der KPdSU nach Moskau.
In seiner Grußrede am 31. März 1971
erinnerte er die dortigen Delegierten daran,
dass er zu den wenigen Anwesenden zähle,
die Lenin noch persönlich gekannt hätten,
und stellte die DDR als Modell
für die industriell entwickelten
sozialistischen Länder dar.
Angesichts der bekannten Probleme in der DDR
wurden seine Äußerungen jedoch von den Zuhörern
in einer Mischung aus Skepsis
und Empörung aufgenommen.
Bei persönlichen Gesprächen
legte Breschnew Ulbricht den Rücktritt nahe;
er machte ihm klar, dass Ulbricht
mit keiner weiteren Unterstützung
durch die Sowjetunion zu rechnen habe
und dass auch die Mehrheit des Politbüros
der SED gegen ihn stand.
Am 3. Mai 1971 erklärte Ulbricht dann
gegenüber dem Zentralkomitee der SED
„aus gesundheitlichen Gründen“
seinen Rücktritt von fast allen seinen Ämtern.
Wie bereits in den Absprachen mit Breschnew
vorgesehen, wurde als Nachfolger
der damals 58-jährige Erich Honecker nominiert.
Dieser wurde dann auch auf dem VIII. Parteitag der SED
(1971 in Ost-Berlin) zum Ersten Sekretär des ZK gewählt.
Einzig das relativ einflusslose Amt des Vorsitzenden
des Staatsrates behielt Ulbricht
bis an sein Lebensende.
Außerdem erhielt er das neu geschaffene Ehrenamt
des „Vorsitzenden der SED“.
Er starb am 1. August 1973
im Gästehaus der Regierung der DDR am Döllnsee,
während der X. Weltfestspiele
der Jugend und Studenten.
Die Eröffnung der Weltfestspiele
fand im ehemaligen „Walter-Ulbricht-Stadion“
in Ost-Berlin statt, das wenige Tage zuvor
in „Stadion der Weltjugend“
umbenannt worden war.
Die beginnende Tilgung seines Namens
aus der DDR-Geschichtsschreibung
und dem öffentlichen Leben
durch Umbenennungen von Betrieben,
Institutionen und Einrichtungen
hatte Ulbricht schon 1972
mit der Entfernung seines Namens
aus der Bezeichnung der Akademie
für Staats- und Rechtswissenschaft
in Potsdam erlebt.
Ulbricht erhielt ein Staatsbegräbnis:
Der Staatsakt am frühen Nachmittag
des 7. August 1973 fand im Festsaal
des Staatsratsgebäudes statt,
und Honecker hielt die Gedenkansprache.
Auf einer Lafette wurde der Sarg Ulbrichts
dann am späten Nachmittag
durch ein Ehrenspalier der Nationalen Volksarmee
in das Krematorium Berlin-Baumschulenweg überführt.
Soldaten hatte entlang der Straße Aufstellung genommen,
auch Werktätige waren aus Betrieben
an die Strecke beordert worden.
Am 17. September wurde Ulbrichts Urne
im Rondell der Gedenkstätte der Sozialisten
auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt.
NEUNTER GESANG
Sein Vater Wilhelm Honecker war Bergarbeiter
und heiratete 1905 Caroline Catharina Weidenhof.
Zusammen hatten sie sechs Kinder.
Erich Honecker wurde in Neunkirchen (Saar) geboren;
seine Familie zog wenig später
in den Neunkircher Stadtteil Wiebelskirchen.
Er besuchte die evangelische Grundschule.
1922 wurde er noch vor seinem zehnten Geburtstag
in der fünfzig Mitglieder zählenden
kommunistischen Kindergruppe
von Wiebelskirchen untergebracht,
die auch seine Geschwister besuchten
und der später in Jung-Spartakus-Bund umbenannt wurde.
Nach der dritten Klasse wechselte er
in die evangelische Hauptschule,
die er 1926 nach der achten Klasse verließ,
womit automatisch seine Mitgliedschaft
im Jung-Spartakus-Bund endete.
Als Bergmannbauernfamilie nahmen die
in ihrem Revier des Saarlandes
familiär eng vernetzten Honeckers,
die als Hausbesitzer und Vermieter,
mit Obst- und Gemüsegarten
und einer Agrarparzelle
zu den wohlhabenderen Bergleuten
in Wiebelskirchen zählten,
eine materiell vergleichsweise gut gesicherte Position ein,
die sich, konträr zu den späteren Darstellungen
Erich Honeckers, von der Not
der im Deutschen Reich verelendeten Arbeitermassen
stark unterschied: Sie konnten
ihren kleinen Besitz
von Generation zu Generation weitergeben,
besaßen hinter dem Haus Stallungen für eine Kuh
und hielten Ziegen, Kaninchen
und zeitweise ein oder zwei Schweine.
Den Steckrübenwinter 1916/17,
der zu einer reichsweiten Hungersnot führte,
überstand die Familie Honecker
durch ihre bescheidene Landwirtschaft,
die die Ernährungslage der Familie
während der Kriegsjahre aufbesserte,
während der Vater Wilhelm Honecker
als Matrose an der Front kaum eingesetzt wurde.
Entgegen den Darstellungen Erich Honeckers
war sein Vater nicht an der Revolution
in Kiel beteiligt, und kehrte in Wahrheit
nicht erst Ende 1918,
sondern bereits Ende Juli 1917
als sogenannter „Reklamierter“
nach Wiebelskirchen zurück,
nachdem die Oberste Heeresleitung
den Abzug von 40.000 Bergarbeitern
von der Front angeordnet hatte,
weil deren ziviler Einsatz unter Tage
wegen der zwischenzeitlich dramatischen
Brennstoffknappheit wichtiger
als ihr Dienst als Soldaten geworden war.
Wilhelm Honecker trat auch nicht,
wie von seinem Sohn behauptet,
schon in Kiel der USPD bei,
sondern erst nach seiner Heimkehr ins Saarland,
wo die USPD erst Anfang 1918 entstanden war.
Die im Saargebiet paritätisch
von SPD- und USPD-Vertretern gebildeten
Arbeiter- und Soldatenräte wurden bereits
am 24. November von der ins Saargebiet
einmarschierenden französischen Armee aufgelöst.
Durch das im Versailler Vertrag integrierte
Saarstatut wurde ein völkerrechtlich
neues Gebilde geschaffen,
das fünfzehn Jahre lang wirtschaftlich
in das französische Zoll- und Währungsgebiet
eingegliedert wurde, während das Saargebiet
politisch von einer vom Völkerbund
eingesetzten Regierungskommission
beherrscht wurde. Die Familie Honecker
behielt die deutsche Staatsbürgerschaft bei,
stand aber dem katholischen Milieu fern,
dem die Mehrheit der Saarbevölkerung angehörte,
und wurde vom sich herausbildenden
linksproletarischen Milieu angezogen.
Als Honecker nach der Schulzeit
wegen der verschlechterten Wirtschaftslage
keine Lehrstelle fand, drängten ihn seine Eltern
zu Ostern 1926, eine anderweitige Beschäftigung
auf dem ihm von der Kinderlandverschickung her
bekannten Hof des Bauern Wilhelm Streich,
im hinterpommerschen Neudorf,
in der Nähe der Kreisstadt Bublitz, anzunehmen.
Honeckers Memoiren zufolge habe er sich dort
zwei Jahre lang nur für freies Essen
und freie Kleidung aufgehalten,
„um in der Landwirtschaft zu arbeiten“.
Streich behandelte ihn jedoch fast
als seinen künftigen Schwiegersohn,
machte ihn zum Jungbauern,
überantwortete Honecker infolge
einer Kriegsverletzung
schließlich die gesamte Feldbestellung
und entlohnte ihn mit 20 Reichsmark monatlich.
Im Frühjahr 1928 verzichtete Honecker
auf die materiellen Verlockungen
der in Aussicht gestellten Hofübernahme.
Seine Gastfamilie kleidete ihn daraufhin neu ein,
stattete ihn mit Geld aus
und er kehrte nach Wiebelskirchen zurück.
Da er als Landwirtschaftsgehilfe
keine Anstellung fand,
ließ er sich im Dachdeckergeschäft
seines Onkels Ludwig Weidenhof,
das dieser im Erdgeschoss
seines Elternhauses betrieb,
als Dachdeckergehilfe anlernen.
Im Anschluss nahm er eine Lehre als Dachdecker
beim Wiebelskirchener Dachdeckermeister Müller an.
Am 1. Dezember 1928 trat er
dem Kommunistischen Jugendverband Deutschland bei.
Der KJVD zählte zu dieser Zeit nur noch 200 Mitglieder
in elf Ortsgruppen. In seiner späteren DDR-Kaderakte
datierte er das KJVD-Eintrittsdatum auf 1926 zurück,
um seine zweijährige Tätigkeit
als Jungbauer in Hinterpommern
in seiner politischen Kampfbiographie zu vertuschen.
Er galt in den konkurrierenden Jugendverbänden
der Sozialdemokratie und des Zentrums
als „der Wortführer der Kommunisten“.
1929 wurde er in die Bezirksleitung
des KJVD-Saar gewählt.
Parallel absolvierte er diverse
innerparteiliche Schulungen,
um sich auf die Übernahme leitender Funktionen
im KPD-Jugendverband vorzubereiten.
Im Dezember 1929 beteiligte er sich
in Dudweiler an einem zweiwöchigen Lehrgang
der KJVD-Bezirksschule
über marxistische Theorie
und praktische Jugendarbeit.
In seiner Freizeit widmete sich Honecker
seinen Mitgliedschaften im örtlichen Spielmannszug
und in der Jugendorganisation
des Roten Frontkämpferbundes Roter Jungsturm,
der später in Rote Jungfront umbenannt wurde.
Im Kommunistischen Jugendverband
war er zunächst Kassierer
und später Leiter der Wiebelskirchener Ortsgruppe.
Honecker schloss sich formell der KPD an,
nachdem er bereits in verschiedenen Institutionen
des kommunistischen Parteimilieus aktiv war.
Das genaue Datum seines Parteieintritts
konnte bis heute nicht ermittelt werden.
Honecker selbst gab für seine Aufnahme in die KPD
nach 1945 erst das Jahr 1930
und ein anderes Mal Herbst 1931 an.
Schließlich verlegte er den Parteieintritt
auf 1929, um 1979 von der SED
für seine fünfzigjährige Parteimitgliedschaft
geehrt werden zu können.
Im Juli 1930 meldete sich Honecker
mit 27 weiteren Auserwählten
aus den verschiedenen KJVD-Bezirken
beim Parteivorstand der KPD
im Berliner Karl-Liebknecht-Haus,
um an einem Vorbereitungslehrgang
an der Reichsparteischule der KPD
in Fichtenau teilzunehmen.
In einem symbolischen Aufnahmeakt als „Genosse“,
der sich völlig der Herrschaft
der kommunistischen Lebenswelt
und deren Partei unterwirft,
bekam Honecker seinen neuen Parteinamen
Fritz Molter zugeteilt, den er auch
während der sich anschließenden
konspirativen Kaderschulung in Moskau führte.
Seine Dachdeckerlehre brach Honecker
nach zwei Jahren ohne Gesellenprüfung ab,
weil er vom KJVD im Sommer 1930
zu einem einjährigen Studium
an die Internationale Lenin-Schule
nach Moskau delegiert wurde,
einer vom Exekutivkomitee
der Kommunistischen Internationale errichteten
stalinistischen Kaderschmiede,
die ihn zu einem von zirka 370
deutschen „Kursanten“ nominierte.
Im Sommer 1931 absolvierte er
das obligatorische, von der Kommunistischen
Jugendinternationale eingerichtete
Praktikum des Kurses,
aus dem zahlreiche Kaderkräfte
kommunistischer Machtapparate
in Ostmitteleuropa nach 1945 hervorgingen.
Während dieser Zeit nahm er mit 27 anderen
Kursanten als „Internationale Stoßbrigade“
an einem Arbeitseinsatz in Magnitogorsk teil,
wo seit 1929 ein Stahlwerk als künftiges Zentrum
der sowjetischen Stahlgewinnung entstand.
Honeckers Lehrer an der Lenin-Schule
war Erich Wollenberg, der während
des Großen Terrors, im Zuge
der Wollenberg-Hoelz-Verschwörung
durch das NKWD als Gegner Stalins verfolgt wurde.
In der Ära der Schulleiterin Kirsanowa,
die als „eiserne Stalinistin“ galt,
wurde Honecker „Reinigungsritualen“
durch Anklage und Selbstanklage unterzogen,
um seine Ich-Interessen,
innerhalb eines geschlossenen Weltbildes,
systematisch dem Kollektiv
und den Interessen der Partei unterzuordnen.
In seinen Sechs-Tage-Wochen
hatte er ein rigides tägliches Arbeitspensum
von zehn Stunden und mehr abzuleisten,
das aus Unterricht und Selbststudium bestand
und zu politisch-ideologischer Einheitlichkeit
und mentaler Folgsamkeit erzog.
Das Pensum einer Schulstunde umfasste
4–5 Seiten Marx oder Engels,
6–7 Seiten Lenin,
7–8 Seiten Stalin
und 20 Seiten Belletristik.
Bis zu seinem Lebensende blieb Stalin
Honeckers prägendste politische Bezugsfigur.
Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933
war die Arbeit der KPD in Deutschland
nur noch im Untergrund möglich.
Das Saargebiet jedoch gehörte nicht
zum Deutschen Reich.
Honecker wurde kurz in Deutschland inhaftiert,
jedoch bald entlassen.
Er kam 1934 ins Saargebiet zurück
und arbeitete mit dem späteren ersten saarländischen
Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann
in der Kampagne gegen die Wiederangliederung
an das Deutsche Reich.
In dieser Zeit im Widerstand
in den Jahren 1934 und 1935
arbeitete er auch eng mit dem KPD-Funktionär
Herbert Wehner, später SPD, zusammen.
Bei der Saarabstimmung am 13. Januar 1935
stimmten jedoch 90,73 Prozent der Wähler
für eine Vereinigung mit Deutschland.
Der Jungfunktionär floh,
wie 4000–8000 andere Menschen auch,
zunächst nach Frankreich.
Am 28. August 1935 reiste Honecker
unter dem Decknamen „Marten Tjaden“
illegal nach Berlin,
eine Druckerpresse im Gepäck,
und war wieder im Widerstand tätig.
Im Dezember 1935 wurde Honecker
von der Gestapo verhaftet
und zunächst bis 1937
im Berliner Zellengefängnis Lehrter Straße
in Untersuchungshaft genommen.
Er wurde im Juni 1937
zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt;
der ebenfalls angeklagte Bruno Baum wurde –
auch durch Honeckers Aussagen –
zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Honecker verbüßte seine Haftzeit
während der Zeit des Nationalsozialismus
im Zuchthaus Brandenburg-Görden.
Aufgrund der gestiegenen Zahl
der Bombenangriffe auf Berlin ab 1943
teilte man ihn einer Baukolonne zu,
die mit LKW zu den beschädigten Gebäuden
gefahren wurde, um die Bombenschäden
zu reparieren. Als diese Transporte
nach einem Jahr zu unsicher wurden,
brachte man seine Baukolonne
im Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin unter.
Im März 1945 gelang Honecker
gemeinsam mit einem Mitgefangenen
während eines Bombenangriffs
die Flucht aus dem Frauengefängnis.
Er versteckte sich in der Wohnung
der Gefängnisaufseherin Charlotte Grund,
die in der Landsberger Straße 37 wohnte.
Nachdem dort das Vorderhaus ausgebombt wurde,
kehrte er, aufgrund der gestiegenen Entdeckungsgefahr,
in das Gefängnis zurück,
was offenbar durch die dienstverpflichteten
Aufseherinnen organisiert wurde.
Honecker wurde nach Brandenburg zurückverlegt.
Nach der Befreiung des Zuchthauses
durch die Rote Armee am 27. April
ging Honecker nach Berlin.
Seine mit den Mithäftlingen in Brandenburg
nicht abgesprochene Flucht,
sein Untertauchen in Berlin,
die „Rückmeldung“, die Nichtteilnahme
an dem geschlossenen Marsch
der befreiten kommunistischen Häftlinge nach Berlin
und die Verbindung mit einer Gefängnisaufseherin
bereiteten Honecker später
innerparteiliche Schwierigkeiten
und belasteten sein Verhältnis
zu ehemaligen Mithäftlingen.
Gegenüber der Öffentlichkeit verfälschte Honecker
das Geschehen in seinen Lebenserinnerungen
und in Interviews.
Im Mai 1945 wurde Honecker eher zufällig
von Hans Mahle in Berlin „aufgelesen“
und mit zur Gruppe Ulbricht genommen.
Durch Waldemar Schmidt wurde er
mit Walter Ulbricht bekannt gemacht,
der ihn bis dahin noch nicht persönlich kannte.
Bis in den Sommer hinein
war über die zukünftige Funktion Honeckers
noch nicht entschieden worden,
da er sich auch einem Parteiverfahren stellen musste,
welches mit einer strengen Rüge endete.
Zur Sprache kam dabei auch seine Flucht
aus dem Zuchthaus Anfang 1945.
1946 war er dann Mitbegründer
der Freien Deutschen Jugend,
deren Vorsitz er auch übernahm.
Seit dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD
im April 1946 war Honecker Mitglied der SED.
In der im Oktober 1949 gegründeten DDR,
einer realsozialistischen Parteidiktatur,
setzte Honecker seine politische
Karriere zielstrebig fort.
Als FDJ-Vorsitzender organisierte er
die drei Deutschlandtreffen der Jugend
in Berlin ab 1950
und wurde einen Monat nach dem ersten Deutschlandtreffen
als Kandidat ins Politbüro des ZK der SED aufgenommen.
Er war ein ausgesprochener Gegner
kirchlicher Jugendgruppen.
In den innerparteilichen Auseinandersetzungen
nach dem Volksaufstand vom 17. Juni
stellte er sich gemeinsam mit Hermann Matern
offen an die Seite Ulbrichts,
den die Mehrheit des Politbüros
um Rudolf Herrnstadt zu stürzen versuchte.
Am 27. Mai 1955 gab er den FDJ-Vorsitz
an Karl Namokel ab.
Von 1955 bis 1957 hielt er sich zu Schulungszwecken
in Moskau auf und erlebte
den XX. Parteitag der KPdSU
mit Chruschtschows Rede
zur Entstalinisierung mit.
Nach seiner Rückkehr wurde er 1958
Mitglied des Politbüros,
wo er die Verantwortung für Militär-
und Sicherheitsfragen übernahm.
Als Sicherheitssekretär des ZK der SED
war er der maßgebliche Organisator
des Baus der Berliner Mauer im August 1961
und trug in dieser Funktion den Schießbefehl
an der innerdeutschen Grenze mit.
Auf dem 11. Plenum des ZK der SED,
das im Dezember 1965 tagte,
tat er sich als einer der Wortführer hervor
und griff verschiedene Kulturschaffende
wie die Regisseure Kurt Maetzig
und Frank Beyer scharf an,
denen er „Unmoral“, „Dekadenz“,
„spießbürgerlichen Skeptizismus“
und „Staatsfeindlichkeit“ vorwarf.
In diese Kritik bezog er auch die kulturpolitisch
Verantwortlichen der SED mit ein,
ohne sie allerdings namentlich zu nennen:
Sie hätten „keinen prinzipiellen Kampf
gegen die aufgezeigten Erscheinungen geführt.“
Das Plenum beendete die Ansätze
einer kulturpolitischen Liberalisierung der DDR,
die sich nach dem Mauerbau gezeigt hatten.
Während Walter Ulbricht
mit dem Neuen Ökonomischen System
der Planung und Leitung
die Wirtschaftspolitik ins Zentrum gerückt hatte,
deklarierte Honecker die „Einheit
von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zur Hauptaufgabe.
Nachdem er sich die Unterstützung
durch die sowjetische Führung
unter Leonid Breschnew vergewissert hatte,
sammelte er Unterschriften im Politbüro
für die Forderung nach Ulbrichts Absetzung.
Als Ulbricht davon erfuhr,
warf er Honecker aus dem Politbüro.
Daraufhin wandte sich Honecker hilfesuchend
an den sowjetischen Botschafter Abrassimov,
und auf Breschnews Geheiß
musste ihn Ulbricht wieder aufnehmen.
Schließlich putschte sich Honecker
mit sowjetischem Einverständnis an die Macht:
Er wies seine Personenschützer an,
Maschinenpistolen mitzunehmen,
und fuhr mit ihnen zu Ulbrichts
Sommerresidenz in Dölln.
Dort ließ er alle Tore und Ausgänge besetzen,
die Telefonleitungen kappen
und zwang Ulbricht, ein Rücktrittsgesuch
an das Zentralkomitee zu unterschreiben.
Honecker wurde am 3. Mai 1971
als Nachfolger Ulbrichts Erster Sekretär
(ab 1976 Generalsekretär)
des Zentralkomitees der SED.
Wirtschaftliche Probleme und Unmut in den Betrieben
spielten eine große Rolle bei diesem Machtwechsel.
Nachdem er 1971 auch im Nationalen Verteidigungsrat
als Vorsitzender Ulbrichts Nachfolge angetreten hatte,
wählte ihn die Volkskammer am 29. Oktober 1976
schließlich auch zum Vorsitzenden des Staatsrats;
Willi Stoph, der diesen Posten seit 1973 innegehabt hatte,
wurde erneut, wie vor 1973,
Vorsitzender des Ministerrats.
Damit hatte Honecker die Machtspitze
der DDR erreicht. Von nun an
entschied er gemeinsam mit dem ZK-Sekretär
für Wirtschaftsfragen, Günter Mittag,
und dem Minister für Staatssicherheit,
Erich Mielke, alle maßgeblichen Fragen.
Bis zum Herbst 1989
stand die „kleine strategische Clique“
aus diesen drei Männern unangefochten
an der Spitze der herrschenden Klasse der DDR,
der zunehmend vergreisenden Monopolelite
der etwa 520 Staats- und Parteifunktionäre.
Honecker erlangte gemeinsam mit diesen beiden
eine Machtfülle wie kein anderer Herrscher
in der jüngeren deutschen Geschichte,
Ludendorff und Hitler eingeschlossen,
weshalb man ihn als Diktator beschreiben muss.
Unter Honecker entwickelte sich das Politbüro
rasch zu einem Kollektiv von kritiklosen,
unterwürfigen Vollstreckern und Ja-Sagern.
Honecker beantwortete Eingaben
von Bürgern immer schnell,
weshalb man ihn in Anlehnung
an den aufgeklärten Absolutismus
als „obersten Kümmerer seines Staats“ bezeichnet.
Honeckers engster persönlicher Mitarbeiter
war der ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda,
Joachim Herrmann. Mit ihm
führte er tägliche Besprechungen
über die Medienarbeit der Partei,
in denen auch das Layout
des Neuen Deutschlands
und die Abfolge der Meldungen
in der Aktuellen Kamera festgelegt wurden.
Auf schlechte Nachrichten
über den Zustand der Wirtschaft
reagierte er, indem er etwa 1978
das Institut für Meinungsforschung schließen ließ.
Große Bedeutung maß Honecker auch
dem Feld der Staatssicherheit bei,
das er einmal in der Woche
jeweils nach der Sitzung des Politbüros
mit Erich Mielke durchsprach.
Während seiner Amtszeit
wurde der Grundlagenvertrag
mit der Bundesrepublik Deutschland ausgehandelt.
Außerdem nahm die DDR
an den KSZE-Verhandlungen in Helsinki teil
und wurde als Vollmitglied in die UNO aufgenommen.
Diese diplomatischen Erfolge gelten
als die größten außenpolitischen
Leistungen Honeckers.
Am 31. Dezember 1982 versuchte
der Ofensetzer Paul Eßling,
die Autokolonne Honeckers zu rammen,
was in westlichen Medien
als Attentat dargestellt wurde.
Innenpolitisch zeichnete sich anfangs
eine Liberalisierungstendenz
vor allem im Bereich der Kultur und Kunst ab,
die aber weniger durch den Personalwechsel
von Walter Ulbricht zu Erich Honecker
hervorgerufen wurde, sondern Propagandazwecken
im Rahmen der 1973 ausgetragenen
X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten diente.
Nur wenig später erfolgten
die Ausbürgerung von Regimekritikern
wie Wolf Biermann und die Unterdrückung
innenpolitischen Widerstands
durch das Ministerium für Staatssicherheit.
Zudem setzte Honecker sich
für den weiteren Ausbau
der innerdeutschen Staatsgrenze
mit Selbstschussanlagen
und den rücksichtslosen Schusswaffengebrauch
bei Grenzdurchbruchsversuchen ein.
1974 sagte er dazu, „es sind die Genossen,
die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben,
zu belobigen.“
Wirtschaftspolitisch wurde unter Honecker
die Verstaatlichung und Zentralisierung
der Wirtschaft vorangetrieben.
Die schwierige wirtschaftliche Lage
zwang zur Aufnahme von Milliardenkrediten
von der Bundesrepublik Deutschland,
um den Lebensstandard halten zu können.
Die Londoner Financial Times sah Honecker 1981
auf der Höhe seiner Popularität
und stellt diesen Vergleich
zum damaligen Bundeskanzler auf:
„Wenn Helmut Schmidt, der westdeutsche Kanzler,
zu Deutschlands besten Rednern gehört,
so muss Erich Honecker
einer der am wenigsten begabten sein.
Sich seiner hohen Singsang-Stimme auszusetzen,
die die Litanei der ostdeutschen
Kommunistischen Partei beschwört,
ohne auch nur einen Hauch von Emotion
in seinem Gesicht,
kann eine sterbenslangweilige Erfahrung sein.“
1981 empfing er Bundeskanzler Helmut Schmidt
im Jagdhaus Hubertusstock am Werbellinsee.
Honeckers Einschätzung, die DDR habe
„wirtschaftlich Weltklasseniveau erreicht
und gehöre zu den bedeutendsten
Industrienationen der Welt“,
kommentierte Schmidt später mit dem Verdikt
vom „Mann von beschränkter Urteilskraft“.
Trotz der Wirtschaftsprobleme
brachten Honecker die 1980er Jahre
vermehrte internationale Anerkennung,
insbesondere als er am 7. September 1987
die Bundesrepublik Deutschland besuchte
und durch Bundeskanzler Helmut Kohl
in Bonn empfangen wurde.
Auf seiner Reise durch die Bundesrepublik
kam er nach Düsseldorf, Wuppertal, Essen, Trier,
Bayern sowie am 10. September
in seinen Geburtsort im Saarland.
Hier hielt er eine emotionale Rede,
in der er davon sprach, eines Tages
würden die Grenzen die Menschen
in Deutschland nicht mehr trennen.
Diese Reise war seit 1983 geplant gewesen,
wurde jedoch damals von der sowjetischen
Führung blockiert, da man
dem deutsch-deutschen Sonderverhältnis misstraute.
1988 war Honecker unter anderem
auf Staatsbesuch in Paris.
Sein großes Ziel, welches er aber nicht mehr erreichte,
war ein offizieller Besuch in den USA.
Er setzte deshalb in den letzten Jahren der DDR
auf ein positives Verhältnis zum Jüdischen
Weltkongress als möglichem „Türöffner“.
Auf dem Gipfeltreffen des Warschauer Paktes
in Bukarest am 7. und 8. Juli 1989
im Rahmen des „Politisch-Beratenden Ausschusses“
der Staaten des Warschauer Paktes
gab die Sowjetunion offiziell
die Breschnew-Doktrin
der begrenzten Souveränität der Mitgliedsstaaten auf
und verkündete die „Freiheit der Wahl“:
Die Beziehungen untereinander sollten künftig,
wie es im Bukarester Abschlussdokument heißt,
„auf der Grundlage der Gleichheit,
Unabhängigkeit und des Rechtes
eines jeden Einzelnen, selbstständig
seine eigene politische Linie,
Strategie und Taktik ohne Einmischung
von außen auszuarbeiten“ entwickelt werden.
Die sowjetische Bestandsgarantie
für die Mitgliedsstaaten
war damit in Frage gestellt.
Honecker musste seine Teilnahme
an dem Treffen abbrechen;
am Abend des 7. Juli 1989 wurde er
mit schweren Gallenkoliken
in das rumänische Regierungskrankenhaus eingeliefert
und dann nach Berlin ausgeflogen.
Im Regierungskrankenhaus Berlin-Buch
entfernte man ihm am 18. August 1989
die Gallenblase und einen Abschnitt des Dickdarms.
Während der Operation
wurde ein Nierentumor entdeckt,
doch die Ärzte wagten es nicht,
Honecker darüber zu unterrichten.
Erst im September 1989 tauchte Honecker
abgemagert und vergreist
wieder im Politbüro auf.
Währenddessen leitete Günter Mittag
die wöchentlichen Sitzungen des Politbüros.
Lediglich im August 1989
nahm er einige Termine wahr.
So erklärte er am 14. August 1989
bei der Übergabe der ersten Funktionsmuster
von 32-Bit-Prozessoren
durch das Kombinat Mikroelektronik Erfurt:
„Den Sozialismus in seinem Lauf
Hält weder Ochs noch Esel auf.“
Aber in den Städten der DDR
wuchsen Zahl und Größe der Demonstrationen,
und auch die Zahl der DDR-Flüchtlinge
über die bundesdeutschen Botschaften
in Prag und Budapest
und über die Grenzen
der „sozialistischen Bruderstaaten“
nahm stetig zu, monatlich waren es
mehrere Zehntausend.
Die ungarische Regierung öffnete
am 19. August 1989 an einer Stelle
und am 11. September 1989 überall
die Grenze zu Österreich.
Allein hierüber reisten Zehntausende
von DDR-Bürgern über Österreich
in die Bundesrepublik aus.
Die ČSSR erklärte den Zustrom der DDR-Flüchtlinge
für inakzeptabel. Am 3. Oktober 1989
schloss die DDR faktisch ihre Grenzen
zu den östlichen Nachbarn,
indem sie den visafreien Reiseverkehr
in die ČSSR aussetzte;
ab dem nächsten Tag wurde diese Maßnahme
auch auf den Transitverkehr
nach Bulgarien und Rumänien ausgedehnt.
Die DDR war dadurch nicht nur wie bisher
durch den Eisernen Vorhang nach Westen abgeriegelt,
sondern nun auch noch gegenüber
den meisten Staaten des Ostblocks.
Proteste von DDR-Bürgern
bis hin zu Streikandrohungen
aus den grenznahen Gebieten
zur ČSSR waren die Folge.
Die Beziehung zwischen Honecker
und dem Generalsekretär der KPdSU
und Präsidenten der UdSSR Gorbatschow
war schon seit Jahren gespannt:
Honecker hielt dessen Politik der Perestroika
und Kooperation mit dem Westen für falsch
und fühlte sich von ihm speziell
in der Deutschlandpolitik hintergangen.
Er sorgte dafür, dass offizielle Texte der UdSSR,
vor allem solche zum Thema Perestroika,
in der DDR nicht mehr veröffentlicht
oder in den Handel gebracht werden durften.
Am 6. und 7. Oktober 1989 fanden
die Staatsfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag
der DDR in Anwesenheit von Michail Gorbatschow statt,
der mit „Gorbi, Gorbi, hilf uns“-Rufen begrüßt wurde.
In einem Vieraugengespräch der beiden Generalsekretäre
pries Honecker die Erfolge des Landes.
Gorbatschow wusste aber, dass die DDR
in Wirklichkeit vor der Zahlungsunfähigkeit stand.
Am Ende einer Krisensitzung
am 10. und 11. Oktober 1989 forderte
das SED-Politbüro Honecker auf,
bis Ende der Woche einen Lagebericht abzugeben,
der geplante Staatsbesuch in Dänemark
wurde abgesagt und eine Erklärung veröffentlicht,
die Egon Krenz gegen den Widerstand
Honeckers durchgesetzt hatte.
Ebenfalls überwiegend auf Initiative von Krenz
folgten in den nächsten Tagen
Besprechungen und Sondierungen zu der Frage,
Honecker zum Rücktritt zu bewegen.
Krenz sicherte sich die Unterstützung
von Armee und Stasi
und arrangierte ein Treffen
zwischen Michail Gorbatschow
und Politbüromitglied Harry Tisch,
der den Kremlchef am Rande eines Moskaubesuchs
einen Tag vor der Sitzung
über die geplante Absetzung Honeckers informierte.
Gorbatschow wünschte viel Glück,
das Zeichen, auf das Krenz
und die anderen gewartet hatten.
Auch SED-Chefideologe Kurt Hager
flog am 12. Oktober 1989 nach Moskau
und besprach mit Gorbatschow
die Modalitäten der Honecker-Ablösung.
Hans Modrow dagegen wich einer Anwerbung aus.
Die für Ende November 1989 geplante
Sitzung des ZK der SED
wurde auf Ende der Woche vorgezogen,
dringendster Tagesordnungspunkt:
die Zusammensetzung des Politbüros.
Per Telefon versuchten Krenz und Erich Mielke
am Abend des 16. Oktober,
weitere Politbüromitglieder für die Absetzung
Honeckers zu gewinnen. Zu Beginn
der Sitzung des Politbüros vom 17. Oktober 1989
fragte Honecker routinemäßig:
„Gibt es noch Vorschläge zur Tagesordnung?“
Willi Stoph meldete sich
und schlug als ersten Punkt der Tagesordnung vor:
„Entbindung des Genossen Honecker
von seiner Funktion als Generalsekretär
und Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär“.
Honecker schaute zuerst regungslos,
fasste sich aber rasch wieder:
„Gut, dann eröffne ich die Aussprache.“
Nacheinander äußerten sich alle Anwesenden,
doch keiner machte sich für Honecker stark.
Günter Schabowski erweiterte sogar den Antrag
und forderte die Absetzung Honeckers
auch als Staatsratsvorsitzender
und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates.
Selbst Günter Mittag rückte von ihm ab.
Alfred Neumann wiederum forderte die Ablösung
von Mittag und von Joachim Herrmann.
Erich Mielke machte Honecker
für fast alle aktuellen Missstände in der DDR
verantwortlich und drohte Honecker schreiend,
kompromittierende Informationen, die er besitze,
herauszugeben, falls Honecker nicht zurücktrete.
Nach drei Stunden fiel der einstimmige Beschluss
des Politbüros. Honecker votierte, wie es Brauch war,
für seine eigene Absetzung.
Dem ZK der SED wurde vorgeschlagen,
Honecker, Mittag und Hermann
von ihren Funktionen zu entbinden.
Bei der folgenden ZK-Sitzung
waren 206 Mitglieder und Kandidaten anwesend.
Lediglich 16 fehlten, darunter Margot Honecker.
Das ZK folgte der Empfehlung des Politbüros.
Die einzige Gegenstimme kam
von der 81-jährigen Hanna Wolf,
der früheren Direktorin
der Parteihochschule „Karl Marx“.
Öffentlich hieß es: „Das ZK hat der Bitte
Erich Honeckers entsprochen,
ihn aus gesundheitlichen Gründen
von der Funktion des Generalsekretärs,
vom Amt des Staatsratsvorsitzenden
und von der Funktion des Vorsitzenden
des Nationalen Verteidigungsrates
der DDR zu entbinden.“ Egon Krenz
wurde per Akklamation einstimmig
zum neuen Generalsekretär der SED gewählt.
Am 20. Oktober 1989 musste auch Margot Honecker
von ihren Ämtern zurücktreten.
Die Volkskammer der DDR
setzte Mitte November 1989
einen Ausschuss zur Untersuchung
von Korruption und Amtsmissbrauch ein,
dessen Vorsitzender am 1. Dezember 1989
Bericht erstattete. Er warf den bisherigen
SED-Machthabern umfassenden Missbrauch
öffentlicher Ämter zu privaten Zwecken vor.
Honecker habe zudem seit 1978
jährliche Zuwendungen von rund 20.000 Mark
durch die Bauakademie der DDR erhalten.
Die Staatsanwaltschaft der DDR
leitete daraufhin strafrechtliche Ermittlungen
gegen 30 ehemalige DDR-Spitzenfunktionäre ein,
unter ihnen zehn Mitglieder des Politbüros.
Die meisten davon kamen in Untersuchungshaft,
so am 3. Dezember 1989
auch Honeckers Wandlitzer Nachbarn
Günter Mittag und Harry Tisch
wegen persönlicher Bereicherung
und Vergeudung von Volksvermögen.
Am selben Tag wurde Honecker
vom ZK aus der SED ausgeschlossen.
Er schloss sich daraufhin der neu gegründeten KPD an,
deren Mitglied er von 1992 bis zu seinem Tod war.
Am 30. November 1989
wurde dem Ehepaar Honecker
die Wohnung in Wandlitz gekündigt
und am 7. Dezember 1989 durchsucht.
Wegen der aufgeheizten Stimmung
lehnten die Honeckers ein Wohnungsangebot
am Bersarinplatz ab, beschwerten sich aber mehrfach,
man habe sie obdachlos gemacht.
Am 5. Dezember 1989 wurde auch gegen ihn
ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Honecker sei „verdächtig,
seine Funktion als Vorsitzender des Staatsrates
und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR
und seine angemaßte politische
und ökonomische Macht
als Generalsekretär des ZK der SED missbraucht“
und „seine Verfügungsbefugnisse
als Generalsekretär des ZK der SED
zum Vermögensvorteil für sich
und andere missbraucht zu haben“.
Federführend war bis Januar 1990
das Amt für Nationale Sicherheit der DDR,
also der Nachfolger der Stasi,
das hierzu einen „Maßnahmeplan
im Ermittlungsverfahren gegen Erich Honecker“
erarbeitet hatte, später betrieb
die Abteilung für Wirtschaftsstrafsachen
beim Generalstaatsanwalt der DDR das Verfahren.
Am 6. Januar 1990 erfuhr Honecker
nach einer erneuten Untersuchung
durch eine Ärztekommission aus den Abendnachrichten
der Aktuellen Kamera des DDR-Fernsehens,
dass er Nierenkrebs hat.
Am 10. Januar 1990 entfernte der Urologe
Peter Althaus einen pflaumengroßen Nierentumor.
Am Abend des 28. Januar 1990
wurde Honecker in seinem Krankenzimmer
der Charité festgenommen,
am nächsten Tag in das Haftkrankenhaus
des Gefängnisses Berlin-Rummelsburg eingeliefert
und nach einem Tag
wegen Haftunfähigkeit entlassen.
Rechtsanwalt Wolfgang Vogel wandte sich
im Auftrag Honeckers
an die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg
und bat um Hilfe.
Pastor Uwe Holmer,
Leiter der Hoffnungstaler Anstalten
in Lobetal bei Bernau,
bot daraufhin dem Ehepaar Unterkunft
in seinem Pfarrhaus an.
Althaus fuhr es noch am Abend
des 30. Januar 1990 dorthin.
Schon am selben Tag kam es zu Kritik
und später zu Demonstrationen
gegen die kirchliche Hilfe für das Ehepaar,
da beide solche Christen,
die sich nicht dem SED-Regime angepasst hätten,
benachteiligt hätten.
Das Ehepaar wohnte dennoch –
abgesehen von einer Unterbringung
in einem Ferienhaus in Lindow,
die im März 1990 schon nach einem Tag
wegen politischer Proteste abgebrochen werden musste –
bis zum 3. April 1990 weiter bei Holmers.
Dann siedelte das Ehepaar
in das sowjetische Militärhospital bei Beelitz über.
Bei erneuten Untersuchungen auf Haftfähigkeit
stellten dort die Ärzte bei Honecker
die Verdachtsdiagnose eines bösartigen Lebertumors.
Am 2. Oktober 1990, dem Vorabend
der Deutschen Wiedervereinigung,
wurden die wirtschaftsstrafrechtlichen Ermittlungsakten
im Fall Erich Honecker von der Generalstaatsanwaltschaft
der DDR an die der Bundesrepublik übergeben.
Am 30. November 1990 erließ das Amtsgericht Tiergarten
einen weiteren Haftbefehl gegen Honecker
wegen des Verdachts, dass er den Schießbefehl
an der innerdeutschen Grenze 1961 verfügt
und 1974 bekräftigt habe.
Der Haftbefehl war aber nicht vollstreckbar,
da Honecker sich in Beelitz
unter dem Schutz sowjetischer Stellen befand.
Am 13. März 1991 wurde das Ehepaar
mit einem sowjetischen Militärflugzeug
von Beelitz nach Moskau,
nach vorheriger Information des Bundeskanzlers Kohl
durch den sowjetischen Staatspräsidenten
Gorbatschow, ausgeflogen.
Das Kanzleramt war durch die sowjetische Diplomatie
über die bevorstehende Ausreise der Honeckers
nach Moskau informiert worden.
Die Bundesregierung beschränkte sich aber öffentlich
auf den Protest, es liege bereits ein Haftbefehl vor,
daher verstoße die Sowjetunion
gegen die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland
und damit gegen Völkerrecht.
Immerhin war zu diesem Zeitpunkt
der Zwei-plus-Vier-Vertrag,
der Deutschland die volle Souveränität zuerkennen sollte,
vom Obersten Sowjet noch nicht ratifiziert.
Erst am 15. März 1991 trat der Vertrag
mit der Hinterlegung der sowjetischen
Ratifizierungsurkunde beim deutschen Außenminister
offiziell in Kraft. Von diesem Augenblick an
wuchs der deutsche Druck auf Moskau,
Honecker zu überstellen.
Zwischen Michail Gorbatschow und Honecker
bestand ohnehin ein seit Jahren
stetig schlechter werdendes Verhältnis,
die UdSSR befand sich in der Auflösung.
Den Augustputsch in Moskau überstand Gorbatschow
nur geschwächt. Der neue starke Mann,
Boris Jelzin, Präsident der russischen Teilrepublik RSFSR,
verbot die KPdSU, deren Generalsekretär Gorbatschow war.
Am 25. Dezember 1991 trat Gorbatschow
als Präsident der Sowjetunion zurück.
Die russische Regierung unter Jelzin
forderte Honecker im Dezember 1991 auf,
das Land zu verlassen,
da andernfalls die Abschiebung erfolge.
Am 11. Dezember 1991 flüchteten die Honeckers
daher in die chilenische Botschaft in Moskau.
Nach Erinnerung Margot Honeckers
hatten zwar auch Nordkorea
und Syrien Asyl angeboten,
von Chile erhoffte man sich aber besonderen Schutz:
Nach dem Militärputsch von 1973
unter Augusto Pinochet hatte die DDR
unter Honecker vielen Chilenen,
auch dem Botschafter Clodomiro Almeyda,
Exil in der DDR gewährt,
und Honeckers Tochter Sonja
war mit einem Chilenen verheiratet.
In Anspielung auf die DDR-Flüchtlinge
in den bundesdeutschen Botschaften
in Prag und Budapest
wurde das Ehepaar Honecker ironisch
„letzte Botschaftsflüchtlinge der DDR“ genannt.
Chile allerdings wurde damals
durch eine links-bürgerliche Koalition regiert,
und die deutsche Bundesregierung äußerte,
wenn Russland und Chile
ihren Anspruch einlösen wollten,
Rechtsstaaten zu sein, müsste Honecker,
da mit Haftbefehl in Deutschland gesucht,
in die Bundesrepublik überstellt werden.
Am 22. Juli begründete der deutsche Botschafter
Klaus Blech im russischen Außenministerium:
„Nach Auffassung der deutschen Regierung
verstößt die widerrechtliche Verbringung
von Herrn Honecker gegen den Vertrag
über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts
und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs
der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet
der Bundesrepublik Deutschland
und gegen allgemeines Völkerrecht,
weil sie dazu diente, eine wegen Anstiftung
zur mehrfachen vorsätzlichen Tötung
durch Haftbefehl gesuchte Person
der Strafverfolgung zu entziehen.“
Allerdings war der bei Honecker bereits
in Beelitz erhobene Verdacht auf Leberkrebs
im Februar 1992 in Moskau
durch eine Ultraschall-Untersuchung
mit dem Befund „herdförmiger Befall der Leber –
Metastase“ bestärkt worden.
Drei Wochen später aber soll
die grundsätzlich zuverlässigere Untersuchung
durch ein Computertomogramm ergeben haben:
„Werte für einen herdförmigen Befall der Leber
wurden nicht festgestellt“.
Nun wurde gegen Honecker verbreitet,
er sei ein Simulant. Drei Tage später
verkündete der russische Justizminister
im deutschen Fernsehen, Honecker
werde nach Deutschland überstellt,
sobald er die Botschaft verlassen habe.
Am 7. März 1992 hieß es,
die chilenische Regierung korrigiere ihre Haltung
im Fall Honecker, Botschafter Almeyda
sei zur Berichterstattung nach Santiago beordert,
man sei verärgert über seinen Versuch,
mit offenbar manipulierten Berichten
über den todkranken Honecker
dessen Einreise nach Chile zu erreichen.
Almeyda wurde von seinem Posten abberufen.
Zwar protestierte am 18. März 1992
eine Gruppe von Ärzten aus dem russischen Parlament
und machte geltend, es sei die März-Diagnose,
die manipuliert worden sei.
Aber für die Öffentlichkeit schien Honeckers
altersgerecht guter Allgemeinzustand
gegen eine Krebserkrankung zu sprechen.
Im Juni 1992 sicherte der chilenische Präsident
Patricio Aylwin schließlich Bundeskanzler
Helmut Kohl zu, Honecker werde
die Botschaft in Moskau verlassen.
Die Russen ergänzten, sie sähen „keinen Grund“,
von ihrer Entscheidung von Dezember 1991 abzurücken,
„wonach Honecker nach Deutschland
zurückzukehren hat“. Am 29. Juli 1992
wurde Erich Honecker nach Berlin ausgeflogen,
wo er verhaftet
und in die Justizvollzugsanstalt Moabit gebracht wurde.
Margot Honecker dagegen reiste per Direktflug
der Aeroflot von Moskau nach Santiago de Chile,
wo sie zunächst bei ihrer Tochter Sonja unterkam
und bis zu ihrem Tod am 6. Mai 2016 lebte.
Am 29. Juli 1992 wurde Honecker
in Untersuchungshaft im Krankenhaus
der Berliner Vollzugsanstalten
in Berlin-Moabit genommen.
Die Schwurgerichtsanklage vom 12. Mai 1992
warf ihm vor, als Vorsitzender des Staatsrats
und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR
gemeinsam mit mehreren Mitangeklagten,
unter anderem Erich Mielke, Willi Stoph,
Heinz Keßler, Fritz Streletz und Hans Albrecht,
in der Zeit 1961 bis 1989 am Totschlag
von insgesamt 68 Menschen beteiligt gewesen zu sein,
indem er insbesondere als Mitglied des NVR
angeordnet habe, die Grenzanlagen um West-Berlin
und die Sperranlagen zur Bundesrepublik auszubauen,
um ein Passieren unmöglich zu machen.
Insbesondere zwischen 1962 und 1980
habe er mehrfach Maßnahmen und Festlegungen
zum weiteren pioniertechnischen Ausbau der Grenze
durch Errichtung von Streckmetallzäunen
zur Anbringung der Selbstschussanlagen
und der Schaffung von Sicht- und Schussfeld
entlang der Grenzsicherungsanlagen getroffen,
um Grenzdurchbrüche zu verhindern.
Außerdem habe er im Mai 1974
in einer Sitzung des NVR dargelegt,
der pioniermäßige Ausbau der Staatsgrenze
müsse weiter fortgesetzt werden,
überall müsse ein einwandfreies Schussfeld
gewährleistet werden und nach wie vor
müsse bei Grenzdurchbruchsversuchen
von der Schusswaffe rücksichtslos
Gebrauch gemacht werden.
„Die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich
angewandt haben“, seien „zu belobigen“.
Diese Anklage ist durch Beschluss des Landgerichts
Berlin vom 19. Oktober 1992
unter Eröffnung des Hauptverfahrens
zugelassen worden. Mit Beschluss vom gleichen Tage
wurde das Verfahren hinsichtlich 56
der angeklagten Fälle abgetrennt,
deren Verhandlung zurückgestellt wurde.
Die verbliebenen 12 Fälle waren Gegenstand
der am 12. November 1992
begonnenen Hauptverhandlung.
Ebenfalls am 19. Oktober 1992 erließ
die Strafkammer einen Haftbefehl
hinsichtlich der verbliebenen zwölf Fälle.
Eine zweite Anklageschrift
vom 12. November 1992
legte Honecker zur Last,
in der Zeit von 1972 bis Oktober 1989
Vertrauensmissbrauch in Tateinheit mit Untreue
zum Nachteil sozialistischen Eigentums
begangen zu haben. Es handelte sich hierbei
um Vorgänge im Zusammenhang
mit der Versorgung und Betreuung
der Waldsiedlung Wandlitz.
In diesem Zusammenhang erging am 14. Mai 1992
ein weiterer Haftbefehl.
Der von aller Welt mit Spannung erwartete Prozess
hatte nach Ansicht vieler Juristen
einen ungewissen Ausgang.
Denn nach welchen Gesetzen der Staatschef
der untergegangenen DDR
eigentlich verurteilt werden konnte, war umstritten.
Auch mussten die Politiker
der alten Bundesrepublik befürchten,
ihrem „vormaligen Bankettgesellen“
(so der DDR-Schriftsteller Hermann Kant),
den sie noch 1987 in Bonn, München
und anderen Städten mit allen protokollarischen
Ehren empfangen hatten,
im Gerichtssaal gegenübergestellt zu werden.
In seiner am 3. Dezember 1992
vor Gericht vorgetragenen Erklärung
übernahm Honecker zwar die politische Verantwortung
für die Toten an Mauer und Stacheldraht,
doch sei er „ohne juristische
oder moralische Schuld“.
Er rechtfertigte den Bau der Mauer damit,
dass aufgrund des sich zuspitzenden Kalten Krieges
die SED-Führung 1961
zu dem Schluss gekommen sei, dass anders
ein „dritter Weltkrieg mit Millionen Toten“
nicht zu verhindern gewesen sei,
und betonte die Zustimmung
der sozialistischen Führungen
sämtlicher Ostblockstaaten
zu dieser gemeinschaftlich getroffenen Entscheidung
und verwies auf die Funktionen,
die der DDR in seiner Amtszeit
im UN-Weltsicherheitsrat
trotz des Schießbefehls an der Mauer
zugestanden worden seien.
Im Weiteren führte er an, dass der Prozess gegen ihn
aus rein politischen Motiven geführt werde,
und verglich die 49 Mauertoten,
deretwegen er angeklagt war,
etwa mit der Anzahl der Opfer im von den USA
geführten Vietnamkrieg
oder der Selbstmordrate in westlichen Ländern.
Die DDR habe bewiesen, „dass Sozialismus möglich
und besser sein kann als Kapitalismus“.
Öffentliche Kritik an Verfolgungen durch die Stasi
tat er damit ab, dass auch der „Sensationsjournalismus“
in westlichen Ländern mit Denunziation arbeite
und die gleichen Konsequenzen habe.
Honecker war zu dieser Zeit bereits schwer krank.
Eine erneute Computertomographie
am 4. August 1992 bestätigte
die Moskauer Ultraschall-Untersuchung:
Im rechten Leberlappen befand sich
ein „fünf Zentimeter großer raumfordernder Prozess“,
vermutlich eine Spätmetastase des Nierenkrebses,
der Honecker im Januar 1990 in der Charité
entfernt worden war. Unter Berufung
auf diese Feststellungen stellten Honeckers Anwälte
Nicolas Becker, Friedrich Wolff und Wolfgang Ziegler
den Antrag, das Verfahren, soweit es sich
gegen Honecker richte, abzutrennen,
einzustellen und den Haftbefehl aufzuheben.
Das Verfahren sei eine Nagelprobe für den Rechtsstaat.
Ihr Mandant leide an einer unheilbaren Krankheit,
die entweder durch Ausschaltung der Leberfunktion
direkt oder durch Metastasierung
in anderen Bereichen zum Tode führe.
Seine Lebenserwartung sei geringer
als die auf mindestens zwei Jahre geschätzte
Prozessdauer. Es sei zu fragen, ob es human ist,
gegen einen Sterbenden zu verhandeln.
Den gestellten Antrag lehnte die Strafkammer
mit Beschluss vom 21. Dezember 1992 ab.
Das Landgericht führte in seiner Begründung aus,
dass kein Verfahrenshindernis bestehe.
Zwar habe sich die Einschätzung
der voraussichtlich eintretenden
Verhandlungsunfähigkeit aufgrund
der aktualisierten schriftlichen Gutachten
zeitlich verdichtet. Die Prognose des Eintritts
der Verhandlungsunfähigkeit sei jedoch
im Hinblick auf die Schwere
und Bedeutung des Tatvorwurfs
und des sich daraus ergebenden Gewichts
der verfassungsrechtlich gebotenen Pflicht
zur Strafverfolgung noch immer zu ungewiss,
als dass eine sofortige Einstellung des Verfahrens
zwingend geboten erscheine.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde
verwarf das Kammergericht durch Beschluss
vom 28. Dezember 1992.
Das Kammergericht kam jedoch zu dem Ergebnis,
aufgrund der Stellungnahmen und Gutachten
der medizinischen Sachverständigen
sei davon auszugehen, dass infolge
eines bösartigen Tumors im rechten Leberlappen
Honeckers eine Verhandlungsfähigkeit
mit hoher Wahrscheinlichkeit
nicht mehr lange bestehen werde
und Honecker mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit den Abschluss des Verfahrens
nicht überleben werde.
Das Kammergericht sah sich gleichwohl gehindert,
das Verfahren selbst einzustellen,
weil dies nach Beginn der Hauptverhandlung
nur noch vom Landgericht
durch Urteil ausgesprochen werden könne.
Dementsprechend könne es auch
den bestehenden Haftbefehl nicht aufheben,
bevor das Landgericht über das Vorliegen
eines Verfahrenshindernisses entschieden habe.
Hiergegen erhob Honecker Verfassungsbeschwerde
vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin.
Honecker führte aus, die Entscheidungen
verletzten sein Grundrecht auf Menschenwürde.
Die Menschenwürde gelte als tragendes Prinzip
der Verfassung auch gegenüber
dem staatlichen Strafvollzug
und der Strafjustiz uneingeschränkt.
Die Fortführung eines Strafverfahrens
und einer Hauptverhandlung
gegen einen Angeklagten,
von dem mit Sicherheit zu erwarten sei,
dass er vor Abschluss der Hauptverhandlung
und mithin vor einer Entscheidung
über seine Schuld oder Unschuld sterben werde,
verletze dessen Menschenwürde.
Die Menschenwürde umfasse insbesondere das Recht
eines Menschen, in Würde sterben zu dürfen.
Mit Beschluss vom 12. Januar 1993
entsprach der Verfassungsgerichtshof
der Verfassungsbeschwerde Honeckers.
Aufgrund der Feststellungen des Kammergerichts,
wonach Honecker den Abschluss des Verfahrens
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
nicht mehr erleben werde,
sei davon auszugehen,
dass das Strafverfahren seinen gesetzlichen Zweck
auf vollständige Aufklärung der
Honecker zur Last gelegten Taten
und gegebenenfalls Verurteilung und Bestrafung
nicht mehr erreichen könne.
Das Strafverfahren werde damit zum Selbstzweck,
wofür es keinen rechtfertigenden Grund gäbe.
Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls
verletze den Anspruch Honeckers
auf Achtung seiner Menschenwürde.
Der Mensch werde zum bloßen Objekt
staatlicher Maßnahmen insbesondere dann,
wenn sein Tod derart nahe sei,
dass ein Strafverfahren seinen Sinn verloren habe.
Noch am selben Tage stellte das Landgericht Berlin
das Verfahren ein und hob den Haftbefehl auf.
Den hiergegen von der Staatsanwaltschaft
und den Nebenklägern erhobenen Beschwerden
half das Landgericht nicht ab.
Der Antrag auf Erlass eines neuen Haftbefehls
wurde mit Beschluss vom 13. Januar 1993 abgelehnt.
Am 13. Januar 1993 lehnte das Landgericht Berlin
in Bezug auf die Anklageschrift
vom 12. November 1992 die Eröffnung
des Hauptverfahrens ab
und hob auch den zweiten Haftbefehl auf.
Nach insgesamt 169 Tagen wurde Honecker
aus der Untersuchungshaft entlassen,
was Proteste von Opfern
des DDR-Regimes nach sich zog.
Honecker flog unmittelbar darauf
nach Santiago de Chile zu Frau und Tochter Sonja,
die dort mit ihrem chilenischen Ehemann
Leo Yáñez und ihrem Sohn Roberto wohnte.
Die mit ihm Angeklagten wurden dagegen
am 16. September 1993 zu Freiheitsstrafen
zwischen vier und siebeneinhalb Jahren verurteilt.
Am 13. April 1993 wurde ein letzter
zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennter
und in Abwesenheit des Angeklagten
fortgesetzter Prozess gegen Honecker
vom Berliner Landgericht ebenfalls eingestellt.
Am 17. April 1993, dem 66. Geburtstag
seiner Frau Margot, rechnete Honecker
in einer Rede mit dem Westen ab
und bedauerte seine Genossen,
die noch im Gefängnis in Moabit saßen
und „dem Klassenfeind trotzten“.
Er schloss seine Rede mit den Worten:
„Sozialismus ist das Gegenteil von dem,
was wir jetzt in Deutschland haben.
Sodass ich sagen möchte, dass unsere
schönen Erinnerungen an die DDR viel aussagen
von dem Entwurf einer neuen, gerechten Gesellschaft.
Und dieser Sache wollen wir für immer treu bleiben.“
In den letzten Monaten musste Honecker
künstlich ernährt werden.
Am 29. Mai 1994 starb er im Alter von 81 Jahren
in Santiago de Chile.
Nach der Trauerfeier wurde seine Urne nicht beigesetzt.
ZEHNTER GESANG
Von 1954 bis 1962 besuchte Gysi
die Polytechnische Oberschule,
von 1962 bis 1966 die Erweiterte Oberschule
(ab 1965 Schule mit mathematischem Schwerpunkt)
in Berlin-Adlershof.
Hier erwarb er 1966 das Abitur
und legte gleichzeitig den Lehrabschluss
zum Facharbeiter für Rinderzucht ab.
Gysi absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaft
an der Humboldt-Universität zu Berlin,
das er 1970 als Diplom-Jurist beendete.
Ab 1971 war Gysi einer der wenigen
freien Rechtsanwälte in der DDR.
In dieser Funktion verteidigte er auch Systemkritiker
und Ausreisewillige,
darunter bekannte Personen wie Robert Havemann,
Rudolf Bahro, Jürgen Fuchs,
Bärbel Bohley und Ulrike Poppe.
1976 erfolgte seine Promotion zum Dr. jur.
mit der Arbeit Zur Vervollkommnung
des sozialistischen Rechtes
im Rechtsverwirklichungsprozeß.
Von 1988 bis 1989 war er Vorsitzender
des Kollegiums der Rechtsanwälte in Ost-Berlin
und gleichzeitig Vorsitzender der 15 Kollegien
der Rechtsanwälte in der DDR.
Am 12. September 1989 war er zusammen
mit dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel
in Prag, um die DDR-Flüchtlinge
in der deutschen Botschaft zur Rückkehr
in die DDR aufzufordern.
Im Herbst 1989, vor der politischen Wende in der DDR,
setzte Gysi sich als Anwalt für die Zulassung
des oppositionellen Neuen Forums ein.
Von August 2002 bis zu seiner Wiederwahl
als Abgeordneter des Bundestages im Jahre 2005
war er wieder als Rechtsanwalt tätig.
Seit 1967 war Gysi Mitglied der SED.
Als er 1989 in den Blickpunkt der Öffentlichkeit trat,
arbeitete er an einem Reisegesetz mit.
Am 4. November 1989 sprach Gysi vor 500.000 Menschen
auf der Massenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz
und forderte ein neues Wahlrecht
sowie ein Verfassungsgericht.
Seine Eloquenz und rhetorische Begabung
ließen ihn schnell zu einem der Medienstars
des Herbstes werden.
Ab dem 3. Dezember 1989 gehörte er
dem Arbeitsausschuss zur Vorbereitung
des außerordentlichen Parteitages der SED an
und war Vorsitzender eines parteiinternen
Untersuchungsausschusses.
Auf dem Sonderparteitag am 9. Dezember 1989
wurde Gysi mit 95 Prozent der Delegiertenstimmen
zum Vorsitzenden der SED gewählt.
Am 16. Dezember 1989 sprach er sich
auf dem Sonderparteitag der SED-PDS
für eine Zusammenarbeit beider deutscher Staaten
bei voller Wahrung ihrer Souveränität aus.
Im Winter 1989/90 war Gysi als Parteivorsitzender
der damaligen SED-PDS daran beteiligt,
dass die Partei nicht aufgelöst wurde
und das Parteivermögen sowie Arbeitsplätze
innerhalb der Partei erhalten blieben.
Den Parteivorsitz der PDS hatte Gysi
bis zum 31. Januar 1993 inne.
Danach wirkte er zunächst als stellvertretender
Parteivorsitzender, dann als Mitglied
im Parteivorstand weiter mit,
bis er im Januar 1997 endgültig
aus dem Parteivorstand ausschied.
Am 23. Dezember 2005 wurde er auch Mitglied
der WASG, ebenso wie Oskar Lafontaine
auch Mitglied in der Linkspartei PDS wurde.
Damit machten beide demonstrativ von der Möglichkeit
einer Doppelmitgliedschaft
in der Linkspartei und in der WASG Gebrauch.
Seit dem 16. Juni 2007 ist Gysi Mitglied
der Partei Die Linke.
Gysi ist Mitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Im Dezember 2016 wurde er zum Vorsitzenden
der Europäischen Linken gewählt.
„Die Klebekolonnen, die allerorten
durch die Lande ziehen,
um die Wahlkämfer ins rechte Licht zu rücken,
haben offensichtlich nicht nur viel zu tun,
sondern auch ein gerüttelt Maß Humor.“
Auf dem Sonderparteitag der SED
im Dezember 1989 unterstützte Gregor Gysi
den Fortbestand der SED
unter neuem Namen („SED-PDS“)
unter anderem mit dem Argument,
eine Auflösung und Neugründung
würde juristische Auseinandersetzungen
um das Parteivermögen nach sich ziehen
und sei eine ernste wirtschaftliche
Bedrohung für die Partei.
Später wurde ihm seitens der Unabhängigen
Kommission zur Überprüfung
des Vermögens der Parteien
und Massenorganisationen der DDR
vorgeworfen, er sei aktiv
an der Verschleierung des SED-
Parteienvermögens beteiligt gewesen
und habe im Putnik-Deal versucht,
mit Hilfe der KPdSU SED-Gelder
ins Ausland zu verschieben,
um sie vor dem Zugriff staatlicher Stellen zu sichern.
Der Untersuchungsausschuss
des Deutschen Bundestages 1998
zum Verbleib des SED-Parteienvermögens gab an,
dass Gysi bei seiner Befragung geschwiegen
und damit zusammen mit weiteren PDS-Funktionären
die Arbeit des Ausschusses behindert habe.
Von März bis Oktober 1990 war Gysi
Abgeordneter der ersten frei gewählten
Volkskammer der DDR,
dort Fraktionsvorsitzender der PDS.
Als solcher wurde er am 3. Oktober 1990
Mitglied des Deutschen Bundestages,
aus dem er am 1. Februar 2002 ausschied,
um das Amt des Wirtschaftssenators
in Berlin anzutreten.
Er war von 1990 bis 1998
Vorsitzender der PDS-Bundestagsgruppe,
dann bis zum 2. Oktober 2000
Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion.
Von 2001 bis 2002 war er Mitglied
des Abgeordnetenhauses von Berlin.
Am 17. Januar 2002 wurde Gysi Bürgermeister
und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen
des Landes Berlin in dem vom Regierenden
Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD)
geführten Senat.
Am 31. Juli 2002 trat er im Rahmen
der Bonusmeilen-Affäre von allen Ämtern zurück.
Für die Bundestagswahl 2005
kehrte er als Spitzenkandidat der Linkspartei zurück.
Er war Direktkandidat für den Wahlkreis 85
Treptow-Köpenick und führte die Landesliste
der Linkspartei Berlin an.
Bei der Wahl konnte er sich gegen seinen Konkurrenten
Siegfried Scheffler von der SPD durchsetzen
und zog mit 40 Prozent der abgegebenen Erststimmen
direkt in den Bundestag ein.
Gemeinsam mit Oskar Lafontaine wurde er
zum Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion gewählt.
Auch bei der Bundestagswahl 2009
trat er als Spitzenkandidat der Berliner Landesliste an.
Sein Erststimmen-Ergebnis
in seinem Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick
konnte er jedoch auf 44 Prozent verbessern
und zog somit erneut per Direktmandat
in den Bundestag ein.
Nach dem Verzicht Oskar Lafontaines
wurde Gysi am 9. Oktober 2009
mit 94 Prozent zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden
der Bundestagsfraktion der Linken bestimmt
und 2011 mit 81 Prozent im Amt bestätigt.
Bei der Bundestagswahl 2013
gelang es Gysi – wiederum Spitzenkandidat
der Berliner Landesliste –
trotz leichter Einbußen von 2,6 Prozent
sein Direktmandat mit 42 Prozent
erneut zu verteidigen.
Wie schon 2011 wies er Sahra Wagenknechts
Ambitionen auf eine Doppelspitze
in der Fraktion erfolgreich zurück
und wurde am 9. Oktober 2013
auf einer Fraktionsklausur
im brandenburgischen Bersteland erneut
zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden gewählt.
Aufgrund der regierenden Großen Koalition
war er damit Oppositionsführer.
Am 7. Juni 2015 gab er bekannt,
dass er nicht erneut für den Fraktionsvorsitz
der Linken kandidieren werde.
Entsprechend schied er am 12. Oktober 2015
aus beiden Ämtern aus.
Seine Nachfolge im Fraktionsvorsitz
und damit auch in der Oppositionsführung
wurden Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht.
Im Januar 2012 wurde bekannt, dass Gregor Gysi
als einer von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken
unter Beobachtung durch das Bundesamt
für Verfassungsschutz steht.
Nachdem diese Überwachung
Anfang 2014 eingestellt worden war,
stellte das Verwaltungsgericht Köln
in einem Anerkenntnisurteil
im September 2014 fest,
dass die Personenakte Gysis zu vernichten sei.
Laut Abschlussbericht des Immunitätsausschusses
des Deutschen Bundestages soll Gysi
zwischen 1975 und 1986 für das Ministerium
für Staatssicherheit der DDR
unter verschiedenen Decknamen,
dabei hauptsächlich als „IM Notar“
gearbeitet haben, nachdem in einer früheren Version
des Abschlussberichtes noch davon die Rede war,
dass ein solcher Nachweis aufgrund
der vorhandenen Unterlagen nicht erfolgen kann.
Im Abschlussbericht heißt es unter anderem,
Gysi habe „seine herausgehobene berufliche Stellung
als einer der wenigen Rechtsanwälte
in der DDR genutzt, um als Anwalt
auch international bekannter Oppositioneller
die politische Ordnung der DDR
vor seinen Mandanten zu schützen.
Um dieses Ziel zu erreichen,
hat er sich in die Strategien des MfS einbinden lassen,
selbst an der operativen Bearbeitung
von Oppositionellen teilgenommen
und wichtige Informationen an das MfS
weitergegeben. Auf diese Erkenntnisse
war der Staatssicherheitsdienst
zur Vorbereitung seiner Zersetzungsstrategien
dringend angewiesen.
Das Ziel dieser Tätigkeit unter Einbindung
von Dr. Gysi war die möglichst wirksame
Unterdrückung der demokratischen
Opposition in der DDR.“
Die Feststellungen des Immunitätsausschusses
hatten aber keine Auswirkungen auf Gysis Arbeit
als Abgeordneter, der im Abschlussbericht
selbst der Beschuldigung widersprach
und auf „wesentliche Mängel und Fehler“
im Verfahren hinwies. Die PDS und die FDP
stimmten dem Papier nicht zu.
Gysi legte erneut Klage gegen die Feststellung ein.
Er bekannte sich zur Kooperation
mit der Staatsanwaltschaft
und dem Zentralkomitee der SED
„im Interesse und mit Wissen seiner Klienten“
und ging mehrmals erfolgreich,
gerichtlich gegen die Verbreitung der Behauptung,
er wäre IM Gregor / IM Notar gewesen, vor.
1998 untersagte das Landgericht Hamburg
dem Magazin Der Spiegel, weiterhin zu behaupten,
Gregor Gysi habe für die Stasi-Spionageabteilung
gearbeitet und dort den Decknamen
IM Notar geführt, weil der Spiegel
seine Behauptungen nicht habe beweisen können.
Nachdem das ZDF am 27. Mai 2008
ein Interview mit Marianne Birthler ausgestrahlt hatte,
in dem sie Gysi eine Stasi-Tätigkeit vorwarf,
ging Gysi mit einem Unterlassungsbegehren
gegen den Sender vor.
Die Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen,
Marianne Birthler, erklärte,
es gäbe in ihrem Haus keine Zweifel daran,
dass der IM nach Aktenlage
„nur Gregor Gysi gewesen sein“ könne.
Der ARD sagte sie, es gebe Erkenntnisse,
dass Gysi „wissentlich und willentlich“
die Stasi unterrichtet habe.
Die erfolglose Klage richtete sich ferner
gegen die Freigabe von Protokollen,
ausweislich derer DDR-Staatschef Erich Honecker
Gysi über dessen Vater ausrichten ließ,
dieser solle im Rahmen der „juristisch konsequenten
Verteidigung“ Havemanns als dessen Rechtsanwalt
„ein Vertrauensverhältnis zu Havemann herstellen
mit dem Ziel, dass dieser seine
Außenpropaganda einstellt“.
Dem liegt ein Tonbandbericht in Ich-Form
über ein Gespräch bei, das Gysi 1979
mit Havemann führte.
(„Ich schlug ihm noch einmal vor,
jegliche Veröffentlichungen im Westen zu unterlassen
und sich allein auf die DDR zu beschränken.“)
Die zunächst mit seiner anwaltlichen Schweigepflicht
begründete Berufung zog Gysi später zurück.
Gysi bestreitet nach wie vor,
als IM tätig gewesen zu sein:
Er sei erstmals 1980 von der Stasi
wegen der Möglichkeit einer inoffiziellen Mitarbeit
überprüft und 1986 abschließend
„zur Aufklärung und Bekämpfung
politischer Untergrundtätigkeit
nicht geeignet“ befunden worden.
„Im September 1980 legte die Stasi einen Vorlauf an,
um zu prüfen, ob ich als IM infrage käme.
Wozu einen solchen Vorlauf im Jahr 1980,
wenn ich angeblich 1979 bereits IM war?“
Er habe „erhebliche Verbesserungen
für Havemann wie die Aufhebung des Hausarrestes
oder die Verhinderung weiterer Anklagen erreicht“.
Havemanns Sohn Florian hat Gysi
in der Angelegenheit ausdrücklich verteidigt.
Am 28. Mai 2008 erklärte er in einem Interview:
„Unabhängig von der Frage, ob Herr Gysi IM war,
was ich nicht beurteilen kann,
hat er im Sinne unseres Vaters gehandelt.“
Hingegen stellt Havemanns Frau Katja
anhand der Stasi-Unterlagen Gysis Rolle
in ein anderes Licht – und spricht dabei
auch über ihre Gewissheit, dass er sich eindeutig
hinter IM Gregor und IM Notar verbirgt.
Gysi hinterfragte die Glaubwürdigkeit der Akten:
Die Bundesbeauftragte habe in einem anderen Fall erklärt,
„dass sie die Diskrepanzen zwischen dem Akteninhalt
und tatsächlichen Begebenheiten nicht untersuchen dürfe.
Die Behörde sei auch nicht befugt,
Unterlagen zu bewerten und auch nicht,
Wahrheitsfeststellungen zu treffen.“
Am 28. Mai 2008 befasste sich der Bundestag
auf Verlangen von CDU/CSU und SPD
in der Aktuellen Stunde mit dem „Bericht
aus den Unterlagen der Bundesbeauftragten
für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler,
über vertrauliche Gespräche,
die Gregor Gysi 1979/1980
als DDR-Rechtsanwalt mit Mandanten geführt hat“.
In der Debatte forderten Abgeordnete
der CDU, SPD, Grünen und FDP
sowohl Konsequenzen in Form einer Entschuldigung
bei den Opfern als auch den Ämterverzicht Gysis.
Der Vorsitzende der Linksfraktion, Oskar Lafontaine,
forderte als Konsequenz aus den Äußerungen
von Marianne Birthler deren Entlassung.
Birthler bekräftigte dagegen,
dass die Aktenlage zweifelsfrei zeige,
dass Gysi wissentlich und willentlich
Informationen an die Stasi geliefert habe.
Dies sei gemäß Stasi-Unterlagengesetz entscheidend,
als Stasi-Spitzel zu gelten, „unabhängig davon,
ob eine Verpflichtungserklärung existiere oder nicht.“
Wegen neuer Hinweise hat die Staatsanwaltschaft
Hamburg ihre Ermittlungen gegen Gysi ausgeweitet.
Ermittelt wird wegen einer möglicherweise falschen
eidesstattlichen Versicherung.
Gysi hatte erklärt, „zu keinem Zeitpunkt
über Mandanten oder sonst jemanden
wissentlich und willentlich
an die Staatssicherheit berichtet zu haben“.
Im Wahlkampf 2013 behauptete Gysi,
in Deutschland gelte noch immer das Besatzungsstatut.
So forderte Gysi im Interview mit dem Deutschlandfunk
ein Ende der Besatzung Deutschlands
und die Aufhebung des Besatzungsstatuts,
damit Deutschland endlich als Land
souverän werden könne.
Im Jahr 2015 antwortete er auf die Frage,
ob Deutschland noch besetzt sei,
mit „nein“ und äußerte, dass die Bundesrepublik
Deutschland ein souveräner Staat sei,
sich aber nicht so benähme;
nahm in diesen Zusammenhängen
aber nicht zum Besatzungsstatut Stellung.
Gysi bezeichnet sich als ungläubig und ist konfessionslos.
ELFTER GESANG
Sahra Wagenknecht ist die Tochter
einer Deutschen und eines Iraners,
der als West-Berliner Student
ihre in der DDR lebende Mutter kennenlernte.
Ihr Vater gilt seit dem Ablauf
seiner Aufenthaltsgenehmigung
im Jahr 1972 als verschollen.
Als sie zum ersten Mal Bundestagsabgeordnete wurde,
änderte sie die amtliche Schreibung
ihres Vornamens entsprechend
der persischen Schreibweise ab,
wie es der ursprünglichen Namensgebung
der Eltern entsprach.
Ihre Mutter war nach Wagenknechts Angaben
gelernte Kunsthändlerin und arbeitete
für den staatlichen Kunsthandel.
Sahra wuchs zunächst bei ihren Großeltern
in einem Dorf bei Jena auf;
mit Schulbeginn zog sie zu ihrer Mutter
nach Ost-Berlin. Während ihrer Schulzeit
wurde sie Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ)
und schloss 1988 die Erweiterte Oberschule
„Albert Einstein“ in Berlin-Marzahn
mit dem Abitur ab.
Die in der DDR übliche militärische Ausbildung
für Schüler empfand sie als extrem belastend:
Sie konnte nichts mehr essen,
was ihr von den Behörden
als politischer Hungerstreik ausgelegt wurde.
Als repressive Reaktion darauf durfte sie
in der DDR nicht studieren.
Als Begründung wurde genannt,
sie sei „nicht genügend aufgeschlossen fürs Kollektiv“.
Ihr wurde eine Arbeitsstelle
als Sekretärin zugewiesen.
Diese kündigte sie allerdings nach drei Monaten,
was für DDR-Verhältnisse äußerst ungewöhnlich war.
Sie erhielt fortan keinerlei staatliche
Unterstützung mehr und bestritt ihren Lebensunterhalt
mit dem Erteilen von Nachhilfestunden.
Im Frühsommer 1989 trat Wagenknecht der SED bei,
nach eigenen Angaben,
um den in der Sackgasse steckenden Sozialismus
umzugestalten und Opportunisten entgegenzutreten.
Nach der Wende studierte sie
ab dem Sommersemester 1990 Philosophie
und Neuere Deutsche Literatur
an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
und der Humboldt-Universität zu Berlin.
Ihr Studium in Berlin brach sie ab,
da sie „an der Ostberliner Humboldt-Universität
kein Verständnis mehr für ihr Forschungsziel fand“.
Danach immatrikulierte sie sich
an der niederländischen Reichsuniversität Groningen
für den Studiengang Philosophie.
Nach eigenen Angaben hatte sie zuvor alle Scheine
bis auf die Abschlussarbeit in Berlin gemacht
und erwarb im September 1996 in Groningen
den akademischen Grad Magistra Artium
mit einer Arbeit über die Hegelrezeption
des jungen Marx. Diese Untersuchung
wurde 1997 als Buch veröffentlicht.
Nach eigenen Angaben begann sie 2005
ihre Dissertation zum Thema
„Die Grenzen der Wahlfreiheit.
Sparentscheidungen und Grundbedürfnisse
in entwickelten Ländern“
im Fach Volkswirtschaftslehre.
Im August 2012 reichte sie ihre Arbeit
an der Technischen Universität Chemnitz
beim Professor für Mikroökonomie Helmedag ein,
der unter anderem auch Vertrauensdozent
der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist.
Zwei Monate später bestand sie ihre mündliche Prüfung
zum Dr. rer. pol.
mit der Gesamtbewertung magna cum laude.
Im Oktober 2013 veröffentlichte
der Campus-Verlag ihre Doktorarbeit
über das Verhältnis von Einkommen und Rücklagen.
Von August 2012 bis August 2014 verfasste sie
in der Tageszeitung Neues Deutschland
regelmäßig Artikel in der Kolumne
Der Krisenstab.
Ab 1991 war Wagenknecht Mitglied
des Parteivorstandes der PDS.
Zwischen 1995 und 2000 jedoch musste sie
für fünf Jahre aus dem Vorstand ausscheiden,
weil Gysi sie für so untragbar hielt,
dass er mit seinem Rückzug gedroht hatte.
Von 1991 bis 2010 war sie Mitglied der Leitung
der vom Bundesamt für Verfassungsschutz
als linksextremistisch eingestuften
Kommunistischen Plattform (KPF),
einem Zusammenschluss orthodox-kommunistisch
orientierter Mitglieder und Sympathisanten
innerhalb der Partei und blieb dies auch
nach der Verschmelzung von WASG und PDS.
Die von Wagenknecht als Sprecherin der KPF
öffentlich vertretene „positive Haltung
zum Stalinismusmodell“
bewertete der Parteivorstand als unvereinbar
mit den Positionen der PDS.
Wagenknecht war das einzige Vorstandsmitglied,
das der Vorstandserklärung zum Mauerbau
die Zustimmung versagte,
weil die überfällige Mauer endlich
das lästige Einwirken des Klassenfeindes beendet habe.
Noch im Mai 2008 erklärte sie im Spiegel,
dass sie den Begriff Diktatur für die DDR
(die sie zuvor als „das friedfertigste
und menschenfreundlichste Gemeinwesen,
das sich die Deutschen im Gesamt
ihrer Geschichte bisher geschaffen haben“
bezeichnet hatte) für unangemessen halte.
2000 wurde sie erneut in den Parteivorstand
der PDS gewählt. Im März 2006
gehörte sie zu den Initiatoren
der Antikapitalistischen Linken,
einer gemeinsamen Gruppierung
aus Mitgliedern der WASG und Linkspartei.
Seit Juni 2007 ist Wagenknecht Mitglied
des Parteivorstandes der Partei Die Linke
und seit Oktober 2007 Mitglied
der Programmkommission.
Ihren innerparteilichen Vorstoß,
eine Kandidatur für den Vize-Parteivorsitz der Linken
beim ersten Parteitag der fusionierten Partei
im Mai 2008 zu erwägen,
beendete sie nach der Ablehnung
durch den Parteivorsitzenden Lothar Bisky
sowie durch den Fraktionsvorsitzenden der Linken
im Deutschen Bundestag Gregor Gysi
und erklärte in einer Pressemitteilung,
nicht als stellvertretende Vorsitzende zu kandidieren.
Sie wurde auf dem Parteitag mit 70 Prozent der Stimmen
erneut in den Parteivorstand gewählt.
Auf Vorschlag Gysis und des Parteivorstands
wurde Wagenknecht auf dem Bundesparteitag der Linken
Anfang Mai 2010 mit 75 Prozent der Stimmen
zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt.
Am 8. November 2011 wurde sie
mit 62 Prozent der Stimmen
zur 1. Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt.
Zur Bundestagswahl 1998 trat Wagenknecht
in Dortmund als Direktkandidatin der PDS an.
Sie errang in ihrem Wahlkreis 3,25 Prozent
der Erst- und 2,2 Prozent der Zweitstimmen.
Bei der Europawahl in Deutschland 2004
gelang Wagenknecht der Einzug
ins Europaparlament. Vorausgegangen
war eine parteiinterne Kampfabstimmung.
Im Juli 2009 schied sie
aus dem Europaparlament aus.
Bei der Bundestagswahl 2009
kandidierte Wagenknecht für das Direktmandat
im Wahlkreis Düsseldorf-Süd.
Am 18. März 2009 wurde sie dafür
vom Kreisverband der Linken in Düsseldorf nominiert.
Wagenknecht wurde vom Landesparteitag
auf Platz 5 der Landesliste
in Nordrhein-Westfalen gewählt.
Sie erhielt am 27. September 2009
9,7 Prozent der Erststimmen.
Über die Landesliste zog sie
in den Bundestag ein.
Wagenknecht ist seit 2011 eine von zwei
ersten Stellvertreterinnen des Vorsitzenden
der Bundestagsfraktion.
Im Januar 2012 wurde bekannt,
dass Sahra Wagenknecht als eine
von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken
unter Beobachtung durch das Bundesamt
für Verfassungsschutz stehe.
Am 6. März 2015 teilte sie
in einer persönlichen Erklärung mit,
im Herbst 2015 nicht zur Wahl für den Posten
der Fraktionsvorsitzenden anzutreten.
Nachdem der amtierende Fraktionsvorsitzende
Gregor Gysi am 7. Juni 2015
auf dem Bundesparteitag der Linken
in Bielefeld seinen Rückzug von diesem Amt
zum Herbst des Jahres angekündigt hatte,
erklärte sich Wagenknecht
wenige Tage später doch bereit,
gemeinsam mit Dietmar Bartsch
in einer Doppelspitze Gysis
Nachfolge antreten zu wollen.
Am 13. Oktober 2015 lösten Wagenknecht
und Bartsch Gysi im Fraktionsvorsitz ab
und fungieren seitdem gemeinsam
als Oppositionsführer im 18. Deutschen Bundestag.
Wagenknecht zeigt eine Sympathie
gegenüber der Wirtschaftspolitik
der Staaten Kuba und Venezuela.
Über eine Presseerklärung ließ sie mitteilen,
„dass die andauernde Existenz
des kubanischen Systems
einen Hoffnungsschimmer für diejenigen
in der sogenannten Dritten Welt bedeutet,
die die Verlierer einer markt- und profitorientierten
globalisierten Welt sind“.
Ebenso verteidigte sie die vom venezolanischen
Präsidenten Hugo Chávez beschlossene
Verstaatlichung der Ölförderanlagen
des US-Konzerns ExxonMobil.
Anfang Juni 2015 unterzeichnete Wagenknecht
zusammen mit 150 weiteren Prominenten
aus Kultur und Politik einen offenen Brief
an die Bundeskanzlerin,
in dem die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Lebenspartnerschaften gegenüber
der zweigeschlechtlichen Ehe gefordert wurde.
Wagenknecht wies angesichts der Flüchtlingswelle
im Januar 2016 auf „Kapazitätsgrenzen“
und „Grenzen der Aufnahmebereitschaft
in der Bevölkerung“ hin, wofür sie in ihrer Partei
und darüber hinaus scharf kritisiert wurde.
Weiter kritisierte sie die Flüchtlingspolitik
der Bundeskanzlerin Angela Merkel
als „planlos“, sie habe in Deutschland
zu einem „völligen Staatsversagen“ geführt,
„auf sozialem Gebiet ebenso
wie auf dem der inneren Sicherheit“.
Sie forderte eine stärkere Unterstützung
des Bundes für die Länder und Kommunen,
die den Großteil der Kosten
für Flüchtlinge selbst tragen würden
und an anderer Stelle kürzen müssten.
Wagenknecht warnte davor, „die Armen
gegen die Ärmsten auszuspielen“
und nannte als Beispiel
drohende Nahrungsengpässe
bei der offenen Tafel für Arme.
Wagenknecht bezeichnete
die Fluchtursachenbekämpfung
der Bundesregierung als „unglaubwürdig“,
da Deutschland Waffen in Spannungsgebiete exportiere
und Drohneneinsätze der USA
„mit logistischer Unterstützung aus Deutschland“
geflogen würden. Die Außenpolitik
von Kanzlerin Angela Merkel (CDU)
in Form einer Unterstützung der „Ölkriege
der USA und ihrer Verbündeten“
seien der Grund für die Existenz und Stärke
des Islamischen Staates.
Merkel trage deshalb und durch ihre Grenzöffnung
für Flüchtlinge sowie den Sparkurs bei der Polizei
eine „Mitverantwortung“
für den Anschlag in Berlin.
Beobachter attestierten ihr daraufhin
zum wiederholten Male eine ideologische Nähe
zur „Alternative für Deutschland“.
1992 lobte Wagenknecht in ihrem Artikel
„Marxismus und Opportunismus“
Stalins Herrschaft in der Sowjetunion
als „die Entwicklung eines um Jahrhunderte
zurückgebliebenen Landes
in eine moderne Großmacht
während eines weltgeschichtlich einzigartig
kurzen Zeitraums; damit die Überwindung
von Elend, Hunger, Analphabetismus,
halb feudalen Abhängigkeiten
und schärfster kapitalistischer Ausbeutung“.
Ihre Haltung zum Stalinismus
wurde innerhalb der Linkspartei
teilweise als zu unkritisch empfunden
und unter anderem von Gregor Gysi
und dem Bundestagsabgeordneten
Michael Leutert kritisiert. Letzterer
sprach sich 2008 gegen ihre Kandidatur
als stellvertretende Parteichefin aus,
weil sie sich zu wenig vom Stalinismus distanziere.
Gemeinsam mit anderen Mitgliedern
der Kommunistischen Plattform
sprach sich Wagenknecht 2008
in einer Stellungnahme gegen
ein allgemeines Gedenken
in Form eines Gedenksteins
auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde
mit der Aufschrift „Den Opfern des Stalinismus“ aus,
da sich unter diesen auch Faschisten befunden hätten,
drückte aber ihr Mitgefühl
mit den unschuldigen Toten aus.
In einem Interview aus dem Jahre 2009
setzt sich Wagenknecht kritisch
mit dem „repressiven politischen System
der DDR“ auseinander, lehnt aber
eine Charakterisierung der DDR
als Unrechtsstaat ab,
weil dies darauf hinauslaufe,
die DDR auf eine Ebene
mit der NS-Diktatur zu stellen.
Die DDR sei kein demokratischer Staat gewesen,
jedoch sei auch im heutigen kapitalistischen System
keine echte Demokratie möglich.
Als der israelische Staatspräsident Schimon Peres
am Tag des Gedenkens an die Opfer
des Nationalsozialismus 2010
als Gast im Deutschen Bundestag sprach,
erhoben sich die Abgeordneten
Christine Buchholz, Sevim Dağdelen
und Wagenknecht zum Schlussapplaus
nicht von ihren Sitzen.
Sie wurden deswegen öffentlich
und parteiintern kritisiert,
so erklärte der Berliner Landeschef der Linkspartei,
Klaus Lederer, das Verhalten der Abgeordneten
für „inakzeptabel“, Michael Leutert erklärte sie
für „nicht wählbar“.
DIE BOLSCHEWIKI
ERSTER GESANG
Lenin stammte aus einer sozial
und kulturell liberalen Familie,
die einst in den erblichen Adelsstand erhoben wurde.
Seine deutsch erzogene Mutter
wuchs in einem Dorf auf
und erhielt eine häusliche Bildung.
Als Autodidaktin erlernte sie mehrere Fremdsprachen.
Sie heiratete den Mathematik- und Physiklehrer Uljanow.
Obwohl sie im selben Jahr als Externe
das Lehrerinnenexamen ablegte,
worauf sie sich selbstständig vorbereitet hatte,
widmete sie sich ganz ihrer Familie.
Lenins Vater hatte die Kasaner Universität absolviert.
Er gab seine langjährige Lehrtätigkeit
an höheren Schulen in Pensa und Nischni Nowgorod auf
und wurde zunächst Inspektor, später Direktor
von Volksschuleinrichtungen in Simbirsk.
Er wurde dann in den erblichen Adelsstand erhoben.
In fast zwanzig Jahren seiner Tätigkeit
stieg die Zahl der Schulen
im Gouvernement Simbirsk bedeutend.
Außerdem erzog er viele „fortschrittliche Lehrer“,
die „Uljanows“ genannt wurden.
Die Eltern Lenins lebten in Simbirsk.
Die Familie Uljanow hatte dabei
eine Geschichte des sozialen Aufstiegs hinter sich.
Lenins Großvater väterlicherseits
war ein aus der Leibeigenschaft befreiter Bauer,
der sich als Schneider niederließ.
Nach zaristischer Rangordnung
war Lenin ein Adliger,
auch wenn erst der Vater
in den Adelsstand erhoben worden war
und die Familie nicht recht
an die höhere Gesellschaft anschließen konnte.
Sein Vater verstarb unerwartet
an einer Hirnblutung.
Lenins älterer Bruder Alexander, Student
an der Mathematisch-Physikalischen Fakultät
an der Universität Sankt Petersburg,
hatte sich einer revolutionären Gruppe angeschlossen,
die den Zaren Alexander III. ermorden wollte.
Er wurde hingerichtet.
Die Familie wurde anschließend
fast vollständig gemieden, lebte aber trotz
des Todes des Vaters und der Schande
der Hinrichtung des Sohnes
in materiellem Wohlstand.
Neben einer stattlichen Rente
hatte sie Einkünfte aus dem Besitz eines Landguts,
das noch zu Lebzeiten des Vaters
aus der Mitgift der Mutter erworben worden war.
Zusammen mit dem frühen Tod des Vaters
prägte die Hinrichtung seines Bruders
den jungen Lenin entscheidend.
Sein Bruder wurde drei Tage nach dem Beginn
der Abschlussprüfungen Lenins
an der Schule gehängt.
Lenin bestand diese Prüfung trotzdem.
Er studierte die Bücher, die Alexander hinterlassen hatte,
vor allem die des verbannten Revolutionärs
Tschernyschewski, der für eine klassenlose
Gesellschaft eintrat. Lenin hatte viele
intellektuelle Interessen wie Literatur
und Altphilologie und war auch
ein geschickter Schachspieler.
Lenin konnte nicht in Sankt Petersburg studieren
und schrieb sich an der Universität Kasan
für das Studium der Jurisprudenz ein.
Schon in seinem ersten Jahr beteiligte Lenin sich
an einem Studentenprotest
und wurde zusammen mit anderen Studenten
von der Universität verwiesen.
Lenin nahm bei diesem Treffen
keine führende Rolle ein.
Seine Bestrafung durch die Behörden war vor allem
durch die Geschichte seines Bruders motiviert.
Der Vater des späteren Ministerpräsidenten Kerenski
der Provisorischen Regierung,
der Lenin am Gymnasium unterrichtet hatte,
setzte sich vergeblich
für die Aufhebung des Urteils ein.
Bei Samara bezog die Familie ein Gut,
das sie mit ihrem Kapital erworben hatte;
bald darauf aber verpachtete sie es.
Lenin erwies sich als ungeeignet zum Gutsverwalter
und gab sich auch keine Mühe.
Entgegen einer später von den Kommunisten
verbreiteten Behauptung hat er keine Kontakte
zu Bauernfamilien gehabt, sein Wissen
über das Bauerntum stammte vielmehr
nur aus Büchern.
Diese äußerten sich negativ
über die russischen Bauern,
denen sie Trunksucht, Gewalt
und Fremdenfeindlichkeit unterstellten.
Lenin lebte vom Vermögen der Familie,
unternahm lange Wanderungen,
gab den jüngeren Geschwistern Nachhilfe,
las politische Literatur
und setzte sein Jurastudium fort.
Er durfte die Prüfungen abschließen,
was ihm auch gelang.
Die spätere kommunistische Propaganda verschwieg,
dass auch Kirchenrecht
zu seinen Fächern gehörte.
Dann nahm Lenin eine Tätigkeit
als Advokatengehilfe auf.
Er betätigte sich auch in einigen wenigen Fällen
als Advokat und nahm zwei Fälle an,
einmal gegen Bauern,
die ihr Vieh unberechtigterweise
auf dem Anwesen seiner Familie hatten weiden lassen,
ein anderes Mal klagte er gegen einen
ehemaligen französischen Adligen,
der ihn bei einem Besuch in Paris
mit seinem Auto angefahren hatte.
Lenin beschäftigte sich bereits in jungen Jahren
mit verschiedenen politischen Theorien.
Einerseits setzte er sich kritisch mit den russischen
„Bauernsozialisten“ (Narodniki),
andererseits mit den Thesen von Karl Marx,
die er bereits theoretisch interpretierte, auseinander.
Lenin hielt Russland für wirtschaftlich
und sozial fortgeschrittener
als es tatsächlich war,
sodass er an eine baldige proletarische
Revolution glaubte. Andere Revolutionäre
fanden, Lenins Marxismus setze zu sehr
auf die terroristischen Aspekte der Narodniki,
zum Beispiel wiederholte Lenin immer wieder
den Satz „das ganze Haus Romanow“
müsse getötet werden.
Lenin verurteilte die Hilfsaktionen
der gebildeten Schicht
anlässlich der Hungersnot in der Provinz Samara,
in der er als Advokat tätig war.
Er wertete die Hungersnot als Schritt
in Richtung Sozialismus, da sie den Glauben
an den allmächtigen Gott
und den gottbegnadeten Zaren zerstöre.
Vom Pächter seines eigenen Landgutes
forderte er die volle vereinbarte Summe,
der wiederum die Bauern
trotz der Hungersnot voll zahlen ließ.
Lenin zog nach Sankt Petersburg.
Dort studierte er die Theorien von Plechanow,
dem er später in der Schweiz auch selber begegnete.
Nach einer mehrmonatigen Europareise
durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz
gründete er den „Bund für die Befreiung
der Arbeiterklasse“. Sobald er im Herbst
nach Russland zurückgekommen war, nahm er
seine demagogische Tätigkeit wieder auf.
Während der Vorbereitung einer illegalen Zeitung
wurde er verhaftet
(die Anklage lautete: Demagogie).
Im Untersuchungsgefängnis richtete er sich
eine Bibliothek in seinem „Studierzimmer“ ein.
Anschließend wurde er für drei Jahre
nach Südsibirien verbannt,
wo er unter Polizeiaufsicht leben musste.
In Ufa traf er Nadeschda Krupskaja,
die er in der Verbannung heiratete.
Sofort nach der Rückkehr aus der Verbannung
suchte Lenin nach einer Möglichkeit,
eine von der Zensur unabhängige Zeitung
herauszubringen. In Russland
war das nicht möglich, und so ging er
für über fünf Jahre ins Ausland.
Nach einem kürzeren Aufenthalt in Genf,
wo er sich mit Plechanow
über die Herausgabe der Zeitung „Der Funke“
einigte, ließ sich Lenin in München illegal nieder.
Dort erschien die von ihm mit herausgegebene
Zeitung „Morgenröte“.
Er veröffentlichte in der bayerischen
Landeshauptstadt die programmatische Schrift
„Was tun?“ unter dem Decknamen „Lenin“.
Sie machte ihn unter den Revolutionären bekannt,
polarisierte aber auch stark.
Denn darin entwarf er das Konzept
einer geheim agierenden, disziplinierten
und zentralisierten Klassenkampf-Partei,
bestehend aus Berufsrevolutionären.
Die Partei sollte in ideologischen
und strategischen Fragen geeint auftreten
und die ungebildeten Masse der Bevölkerung
auf dem Weg zur Revolution anführen.
Die Notwendigkeit einer solchen konspirativen
Organisation begründete Lenin damit,
dass im Autokratischen Zarenreich
keine andere Partei erfolgreich
einen Umsturz einleiten könne.
Lenin wandte sich in seiner Schrift explizit
gegen die liberale Linke,
die eine Veränderung durch demokratische
Organisation und Gewerkschaften
erwirken wollte. Die Idee der Partei
als straff geführte Geheimorganisation
war bei den Organisationsbereiten
unter Russlands Linken nicht strittig,
und Lenin bemühte sich mit Zitaten
von Marx und Engels, die Forderungen
marxistisch zu begründen.
Manchen russischen Sozialdemokraten empörte es,
dass Lenin dabei terroristische Bauernführer
und den Massenterror lobte.
Lenins Betonung der Konspiration
musste als Aufruf zu Verschwörungen
interpretiert werden. Später wurde Lenins
Organisationsmodell als „demokratischer“
Zentralismus bekannt.
Seit München verwendete er
den Kampfnamen „Lenin“.
Man sagt, dass er sich dabei
auf den sibirischen Strom Lena bezog.
Lenin bedeutet russisch:
„Der vom Fluss Lena Stammende“.
Nach Sibirien verbannt zu werden,
bedeutete damals praktisch,
dass man im Heiligen Russischen Zarenreich
als Oppositioneller galt.
Andere sagen, dass er mehr
an sein Kindermädchen Lena dachte,
und dass er bereits als kleiner Junge
auf die Frage, „wessen Kind er sei“,
zu antworten pflegte: „Lenin!“,
zu deutsch: „Lenas!“
Lenin hatte mehrere Decknamen,
beispielsweise lebte er im Münchner Stadtteil Schwabing
als Jordan Jordanow und andernorts
in München unter dem Namen Mayer.
Lenin betrieb den Aufbau
einer streng organisierten Kaderpartei
aus Berufsrevolutionären und wurde
wegen seiner vom russischen revolutionären
Terrorismus inspirierten Rigorosität
und wegen seiner radikalen theoretischen Positionen
der aufsehenerregendste linke Sozialdemokrat.
Die Ansichten und Absichten Lenins
führten auf dem zweiten Parteitag in London
zur faktischen Spaltung der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Russlands.
Lenin hatte mit erfolgreicher List seine Anhänger
in das Organisationskomitee platziert.
Unterstützt von Plechanow
und durch den Auszug der reformorientierten
Ökonomisten und der jüdischen Delegierten
vom Bund gelang es Lenin,
seine Hauptforderungen in das Parteiprogramm
und das Statut zu bringen,
unter anderem die Betonung der Diktatur
des Proletariats. Lenin nannte aufgrund
der Abstimmungsmehrheit seine Gruppe
Bolschewiki (Mehrheit)
und die Gemäßigten Menschewiki (Minderheit).
1905 brach eine russische Revolution aus,
während das Land sich im Krieg mit Japan befand.
Für Lenin stand nicht der innenpolitische Kampf
gegen die Regierung, sondern der Kampf
gegen die Menschewiki im Vordergrund,
während er außenpolitisch
für Japan Partei ergriff.
So wird er auch später im Ersten Weltkrieg
die Feinde des Zaristischen Russlands unterstützen.
Diese Haltungen Lenins
haben bei anderen Parteimitgliedern
nicht viel Verständnis gefunden;
einige von Lenins engsten Mitarbeitern
wollten einen dritten Parteitag vorbereiten
und dort die Versöhnung der Bolschewiki
mit den Menschewiki bewirken.
Einen schroffen Brief an die Bolschewiki,
der Lenin vollkommen isoliert hätte,
schwächte er in einem späteren Entwurf ab.
Trotzdem haben sich die Bolschewiki
über Lenins Realitätsferne gewundert.
In dieser Zeit nahm Lenin
auch den Sowjet-Gedanken auf,
während viele Bolschewiki
einer Verschwörung im Geheimen den Vorzug gaben.
Nach dem Moskauer Aufstandsversuch der Bolschewiki
im Dezember 1905 war Lenin skeptisch,
was Aufstände anging,
die Partei solle sich besser
in das Parlament wählen lassen.
Er befürwortete damals noch die Zusammenarbeit
mit den Menschewiki.
Dann musste Lenin vor der russischen Geheimpolizei
nach Finnland fliehen, nach Helsinki,
ein Jahr später zog er nach Genf.
Im Laufe der Jahre wurden die Unterschiede
zwischen den beiden Lagern immer größer,
so dass bei der sechsten Gesamtrussischen Parteikonferenz
in Prag die Menschewiki ausgeschlossen wurden.
Sie bildeten daraufhin eine eigene Partei.
Erst nach der Oktoberrevolution nannten die Bolschewisten
ihre Partei in Kommunistische Partei Russlands um.
Die Parteispaltung war von der zaristischen
Geheimpolizei gefördert worden;
Lenins enger Mitarbeiter Roman Malinowski
war ihr Agent.
Mitglieder der Bolschewiki verdächtigten
Malinowski als Spion,
nachdem einige Parteimitglieder verhaftet worden waren.
Lenin tat diese Vorwürfe im Rahmen
einer parteiinternen Untersuchung mit Verweis
auf dessen Herkunft aus einer Arbeiterfamilie ab.
Lenin gab nun die „Prawda“ heraus.
In der Folgezeit widmete er sich im Schweizer Exil
wieder marxistischen Studien,
es entstand vor allem seine Schrift
„Der Imperialismus als höchstes Stadium
des Kapitalismus“, die die Grundlage
der marxistischen Theorie des Imperialismus
sowie der darauf basierenden Theorie
vom staatsmonopolistischen Kapitalismus bildete.
Dieses Werk vollendete er in Zürich,
wohin er umziehen durfte,
nachdem er ein entsprechendes Ersuchen
mit dem Wunsch nach Nutzung der dortigen
Zentralbibliothek begründet hatte.
Im August 1914 begann der Erste Weltkrieg.
Lenin hatte über einen österreichisch-russischen
Krieg spekuliert, ihn aber in einem Brief
an Maxim Gorki für unwahrscheinlich gehalten:
„Ein Krieg zwischen Österreich und Russland
wäre für die Revolution in ganz Osteuropa sehr nützlich,
aber es ist kaum anzunehmen, dass uns Franz Joseph
und unser Freund Nikolaus dieses Vergnügen bereiten.“
Die Bolschewiki waren international
die einzige sozialdemokratische Parteiorganisation,
die von Anfang an gegen die Kriegspolitik
der eigenen Regierung mobilisierte.
Dennoch gelang es der Partei nicht,
sich einen nennenswerten Rückhalt
in der Bevölkerung zu verschaffen.
Ihre Mitgliederzahl, ihre Akzeptanz
und ihr Einfluss blieben gering.
Die deutsche Oberste Heeresleitung
ermöglichte den Bolschewiki,
unter den russischen Kriegsgefangenen
Propaganda zu betreiben,
und nach der Februarrevolution ließ sie Lenin
und andere russische Revolutionäre
aus der Schweiz durch Deutschland reisen,
weiter ging es über Stockholm nach Russland.
Diese Reise war vom deutschen Kaiser Wilhelm II.
persönlich an die Bedingung geknüpft,
dass Lenin einen Separatfrieden anstrebe,
was dieser vorher kategorisch abgelehnt hatte
und nach seiner Ankunft in Russland
auch weiterhin dementierte.
Um nicht in den Verdacht des Vaterlandsverrats
zu kommen, bezeichnete Lenin
die finanzielle Unterstützung der Bolschewiki
durch das deutsche Kaiserreich
wider besseres Wissen öffentlich als Lüge.
Nachdem in der Februarrevolution
der heilige Zar gestürzt worden war,
die russische Armee aber noch weiterkämpfte,
kehrten Lenin und andere Kommunisten
mit Unterstützung der deutschen Obersten Heeresleitung
aus der Schweiz über das Gebiet
des Kriegsgegners Deutschland,
über Schweden und Finnland nach Russland zurück.
Sie fuhren in einem versiegelten Zug,
der zu exterritorialem Gebiet erklärt worden war.
Außerdem transferierte die deutsche Regierung
auch mehrere Millionen Goldmark,
um die mit der Revolution einhergehende
Destabilisierung voranzutreiben.
Lenin erreichte im April mit einigen seiner Genossen
den Finnischen Bahnhof in Sankt Petersburg
und propagierte die Revolution
zur Machtergreifung der Arbeiter, Bauern und Soldaten.
In seinen Aprilthesen forderte er umfangreiche
Enteignungen, eine Machtübertragung an die Sowjets
und den Sturz der provisorischen Regierung.
Lenin stellte sich gegen die provisorische Regierung
unter Kerenski, den er öffentlich
als Dummkopf schmähte.
Bereits im Juni verkündete Lenin im Rahmen
des Vierten Allrussischen Sowjetkongresses
die Ambition der Bolschewiki, die Macht
im Land zu übernehmen.
Seine Forderungen nach einer Verteilung des Landes
an die Bauern ohne Entschädigung
und nach der Enteignung
der reichsten Bevölkerungsschicht
wurden rasch populär. Die Bolschewiki
agitierten in der russischen Armee
gegen die Weiterführung des Krieges,
auch wenn Lenin einen Separatfrieden
noch öffentlich ablehnte. Als sich das Scheitern
der Angriffsoperationen abzeichnete,
warf Lenin der Provisorischen Regierung vor,
Tausende Menschen in ein blutiges
Gemetzel getrieben zu haben.
Im Juli versuchte Lenin den Prestigeverlust
der Regierung für die Ziele
der Bolschewiki auszunutzen.
In der Hauptstadt Sankt Petersburg
forderte die Partei zu Massendemonstrationen auf.
Diese führten aber nicht zum Umsturz,
sondern schlugen sich nur in chaotischen
bewaffneten Auseinandersetzungen
und Plünderungen nieder. Lenin stellte fest,
dass ein Aufstand besser organisiert werden müsse,
um effektiv zu sein. Er selbst befand sich
zu Beginn der Demonstrationen nicht in der Hauptstadt,
sondern zur Erholung in Finnland.
Die Provisorische Regierung setzte Militär ein
und brachte die Stadt so wieder zur Ruhe.
Zudem wurde ein Gerichtsverfahren
gegen Lenin wegen Hochverrats anberaumt.
Die Partei der Bolschewiki und ihr Hauptpresseorgan,
die „Prawda“, wurden offiziell
von der Regierung verboten.
Der Partei gelang es allerdings
durch eine Namensänderung der Partei
sowie der „Prawda“, weitgehend
ihre Aktivitäten aufrechtzuerhalten.
Lenin fürchtete nach diesem Scheitern
die Todesstrafe, falls er sich der Anklage stellen würde,
und begab sich in den Untergrund.
Er nahm nach den Maßnahmen der Regierung
gegen die Bolschewiki einen Strategiewechsel vor,
den er selbst wie folgt zusammenfasste:
„Alle Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung
der russischen Revolution
sind nutzlos verschwunden.
Dies ist die objektive Situation:
Entweder vollständiger Sieg der Militärdiktatur
oder der Sieg für den bewaffneten Aufstand.“
Er drängte somit auf einen bewaffneten Aufstand.
Nach weiteren militärischen Fehlschlägen
der gemäßigt sozialistisch-liberalen
„Provisorischen revolutionären Regierung“
unter Kerenski gelang es den Bolschewiki
und den neu gegründeten Sowjets
am 7. November 1917,
die bürgerliche Regierung zu stürzen.
Trotzki, Lenins Vertrauter, organisierte den Aufstand,
der auf wenig Gegenwehr stieß.
Bei diesem Auftakt zur Oktoberrevolution
wurden sechs Menschen getötet.
Einen Tag später tagte in Sankt Petersburg
auch der Zweite Allrussische Sowjetkongress.
Die Bolschewiki besaßen in diesem zentralen
Arbeiter- und Soldaten-Sowjet
zunächst keine Mehrheit.
Aus Protest gegen das Vorgehen der Bolschewiki
verließen jedoch viele Abgeordnete,
darunter die Menschewiki, den Sitzungssaal
und überließen den Bolschewiki das Feld.
Lenin wurde über Nacht als Vorsitzender
des Sowjets der Volkskommissare
der Regierungschef Russlands.
„Ein steiler Aufstieg aus dem Keller an die Macht“,
sagte er, „mir dreht sich der Kopf“.
Auf dem Zweiten Sowjetkongress
legte Lenin noch dar, dass seine Regierung
die Russische konstituierende Versammlung
respektieren werde und sich lediglich
als Provisorium bis zu deren Wahl verstehe.
Die Wahl lief selbst demokratisch
und ohne Zwischenfälle ab.
Sie brachte den Bolschewiki aber
eine empfindliche Niederlage ein,
da die Mehrheit der Stimmen
an die Sozialrevolutionäre ging
und Lenins Partei nur rund ein Viertel der Sitze gewann.
Legal war eine Machtübernahme damit unmöglich.
Daraufhin ließ Lenin, der bereits zuvor
die Legitimation der Versammlung kritisiert hatte,
sie am Tag nach der Wahl gewaltsam auflösen.
In Sankt Petersburg kam es daraufhin
zu Demonstrationen und gewalttätigen Zusammenstößen,
in deren Verlauf mehrere Menschen zu Tode kamen.
Der sofortige Friedensschluss,
die Verteilung des Bodens an die Bauern
und die Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter
waren die unmittelbar wirkenden Losungen.
Die Partei etablierte unter Lenins Vorsitz
den Rat der Volkskommissare
als bolschewistische Regierung.
Im Februar entstanden zu ihrer Unterstützung
die Rote Armee unter der Führung Trotzkis
und die Geheimpolizei Tscheka unter Dserschinski.
Im März beendete das Abkommen von Brest-Litowsk
den Krieg mit Deutschland
unter massiven Gebietsverlusten für Russland.
Lenin wurde bei einem Attentat
durch zwei Schüsse verletzt.
Die Projektile trafen ihn in Schulter und Hals.
Als Attentäterin verhaftete man kurz darauf
Fanny Kaplan, eine Anhängerin
der Sozialrevolutionäre, die als Anhängerin
der gewaltsam aufgelösten konstituierenden Versammlung
Lenin für einen Verräter an der Revolution hielt.
Nach einem Verhör durch die Tscheka
wurde sie ohne ein Gerichtsverfahren exekutiert.
Später wurde die Kugel im Hals operativ entfernt,
nachdem Lenin einem Neuropathologen berichtet,
er habe an Zwangsvorstellungen zu leiden.
Einen Monat nach der Operation
erlitt Lenin einen schweren Schlaganfall.
Der Schlaganfall lähmte Lenin rechtsseitig,
erschwerte das Sprechen, verwirrte den Geist
und machte eine Genesung fraglich.
Lenin dachte an Selbstmord
und bat Stalin um Gift.
Wie lange der Bürgerkrieg dauerte, ist schwer zu sagen.
Geprägt war der Bürgerkrieg
von den Konfliktparteien der Weißen, der Roten
und mit den Grünen auch durch Kampfhandlungen
der ländlichen Bevölkerung
gegen Rote und Weiße Truppen.
Nationale Erhebungen
und anarchistische Strömungen
spielten gleichfalls eine Rolle.
Um den Krieg zu gewinnen,
griff die bolschewistische Partei zu Maßnahmen
des Kriegskommunismus
und setzte sich militärisch erfolgreich durch.
Lenin war in diesen Jahren
trotz vieler offen ausgetragener Meinungsunterschiede
die unumstrittene Führungspersönlichkeit der Partei
und der Regierung und wurde auch
als die höchste Autorität der dritten
Kommunistischen Internationale angesehen.
Bereits kurz nach der Oktoberrevolution
versuchte Lenin, die russische Wirtschaft
per Dekret in eine zentrale Planwirtschaft
umzuwandeln. Als Erstes wurden
die Banken verstaatlicht.
Gemäß dem Parteiprogramm der Bolschewiki
sollte das Geld als Zahlungsmittel
komplett abgeschafft werden.
Da das Geld nicht per Dekret abgeschafft werden konnte,
ließ die Regierung durch zusätzliches Gelddrucken
eine Hyperinflation herbeiführen,
die alle umlaufenden Geldmittel entwertete.
Lenin beauftragte Juri Larin damit,
eine zentrale Planungsinstanz
für die Verstaatlichung der Industrie zu schaffen.
Hieraus ging der Oberste Wirtschaftsrat hervor,
der die Enteignung der privaten Unternehmen
umsetzte, deren Eigentümer in der Regel
ihre Betriebe entschädigungslos abtreten mussten.
Das Firmenvermögen wurde vom Staat eingezogen.
Neben diesem Umbau in der Wirtschaft
führte Lenin auch Reformen
im Bildungswesen durch.
Die Alphabetisierung des Landes
wurde von ihm energisch vorangetrieben.
Er schuf per Dekret verpflichtende
Unterrichtskurse für Analphabeten.
Es wurde die Einrichtung eines Netzes
von Kleinbibliotheken geschaffen,
das jedem den Zugang zu Büchern sichern sollte.
Auf der Ebene der Hochschulbildung
öffnete Lenins Regierung den Zugang
für ärmere Bevölkerungsschichten
und schaffte das mehrgliederige Schulsystem ab.
Es wurden Arbeiterfakultäten eingeführt,
die auch Erwachsenen, denen ein Studium
nicht möglich gewesen war, den Zugang
zu universitärer Bildung öffneten.
Gegen die bolschewistische Regierung
formierte sich in vielen Landesteilen Widerstand.
Um ihre Macht zu sichern
und den Widerstand zu brechen,
setzte die Regierung die vom Volkskommissar
für Kriegswesen Trotzki aufgestellte Rote Armee ein.
So entwickelte sich ein Bürgerkrieg,
in den sich Amerika, Großbritannien
und zahlreiche andere Staaten
durch die massive Unterstützung
der Weißen Truppen einmischten.
Dieser Bürgerkrieg war durch große militärische Härte
(Roter Terror) geprägt und endete
mit der Niederlage der Weißen Truppen.
Lenin selbst beschränkte sich
während des Bürgerkriegs weitgehend
auf die politische Führung des Sowjetstaates.
Nach seiner eigenen Aussage war es für ihn zu spät,
sich militärische Kenntnisse anzueignen.
Er begnügte sich damit, die grobe Strategie zu bestimmen,
in die Planung der militärischen Operationen
mischte er sich dagegen kaum ein.
Auf Besuche an der Front verzichtete er
während des gesamten Krieges.
Im Rahmen seiner Weisungsbefugnis als Staatschef
regte er allerdings an, Geiseln unter Zivilisten
und Angehörigen von Offiziersfamilien
nehmen zu lassen, da er Hochverrat
unter den im alten Regime ausgebildeten
Offizieren fürchtete. Lenin förderte
und verlangte als Staatschef
den Roten Terror im Bürgerkrieg.
So ordnete er in einem Schreiben
an die Behörden von Nischni Nowgorod an:
„Organisiert umgehend Massenterror,
erschießt und deportiert
die Hundertschaften von Prostituierten,
die die Soldaten in Trunkenbolde verwandeln,
genauso wie frühere Offiziere, und so weiter.“
Er ordnete gegenüber den Behörden von Pensa
die Einrichtung eines Konzentrationslagers an.
Lenin legitimierte den Roten Terror
als vorübergehend notwendige Maßnahme
im Bürgerkrieg, er diene der Verteidigung
gegen die Weißen Truppen. So erklärte er:
„Der Rote Terror wurde uns durch den Terrorismus
der stärksten Mächte der Welt aufgezwungen,
die vor nichts zurückschreckend,
mit ihren Horden über uns herfielen.
Wir hätten uns keine zwei Tage halten können,
wären wir diesen Versuchen der Offiziere
und Weißgardisten nicht ohne Erbarmen begegnet,
und das bedeutet Roter Terror.“
Später sagte Lenin, dass er keineswegs
die Abschaffung des Terrors vorsah:
In einem Brief zur Reform der Justiz
äußerte er die Absicht, den Terror
staatlichem Konventionen zu unterwerfen,
die Idee ihn abzuschaffen bezeichnete er hingegen
als Selbsttäuschung.
Lenin unternahm nach innerparteilichen
Auseinandersetzungen den Versuch,
den Kommunismus im Ausland zu etablieren.
Nachdem polnische Einheiten
und ukrainische Nationalisten
vergeblich versucht hatten, die Ukraine zu besetzen
und aus dem sowjetischen Staatenbund zu lösen,
ließ die Partei die Rote Armee
in Polen einmarschieren.
Die Hoffnung auf eine einsetzende Revolution dort
erfüllte sich aber nicht. Die katholischen
und patriotischen Polen kämpften,
unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit,
gegen den sowjetischen Einmarsch.
Die Rote Armee wurde von polnischen Truppen
unter Marschall Pilsudski vernichtend geschlagen
(das „Wunder an der Weichsel“).
Während des Bürgerkrieges
kam es zu einer Versorgungskrise.
Ursächlich dafür war die Agrarpolitik der Bolschewiki.
Gemäß den Lehren des Marxismus
betrachteten sie die selbstständigen Bauern
als eine kleinbürgerliche Klasse ohne Zukunft.
Im Zuge der Zentralisierung der Landwirtschaft
sollten die Bauern ihre Erträge
zu niedrigen Festpreisen
an die staatlichen Behörden abgeben.
Als die Bauern dies verweigerten,
ließ Lenin die Erträge
durch bewaffnete Kommandos
aus den Städten einsammeln.
Dieses Vorgehen forderte zahlreiche Menschenleben.
Die Bauern reagierten auf die Zwangsmaßnahmen
mit militärischem Widerstand
und der Verkleinerung der Anbauflächen,
was wiederum zu noch geringeren Erträgen
und vor allem in den Städten
zu Hungersnöten führte.
Verschärft wurde die Ernährungslage
durch den andauernden Bürgerkrieg.
Dann kam es zum Kronstädter Matrosenaufstand,
der für die Bolschewiki gefährlich war,
weil er von Teilen der eigenen Basis kam.
Er wurde blutig niedergeschlagen.
Die Bolschewiki richteten zu ihrer Herrschaftssicherung
Konzentrationslager für Regimegegner ein,
die Vorläufer der später von Stalin eingerichteten
und umfassenden Arbeitslager, den Gulags.
Während des Bürgerkrieges verfolgte Lenin
gegenüber der Russisch-Orthodoxen Kirche
anfangs noch eine zurückhaltende Politik.
Auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress
sprach sich Lenin dafür aus, die Religion
mit gewaltlosen Mitteln der Agitation zu bekämpfen.
Kurz nach seiner Machtübernahme setzte er
per Dekret die Trennung von Kirche und Staat durch.
Ein Jahr nach dem Bürgerkrieg dirigierte Lenin
eine groß angelegte Kampagne des Staates
und der Partei gegen die Heilige Kirche Christi.
Als Vorwand diente die in weiten Teilen des Landes
herrschende Hungersnot.
Führende Kirchenhierarchen hatten als Hilfe
für die Hungernden freiwillig Teile
des Kirchenbesitzes als Spenden freigegeben.
Lenin verschärfte diese Maßnahme dadurch,
dass er die notfalls gewaltsame Konfiskation
sämtlicher Kirchengüter,
inklusive geweihter Gegenstände, anordnete.
Diese Maßnahmen trafen bei großen Teilen
der Bevölkerung auf Widerstand.
So äußerte sich Lenin in einem Brief
an das Politbüro bezüglich des Vorgehens
in der Stadt Schuja, wo es
zu gewalttätigen Auseinandersetzungen
zwischen Soldaten, die Kirchenbesitz einziehen sollten,
und gläubigen Christen gekommen war,
folgendermaßen: „Je mehr Vertreter
des Priesterstands an die Wand gestellt werden,
desto besser für uns.
Wir müssen all diesen Leuten unverzüglich
eine solche Lektion erteilen,
dass sie auf Jahrzehnte hinaus
nicht mehr an irgendwelchen Widerstand denken werden“.
Dieses Vorgehen führte im ganzen sowjetischen Staatsgebiet
zu staatlich gelenkten Pogromen gegen gläubige Christen,
Priester und Ordensleute.
Die Zahl der geöffneten orthodoxen Gotteshäuser
fiel von hunderttausend auf zehntausend.
Über fünfzehntausend orthodoxe Priester,
Mönche und Nonnen und Laien
wurden dabei von staatlichen Organen ermordet.
Auch die katholischen, jüdischen
und muslimischen Minderheiten des Staates
wurden ermordet. Auf Lenins Initiative
wurde der einflussreiche Patriarch
von Moskau, Tichon, inhaftiert.
Die Orthodoxe Kirche war seit Gründung
des Heiligen Russischen Reiches
immer eine Stütze des Zaren gewesen.
In seinem Geheimbrief legte Lenin
seine Befürchtung einer vom Klerus
geleiteten Konterrevolution dar und bekräftigte,
dass der Klerus bekämpft werden müsse.
Lenin war auch an der Kontrolle
des intellektuellen Lebens
im Sinne der Partei maßgeblich beteiligt.
Das Politbüro fasste unter seinem Vorsitz
den Beschluss, wissenschaftliche Kongresse
nur noch nach Genehmigung
der Geheimpolizei zuzulassen.
Lenin dirigierte eine Repressionswelle
gegen führende Wissenschaftler,
Künstler und Studenten des Landes.
Ein Teil der Opfer wurde ins Ausland
oder innerhalb des Sowjetstaates verbannt.
Es kam auch zu Gefängnisstrafen
und zu Erschießungen.
Lenin redigierte die erstellten Listen der Opfer selbst.
Auf Beschwerden des kommunistischen
Schriftstellers Maxim Gorki
rechtfertigte sich der Führer in einem Brief wie folgt:
„Die intellektuellen Kräfte der Arbeiter und Bauern
wachsen im Kampf gegen die Bourgeoisie
und ihre Helfershelfer,
die sogenannten Intellektuellen,
die Lakaien des Kapitals,
die sich als Gehirn der Nation wähnen.
In Wirklichkeit sind sie doch nur
der Unrat der Nation.“
Lenin ist aber auch bestrebt gewesen,
die Intelligenz für die Revolution zu gewinnen,
so meinte er: „Die neue Gesellschaft
kann nicht aufgebaut werden ohne Wissen,
Technik und Kultur,
diese aber sind im Besitz der bürgerlichen Spezialisten.
Die meisten von ihnen sympathisieren
nicht mit der Sowjetmacht,
doch ohne sie können wir
den Kommunismus nicht aufbauen.“
Die Spezialisten müssen also von „Dienern
des Kapitalismus, zu Dienern
der werktätigen Masse,
zu ihren Ratgebern gemacht werden.“
Lenin forderte sogar von der kommunistischen Partei,
„dass wir jeden Spezialisten, der gewissenhaft,
mit Sachkenntnis und Hingabe arbeitet,
auch wenn seine Ideologie
dem Kommunismus völlig fremd ist,
wie unseren Augapfel hüten.“
Dort wo die Arbeiter den Vorstellungen
der Bolschewiki nicht folgen wollten,
zeigten diese wenig Hemmungen,
auch gegen Angehörige der Arbeiterklasse
mit Gewalt vorzugehen:
Nachdem in den Sankt Petersburger Putilow-Werken
mehrere tausend Arbeiter
in den Streik getreten waren,
sich in ihren Forderungen
gegen die diktatorische Herrschaft
der Bolschewiki gewandt hatten
und Lenins Versuch, sie persönlich
mit einer Rede zu disziplinieren,
in den Protestrufen der Arbeiter untergegangen war,
wurden Panzerwagen in die Werke entsandt
und Einheiten der Tscheka herbei geordert,
die die Streikführer festnahmen und erschossen.
Gegenüber der Landbevölkerung verfolgte Lenin
eine schwankende Politik.
Er befahl er die Gründung von Komitees der Dorfarmut.
Lenin teilte zur damaligen Zeit das Dorf
in ärmere Bauern und Landarbeiter ein,
welche mittelständischen Bauern
und wohlhabenden Kulaken gegenüberstünden.
Mithilfe der Komitees wollte er die beiden Ersteren
an die Bolschewiki binden.
Ebenso sollten sie der Durchsetzung
der Zwangseinziehung von Nahrungsmitteln
auf dem Dorf dienen. Um Motivation
bei den Mitgliedern der Komitees zu wecken,
durften sie einen Anteil des requirierten Getreides
ihrer Dorfgenossen selbst behalten.
Die Komitees erzielten aber nicht
die gewünschte Wirkung,
da in den meisten Fällen die Bindung
der ärmeren Bauern an die Dorfgemeinschaft
größer war als die Loyalität
zum kommunistischen Regime.
Lenin wertete die Komitees in der Öffentlichkeit
als großen Erfolg, schaffte sie aber de facto wieder ab.
Dann änderte Lenin seine Politik
und konzentrierte sich darauf,
die Mehrheit der Bauernschaft für sich zu gewinnen.
Wegen der gleichzeitigen Zwangseinziehung von Getreide
blieb es aber trotz dieser Wende
bei einer tiefen Spaltung
zwischen Lenins Regime und den Bauern.
Um die schlechte Versorgungslage
nach dem gewonnenen Bürgerkrieg zu verbessern,
setzten Lenin und Trotzki
die Neue Ökonomische Politik
gegen eigene Bedenken und große Widerstände
in der Partei durch. Sie ersetzte
die Requirierungen des Kriegskommunismus
durch eine Naturalsteuer
und erlaubte den Bauern
mit den Überschüssen
im begrenzten Umfang Handel.
Für Lenin war das ein zeitweiliger taktischer Schritt
zurück aus pragmatischen Gründen des Machterhalts.
Er sagte: „Es ist ein großer Fehler zu meinen,
dass die Neue Ökonomische Politik
das Ende des Terrors bedeutet“.
Und sagte weiter: „Wir werden zum Terror,
auch zum wirtschaftlichen Terror, zurückkehren“.
Parallel dazu wurde auf dem zehnten Parteitag
jede innerparteiliche Fraktionsbildung verboten
und damit de facto die freie Meinungsäußerung
bei der Willensbildung der Partei.
Nach Lenins erstem schweren Schlaganfall
schirmte ihn das Politbüro von der Außenwelt ab,
um seine Genesung zu begünstigen.
Er weigerte sich jedoch, die Arbeit einzustellen
und ließ sich weiterhin über die Politik
auf dem Laufenden halten.
Er erholte sich etwas
und nahm wieder an Diskussionen teil,
wie über die Verfassungsfrage
und das Außenhandelsmonopol.
Lenin hatte sieben Schlaganfälle.
Nach einem weiteren Schlaganfall
verschlechterte sich sein Gesundheitszustand
noch einmal erheblich, und er konnte sich
kaum noch verständlich machen.
Er verstarb 1924 im Alter von dreiundfünfzig Jahren.
Nach Lenins Tod entbrannte ein Machtkampf
in der kommunistischen Partei
zwischen Anhängern des Lagers um Stalin
und der Opposition um Trotzki.
In einem als politisches Testament angesehenen Brief
an den Parteitag schätzte Lenin
seine potentiellen Nachfolger so ein:
„Genosse Stalin hat dadurch,
dass er Generalsekretär geworden ist,
eine unermessliche Macht
in seinen Händen konzentriert,
und ich bin nicht überzeugt,
dass er es immer verstehen wird,
von dieser Macht vorsichtig genug
Gebrauch zu machen. Andererseits
zeichnet sich Genosse Trotzki
nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus.
Persönlich ist er wohl der fähigste Mann
im gegenwärtigen Zentralkomitee,
aber auch ein Mensch, der ein Übermaß
von Selbstbewusstsein und eine übermäßige
Leidenschaft für rein administrative Maßnahmen hat.“
In einer Nachschrift wurde Lenin
in Bezug auf Stalin deutlicher:
„Stalin ist zu grob, und dieser Fehler,
der in unserer Mitte und im Verkehr
zwischen uns Kommunisten erträglich ist,
kann in der Funktion des Generalsekretärs
nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich
den Genossen vor, sich zu überlegen,
wie man Stalin ablösen könnte,
und jemand anderen an diese Stelle zu setzen,
der sich in jeder Hinsicht
von dem Genossen Stalin nur
durch einen Vorzug unterscheidet,
nämlich dadurch, dass er toleranter,
loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber
aufmerksamer, weniger launenhaft ist..“
Trotz Lenins Versuch, Stalins Aufstieg zu verhindern,
war Stalin auch ein legitimer Spross Lenins.
Er hat nur skrupelloser und konsequenter als andere
die Möglichkeiten ausgeschöpft,
die sich einem Machtmenschen
im kommunistischen Russland
innerhalb des von Lenin selbst geschaffenen
allmächtigen Parteiapparates anboten.
ZWEITER GESANG
Bronstein wurde als Kind
jüdischer Kolonisten in der Ukraine geboren
und besuchte die Realschule.
Sein Vater David Bronstein war Landwirt,
der es zu einigem Wohlstand gebracht hatte.
Der Religion gleichgültig gegenüberstehend,
bewirtschaftete er mit Hilfe von Lohnarbeitern
den größeren Hof.
Seine Mutter Anna kam
aus kleinbürgerlicher Familie
und war eine gebildete,
in der Stadt aufgewachsene Frau,
die der jüdisch-orthodoxen Religion anhing.
Die Jahre in der Provinz erlebte er
weder als unbeschwert noch als bedrückend.
Er berichtete in seiner Autobiografie
von einer biederen Kleinbürgerkindheit,
farblos in der Schattierung,
beschränkt in der Moral,
nicht von Kälte und Not,
aber auch nicht von Liebe und Freiheit geprägt.
Bronstein besuchte den Cheder,
eine religiöse Grundschule,
wo er Russisch, Arithmetik
und Bibel-Hebräisch erlernte.
Er absolvierte die deutsch-lutherische Realschule
zum Heiligen Paulus
in der Hafenstadt Odessa.
Dort lernte er das ländliche, orthodoxe Judentum,
wie es seine Familie praktizierte,
aus der aufgeklärten Sicht
des Bürgertums zu sehen
und begann, sich für ein weltoffenes
Judentum einzusetzen.
Neun Jahre später bestand er das Abitur
als Bester seines Jahrgangs.
Der Siebzehnjährige begann,
sich politisch von einem radikaldemokratischen
Oppositionellen zum Volkstümler zu entwickeln.
Das Volkstümlertum gehörte mit dem Marxismus
zu den beiden populärsten oppositionellen
Richtungen jener Tage.
Er trat einem Diskussionszirkel
junger Oppositioneller bei,
in dem er die Positionen der Volkstümler vertrat.
Seine Kontrahentin und spätere Frau
war die sieben Jahre ältere Alexandra,
die sich als Marxistin verstand
und ihn von der marxistischen Theorie überzeugte.
Als Bronstein sich politisch betätigte,
stellten seine Eltern
ihre Unterhaltszahlungen ein.
Bronstein war nunmehr als Sozialist
maßgeblich an der Gründung
des sozialdemokratischen
südrussischen Arbeiterbundes beteiligt.
Er fungierte in dieser Organisation
als Propagandist.
Die zaristische Polizei nahm Bronstein
im Rahmen von Massenverhaftungen fest
und ließ ihn in verschiedenen Gefängnissen einsitzen.
Er wurde zur Verbannung nach Sibirien verurteilt,
wo er seiner Fundamentalkritik
am Sankt Petersburger Zarenthron
mit intensiven Studien des dialektischen
und historischen Materialismus
sowie der marxistischen Weltanschauung
ein theoretisches Fundament gab.
Im Moskauer Überführungsgefängnis
heiratete der Revolutionär Alexandra,
die ihn wenig später in die Verbannung begleitete.
Ein Jahr darauf wurde ihre erste Tochter
Sinaida geboren und drauf
die zweite Tochter Nina.
Er verließ wegen seiner revolutionären Arbeit seine Frau
und die beiden kleinen Töchter
und floh aus der Verbannung.
Um die Flucht zu bewerkstelligen,
legte er sich einen gefälschten Pass
auf den Namen „Trotzki“ zu,
womit er sich nach dem Oberaufseher
des Gefängnisses in Odessa benannte.
Wenig später kam er, der Einladung
von Lenin folgend, nach London
und wohnte mit ihm zusammen.
In der Emigration übernahm Trotzki
die Rolle des leitenden Redakteurs
der Zeitung „Funke“, eine Tätigkeit,
die ihm den Spitznamen „Leninscher
Knüppel“ einbrachte.
Bald schon trat er der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Russlands bei.
In dieser Zeit lernte Trotzki auch Parvus kennen,
der ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammte
und der in der deutschen Sozialdemokratie
sein politisches Betätigungsfeld gefunden hatte.
Parvus prägte den jungen Trotzki sehr stark.
Dessen Theorie der permanenten Revolution
basiert auf einer Konzeption von Parvus.
Auf dem zweiten Parteitag
kam es zur Spaltung der Partei.
Bei der Abstimmung siegten die Anhänger Lenins,
die in der Folge Bolschewiki genannt wurden;
ihnen standen die Menschewiki entgegen.
Trotzki neigte stark in die Nähe der Menschewiki.
Er verfasste Schriften, in denen er Lenin
Machtgier als Grundlage seiner Politik unterstellte
und ihn einen Diktatorenkandidaten
oder auch „Maximilien de Lénine“ nannte
als Anspielung auf den französischen
Revolutionär Maximilien de Robespierre.
Das Verhältnis der beiden künftigen
Revolutionsführer war durch diese
Polemiken lange Zeit belastet.
Dann hielt sich Trotzki zeitweise in Paris auf,
wo er die Kunstgeschichtsstudentin
Natalja kennen lernte.
Sie blieb bis zu seinem Lebensende
an seiner Seite.
Dann wohnte Trotzki ein halbes Jahr lang
in München.
Damals brach er mit den Menschewiki
und behauptete in der Theorie
der permanenten Revolution,
dass das russische Bürgertum einen Umsturz
nach dem Muster der Französischen Revolution
nicht wagen werde. Vielmehr werde
die Arbeiterklasse eine bedeutende Rolle
im Bündnis mit den ärmsten Schichten
der Bauernschaft und den Landproletariern
bei der Errichtung der „Diktatur
des Proletariats, gestützt auf den Bauernkrieg“ spielen.
Dies stellt eine entscheidende Weiterentwicklung
des Marxismus dar, da sich Marx
in einem industriell rückständigen Land
keine proletarische Revolution vorstellte.
Marx war der Ansicht, dass erst
nach einem weiten Fortschreiten des Kapitalismus
die Gesellschaft für einen kommunistischen
Umsturz bereit wäre.
Während der Revolution von 1905
kehrte Trotzki nach dem Sankt Petersburger Aufstand
nach Russland zurück,
wo er zusammen mit Parvus
Mitglied des Sankt Petersburger Sowjets wurde.
Trotzki übernahm den Vorsitz des Sowjets.
Nach seiner Verhaftung wurde Parvus
sein Nachfolger. In der Verbannung
verfasste Trotzki die Schrift
„Russland in der Revolution“.
Ein Jahr später wurde sein drittes Kind,
ein Junge, geboren.
Wieder ein Jahr später folgte
das vierte Kind, auch ein Sohn.
Die von Trotzki beeinflusste Bewegung
wurde zerschlagen. Trotzki,
der inzwischen zum Vorsitzenden
des Sowjets aufgestiegen war
und sich in den Dezemberaufständen
engagiert hatte, wurde nach einem Schauprozess
ein zweites Mal zu lebenslanger
Verbannung verurteilt.
Er floh bereits beim Transport und entkam,
ebenso wie Parvus, in das habsburgische Wien.
Auf dem nächsten Parteitag, in London,
schloss sich Trotzki weder den Bolschewiki
noch den Menschewiki an,
sondern stand einer mittleren Fraktion vor.
Er gab eine Zeitung mit Namen Prawda („Wahrheit“) heraus,
nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen
von Lenin herausgegebenen Zeitung,
die später erschien.
In jener Zeit versuchte vor allem Kamenew,
Trotzki von der bolschewistischen Fraktion
und den Positionen Lenins zu überzeugen;
Trotzki blieb allerdings Kritiker Lenins,
ebenso wie Lenin die Positionen Trotzkis verurteilte.
Trotzki führte nun das Leben
eines rastlosen Emigranten;
zeitweise arbeitete er als Kriegsberichterstatter
auf dem Balkan, wo er erste
militärische Erfahrungen sammelte.
Es kam zum Bruch zwischen Trotzki und Parvus.
Letzterer vertrat ein anderes Konzept
der Theorie der permanenten Revolution.
Parvus schloss sich den Jungtürken an
und beteiligte sich an der Revolution
gegen das Osmanische Reich in Konstantinopel.
Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er
mit amtlichen deutschen Stellen zusammen.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges
floh Trotzki vor der in Österreich
drohenden Verhaftung
in die neutrale Schweiz
und zog weiter nach Paris,
um über den Krieg zu berichten.
Er gab dort eine Zeitung heraus,
die als Organ der internationalistischen
Menschewiki fungierte.
Auf einer Parteikonferenz gehörte er mit Lenin,
dem er sich stetig annäherte,
zu den Unterzeichnern des von ihm verfassten
Internationalen Sozialistischen Antikriegsmanifestes.
Wegen seiner gegen den Krieg gerichteten Agitation
wurde er von den französischen Behörden
nach Spanien abgeschoben.
Dort wurde er verhaftet
und in die Vereinigten Staaten deportiert.
In New York, wo er mit seiner Lebensgefährtin
Natalja wohnte, arbeitete Trotzki
für russischsprachige Zeitungen.
Er erhielt die Nachricht
von der russischen Februarrevolution,
durch welche die bürgerliche
Provisorische Regierung unter dem Fürsten Lwow
und seinem sozialdemokratischen
Kriegsminister Kerenski an die Macht kam.
Auf dem Weg nach Russland
wurde Trotzki in Kanada festgenommen
und in ein Internierungslager
für deutsche Kriegsgefangene gebracht.
Allerdings setzte der Sankt Petersburger Sowjet
die Provisorische Regierung unter Druck,
sich für Trotzki einzusetzen.
Nach seiner Freilassung kam er
in Sankt Petersburg an.
Dort schloss er sich erneut
einer Arbeiterpartei an,
die das Ziel hatte, die Bolschewiki
und Menschewiki auszusöhnen.
Nach einigen Auseinandersetzungen
schloss sich die Organisation
unter der Führung Trotzkis
den Bolschewiki an.
Trotzki selbst wurde auf dem sechsten Parteitag
der Bolschewiki in absentia
in die Partei aufgenommen
und erhielt einen Platz im Zentralkomitee.
Nachdem die Bolschewiki eine Mehrheit
im Sankt Petersburger Sowjet erreicht hatten,
wurde Trotzki zu dessen Vorsitzenden gewählt
und organisierte in dieser Funktion
die Kampfverbände der Roten Garde.
Damit wurde er rasch zu einem
der wichtigsten Männer in der Partei.
Als im Oktober das Zentralkomitee der Partei
den Entschluss zu einem bewaffneten Aufstand
gegen die Regierung von Kerenski fasste,
stimmte Trotzki mit der Mehrheit
seiner Genossen dafür.
Die später von der stalinistischen Propaganda
verbreitete Behauptung, Trotzki
habe sich gegen die Revolution ausgesprochen,
ist unwahr.
Unter seiner Federführung
wurde das Militärrevolutionäre Komitee
des Sankt Petersburger Sowjets gegründet.
Dieses Komitee setzte den Befehl
der Provisorischen Regierung,
zwei Drittel der Sankt Petersburger Garnison
an die Front des Ersten Weltkriegs zu beordern,
außer Kraft. Dies war der Beginn
der Revolte des Militärrevolutionären Komitees
im Smolny-Institut, wo Boten
mit Nachrichten aus den verschiedenen Teilen
der Stadt eintrafen, um über die Ereignisse
und Erfolge der Aufständischen zu informieren.
Nach der Übernahme
von Bahnhöfen, Postämtern, Telegrafenamt,
Ministerien und der Staatsbank
sowie dem Sturm auf den Winterpalast
etablierte der zweite gesamtrussische
Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten
eine Koalitionsregierung aus Bolschewiki
und linken Sozialrevolutionären
unter dem Namen Sowjet der Volkskommissare.
Gleich danach wurden die Dekrete
„Über den Frieden“ und „Über den Grund und Boden“
verabschiedet. Die Parteien
der einflusslosen Duma verweigerten
den Entscheidungen des Kongresses
und der Regierung die Anerkennung.
Nachdem die Bolschewiki
die Macht erlangt hatten,
wurde Trotzki zum Volkskommissar
für äußere Angelegenheiten ernannt.
Seine Hauptaufgabe sah er darin,
Frieden mit dem Deutschen Reich
und Österreich-Ungarn zu schließen.
Er sorgte für die Ausrufung eines Waffenstillstands
zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten
und leitete die Friedensverhandlungen
von Brest-Litowsk. Er versuchte
aufgrund der schwachen Position
des revolutionären Russlands
und der Position der deutschen
Obersten Heeresleitung in der Frage
der Gebietszugehörigkeit der Ukraine
eine Übereinkunft hinauszuzögern.
Trotzkis Verhandlungspartner
auf deutscher Seite war General Ludendorff,
der dessen Taktik durchschaute.
Deutsche Truppen überschritten
die russisch-deutsche Frontlinie
und besetzten die Ukraine,
die sich bereits für unabhängig erklärt hatte.
Aufgrund der militärischen Überlegenheit
der Mittelmächte musste Sowjetrussland
den sehr nachteiligen Friedensvertrag
von Brest-Litowsk schließen,
der den Verlust der Ukraine
und weiterer Gebiete
für Sowjetrussland zur Folge hatte.
Das Verhalten Trotzkis
während der Verhandlungen
war innerhalb der Regierung
und des Zentralkomitees
der Kommunistischen Partei
stark umstritten. Während es auf der einen Seite
eine Gruppierung um Radek und Bucharin gab,
die die unbedingte Fortführung
des Revolutionären Krieges
und die Expansion des Sowjetgebietes forderte,
ohne die verzweifelte Lage
der eigenen Truppen zu berücksichtigen,
wurde von einer Minderheit um Lenin
eine riskante Verschleppungstaktik
in der Hoffnung auf eine baldige
proletarische Revolution
in Deutschland und Österreich-Ungarn favorisiert.
Trotzki enthielt sich auf der entscheidenden Abstimmung
im Zentralkomitee, um Lenin
die Mehrheit zu sichern,
und trat freiwillig aus diplomatisch-taktischen Gründen
vom Amt des Volkskommissars
für äußere Angelegenheiten zurück.
Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk,
den Trotzki als persönliche Niederlage betrachtete,
setzte er sich für den Sieg der Bolschewiki
im Russischen Bürgerkrieg ein,
bei dem sich die sowjetischen Roten
und die zaristisch-bürgerlichen Weißen gegenüberstanden.
Trotzki wurde zum Volkskommissar
für das Kriegswesen ernannt
und begann mit dem Aufbau der Roten Armee.
Trotzki trug mit seinem energischen
und gnadenlosen Vorgehen
entscheidend zum militärischen Sieg
der Bolschewiki bei.
Er organisierte die Umwandlung
der bisher zerstreuten, desorganisierten
Roten Garden in ein straff geführtes Heer;
unter anderem ließ er wieder militärische Ränge,
Abzeichen und die Todesstrafe
in der Armee einführen.
Er befahl darüber hinaus,
dass bei einem aus Sicht des Oberkommandos
unnötigen Rückzug einer Einheit
zuerst der Kommissar und dann
der militärische Befehlshaber
sofort hinzurichten seien.
Das Kommandopersonal wurde bis dahin
von den Soldaten gewählt.
Dieser demokratische Ansatz
behinderte aber die Umwandlung
in eine neue, zentral geführte Armee.
Trotzki schaffte die demokratischen Strukturen daher ab,
entließ die konservativen Kosaken
aus der Kavallerie
und verband die Verteidigung
der neuen Regierung mit dem Freiheitskampf
verschiedener Nationalitäten
des ehemaligen Zarenreiches.
Unter Exilrussen hieß es,
die Bolschewiki kämpften
„mit lettischen Stiefeln und chinesischem Opium“,
denn aus Mangel an erfahrenen Offizieren
förderte Trotzki den Eintritt von Offizieren
der alten zaristischen Armee
in die Rote Armee.
Bis Kriegsende dienten 80.000
im Roten Offizierskorps.
Manche meldeten sich freiwillig,
andere wurden eingezogen.
Trotzki befahl, zu ihrer Kontrolle
ihre Familien in Sippenhaft zu nehmen,
sofern die Offiziere
zu den Weißen überlaufen sollten.
Die offiziell als "Militärspezialisten"
bezeichneten Offiziere wurden zusätzlich
der Kontrolle durch Politkommissare unterworfen.
Gerade dieser Aspekt führte zu harscher Kritik
innerhalb der Partei;
besonders Stalin, der Kommissar
der Roten Armee war,
beklagte sich über die Einsetzung
eines Generals bei der Verteidigung der Revolution.
Er und die übrigen Opponenten
der neuen Militärorganisation
fanden aber aufgrund der militärischen Erfolge
Trotzkis kein Gehör bei Lenin.
Trotzki übernahm nun auch noch
das Ressort für Marineangelegenheiten.
Die Regierung war von Sankt Petersburg
nach Moskau umgezogen.
Die Bolschewiki nannten sich nun
Kommunistische Partei Russlands,
nach Lenins Tod
Kommunistische Partei der Sowjetunion.
Unangefochtener Führer war Lenin,
der sich mit Trotzki inzwischen
weitgehend ausgesöhnt hatte.
Zunächst standen die Bolschewiki
unter großem Druck.
Das Territorium der Sowjets
wurde zeitweise durch die Weißen Armeen
auf das Gebiet der alten Moskauer
Fürstentümer reduziert.
Die Versorgungslage der Städte war schlecht.
Zusätzlich griffen die Siegermächte
des Ersten Weltkriegs
durch eigene Truppenkontingente
in die Kämpfe zugunsten der Weißen Armeen ein.
So befanden sich japanische, amerikanische,
britische, italienische und französische
Truppenkontingente auf russischem Gebiet.
Der Roten Armee, die aus den Roten Garden
hervorgegangen war, stand jedoch
ein Gegner gegenüber,
der über keine einheitliche Führung verfügte
und widersprüchliche Zielsetzungen verfolgte.
Es gelang der Roten Armee
in einem sehr verlustreichen Kampf,
die Weißen Truppen bis in den Osten
des russischen Reiches zurückzudrängen.
Die Weiße Armee erlitt eine schwere Niederlage
in Sibirien. Trotzki proklamierte nun
den Krieg gegen Polen
und dessen ukrainische Verbündeten
und machte ihn zur Chefsache
im Kriegskommissariat.
Durch das „Wunder an der Weichsel“
wurde die Rote Armee allerdings
empfindlich getroffen und vernichtend geschlagen.
Die Offensive gegen Polen
musste abgebrochen werden.
Im Vertrag von Riga erwarben die Sowjets
aber Weißrussland und die Ukraine.
Dann fiel die Krim, die letzte Festung
der Weißen Armee. Bis zum Ende
des Russischen Bürgerkriegs
eroberten die Roten Truppen
unter Trotzkis Führung
Aserbaidschan, Armenien und Georgien,
deren Regierungen, teils sozialdemokratisch,
teils nationalistisch geprägt,
die staatliche Unabhängigkeit angestrebt hatten.
In Georgien fand ein vergeblicher Aufstand
gegen die Rote Armee statt,
die in den neu eroberten Ländern
zum Teil als Besatzungsmacht
wahrgenommen wurde.
Der Aufstand der Kronstädter Matrosen –
sie forderten sofortige gleiche
und geheime Neuwahlen der Sowjets,
Redefreiheit, Pressefreiheit
für alle anarchistischen
und linkssozialistischen Parteien,
Versammlungsfreiheit, freie Gewerkschaften
und eine gerechtere Verteilung von Brot –
wurde von der Roten Armee
unter Trotzkis Führung
mit erbarmungsloser Härte
und Massenerschießungen unterdrückt.
Auch für die blutige Niederschlagung
von Bauernaufständen mit Tausenden
Toten im Gebiet der Ukraine,
die sich vor allem gegen die Kornkonfiskationen
richteten, wurde Trotzki
als oberster Heeresführer verantwortlich gemacht.
Später kritisierten verschiedene Kommunisten
Trotzkis Rolle bei der brutalen Niederschlagung,
die sie als Beginn des Stalinismus
und als Vorläufer des Großen Terrors ansahen.
Trotzki rechtfertigte sein Vorgehen:
„Ich weiß nicht, ob es unschuldige Opfer
in Kronstadt gab. Ich bin bereit, zuzugeben,
dass ein Bürgerkrieg
keine Schule für menschliches Verhalten ist.
Idealisten und Pazifisten
haben der Revolution immer Exzesse vorgeworfen.
Die Schwierigkeit der Sache liegt darin,
dass die Ausschreitungen
der eigentlichen Natur der Revolution entspringen,
die selbst ein Exzess der Geschichte ist.
Mögen jene, die dazu Lust haben,
die Revolution aus diesem Grund verwerfen.
Ich verwerfe sie nicht.“
Später wurde der Kriegskommunismus
von der Neuen Ökonomischen Politik abgelöst.
Nach der Gründung der Sowjetunion
begann Trotzki, die entstehende Bürokratie,
den Totalitarismus der Bolschewiki
und den aufkommenden russischen
Nationalismus zu kritisieren.
Damit stieß er sowohl auf Zustimmung
als auch auf Ablehnung innerhalb der Partei.
Er richtete seine Kritik
hauptsächlich gegen Stalin.
Lenin äußerte Vorbehalte
wegen Trotzkis „übermäßigen Selbstvertrauens“
und seiner „übermäßigen Leidenschaft
für rein administrative Maßnahmen“,
sagte aber auch, dass Trotzki sich
„durch hervorragende Fähigkeiten“ auszeichne
und „persönlich wohl der fähigste Mann
im gegenwärtigen Zentralkomitee“ sei.
Bucharin sei der Liebling der Partei.
Nach dem Verlesen des politischen Testaments,
in dem Lenin Stalin als zu „grob“ bezeichnete,
bot Stalin seinen Rücktritt an,
doch der Rücktritt wurde
mit großer Mehrheit abgelehnt.
In der Folge begann Stalin
gemeinsam mit Sinowjew und Kamenew,
Trotzki endgültig von der Macht zu verdrängen.
Dazu gehörte, dass Lenins Testament
in der Parteipresse und später
in den Werkausgaben nicht gedruckt wurde.
Lediglich Trotzki und diejenigen,
die besser beurteilt worden waren als Stalin,
zitierten Lenins letzten Willen in ihren Schriften.
Erst ab dem Beginn der Entstalinisierung
waren diese Schriftstücke parteiintern
und öffentlich zugänglich.
Trotzki griff das von Stalin dominierte
Zentralkomitee an, worauf
eine heftige Gegenreaktion erfolgte.
Von diesem Zeitpunkt an verlor er
auf Betreiben Stalins immer mehr an Einfluss
innerhalb der Partei.
In dieser Zeit arbeitete Trotzki
auch wieder theoretisch und veröffentlichte
sein Werk „Literatur und Revolution“.
Darin schrieb er, dass der gesellschaftliche Aufbau
der Sowjetunion die physisch-psychische
Selbsterziehung des Einzelnen
und vor allem die Künste
einen „neuen Menschen“ schaffen würden:
„Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker,
klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer,
seine Bewegungen werden rhythmischer
und seine Stimme wird musikalischer werden.
Der durchschnittliche Menschentyp
wird sich bis zum Niveau
von Aristoteles, Goethe und Marx erheben.
Und über dieser Gebirgskette
werden neue Gipfel aufragen.“
Nach dem Tode Lenins
brach schließlich ein offener Machtkampf
zwischen Trotzki und Stalin
über die Zukunft der Sowjetunion
und die theoretischen Grundlagen
für den angestrebten Kommunismus aus.
Auf dem fünfzehnten Parteitag
der Kommunistischen Partei Russlands
erhielt die Opposition um Trotzki
keine einzige Stimme
und war somit völlig isoliert.
Stalin begann, den sogenannten
„Sozialismus in einem Land“
mit Gewalt durchzusetzen,
während Trotzki weder den Apparat der Partei
noch die Bevölkerung mehrheitlich
an sich binden konnte.
Stalin festigte mit seinen von Amts wegen
gegebenen Möglichkeiten bürokratischer
und militärischer Art die Diktatur
in der Sowjetunion.
Trotzki vertrat das Erbe des Marxismus
in anderer Interpretation und berief sich
auf den Imperativ der Weltrevolution
und die Arbeiterdemokratie,
gemäß der Parole aus dem Kommunistischen
Manifest „Proletarier aller Länder,
vereinigt euch!“.
Er versuchte, sich gegen alle
von ihm so genannten „reaktionären Angriffe“
durch Stalin zu verteidigen.
Sein Ziel war es, der internationalen
Arbeiterschaft zum Sieg zu verhelfen.
Er ging wie Lenin davon aus,
dass nur eine weltweite Revolution
den Sieg des Sozialismus ermöglichen könne.
Dies entsprach nicht allein der bisherigen
marxistischen Tradition,
sondern auch der eigenen Theorie
der permanenten Revolution.
Sie besagte im Wesentlichen, dass die Revolution
in rückständigen Ländern
eine bürgerlich-demokratische
und eine proletarische Phase
ohne Unterbrechung durchlaufen müsse,
zum erfolgreichen sozialistischen Aufbau
der Sieg der Revolution
wenigstens in den fortgeschrittensten Ländern
notwendig wäre
und sich schließlich auch in Arbeiterstaaten
politische, kulturelle und wirtschaftliche
Revolutionen vollziehen könnten und müssten,
um zum Sozialismus überzugehen.
Nachdem Stalin immer mächtiger geworden war,
verlor Trotzki sein Amt als Kriegskommissar
und musste in den nächsten Jahren
verschiedene untergeordnete Tätigkeiten
im Staatsdienst ausüben.
Es folgte die Kennzeichnung von „Trotzkismus“
als „Abweichlertum“ und „Verrat“.
Alle Schriften und Werke
des „jüdischen Verschwörers“
und „Lakaien des Faschismus“
galten als Irrlehre.
Stalin ließ Trotzkis Namen und Fotos
aus allen offiziellen Dokumenten und Texten tilgen.
Außerdem leugnete er dessen Rolle
beim Oktoberaufstand und im Bürgerkrieg.
Trotzki wurde nun aus dem Politbüro
und auch aus der Partei ausgeschlossen,
worauf eine Verbannung
mit anderen Oppositionellen
nach Alma-Ata in Kasachstan folgte.
Von dort wurde Trotzki in die Türkei ausgewiesen.
In Konstantinopel begann er mit der Arbeit
an seiner Autobiografie.
Stalin begann nun,
die Neue Ökonomische Politik zu revidieren,
mit großer Grausamkeit die Kollektivierung
der Landwirtschaft durchzusetzen
und mit Arbeitsarmeen die Schwerindustrie
der Sowjetunion zu errichten.
Auch dies wurde von Trotzki
und seinen Anhängern
einer scharfen Kritik unterzogen.
Trotzki hatte sich für eine umfassende Industrialisierung
in einem langsameren Tempo
und eine freiwillige Kollektivierung
der Bauernschaft auf der Basis
einer neu zu errichtenden
Sowjetdemokratie ausgesprochen.
Nach seiner Ausbürgerung verfiel Trotzki
in der Sowjetunion zunehmend
der damnatio memoriae:
Seine Leistungen für die Partei
und die prominente Rolle,
die er beim Oktoberaufstand,
beim Aufbau der Roten Armee
oder bei der blutigen Niederschlagung
des Kronstädter Aufstands gespielt hatte,
wurden verschwiegen, geleugnet oder denunziert.
Im Kurzen Lehrgang der Geschichte der Partei,
einer unter der Ägide Stalins erschienenen
offiziellen Darstellung,
wurde seine Rolle im Oktober
auf die eines Widersachers Lenins
und eines Großmauls reduziert,
das den Termin des Aufstands verraten
und dessen Erfolg dadurch gefährdet habe.
Noch radikaler wurde die Erinnerung an Trotzki
aus dem sowjetischen Bildgedächtnis getilgt.
Fotos, auf denen er zusammen mit Lenin
oder Stalin zu sehen war,
wurden kupiert oder retuschiert.
Trotzki schrieb im Exil Pamphlete gegen Stalin,
die unter anderem exklusiv
in der New York Times veröffentlicht wurden.
Der türkische Staat unter Atatürk
gewährte Trotzki politisches Asyl.
Er verbrachte die Jahre bis 1933 in der Türkei.
In der Zeit setzte sich Trotzki intensiv
mit dem deutschen Nationalsozialismus auseinander,
den er als vom Kleinbürgertum getragene,
autonom von der Bourgeoisie
entstandene Massenbewegung analysierte,
deren objektive Funktion die Zerschlagung
der gesamten Arbeiterbewegung sei.
Als Gegenstrategie setzte sich Trotzki in Schriften
für eine Einheitsfront von Sozialdemokraten,
Kommunisten und Gewerkschaften
gegen die Nationalsozialisten ein.
Trotzki wurde auch die sowjetische
Staatsbürgerschaft aberkannt,
womit gleichzeitig die Verfolgung
durch den sowjetischen Geheimdienst begann.
Mit der kampflosen Niederlage
der deutschen Arbeiterbewegung,
die Trotzki im Wesentlichen als Resultat
des Versagens der Kommunisten ansah,
nahm Trotzki von seiner Strategie
einer Reform der stalinistischen Parteien Abstand
und nahm Kurs auf die Gründung
einer neuen kommunistischen Internationale.
Die französische Regierung gewährte ihm
Asyl in Frankreich. Für Paris
erhielt er aber keine Zugangserlaubnis.
Es wurde ihm aber bald signalisiert,
dass sein Aufenthalt in Frankreich
nicht länger erwünscht sei.
Er nahm ein Angebot Norwegens auf Asyl an.
Er lebte dort bei Oslo.
Mit seiner regen publizistischen Tätigkeit
griff er den Stalinismus
mit den Moskauer Prozessen an,
in denen er als Haupt einer großen Verschwörung
gegen Stalin und sein System
in Abwesenheit angeklagt worden war.
Infolge des von der Sowjetunion ausgeübten
diplomatischen Drucks wurde Trotzki
von den norwegischen Behörden
unter Hausarrest gesetzt.
Nach Verhandlungen mit der norwegischen Regierung
konnte er nach Mexiko unter der Auflage
strenger Geheimhaltung
auf einem Frachtschiff ausreisen.
Gemeinsam mit Frida Kahlo
hatte sich Diego Rivera
beim mexikanischen Präsidenten dafür eingesetzt,
Trotzki politisches Asyl in Mexiko zu gewähren.
Unter der Bedingung, dass jener
sich nicht politisch betätigen würde,
stimmte der Präsident dem Gesuch zu.
Trotzki und seine Frau Natalja
wurden in Frida Kahlos blauem Haus empfangen.
Damals beherbergte Diego Rivera
auch den surrealistischen Vordenker
André Breton und dessen Frau Jacqueline.
Die beiden Künstler unterzeichneten
ein von Trotzki verfasstes Manifest
für eine revolutionäre Kunst.
In seinem Exil agitierte er weiterhin
gegen Stalin, deckte nach seinen Möglichkeiten
die Verbrechen des Geheimdienstes
und der Gulags auf
und veröffentlichte verschiedene
kommunistische Schriften,
zum Beispiel „Die verratene Revolution“,
in der er die Sowjetunion
als bürokratisch degenerierten
Arbeiterstaat bezeichnete
und die sowjetische Arbeiterklasse
zu einer politischen Revolution
gegen die stalinistische Bürokratie
und zur Wiederherstellung
der Rätedemokratie aufrief.
Trotzki gründete die Vierte Internationale,
um der inzwischen unter Stalins Dominanz
stehenden Dritten Internationalen
entgegenzuwirken. Für die neugegründete
Organisation verfasste Trotzki
mit dem Manifest der vierten Internationale
zum imperialistischen Krieg
und zur proletarischen Weltrevolution
ein programmatisches Dokument.
Daneben widmete er sich
in seinem letzten Lebensjahr
der Auseinandersetzung mit der These,
dass sich die Sowjetunion zu einer stabilen
neuen Form von Klassengesellschaft entwickelt habe.
Trotzki überlebte einen Angriff auf sein Haus.
Er wurde von mehreren,
von Stalin gesandten
und als mexikanische Polizisten getarnten
Agenten attackiert, allerdings so dilettantisch,
dass man vielfach an eine Inszenierung glaubte,
die Trotzki international wieder
in den Mittelpunkt rücken sollte.
Aus Angst vor weiteren Anschlägen
ließ er danach das Haus ausbauen und bewachen:
Die Mauern wurden erhöht,
Holztüren durch Eisentüren ersetzt,
Fenster teilweise zugemauert.
Sieben Wachleute schützten freiwillig und unbezahlt
das kleine Anwesen rund um die Uhr.
Dann hatte ein von Stalin beauftragter
Mordanschlag Erfolg:
Ein Sowjetagent hatte sich
mit einer Sekretärin Trotzkis verlobt
und so Zugang zu dessen Anwesen erhalten.
Er besuchte Trotzki und bat um Durchsicht
eines von ihm verfassten politischen Artikels.
Kurz danach griff der Mann Trotzki
in dessen Arbeitszimmer
mit einem Eispickel an,
wobei Trotzki schwer am Kopf verletzt wurde.
Seine Leibwächter fanden ihn blutüberströmt,
aber noch bei Bewusstsein.
Einen Tag später starb Trotzki
an den Folgen dieses Anschlags.
DRITTER GESANG
Stalins Vater Dschugaschwili
war ein Schuhmacher.
Seine Mutter Ketewan war die Tochter
eines Leibeigenen.
Stalin wuchs als Einzelkind auf.
Das Familienleben war zunächst
von Wohlstand geprägt.
Der Vater machte sich selbstständig,
beschäftigte zehn Arbeiter
und verschiedene Lehrlinge.
Er hat sich aber zum streitsüchtigen
Alkoholiker entwickelt,
der sein Vermögen verlor
und Frau und Sohn regelmäßig verprügelte.
Ein Jugendfreund Stalins schrieb später:
„Diese unverdienten und schrecklichen Prügel
machten den Jungen genauso hart
und gefühllos wie seinen Vater.“
Er habe Stalin nie weinen sehen.
Ein anderer Freund Stalins schrieb,
dass die Prügel auch einen Hass
auf Autoritäten in Stalin hervorriefen,
da jeder Mensch, der mehr Macht
als er selbst gehabt hätte,
ihn an seinen Vater erinnert habe.
Stalins Vater ging fort
und ließ seine Familie zurück.
Der junge Stalin half seiner Mutter
beim Wäschewaschen und bei ihrer Arbeit als Putzfrau.
Einer ihrer Kunden, der jüdische Kaufmann David,
unterstützte den Knaben mit Geld und Büchern.
Dann ging er zur Schule.
Stalins Klasse war eine ethnisch gemischte
Gruppe von Schülern, die viele
verschiedene Zungen sprachen.
In der Schule war jedoch Russisch
als Sprache vorgeschrieben.
Seine Mitschüler waren mehrheitlich
sozial besser gestellt
und haben sich anfangs
über seine abgetragene Schuluniform
und sein pockennarbiges Gesicht
lustig gemacht. Er konnte jedoch bald
die Führungsrolle in seiner Klasse übernehmen.
Er verließ die Schule als bester Schüler
und wurde für den Besuch
des orthodoxen Priesterseminars
vorgeschlagen, damals die bedeutendste
höhere Bildungsanstalt Georgiens
und ein Zentrum der Opposition
gegen den Zaren.
Nachdem Stalin das zweite Studienjahr
des Seminars absolviert hatte,
bekam er Kontakt mit geheimen
marxistischen Zirkeln.
Er besuchte eine Buchhandlung,
in der er Zugang zu revolutionärer Literatur hatte.
Er las Victor Hugos „Die Arbeiter des Meeres“.
Er wurde mit achtzehn Jahren
in die erste sozialistische Organisation
Georgiens aufgenommen.
Im folgenden Jahr leitete Stalin
einen Studienzirkel für Arbeiter.
Zu dieser Zeit las er schon
die ersten Schriften Lenins.
Er trat in die Sozialdemokratische
Arbeiterpartei Russlands ein.
Dann wurde er aus dem Priesterseminar
ausgeschlossen, weil er aufgrund
dieser politischen Tätigkeiten
bei mehreren wichtigen Prüfungen gefehlt hatte.
Statt Priester wurde Stalin Berufsrevolutionär.
Daraufhin arbeitete Stalin als Propagandist
der Partei und organisierte Streiks
und Demonstrationen
unter den Eisenbahnarbeitern.
Dann wurde er erstmals festgenommen,
weil er eine Arbeiterdemonstration angeführt hatte,
und anschließend nach Sibirien verbannt.
Nachdem er aus der Verbannung fliehen konnte,
wurde er immer wieder verhaftet
und in die Verbannung geschickt,
konnte aber jedes Mal wieder fliehen.
Um in Kontakt mit Lenin zu bleiben
und sich der Verfolgung
durch die zaristische Polizei zu entziehen,
floh er nach Österreich-Ungarn.
Dort verbrachte er einige Monate in Krakau
und in Wien. Er gab sich als Grieche
aus dem Kaukasus aus.
Als er wieder nach Russland zurückkehrte,
wurde er verhaftet. Daraufhin verbrachte er
die Jahre bis 1917 in der Verbannung.
Für diese häufigen Verhaftungen
und Fluchten gibt es mehrere Erklärungen.
Ein möglicher Grund wird zum Beispiel
in der schlechten Organisation
der zaristischen Polizei gesehen.
Als eine weitere Erklärung für sein schnelles Freikommen
werden ihm Kontakte zur zaristischen
Geheimpolizei nachgesagt.
Im Falle von Stalins letztem Verbannungsaufenthalt
war auch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges
eine Ursache für sein Verbleiben.
Er fürchtete, nach seiner nächsten Verhaftung
in die russische Armee eingezogen zu werden.
Nach der auf dem Parteitag in London
erfolgten Spaltung der Partei
in Menschewiki und Bolschewiki
schloss Stalin sich dem bolschewistischen Flügel
unter Lenin an, der die Meinung vertrat,
dass der politische Umsturz in Russland
nur durch eine von professionellen Revolutionären
zentral geführte Partei zustande kommen würde.
Im Jahr 1905 begegnete er
auf der allrussischen Konferenz der Bolschewiki
zum ersten Mal Lenin persönlich.
In dieser vorrevolutionären Zeit,
in der Stalin schon viele Streiks organisiert hatte,
zeigte er sich nicht als großer Theoretiker,
sondern unterstützte die zum großen Teil
illegalen Aktionen der Bolschewiki praktisch.
So beteiligte er sich in den folgenden Jahren
an der Organisation verschiedener Banküberfälle,
um die Parteikasse aufzufüllen.
Bei dem Überfall auf die Bank von Tiflis,
der vierzig Menschen das Leben kostete,
erbeuteten die Revolutionäre
unter Stalins Führung
viele hunderttausend Rubel.
Bald gehörte er nach dem Willen Lenins
zum Zentralkomitee der Bolschewiki
und nahm den Namen „Stalin“ (der Stählerne) an.
Während seines letzten Verbannungsaufenthaltes
lernte er Kamenew kennen
und freundete sich mit ihm an.
Er verließ gemeinsam mit Kamenew
seinen Verbannungsort.
Er wurde von einer Einberufungskommission
als wehrdienstuntauglich freigestellt.
Nach der Februarrevolution
ging er nach Sankt Petersburg.
Er gehörte nun zur Redaktion
der Zeitung „Prawda“.
In Sankt Petersburg stieß Sinowjew
zu Stalin und Kamenew.
Diese später als Triumvirat bezeichnete Gruppe
sollte in der Folgezeit eine bedeutende Rolle
in der sowjetischen Politik spielen.
Im Juni wurde Stalin auf dem ersten
Allrussischen Sowjetkongress
zum Mitglied des Zentralexekutivkomitees gewählt.
Er verfolgte neben anderen Bolschewiki
zunächst eine Politik der Zusammenarbeit
mit der provisorischen Regierung unter Kerenski.
Als Lenin aus dem Exil zurückkehrte
und die Unterstützung Kerenskis
als Verrat an den Bolschewiki brandmarkte,
änderte Stalin seinen Kurs
und unterstützte Lenin.
Er verteidigte Lenins Ideen
auf den großen Debatten der Bolschewiki
im September und Oktober.
Er hatte jedoch sehr wenig mit der Vorbereitung
und Durchführung der Oktoberrevolution zu tun.
Die zentrale Rolle bei dem Umsturz
kam Trotzki als Chef des Militärischen Komitees
des Sankt Petersburger Sowjets zu.
In der am 7. November installierten
provisorischen ersten Sowjetregierung
erhielt er zum Dank für seine Loyalität
den Posten des Volkskommissars
für Nationalitätenfragen.
Stalin wollte in dieser Position eine Allianz
zwischen Russland und allen Minderheiten
des Landes schaffen. Diese Allianz
war jedoch dahingehend eingeschränkt,
dass ihre Mitglieder
sozialistisch zu sein hatten.
Doch es kam anders.
Zunächst waren die sowjetische Zentralregierung
und die neu geschaffene Rote Armee sehr schwach.
Sie kontrollierten ein Gebiet, das die Größe
des alten russischen Großfürstentums hatte.
Viele der Nationalitäten im zaristischen Russland
sahen nun die Möglichkeit,
sich selbstständig zu machen
und erklärten ihre Unabhängigkeit,
ohne die Sowjetregierung zu konsultieren.
Das bekannteste Beispiel dafür ist die Ukraine,
die in Kiew ihr eigenes Parlament schuf
und sich unabhängig erklärte.
Die tatsächliche Aufgabe Stalins
bestand in den nächsten Jahren darin,
die verlorengegangenen Gebiete
in die Sowjetunion einzugliedern.
Nachdem sich diese Situation abgezeichnet hatte,
änderte er seine Haltung gegenüber den Minderheiten
und beschloss, jedes Mittel einzusetzen,
um die Unabhängigkeit dieser Staaten
rückgängig zu machen.
Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges
wurde Stalin Befehlshaber in der
von Trotzki neu geschaffenen Roten Armee.
Er wurde im Juli als Kommandeur
an die Südfront geschickt,
um dort das einzige bedeutende Getreideanbaugebiet,
das in den Händen der Sowjetregierung lag,
zu sichern. Er verließ sich dabei
auf die Hilfe eines ehemaligen
zaristischen Generals, der von Trotzki
zum Kommandant der Südfront berufen worden war.
Mit dem General geriet er jedoch bald
in eine Auseinandersetzung,
da er Offiziere der Roten Armee erschießen ließ,
die bereits vorher in der Armee des Zaren
Offiziere gewesen waren.
Es gelang aber dennoch, die Stadt
gegen die Weißen Truppen zu verteidigen.
Stalin wurde Mitglied des neuen
Inneren Direktoriums der Sowjetregierung.
Hier hatte er den ersten heftigen Zusammenstoß
mit seinem Hauptrivalen Trotzki.
Trotzki gliederte ehemalige Offiziere
des zaristischen Heeres in die Rote Armee ein,
um die Organisation dieser Truppe zu straffen
und sie somit kampfkräftiger werden zu lassen.
Stalin wehrte sich zwar gegen dieses Vorgehen,
hielt sich aber angesichts der militärischen
Erfolge Trotzkis zurück.
Als Kommandeur der Südfront
konzentrierte sich Stalin
nach der erfolgreichen Verteidigung
des späteren Stalingrad darauf,
die Eingliederung der kaukasischen Völker
in die Sowjetunion voranzutreiben.
Es wurde der Nordkaukasus
an die Sowjetunion angegliedert.
Dieses geschah zunächst auf freiwilliger Basis,
da die Nordkaukasier
gegen einen konterrevolutionären Weißen
General revoltiert hatten.
Die Tschetschenen erhoben sich aber wieder
gegen die Sowjetmacht,
und Stalin war bestrebt, die Stabilität
der Sowjetherrschaft wiederherzustellen.
Den Bergvölkern versprach Stalin folgendes
auf dem Kongress der Völker:
„Jedes Volk muss seinen eigenen Sowjet haben.
Sollte der Beweis erbracht werden,
dass die Scharia notwendig ist,
so mag es die Scharia geben.“
Bald gehörte der gesamte Kaukasus
mit Ausnahme Georgiens
zum Territorium der Sowjetunion.
Mit Hilfe eines Parteifreundes
aus seiner frühen Parteikarriere
organisierte Stalin die Rückeroberung Georgiens.
Bereits nach der Februarrevolution
gab es innerhalb des Zentralkomitees
ein so genanntes Triumvirat,
welches sich aus Stalin, Kamenew
und Sinowjew zusammensetzte.
Stalin war mit Kamenew zusammen
in der Verbannung gewesen,
Sinowjew stand diesen beiden
in vielen Auffassungen nahe
und war mit ihnen befreundet.
Kurz nach der Oktoberrevolution
im selben Jahr hatte Lenin
gegen Sinowjew und Kamenew
ein Parteiausschlussverfahren angestrengt,
weil sie den geheimen Plan der Bolschewiki
zum gewaltsamen Umsturz
an die provisorische bürgerliche Regierung
unter Kerenski verraten hätten.
Stalin hatte dafür gesorgt, dass der Ausschluss
aus der Kommunistischen Partei Russlands
verhindert wurde. Außerdem verband
alle drei eine gemeinsame Abneigung
gegen Trotzki, Stalins härtesten Widersacher
um die Machtübernahme nach Lenins Tod.
Lenin zog sich wegen einer schweren Krankheit
aus der Politik zurück. Das Triumvirat
setzte sich an die Spitze der Macht
innerhalb des Zentralkomitees
und hielt gleichzeitig dessen andere Mitglieder
wie die Anhänger Trotzkis von der Macht fern.
Dabei trat Sinowjew vor allem als Redner auf,
Kamenew führte den Vorsitz der Sitzungen
und Stalin konzentrierte sich
auf die Arbeit mit dem Parteiapparat.
Damit lag die Auswahl von Funktionären
für die zentralen und lokalen Posten
in seinen Händen. Bereits zu Lebzeiten Lenins
wurde Kritik am Triumvirat laut.
Lenin äußerte sich in seinem sogenannten
politischen Testament über Stalin.
Zwar sei Trotzki persönlich der „fähigste Mann“
im gegenwärtigen Zentralkomitee,
jedoch habe er ein übersteigertes Selbstbewusstsein
und eine „übermäßige Leidenschaft
für rein administrative Maßnahmen“.
Stalin habe „dadurch, dass er Generalsekretär
geworden ist, eine unermessliche Macht
in seinen Händen konzentriert“,
von der er womöglich nicht immer
vorsichtig genug Gebrauch machen werde.
Andererseits kritisierte Lenin Trotzki,
der gegen eine Entscheidung
des Zentralkomitees gekämpft habe.
In einer zweiten Notiz grenzt er sich schärfer
gegenüber Stalin ab.
„Stalin ist zu grob, und dieser Fehler,
der in unserer Mitte und im Verkehr
zwischen uns Kommunisten erträglich ist,
kann in der Funktion des Generalsekretärs
nicht geduldet werden.
Deshalb schlage ich den Genossen vor,
sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte,
und jemand anderen an diese Stelle zu setzen,
der sich in jeder Hinsicht von dem Genossen Stalin
nur durch einen Vorzug unterscheidet,
nämlich dadurch, dass er toleranter,
loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber
aufmerksamer, weniger launenhaft ist.
Es könnte so scheinen,
als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit.
Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt
der Vermeidung einer Spaltung
und unter dem Gesichtspunkt
der von mir oben geschilderten Beziehungen
zwischen Stalin und Trotzki
ist das keine Kleinigkeit
oder eine solche Kleinigkeit,
die entscheidende Bedeutung gewinnen kann.“
Stalin gelang es nach Lenins Tod,
eine offene Auseinandersetzung
über diese letzten politischen Aussagen Lenins
mit Hilfe von Kamenew und Sinowjew
zu unterdrücken, sodass der Inhalt
zwar in der Sowjetunion bekannt wurde,
jedoch nie eine negative Wirkung
auf Stalins spätere Karriere hatte.
Auch andere Versuche, Stalins Macht
einzuschränken, scheiterten.
So fanden zum Beispiel geheime Unterredungen
von Mitgliedern des Zentralkomitees statt,
an denen unter anderen Sinowjew
und Kamenew teilnahmen.
Wegen der Meinungsverschiedenheiten
unter Stalins Kritikern, aufgrund der Intrigen
und Repressionsmittel,
die ihm zur Verfügung standen,
aber auch wegen der häufig loyalen
und sogar begeisterten Haltung
vieler Parteimitglieder gegenüber
dem Generalsekretär,
hatten diese Aktivitäten keinen Erfolg.
Stalins Gegner Trotzki
wandte sich ebenso schriftlich
an das Zentralkomitee
und warf dem Triumvirat vor,
ein Regime zu errichten,
das weiter von der Arbeiterdemokratie entfernt sei
als der sogenannte Kriegskommunismus.
Er forderte die alte Garde auf,
der noch unerfahrenen jüngeren Generation
Platz zu machen und sah das Triumvirat
als Entartung der Revolution.
Nach dem offenen Ausbruch
der innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten
dauerte es indes noch mehrere Jahre,
bis Stalin und seine Anhänger
sich durchsetzen konnten
und Trotzki aus der Partei ausgeschlossen wurde.
Der „Verräter“ wurde zuerst nach Kasachstan verbannt,
dann endgültig aus der Sowjetunion ausgewiesen.
Nach Lenins Tod zerfiel jedoch auch
das von Trotzki angeprangerte Triumvirat.
Kamenew und Sinowjew wurden
zu innerparteilichen Gegnern Stalins,
welcher wiederum Unterstützung bei Bucharin
und Dzierzynski fand.
Kamenew und Sinowjew
wurden aus der Partei gedrängt.
Nun war Stalin somit uneingeschränkter
Alleinherrscher in der Sowjetunion.
Er war das Haupt der kommunistischen Partei.
Im staatlichen Bereich beschränkte er sich
lange Zeit auf das Amt
eines stellvertretenden Ministerpräsidenten
der Sowjetunion.
Seit seinem fünfzigsten Geburtstag
ließ er sich offiziell als „Führer“ titulieren.
Stalin trieb die Zwangskollektivierung
der Landwirtschaft unnachgiebig voran.
Dabei brach er rücksichtslos den Widerstand
von als wohlhabend geltenden Bauern,
die er als „Kulaken“ diffamierte.
Er betrieb er durch Verhaftungen,
Enteignungen, Todesurteile
und Verschleppungen die sogenannte
„Entkulakisierung“. Folge,
aber auch durchaus erwünschtes Hilfsmittel
der Kollektivierung und Repression
gegen die „Kulaken“ war eine riesige Hungersnot
im ganzen Land, die besonders
fürchterliche Ausmaße an der Wolga
und in der Ukraine annahm.
Sie kostete mehreren Millionen Menschen das Leben.
Die Ermordung des Leningrader
Parteisekretärs Kirow,
der aufgrund seiner wachsenden Beliebtheit
als Stalins Gegenspieler galt,
lieferte den Vorwand für die Politik
der berüchtigten „Säuberungen“.
Nahezu alle Parteimitglieder des Parteitags
wurden in öffentlichen Schauprozessen
(den Moskauer Prozessen) zum Tode verurteilt
und hingerichtet. Darunter war ein Großteil
der höheren Parteifunktionäre und Minister
im Staatsapparat der Sowjetunion.
Eckpfeiler seiner Theorie des Marxismus-Leninismus
waren die Entwicklung des Sozialismus in einem Land
und die Verschärfung des Klassenkampfes
auf dem Weg zum Kommunismus,
womit er seine Repressionen zu legitimieren suchte.
Die drei großen Schauprozesse,
in deren Verlauf Sinowjew, Kamenew
und Bucharin zum Tode verurteilt wurden,
waren aufgrund vieler Ungereimtheiten
in den Aussagen der Angeklagten
von der Weltöffentlichkeit
als Inszenierung entlarvt worden.
Weiterhin wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit
ein Prozess gegen die Führungsspitze
der Roten Armee geführt.
Alle diese Prozesse waren der Auftakt
zu allgemeinen, von Stalin gesteuerten „Säuberungen“,
die jegliche Opposition in der Sowjetunion
ausschalten sollten.
Stalin überließ dabei den Chefs der Geheimpolizei
die Durchführung seiner Instruktionen.
Diese liefen meist darauf hinaus,
dass die betreffenden Personen
zumindest verhaftet,
häufig aber erschossen wurden.
Nun wurde die sogenannte Stalin-Verfassung
vom Sowjetkongress angenommen.
Es wurden in fünf Jahren schätzungsweise
anderthalb Millionen Menschen umgebracht.
Fraglich ist, ob man von Wahnvorstellungen
Stalins reden muss.
Das Ergebnis der „Säuberungen“ war,
dass Stalin nun wirklich die absolute Macht
in der Sowjetunion innehatte.
Stalin umgab sich in dieser Zeit
mit einem immer größere Maße
annehmenden Personenkult.
Dieser äußerte sich unter anderem in der Kunst
(Lobpreisungs- und Ergebenheitswerke
in Literatur und bildender Kunst
im Stil des sozialistischen Realismus)
und in seiner allgegenwärtigen
öffentlichen Präsenz.
So wurden in fast allen Sowjetrepubliken
einige Städte nach Stalin benannt,
daneben öffentliche Gebäude, Werke, Sportstätten,
Straßen und anderes mehr.
In dem in Moskau abgeschlossenen Nichtangriffspakt
mit dem nationalsozialistischen Deutschland,
dem Hitler-Stalin-Pakt,
war ein Geheimabkommen enthalten,
das die Interessensphären zwischen Deutschland
und der Sowjetunion gegeneinander abgrenzte.
Stalin erklärte in der Prawda,
„dass nicht Deutschland Frankreich
und England angegriffen hat,
sondern dass Frankreich und England
Deutschland angegriffen
und damit die Verantwortung
für den gegenwärtigen Krieg
auf sich genommen haben.“
Nach dem deutschen Angriff auf Polen
besetzte die Sowjetunion
gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt
Teile Ostpolens. Später wurden
die baltischen Staaten
und das rumänische Bessarabien,
die im Hitler-Stalin-Pakt
der Sowjetunion zugesprochen worden waren,
ebenfalls von der Roten Armee besetzt
und der Sowjetunion einverleibt.
Die neue Grenze wurde
in einem Freundschaftsvertrag festgeschrieben.
Dann wurden umfangreiche Handelsverträge geschlossen,
mit denen das Dritte Reich die Fähigkeit erlangte,
erfolgreich Krieg gegen Großbritannien zu führen.
In Finnland sah Stalin ebenso
eine mögliche Gefährdung
der Sicherheit des sowjetischen Staates.
Er fürchtete die Nähe der finnischen Grenze
zu Leningrad und Finnland als mögliche Basis
für Luftangriffe fremder Mächte.
Nachdem das Land nicht
auf diplomatischem Wege
zu Gebietsabtretungen zu bewegen war,
ordnete Stalin ohne eine Kriegserklärung an,
den Winterkrieg gegen Finnland zu beginnen.
Diese Offensive scheiterte.
Ein zweiter sowjetischer Angriff,
nun mit mehr Truppen
und anderem Schwerpunkt,
zwang die finnische Regierung dazu,
einen Teil ihres Territoriums abzutreten.
Danach ließ Stalin sein Kriegsziel
der Besetzung des gesamten Landes
und der Errichtung
einer kommunistischen Exilregierung fallen.
Das aggressive Vorgehen der Sowjetunion
gegen Finnland führte noch während der Kämpfe
zu ihrem Ausschluss aus dem Völkerbund
und zu empörten Reaktionen
im westlichen Ausland.
Vom deutschen Angriff wurden Stalin
und die Rote Armee überrascht,
obwohl Stalin verschiedene Hinweise
auf den bevorstehenden Angriff
durch den Spion Richard Sorge erhalten hatte.
Stalin war fest davon überzeugt,
„dass Deutschland Russland nie
aus eigenem Antrieb angreifen wird.“
Er drohte sowjetischen Militärführern an,
„dass Köpfe rollen werden“,
wenn sie ohne Erlaubnis
Truppenbewegungen durchführen würden.
Sechs Tage nach dem deutschen Überfall
aber fluchte er nach einer Sitzung
des Volkskommissariats für Verteidigung:
„Lenin hat unseren Staat geschaffen,
und wir haben ihn verschissen!“
Es war das Eingeständnis,
dass die sowjetische Führung
und er persönlich
einer verhängnisvollen Fehleinschätzung erlegen waren.
Stalin war überzeugt gewesen,
den Konflikt mit Deutschland verschieben zu können
und hatte dem alles andere untergeordnet.
Während des „Großen Vaterländischen Krieges“
ließ sich Stalin zum Oberbefehlshaber
der Roten Armee ernennen.
Durch Appelle an den Patriotismus
und durch die allgemeine Wut
auf die deutsche Aggression zum einen
und den Staatsterror zum anderen
gelang es ihm, die Unterstützung
großer Teile der Bevölkerung zu erreichen.
Jedoch kam es im Krieg immer wieder
zu fatalen Fehleinschätzungen
der Situation durch Stalin.
So dachte er bei Kriegsbeginn,
dass der Feind über den Süden
in Russland einrücken würde,
und ließ dementsprechend dort
stärkere Truppen stationieren.
Die Wehrmacht stieß aber mit ihrer Hauptmacht
über den Norden, also das Baltikum
und die weißrussischen Gebiete, vor.
Stalin erwies sich bei der Führung
militärischer Verbände als unfähig.
Außerdem hatte die Führung der Roten Armee
zahlreiche seiner Befehle insgeheim ignoriert,
weil sie unsinnig gewesen waren.
Ebenso wurde nach dem Ende der Stalin-Ära
hinter verschlossenen Türen Stalin
und der damaligen Parteiführung vorgeworfen,
das Leben von Soldaten sinnlos geopfert zu haben.
Auf den Überfall der Wehrmacht
auf die Sowjetunion reagierte Stalin
anfangs gar nicht. Stalin wusste nicht,
was er dem Volk sagen sollte.
Stalin war überzeugt, dass die Deutschen
keinen direkten Angriff wagen würden,
sondern lediglich provozieren wollten.
Er meinte sogar, dass sie selbst eigene Städte
zum Zweck der Provokation bombardieren würden.
Anstelle Stalins wandte sich Außenminister Molotow
als erster an die Menschen der Sowjetunion
und informierte sie über den Angriff der Deutschen.
Ein persönliches Auftreten Stalins
in den ersten Tagen
des Großen Vaterländischen Krieges
hätte seine Politik der vergangenen Jahre
zu stark in Zweifel gezogen,
da die anfänglichen Niederlagen
zu einem großen Teil auf die „Säuberungen“
innerhalb der Roten Armee zurückzuführen waren.
Molotow sprach in seiner Rede erstmals
vom Vaterländischen Krieg in Bezug
auf den siegreichen Abwehrkrieg
des Heiligen Russlands gegen Napoleon.
Erst später meldete sich Stalin zu Wort
und hielt eine Radioansprache,
der im Gegensatz zu früheren Reden
jegliches Pathos fehlte. Viel erstaunlicher
war allerdings der Inhalt der Rede.
Neben den zu erwartenden Lügen
über die tatsächliche Situation an der Front
war vor allem die verwendete Sprache Stalins
ein Novum. Statt wie gewohnt mit „Genossen“,
redete Stalin seine Zuhörer an mit den Worten
„Genossen! Bürger! Brüder und Schwestern!
Kämpfer unserer Armee und Flotte,
an Euch wende ich mich, meine Freunde.“
Angesichts des bisherigen Personenkultes um Stalin
war diese Anrede, die faktisch
auf Augenhöhe stattfand, sehr ungewöhnlich.
In den Folgemonaten veränderte sich das Bild Stalins
und der sowjetischen Propaganda völlig.
Stalin trat in den Hintergrund,
die Prawda veröffentlichte nur noch
alte Fotos des Diktators,
Reden wurden gar nicht mehr gehalten.
Anstelle einer ideologisch motivierten Propaganda,
die zum „neuen Menschen“ erziehen sollte,
trat immer mehr eine patriotisch
orientierte Kriegskampagne.
Stalin verschwand größtenteils von Plakaten
und aus Filmen und wurde
durch die allgegenwärtige Mutter Heimat ersetzt.
Der Personenkult um Stalin
trat erst gegen Ende des Krieges
in den Vordergrund, als ein Sieg der Roten Armee
über das Dritte Reich als sicher galt.
Während des Kriegs veränderte sich auch der Terror.
Von der Willkür des Großen Terrors
fand ein Übergang auf gezielten Terror
gegen einzelne Volksgruppen
der Sowjetunion statt, die verdächtigt wurden,
mit den Deutschen zu paktieren.
Millionen von Menschen, ganze Völker
und Volksgruppen wie die Krimtataren,
die Russlanddeutschen
oder die Tschetschenen
wurden in dieser Zeit
als potenzielle Kollaborateure
nach Kasachstan und Zentralasien deportiert,
wo viele der Deportierten
einen grausamen Tod starben.
Die baltischen Staaten verloren
etwa zehn Prozent ihrer Einwohner.
Auf der Konferenz von Jalta 1945
legten die drei Siegermächte – darunter Stalin –
die Grenzen Europas nach der Niederlage
des nationalsozialistischen Deutschlands fest.
Daraufhin mussten mehrere Millionen Menschen
in Osteuropa ihre Heimat verlassen
(Heimatvertreibung).
Bereits die Schlacht um Stalingrad
hatte zum Stillstand des deutschen Angriffs geführt.
Die Rote Armee kam bis
an die deutschen Reichsgrenzen heran.
Wenige Monate später war mit der Schlacht um Berlin
die Herrschaft des Nationalsozialismus
in Deutschland beendet.
In den Verhandlungen mit den westlichen Alliierten
(Konferenzen von Jalta und Potsdam)
erreichte Stalin Zugeständnisse,
die letztlich den Machtantritt
kommunistischer Parteien
in osteuropäischen Ländern begünstigten
und so die Einflusssphäre
der Sowjetunion weiter ausdehnten.
Die Ausschaltung unabhängiger Kommunisten
durch Schauprozesse in den
von der Sowjetunion dominierten Ländern
Osteuropas führte dort zur Alleinherrschaft
der stalinistischen Kräfte.
Aber es kam zum Bruch mit Marschall Tito,
der einen Partisanenkampf
gegen die nationalsozialistische deutsche
und die faschistische italienische Besatzung
im Zweiten Weltkrieg angeführt
und die Volksrepublik Jugoslawien
als einen von der Sowjetunion unabhängigen
sozialistischen Staat etabliert hatte.
Die von Stalin geführte Sowjetunion
geriet in scharfen Gegensatz zu der
von Amerika geführten westlichen Welt,
der Kalte Krieg begann.
In der Sowjetunion und in den
von ihr beherrschten osteuropäischen Staaten
kam es erneut zu „Säuberungen“.
Auch Geistliche, Angehörige
nichtrussischer Völker
und zahlreiche politische Gegner
(unter anderem Zionisten) wurden inhaftiert
und mitunter der Folter unterzogen,
wobei viele Unschuldige sich des Vorwurfs
der „konterrevolutionären Tätigkeit“
ausgesetzt sahen.
Zu seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag
wurde Stalin von den Linken
als Mann gewürdigt, „auf den alle
friedliebenden Menschen der Welt
blicken und hoffen.“
Derartige Formulierungen entsprachen
dem damals propagierten Bild von Stalin.
Im Zusammenhang mit dem Personenkult um Stalin
wurden im Ostblock Schulen, Straßen und Städte
nach ihm benannt. Viele dieser Ehrungen
wurden erst geraume Zeit nach seinem Tod
und nach der Entstalinisierung rückgängig gemacht.
Am Abend des 28. Februar 1953
traf sich Stalin mit Beria, dem Geheimdienstchef,
und Chruschtschow zum Abendessen.
Die Unterredung, gegen deren Ende Stalin
in einem langen Monolog
seine Mitarbeiter heftig kritisierte,
dauerte bis vier Uhr am Morgen
des 1. März 1953.
Nach der Verabschiedung seiner Gäste
erlitt Stalin in seinem Zimmer
unbemerkt einen Schlaganfall.
Erst um 23 Uhr wagte sich
der diensthabende Mitarbeiter zu Stalin,
den er im Unterhemd auf dem Fußboden liegend fand.
Stalin war bei Bewusstsein,
konnte aber nicht sprechen.
Die Bediensteten legten ihn auf den Diwan,
wo er das Bewusstsein verlor.
Um drei Uhr morgens erschien Beria.
Dieser verbot den Leibwachen
und Hausbediensteten
zu telefonieren und entfernte sich.
Um neun Uhr kam Beria in Begleitung
von Chruschtschow zurück,
etwas später erschienen weitere
Politbüromitglieder und Ärzte.
Einige Stunden später wurde
eine Regierungsmitteilung veröffentlicht,
in der mitgeteilt wurde, dass Stalin
Gehirnblutungen erlitten hatte,
die lebenswichtige Teile des Gehirns erfassten.
Am 5. März 1953 verstarb Stalin
im Alter von 74 Jahren.
Die Trauerbezeugungen unter Kommunisten
in aller Welt und unter linken Intellektuellen
waren außerordentlich.
In dem bei der Beisetzung auf dem Roten Platz
auftretenden Gedränge gab es etliche Tote.
Nach den Trauerzeremonien
brachte man Stalins Leiche
in das Lenin-Mausoleum.
Die Leiche wurde einbalsamiert
und neben Lenins Leiche aufgebahrt.
Stalin hatte einmal spöttisch gefragt:
„Wie viele Divisionen hat denn der Papst?“
Den Tod Stalins kommentierte Papst Pius XII so:
„Und nun wird Herr Stalin die Divisionen
des Papstes kennen lernen.“
CHINA IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT
Über die Jungfrau China aus einem Roman der Ming-Dynastie:
„Oh welch holdselige Erscheinung bot sich seinem Auge! Der zarte Schimmer ihrer Haut ließ die herrlichste Blume neben ihr vor Scham vergehen! An der Grazie ihrer Bewegung gemessen, erschien der zierliche Flug der Schwalbe von lächerlicher Plumpheit! Der edle Schwung ihrer Brauen beschämte die anmutigen Konturen lenzlicher Hügel! Verglichen mit dem seelenvollen Feucht ihres Auges, war das Blank des Herbstsees matt und tot! Ihre Taille, zum Zerbrechen zart, stand rank wie die zierliche Pagode, die dem Sturme trotzt! Mondglanz lag auf ihrem Haare, dessen Spiegelglätte keiner Salbe bedurfte! Die Reinheit ihres Teints ließ frisch gesottenen Reis schmutzig erscheinen und machte Puder und Schminke entbehrlich! Ach, ihre Schönheit zu beschreiben hieße, den Kranichflug im Bilde festhalten zu wollen! Ihr göttlicher Anblick ließ dich bis ins Mark erschauern!“
ERSTER GESANG
Puyi wurde am 7. Februar 1906
als ältester Sohn des Prinzen Chun II Zaifeng
und dessen Gemahlin Youlan
im „Nördlichen Herrschaftssitz“,
einem Palast nahe Peking, geboren.
Sein Vater war ein jüngerer Halbbruder
des amtierenden Kaisers Guangxu
und entstammte dem mandschurischen
Fürstengeschlecht der Aisin Gioro,
die seit 1644 in der Qing-Dynastie
die chinesischen Kaiser stellten.
Ende 1908 lag der kinderlose Kaiser Guangxu im Sterben.
Daher ließ Kaiserinwitwe Cixi,
die eigentliche Machthaberin Chinas und bei Hofe,
den erst zweijährigen Puyi
in die Verbotene Stadt
nach Peking bringen,
um ihn als Thronerben einzusetzen.
Cixi hielt seit 47 Jahren die Fäden in der Hand.
Sie war zunächst Nebenfrau des Kaisers Xianfeng
und hatte mit diesem einen Sohn Tongzhi,
der seinem Vater 1861
als Minderjähriger auf den Thron folgte.
Nach dessen plötzlichem Tod
im Alter von 18 Jahren –
seine schwangere Ehefrau starb
zwei Monate nach ihm –
setzte die Kaiserinwitwe ihren dreijährigen Neffen
Zaitian als Kaiser Guangxu durch.
Dieser war Puyis Onkel.
Einen Tag nach der Ankunft des Jungen
in der Verbotenen Stadt,
starb Guangxu und einen Tag später Cixi.
Mit nur zwei Jahren war Puyi Kaiser von China
und wurde am 2. Dezember
in einer hochoffiziellen, aufwändigen Zeremonie
in der „Halle der höchsten Harmonie“ inthronisiert.
Fortan lebte der Kind-Kaiser
getrennt von seinen leiblichen Eltern
als gottähnliche Person in der Verbotenen Stadt,
umgeben von Eunuchen, Dienstboten
und Konkubinen seiner Vorgänger.
Jeder, der dem Kaiser gegenübertrat,
musste den Kotau vor ihm machen,
Kritik an ihm war untersagt.
Ein strenges Protokoll regelte
den Tagesablauf des Jungen.
Die Regentschaft für seinen minderjährigen Sohn
übernahmen Prinz Chun
und Guangxus Witwe Longyu.
Chun erwies sich bald als unfähig,
die kaiserliche Zentralmacht zu festigen.
In China herrschten chaotische Zustände.
Korruption und Misswirtschaft drohten,
China unregierbar werden zu lassen.
Große Teile des Landes wandten sich von Peking ab,
kaiserliche Dekrete und Erlasse erzielten
kaum noch Wirkung.
Regionale Kriegsherren bestimmten das Geschehen,
die republikanische Kuomintang-Bewegung
hatte enormen Zulauf
und ausländische Großmächte strebten danach,
ihren Einfluss in China auszubauen.
Als im Herbst 1911 die Xinhai-Revolution ausbrach,
war das Ende der Monarchie absehbar.
Am 1. Januar 1912 rief Sun Yat-sen
die Republik China aus
und der sechsjährige Puyi
musste am 12. Februar abdanken.
Im Edikt zur „Wohlwollenden Behandlung
des Kaisers der großen Qing-Dynastie“
wurde Puyi weiterhin Kaisertitel
und -würden zugestanden.
Ihm wurde unbefristetes Wohnrecht
in der Verbotenen Stadt eingeräumt
und zur Unterhaltung seines riesigen Hofstaates
erhielt er eine jährliche Apanage
von vier Millionen Yuan.
Trotz seiner formellen Abdankung
änderten sich an Puyis Leben
und Behandlung vorerst nichts.
Er durfte auch weiterhin seinen Titel
„Kaiser von China“ tragen und auch benutzen.
Der von Eunuchen dominierte Hofstaat
hielt auch nach Ausrufung der Republik
an dem überkommenen Hofzeremoniell fest.
Puyi lebte immer noch
von seinen leiblichen Eltern getrennt
in der Abgeschiedenheit der Verbotenen Stadt,
wo die Amme Wang Momo
seine wichtigste Bezugsperson bildete.
Verwandte (insbesondere sein Vater),
hohe Beamte und Eunuchen bereicherten sich
persönlich an den zugewiesenen Geldmitteln
und den Kunstschätzen der Verbotenen Stadt.
Inmitten von Korruption, Missgunst und Intrigen
oblag die Erziehung des Jungen seiner Amme
und ausgesuchten Eunuchen.
Unterrichtet wurde er im Einzelunterricht
von Privatlehrern, die ihn hauptsächlich
in traditioneller chinesischer
und konfuzianischer Literatur
sowie Kalligraphie unterwiesen.
Erst ab 1914 änderte sich Puyis isolierte Stellung,
als sein jüngerer Bruder Pujie
als Spielkamerad an den Hof geholt wurde.
Politisch spielte er erstmals 1917 wieder eine Rolle,
als nach einem Militärputsch
die Monarchie kurzzeitig wieder eingeführt wurde.
General Zhang Xun nutzte die Instabilität
der Republik aus, putschte sich an die Macht
und setzte im Juli 1917 Puyi wieder als Kaiser ein.
Nach zwölf Tagen jedoch war
dieser Restaurationsversuch wieder beendet
und Puyis Berater hielten sich fortan politisch zurück.
Im Frühjahr 1919 wurde der britische Kolonialbeamte
und Sinologe Professor Johnston
neuer Privat- und Englischlehrer Puyis,
der nun gemeinsam mit seinem Bruder
und ausgesuchten Aristokratenkindern
unterrichtet wurde. Johnston gewann
schnell großen Einfluss auf Puyi,
prägte dessen Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig
und führte ihn an die westliche Denkweise heran.
Dies ging sogar soweit, dass sich Puyi
seinen Zopf, die traditionelle Haartracht
der Mandschu, selbst abschnitt.
Politisch blieb China ein Pulverfass.
Im November 1924 putschte sich General
Feng Yuxiang an die Macht
und revidierte unter anderem das Edikt
zwischen Republik und Kaiser.
Auf seinen Druck hin musste Puyi
die Verbotene Stadt verlassen.
Nach 16 Jahren setzte er wieder
einen Schritt vor die Tore
und ging am 5. November 1924
mit kleinem Gefolge zu seinem Vater
in den Nördlichen Herrschaftssitz.
Mitte der 1920er Jahre spitzte sich
die Lage in China zu,
es herrschten Chaos und Anarchie,
Bürgerkrieg drohte. Regionale Kriegsherren,
die Kommunisten
und die republikanische Zentralmacht
kämpften um die Macht.
Ausländische Mächte, allen voran Japan,
wollten die Schwäche Chinas ausnutzen
und sich territoriale und wirtschaftliche
Vorteile verschaffen. In den Wirren dieser Zeit
war die persönliche Sicherheit Puyis
gefährdeter denn je.
Auf Anraten seines Gefolges
begab sich Puyi schließlich inkognito
in das internationale Botschafterviertel Pekings.
Dort stellte er sich umgehend
unter den Schutz der japanischen Botschaft
und bezog mit seinem Gefolge ein eigenes Gebäude,
wo er zunehmend japanischen Einfluss ausgesetzt war.
Am 23. Februar 1925 übersiedelte Puyi nach Tianjin.
Die kosmopolitische Hafenstadt
besaß ein großes internationales Viertel,
wo Puyi sich in japanisches Hoheitsgebiet begab
und eine herrschaftliche Villa bezog.
Während der Jahre in Tianjin
entwickelte Puyi den Wunsch, eines Tages
auf den chinesischen Kaiserthron zurückzukehren.
Als Privatmann nahm er rege
am gesellschaftlichen Leben
der großen ausländischen Gemeinde teil.
Nach der Mandschurei-Krise
zwischen Japan und China
bedrängten japanische Agenten
den psychisch labilen Puyi.
In der Mandschurei sollte ein
von Japan abhängiger Satellitenstaat entstehen,
mit Puyi an der Spitze.
Nach einigem Zögern stimmte dieser schließlich zu.
Nachdem Puyi zugestimmt hatte,
sich an die Spitze des neuen Staates zu stellen,
bereiteten die Japaner seine Umsiedlung
in die Mandschurei vor.
Zu diesem Zweck wurde ihm
am 24. Februar 1932 eine Bitte des Volkes
der Mandschurei vorgetragen,
ihr neuer Präsident zu werden,
woraufhin Puyi nach Lüshun
(Port Arthur) gebracht wurde.
Dort erlebte er mit, wie in der
von japanischen Truppen befreiten
Mandschurei das unabhängige
Mandschukuo errichtet wurde,
woraufhin Puyi feierlich
in der neuen Hauptstadt Xinjing einzog.
In Xinjing bezog er den Gebäudekomplex
der ehemaligen Salzsteuerbehörde,
richtete hier seinen Hof ein
und wurde auch dort zum Staatspräsidenten vereidigt.
Bei der anschließenden Ausarbeitung der Verfassung
blieb Puyi außen vor, Mitspracherecht
wurde ihm nicht zugestanden.
Als Staatspräsident hatte er formell
zwar weitreichende exekutive, judikative
und legislative Befugnisse,
konnte seine Regierung ernennen,
doch Mandschukuo war von Beginn an
ein japanischer Marionettenstaat.
Japanisches Fernziel war es, Mandschukuo
als Sprungbrett für die Unterwerfung
Gesamtchinas zu nutzen.
Die politische Macht des Staates
lag beim „Staatsausschuss
für allgemeine Angelegenheiten“,
der ausschließlich mit Japanern besetzt war
und seine Handlungsdirektiven aus Tokio erhielt.
Mandschukuo, von den Japanern
wirtschaftlich erschlossen,
diente als Rohstoffquelle und Fabrikationsstätte.
Es gab viele Bodenschätze und Rohstoffe,
eine ertragreiche und fruchtbare Landwirtschaft
und die Infrastruktur war gut.
Die Einwanderung japanischer Siedler
wurde forciert, Amtssprache wurde Japanisch
und die Shinto-Religion eingeführt.
Puyi indes träumte insgeheim von der Rückkehr
auf den Kaiserthron in Peking,
doch die Japaner ließen ihn mehr und mehr spüren,
wer das Sagen hatte. 1934 wurde Mandschukuo
eine Monarchie und war fortan
das Kaiserreich Mandschukuo.
Zu diesem Zweck wurde Puyi
am 1. März 1934 zum Kaiser
von Mandschukuo gekrönt.
Die Krönungszeremonie fand im Beisein
des Prinzen Chichibu statt,
des jüngeren Bruders Kaiser Hirohitos,
was lediglich unterstrich, dass Puyi
Kaiser von Japans Gnaden war.
An seiner einflusslosen Stellung
änderte dies indes nichts.
Im Gegenteil fühlte er sich an seinem Hof,
der eine in sich geschlossene, privilegierte Welt war,
zunehmend wie ein Gefangener.
Umgeben von japanischen Spitzeln
wurde er zunehmend von der Außenwelt isoliert
und zeigte in seinem Verhalten paranoide Züge.
Vom Verlauf des Zweiten Weltkriegs
erfuhr er nur aus der allgemeinen
japanischen Kriegspropaganda.
1945 war Japan militärisch praktisch besiegt.
Im August erklärte ihm die Sowjetunion den Krieg
und marschierte in Mandschukuo ein.
Die japanische Armee stellte sich nicht zum Kampf,
sondern zog sich nach Süden zurück.
Das Land verfiel in Chaos,
die Ordnung löste sich auf.
Am 11. August verließ Puyi seinen Palast in Xinjing
und versuchte sich mit wenigen Getreuen
(unter anderem mit seinem Bruder Pujie)
nach Japan durchzuschlagen.
Auf der Flucht dankte Puyi
am 16. August formell ab
und erklärte die Rückkehr der Mandschurei
nach China. Anschließend wurde er
am Flughafen von Mukden
durch sowjetische Fallschirmjäger
gefangen genommen.
Die Sowjets internierten Puyi
im Kriegsgefangenenlager von Chabarowsk.
Zwischenzeitlich wurde Puyi 1946
als Zeuge beim Internationalen
Kriegsverbrechertribunal in Tokio angehört,
erklärte allein die Japaner
für jegliche Kriegsverbrechen verantwortlich
und sprach sich selbst von aller Schuld frei.
Puyi blieb bis zum August 1950
in sowjetischer Haft, ehe er
nach dem Sieg der Kommunisten
unter Mao Zedong
an die Volksrepublik China ausgeliefert wurde.
Die chinesischen Behörden internierten
den Ex-Kaiser im Gefängnis von Fushun.
Dort traf er neben seinem Bruder Pujie
auf seinen Schwiegervater Prinz Su
und drei Neffen.
Ziel der „Umerziehung“ war es,
Puyi im Sinne des Kommunismus
zu einem loyalen Bürger
der Volksrepublik zu machen.
Er musste schriftlich Selbstkritik üben
und sich vor Parteikadern
für seine Taten verantworten.
Nach neun Jahren im Gefängnis von Fushun
wurde Puyi am 9. Dezember 1959
aus der Haft entlassen.
Die Umerziehung war „erfolgreich“ abgeschlossen
und auf Anordnung Mao Zedongs
war er begnadigt worden.
Anschließend ging er nach Peking,
wurde von seinem Halbbruder Puren aufgenommen
und bekam eine Anstellung als Gärtner
im Botanischen Garten der Stadt zugewiesen,
später als Archivar an einem Institut für Geschichte
einer Pekinger Universität.
Fortan führte er ein einfaches, zurückgezogenes Leben.
Endgültig rehabilitiert wurde er 1964,
als er von der Politischen Konsultativkonferenz
des Chinesischen Volkes zum Mitglied
ihres Nationalkomitees gewählt wurde.
1964 wurde bei ihm Krebs diagnostiziert
und fortan verschlechterte sich
sein Gesundheitszustand kontinuierlich,
bis er schließlich am 17. Oktober 1967
im Pekinger Kreiskrankenhaus verstarb.
Nach den damaligen Gesetzen
wurde sein Leichnam
in einem Krematorium eingeäschert
und zunächst auf dem Pekinger
Revolutionsfriedhof Babaoshan beerdigt.
1995 erreichte seine Witwe
die Verlegung der Urne auf einen Friedhof
außerhalb der Stadt,
nahe den traditionellen Grabstätten
seiner Qing-Vorfahren.
Dort wurden vier der neun Qing-Kaiser,
drei Kaiserinnen,
69 Prinzen
und kaiserliche Konkubinen bestattet.
ZWEITER GESANG
Sun Yat-sen wurde am 12. November 1866
als Sohn einer Bauernfamilie
im Dorf Cuiheng, Bezirk Xiangshan,
Guangdong in Südchina geboren.
Der Bezirk wurde ihm zu Ehren
in Zhongshan umbenannt.
Über seine Herkunft sagte Sun:
„Ich bin ein Kuli und der Sohn eines Kulis.
Ich habe immer mit dem Kampf
des Volkes sympathisiert.“
1878 ging er im Alter von 13 Jahren
erstmals nach Hawaii
und zog zu seinem Bruder nach Honolulu,
der dort bereits als Arbeiter angefangen
und als Händler reich geworden war.
Von 1879 bis 1882 lernte er
an der anglikanischen Iolani School,
danach noch an der Punahou-Schule.
Diese erste Berührung
mit dem Christentum prägte ihn zutiefst.
Nach seiner Rückkehr ins Dorf Cuiheng
zerschlug er einen Götzen im Dorftempel,
um sein Aufbegehren gegen
die herrschenden Umstände zu demonstrieren.
Dafür wurde er aus dem Dorf verbannt.
So begann er im Jahr 1886,
am Hong Kong College of Medicine
for Chinese Medizin zu studieren,
wo er der erste Absolventen war.
Danach arbeitete er als Arzt in Hongkong.
Seine Aufenthalte im Westen
nährten in ihm die Unzufriedenheit
mit der Regierung der Qing-Dynastie
und so begann er seine politischen Aktivitäten damit,
dass er Reformgruppen von Exilchinesen
in Hongkong organisierte.
Im Oktober 1894 gründete er die Xing Zhong Hui,
die Vereinigung zur Wiederherstellung Chinas,
mit dem Ziel, eine Plattform für zukünftige
revolutionäre Aktivitäten zu schaffen.
Im Jahr 1895 schlug der von ihm geplante
Kantoner Aufstand fehl.
Die Qing-Regierung setzte auf ihn ein Kopfgeld aus,
so verbrachte Sun 16 Jahre im Exil in Europa,
den USA, Kanada und Japan.
Dort sammelte er Geld
für seine revolutionären Aktivitäten.
In Japan trat er chinesischen Dissidentengruppen bei
und gründete dort im Jahr 1905
den Tongmenghui-Bund,
den chinesischer Revolutionsbund,
den Vorgänger der Kuomintang.
Er wurde dafür von Japan in die USA ausgewiesen.
In dieser Zeit begann er auch,
westliche Anzüge zu tragen
und ließ sich den chinesischen Zopf abschneiden.
Am 10. Oktober 1911 begann
der Wuchang-Aufstand, der den Auftakt
zur Xinhai-Revolution bildete
und zum Ende der zweitausendjährigen
Herrschaft der Kaiserdynastien in China führte.
Sun hörte von der erfolgreichen Rebellion
des Militärs gegen die Qing-Dynastie.
Daraufhin fuhr er zunächst nach Europa,
um dort die Westmächte davon zu überzeugen,
den Qing keine Kredite mehr zu gewähren.
In London konnte er so
einen wichtigen Erfolg verbuchen.
Er kehrte zu Weihnachten aus Frankreich
nach China zurück.
Am 29. Dezember wurde Sun
in einer Konferenz von Provinzrepräsentanten
in Nanjing zum Übergangspräsidenten
der Republik China gewählt.
Obwohl in der Geschichtsschreibung
der Kuomintang die Rolle von Sun sehr betont wird,
bezweifeln Historiker, dass er im Umsturz
von 1911 eine große Rolle gespielt hatte,
einfach aus dem Grund,
weil er zu jener Zeit im Ausland war.
Vielmehr wurde er zum Übergangspräsidenten gewählt,
weil er geachtet, aber unbedeutend war
und einen Kompromisskandidaten
zwischen Revolutionären
und konservativem Adel darstellte.
Am 12. August 1912 gründet er im Hinblick
auf die bevorstehenden Parlamentswahlen
aus zahlreichen kleineren politischen Gruppierungen
die Nationale Volkspartei Kuomintang.
Nach seiner Vereidigung berief Sun
Delegierte aus allen Provinzen ein,
um die Nationalversammlung
der Republik China zu gründen.
Das Übergangsrecht wurde von dieser Versammlung
zum Grundgesetz der neuen Republik erklärt.
Die Übergangsregierung war trotzdem
in einer sehr schwachen Lage:
Die Südprovinzen hatten ihre Unabhängigkeit erklärt,
während der Norden dies noch nicht getan hatte.
Die Übergangsregierung hatte außerdem
keine Streitkräfte, denn ihre Kontrolle
über die neue Armee war gering
und es gab viele Truppen,
die noch den Qing treu waren.
Daher brauchte Sun die Unterstützung
von Yuan Shikai, dem mit der Beiyang-Armee
das Militär Nordchinas unterstand.
Sun war gezwungen, ihm das Präsidentenamt
zu versprechen, damit er sich auf die Seite
der Revolution schlug
und Kaiser Puyi zum Abdanken zwang.
Als sich Yuan zum Diktator entwickelte,
versuchte Sun 1913,
eine Revolte gegen ihn zu starten.
Als sie fehlschlug, ging Sun ins Exil nach Japan,
wo er die Kuomintang neu organisierte.
1917 kehrte er nach China zurück
und wurde 1921 zum Präsidenten
der selbstproklamierten Nationalregierung
in Kanton gewählt.
1923 erklärte er seine drei Volksprinzipien
in einer Rede zur Basis des Staates
und seine Fünf-Yuan-Verfassung
zur Richtlinie für das politische System.
Um militärische Schlagkraft
für eine Nordexpedition
gegen die Militaristen in Peking zu haben,
gründete er die Whampoa-Militärakademie
in der Nähe von Kanton,
mit Chiang Kai-shek als Kommandeur
und Parteigenossen
wie Wang Jingwei und Hu Hanmin
als politischen Lehrern.
In den frühen 20er Jahren bekam Sun Hilfe
von der Kommunistischen Internationale,
um die Kuomintang
in eine leninistische Partei umzuorganisieren.
Gleichzeitig handelte er
die erste vereinigte Front aus Kommunisten
und Kuomintang aus.
1924 wurde diese Allianz noch gestärkt,
um das Land besser unter Kontrolle bringen zu können.
Zu diesem Zeitpunkt war Sun überzeugt davon,
dass China nur mit Gewalt
von seiner Basis in Südchina aus
vereinigt werden könnte.
Nach einer Periode politischer Vormundschaft
sollte dann ein Übergang
zur Demokratie geschehen.
Am 10. November 1924 reiste Sun
in den Norden und trat
für eine gesamtchinesische Konferenz
sowie die Abschaffung der unfairen Handelsverträge
mit dem Westen ein.
Zwei Tage später reiste er
trotz schlechten Gesundheitszustandes
und Bürgerkriegs wieder in den Norden,
um über die Zukunft des Landes zu diskutieren.
Am 12. März 1925 starb er in Peking
an Leberkrebs im Alter von 58 Jahren.
Seine politische Philosophie,
bekannt als dreifaches Volksprinzip,
wurde im August 1905 veröffentlicht
und war stark an den amerikanischen
Progressivismus angelehnt.
In seinem Werk Methoden und Strategien
zum Aufbau des Landes,
im Jahre 1919 fertiggestellt, schlug er vor,
dieses Prinzip zu verwenden,
um endgültigen Frieden, Freiheit
und Gleichheit in China zu erreichen.
Nach Suns Tod
brach ein Machtkampf zwischen
seinem jungen Protegé Chiang Kai-shek
und dem älteren Wang Jingwei aus,
der die Kuomintang spaltete.
Das lag zum Teil am zwiespältigen Erbe,
das Sun Yat-sen hinterlassen hatte.
Als sich die Allianz zwischen Kommunisten
und der Kuomintang 1927 auflöste
und der Bürgerkrieg ausbrach,
behaupteten alle von sich,
seine wirklichen Erben zu sein.
Diese Spaltung bestand auch
während des japanischen Krieges fort.
Sun Yat-sen ist der einzige chinesische Politiker,
der sowohl in Taiwan
wie in Rot-China großes Ansehen genießt.
In Taiwan wird er als Vater der Republik China betrachtet
und sein Bild ist in fast allen öffentlichen Räumen präsent.
Da Sun Yat-sen nie in der Regierung Taiwans war,
ist er auch bei Befürwortern
der taiwanesischen Unabhängigkeit unverfänglich.
In Rot-China wird er als chinesischer Nationalist
und Vorkämpfer der Republik
und des Sozialismus gesehen.
In den letzten Jahren wurde Sun
auch von der chinesischen Regierung
in den Vordergrund gerückt,
nicht zuletzt um die Beziehungen zu Taiwan
und den dortigen Unterstützern
einer Wiedervereinigung zu verbessern.
Mittlerweile gibt es zu den Mai-Feiern
ein großes Bild von Sun Yat-sen
auf dem Tian-anmen-Platz,
während Bilder von Marx und Lenin
nicht länger zu sehen sind.
DRITTER GESANG
Chiangs Eltern waren Salzhändler
und gehörten zur oberen Mittelschicht.
Sein Vater hatte Schwierigkeiten mit diesem Geschäft.
Nach dem Tod des Vaters 1896
geriet die Familie in Not.
Chiang war Mitglied der Methodistenkirche.
Chiang versuchte erstmals 1906,
eine militärische Ausbildung in Japan zu beginnen.
Diese wurde ihm aber verweigert,
da er keine Erlaubnis
der chinesischen Qing-Regierung vorweisen konnte.
Allerdings lernte er bei seinem Aufenthalt in Japan
Chen Qimei kennen,
der ihm die Tongmenghui-Bewegung näherbrachte,
in die Chiang zwei Jahre später eintrat.
Chiang kehrte noch im Winter 1906
nach China zurück und begann im Sommer
des darauffolgenden Jahres eine Ausbildung
an der Baoding-Militärakademie,
an welcher er nach einem Jahr
eine Prüfung ablegte, die ihm
eine weitere Militärausbildung in Japan erlaubte.
Im Anschluss ging Chiang ein weiteres Mal nach Japan,
wo er ein Studium an einer speziell
für chinesische Studenten eingerichteten
Militärschule aufnehmen konnte.
Nach seinem dortigen Abschluss
im November 1909 wurde er mit einigen anderen
Absolventen dem 19. Feldartillerieregiment
der Kaiserlich Japanischen Armee zugeteilt,
da er Felderfahrung sammeln musste,
bevor er die Kaiserlich Japanische
Heeresakademie hätte besuchen dürfen.
Als er 1911 vom Wuchang-Aufstand hörte,
kehrte er nach China zurück,
um sich an der Bewegung
zum Sturz der chinesischen Kaiserdynastie
zu beteiligen. Mit Hilfe seines Förderers
Chen Qimei übernahm er in Shanghai
die Führung eines Regiments
der revolutionären Streitkräfte
und wurde Gründungsmitglied der Kuomintang.
Nachdem Chiang 1923 Sun Yat-sen
und dessen Frau bei einem Attentat
das Leben rettete, wurde er Suns Protegé.
1923 leitete er eine Studienreise
in die Sowjetunion,
der an einer Stärkung der jungen
Republik China gelegen war.
1924 wurde er von Sun zum Leiter
der neugegründeten Whampoa-Militärakademie ernannt.
Whampoa wurde finanziell und personell
von der Sowjetunion unterstützt.
Sowjetische Berater halfen auch,
die Kuomintang als Einheitspartei zu formen.
Die chinesischen Kommunisten wurden aufgefordert,
der Kuomintang beizutreten.
Nach dem Tod von Sun Yat-sen
übernahm Chiang 1925 die Kontrolle
über die Kuomintang.
Seine Machtposition war aber bedroht,
zum einen durch die Kommunisten
außerhalb der Partei
und durch den linken Flügel in der Partei,
vertreten durch Wang Jingwei.
Außerdem wurden viele Regionen Chinas
durch Kriegsherren
wie die Nördlichen Militaristen beherrscht
oder waren gänzlich
dem politischen Chaos verfallen.
Unterstützung erhielt Chiang Kai-shek
von Du Yuesheng, dem Chef der Grünen Bande,
der 1925 in die Kuomintang eintrat.
1926 begann er als Kuomintang-Führer
die Nordexpedition, einen Feldzug
gegen das Kriegsherren-Regime
Zhang Zuolins in Nordchina.
Das Ziel war die Einigung Chinas
unter der Kuomintang-Regierung.
1928 beendete er diese Mission siegreich.
Im April 1927 schlug Chiang
mit Hilfe der Grünen Bande
im Shanghai-Massaker Aufstände
in der Arbeiterschaft Shanghais blutig nieder.
Aufständische Arbeiter wurden exekutiert,
die Kommunisten verloren
ihre wichtigste Wirkungsstätte.
Die erfolgreiche Durchführung
der Nordexpedition stärkten Chiangs Position
gegenüber seinen Gegnern wie Wang Jingwei.
Auf Bitten seiner Frau
und nach „sorgfältiger Prüfung
des Fragenkomplexes“ war Chiang
Christ geworden, Methodist.
Später hat er selbst eine chinesische
Bibelübersetzung redigiert
und ein Vorwort zu einer Psalmenübersetzung geschrieben.
Nach der Ausschaltung der Kommunisten
und der Wiedererlangung der Kontrolle
über Nordchina wurde Chiang
auch vom Ausland als der neue starke Mann
Chinas anerkannt. Die Anzahl
der ausländischen Konzessionen
verringerte sich. Die Kuomintang-Regierung
gewann die Kontrolle über Steuern und Zölle zurück,
die unter der Qing-Dynastie
an die ausländischen Mächte
abgetreten worden waren.
Mit dem Mukden-Zwischenfall
begann 1931 Japans Invasion der Mandschurei,
die schon seit 1895
zum japanischen Einflussbereich gehörte,
in der aber die chinesische
Nationalregierung versuchte,
ihren Einfluss auszubauen.
Um seine Machtposition zu schonen,
befahl Chiang den Rückzug.
1932 errichtete Japan dort
seinen Satellitenstaat Mandschukuo.
Um Japans Dominanz zu begegnen
und den innerchinesischen Konflikt
mit den Kommunisten für sich zu entscheiden,
war es notwendig, die Modernisierung
von Wirtschaft und Militär voranzutreiben.
Unterstützung erhielt Chiang von Deutschland,
das im Zuge seiner Wiederaufrüstung
auf chinesische Rohstoffe angewiesen war.
Im Rahmen der Chinesisch-Deutschen Kooperation
waren Deutsche von 1933 bis 1938
als Militärberater für Chiang tätig.
Schon seit 1930 versuchte er
mit seiner national-chinesischen Partei
Kuomintang jegliche kommunistische
Bewegung auszulöschen.
Damit war er in mehreren Feldzügen
und mit weiträumigen Belagerungen
relativ erfolgreich, mit Ausnahme
in den von Mao Zedong
kontrollierten Gebieten.
Am 12. Dezember 1936,
im Zwischenfall von Xi’an,
wurde Chiang von General Zhang Xueliang,
der zwar Chiangs Kommando unterstand,
aber als langjähriger Kriegsherr
auch eigene Interessen verfolgte, entführt.
Um den Machtkampf für sich zu entscheiden,
baute er auf die Unterstützung der Sowjetunion
und wollte im Gegenzug
die Bedrängung der chinesischen
Kommunisten aufgeben.
Aber schon am 14. Dezember 1936
verurteilten die sowjetischen Zeitungen
Prawda und Iswestija die Entführung.
Am 16. Dezember leitete die Nationalregierung
militärische Aktionen gegen Zhang Xueliang ein.
Er gab schließlich auf
und ließ sich von Chiang unter Hausarrest stellen,
aus dem er erst 1990 wieder entlassen wurde.
Zeitgleich stellte die Sowjetunion
aber in Aussicht, Chiangs Sohn
Chiang Ching-kuo
aus der Sowjetunion ausreisen zu lassen,
was von Chiang Kai-shek sehnlichst erwartet wurde.
Chiang entschloss sich zu einem Bündnis
mit den Kommunisten, das formal
bis zum Ende des Krieges mit Japan hielt.
Während des Zweiten Chinesisch-Japanischen-Krieges
von 1937–1945, eines Teils des Zweiten Weltkriegs,
konnte sich Chiang trotz der Kampfhandlungen
mit den Japanern einerseits
und des Konfliktes mit den Kommunisten andererseits
an der Macht halten.
Japans Militärs meinten,
China in drei Monaten besetzen zu können,
was aber schon in Shanghai
am chinesischen Widerstand scheiterte;
allein die Einnahme der Stadt dauerte vier Monate.
Entgegen der Meinung seiner militärischen Berater
befahl Chiang den Großteil seiner besten Einheiten
in die Schlacht um Shanghai.
Die Japaner konnten zwar die Stadt erobern,
der erbitterte Widerstand stärkte aber
die Moral der Chinesen.
Chiang musste sich nach dem Fall
der Hauptstadt Nanjing
nach Wuhan und 1938 nach Chongqing zurückziehen,
es gelang ihm aber, den Japanern
empfindliche Rückschläge zuzufügen,
wie 1938 bei der Schlacht um Tai’erzhuang
oder bei den vier Schlachten um Changsha
zwischen 1939 und 1944.
Chiangs Deichbruchaktion
in der Provinz Henan am Gelben Fluss
am 9. Juni 1938 mit der Idee,
durch Flutung ganzer Provinzen
die japanische Armee aufzuhalten,
forderte fast eine Million Tote.
Die Flutungen schafften es immerhin,
den japanischen Feldzug gegen Wuhan
für Monate zu unterbrechen.
Die Überlebenden wurden zum Wiederaufbau
der Deiche gezwungen;
erst 1947 waren alle Deiche wieder aufgebaut.
Mao Zedong und Chiang
hatten zwar offiziell eine zweite Einheitsfront
gegen die Japaner geschmiedet.
Dies war aber nur ein brüchiger Frieden.
Chiang und Mao wussten,
dass sie ihre Armeen für den absehbaren
innerchinesischen Konflikt brauchen würden.
Nach Kriegseintritt wurde Chiang
trotz zunehmender Korruption
und abnehmenden Rückhalts in der Bevölkerung
von den USA zunächst bis 1945
und anschließend bis 1949
mit Milliarden US-Dollar unterstützt.
Der Kriegseintritt der Sowjetunion
gegen Japan ermöglichte es Stalin,
wieder Einfluss in China zu nehmen.
Die von den Sowjets erbeuteten Waffen
sollten vertragsgemäß
der chinesischen Regierung übergeben werden.
Stattdessen stattete die Rote Armee
die Kommunistische Partei Chinas
nach der Niederlage Japans
mit dem erbeuteten japanischen Kriegsgerät aus.
Damit endete die Allianz
zwischen Chiang Kai-sheks Kuomintang
und Mao Zedongs Kommunistischer Partei
und der Konflikt entflammte erneut.
Zwischenzeitlich wurden die Staatsorgane
der Republik China nach Nanjing zurück verlegt.
Nachdem eine Verfassungskommission
ihre Arbeit beendet hatte,
konnten 1947 landesweite Wahlen
für die Nationalversammlung
und die Gesetzgebungskammer
durchgeführt werden. Überraschenderweise
gewannen mehrheitlich unabhängige Kandidaten,
gefolgt von der Kuomintang,
den Sozialdemokraten
und der Jung-China-Partei.
Wegen der zunehmenden Auseinandersetzungen
mit der Volksbefreiungsarmee
entschloss sich die Nationalversammlung
gleich nach ihrer Konstituierung
zur Verabschiedung von Sondergesetzen,
welche dem künftigen Präsidenten
faktisch diktatorische Vollmachten
zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung
für den Zeitraum der „kommunistischen Rebellion“
verleihen sollte. Erst danach
wählte die Nationalversammlung Chiang Kai-shek
mit 2.430 Stimmen zum Präsidenten.
Maos militärische Siege
führten zu systematischem Terror
in den eroberten Gebieten,
wozu insbesondere die Verfolgung und Tötung
von „Kapitalisten“
und „Großgrundbesitzern“
sowie Geistlichen sämtlicher Religionsgemeinschaften,
Personen mit Auslandsverbindungen
und Anhängern der Kuomintang
und anderer Parteien.
1949 siegten die Kommunisten endgültig.
Chiang Kai-shek und seine Anhänger
zogen sich nach Taiwan zurück.
Im Dezember 1949 wurde auf Taiwan
der neue Sitz der Verfassungsorgane
der Republik China,
mit einer vorübergehenden Hauptstadt,
Taipeh, eingerichtet.
In dieser Position erhob Chiang
weiterhin Anspruch auf ganz China.
Auf Taiwan errichtete Chiang Kai-shek
ein autoritäres Regime
innerhalb des rechtlichen Rahmens
der Sondergesetze, die ihm
die Nationalversammlung 1948 übertragen hatte.
Unter dieser diktatorischen Führung
konnten die Wirtschaft
und das Bildungssystem gefördert werden,
weshalb Chiangs Herrschaft
als „Entwicklungsdiktatur“ bezeichnet wurde.
Demokratische Prozesse waren dagegen
auf die Kommunen und Kreise beschränkt.
Die Verehrung Chiangs wurde häufig
mit dem Personenkult
seines Rivalen Mao Zedong verglichen.
Chiang Kai-shek betrieb in der Zeit
zwischen 1950 und 1975 offiziell
eine Politik der Rückeroberung Chinas.
Taiwan wurde von den USA
finanziell und materiell unterstützt.
Chiangs Rumpfparlament –
nicht alle Mitglieder der republikanischen
Nationalversammlung waren nach Taiwan übergesiedelt –
war ein dauerndes Provisorium
ohne eigentliche gesetzgebende Funktion.
Nach dem Ausbruch des Koreakrieges von 1950
erhielt Taiwan von den USA
militärische Unterstützung,
um der Volksrepublik China –
auch nach der Besetzung Tibets –
deutliche Grenzen zu setzen.
Dabei hatten die USA Schwierigkeiten,
Chiangs militärische Blockaden der Taiwan-Straße
und die Gegenwehr durch Artilleriebeschuss
aus der Volksrepublik
in einem Status quo zu halten.
1955 musste Taiwan die Drachen-Inseln
und Nanchi an die Volksrepublik China abtreten,
die Bewohner wurden zuvor
mit US-amerikanischer Hilfe evakuiert.
Bis zu seinem Tod 1975
blieb er Präsident der Republik China.
Er wurde von der letztmals 1947
noch gesamtchinesisch gewählten
Nationalversammlung viermal
ohne Gegenkandidaten wiedergewählt.
Seine eigene Rolle als autoritär
herrschender Präsident sah Chiang
lediglich als notwendiges Übel
zur Verteidigung der Republik China
und der Verfassungsdoktrin
der Lehren Sun Ya-sens an
(Staatliche Unabhängigkeit,
wirtschaftliche Gerechtigkeit und Demokratie).
Gegenüber einem US-General
erklärte Chiang deshalb: „Sollte ich sterben,
solange ich noch Diktator bin,
werde ich sicherlich wie andere Diktatoren
in Vergessenheit geraten.
Sollte ich aber auf der anderen Seite
darin erfolgreich sein,
das stabile Fundament
für eine demokratische Regierung zu schaffen,
werde ich für immer in jeder Familie
Chinas weiterleben."
Nach dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis
und durch die Zündung von Chinas
erster eigener Atombombe von 1965
wurde die internationale Machtposition
der Republik China geschwächt.
Die Volksrepublik China wurde
von immer mehr Staaten
als Vertretung anerkannt.
Nach dem Verzicht auf Schadenersatz
für Kriegsschäden gelang es
der Volksrepublik 1972
die diplomatische Anerkennung
durch Japan zu erreichen.
1973 wurde Taiwan nur noch von 39 Staaten,
2006 von 23 Staaten
als offizielle Vertretung Chinas angesehen.
Chiang Kai-shek starb 1975
in Taiwans Hauptstadt Taipeh
an einem Herzanfall.
VIERTER GESANG
Mao Zedong wurde am 26. Dezember 1893
als ältester Sohn einer Bauernfamilie
im zentralchinesischen Shaoshan,
Provinz Hunan, geboren.
Seine Vorfahren lebten seit 500 Jahren
in dieser Gegend.
Politisch war die Zeit
durch den Verfall der Mandschu-Dynastie geprägt.
Doch wegen der Abgeschiedenheit des Dorfes,
zu dem weder Straßen
noch schiffbare Flüsse führten,
erfuhr die Bevölkerung erst zwei Jahre
nach dem Tod des vorletzten Kaisers
im Jahr 1908 von dessen Ableben.
Aufgrund des bescheidenen Wohlstandes seiner Familie
konnte Mao zunächst im Hause
eines Privatlehrers eine einfache
Schulausbildung genießen,
die vor allem im Auswendiglernen
konfuzianischer Klassiker bestand,
die das Begriffsvermögen Maos überstiegen.
Das Lesen wurde für das Kind zur Leidenschaft,
die er zeit seines Lebens beibehielt.
Mit seinen Lehrern geriet Mao häufig aneinander,
so dass er aufgrund seiner Neigung
zu ungehorsamem und eigensinnigem Verhalten
mehrerer Schulen verwiesen wurde.
1911, am Vorabend der Xinhai-Revolution,
trat er in die Mittelschule
in der Bezirkshauptstadt Changsha ein.
Zu dieser Zeit begann sein politisches Interesse
zu erwachen. Er informierte sich
mit Hilfe von Zeitungen
über die aktuellen Debatten und holte nach,
was er bisher versäumt hatte.
Er schrieb seinen ersten politischen Aufsatz,
in dem er republikanische Positionen vertrat.
Zusammen mit einem Kollegen lauerte er
anderen Schülern auf
und schnitt diesen gewaltsam
die in der verhassten Mandschu-Dynastie
gebräuchlichen Zöpfe ab.
Mao Zedongs Muttersprache war Xiang.
Er sprach Hochchinesisch nur unter Anstrengungen
und mit starkem Akzent.
Während der Chinesischen Revolution von 1911
wurde er Mitglied der anti-kaiserlichen Armee
von Hunan, kehrte danach aber wieder
in die Schule zurück.
1918 folgte er seinem Lehrer Yang Changji
nach Peking. Durch Vermittlung dieses Lehrers
fand er eine Anstellung als Hilfsbibliothekar
an der Peking-Universität
und bekam unter anderem Kontakt zu Li Dazhao,
einem der wichtigsten frühen chinesischen Marxisten
und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas.
Er lernte in Peking seine spätere zweite Ehefrau
Yang Kaihui, die Tochter seines Lehrers, kennen.
Liebesheiraten waren damals noch alles andere
als der Normalfall, dementsprechend
wurde die Verbindung von den jungen
linken Intellektuellen in Changsha
als Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts gefeiert.
Anders als viele andere spätere Führungskräfte
des chinesischen Kommunismus
verbrachte Mao die frühen 1920er Jahre
nicht im Ausland, sondern mit ausgedehnten Reisen
durch Hunan und andere chinesische Provinzen.
Mao war keiner der Teilnehmer bei der Gründung
der Kommunistischen Partei Chinas
1920 in Shanghai, sondern lebte zu dieser Zeit
bereits wieder in Changsha.
Die Gründung wurde angeregt durch die
von Lenin einberufene
Dritte Kommunistische Internationale.
Später wurde dieses Treffen
als die Neue Internationale,
kurz Komintern bezeichnet.
Erst 1921 nahm Mao an dem
durch die 2. Komintern organisierten
Ersten Kongress der kommunistischen Partei Chinas
als einer der 13 chinesischen Delegierten teil.
1923 wurde er auf dem zweiten Parteikongress
ins Zentralkomitee gewählt.
Während der Ersten Einheitsfront
zwischen den Kommunisten und der Kuomintang
war er Direktor eines Instituts
zur revolutionären Erziehung
der Bauern in Guangzhou.
Nach dem Bruch zwischen Kuomintang
und Kommunistischer Partei 1927
startete Mao einen Aufstand in Changsha,
der aber schnell niedergeschlagen wurde.
Mit einigen anderen Überlebenden
zog sich Mao in das Jinggang-Gebirge zurück,
wo er seine Truppen mit denen
von Zhu De, Chen Yi und Zhou Enlai vereinigte,
die sich nach dem Nanchang-Aufstand
ebenfalls hierhin zurückgezogen hatten.
Zu dieser Zeit begann Mao seine Gegner
und einen Teil der lokalen Bevölkerung
im Rahmen von „Säuberungen“
einzuschüchtern und zu töten.
Die Times schrieb: „Der Name Mao
ist seit zwei Jahren an den Grenzen
von Fukien und Kwangtung berüchtigt.
Zweimal konnte man ihn in die Berge vertreiben,
wo er aber zu beweglich war,
um ihn gefangen zu nehmen,
aber mit den ersten Anzeichen von Entspannung
bei den Behörden kommt er wieder herunter
und verwüstet die Ebene.
Mao nennt sich selbst einen Kommunisten.
Wohin auch immer Mao geht,
wendet er sich an die Bauern und sagt ihnen,
sie sollen die Kapitalisten zerstören.
Dabei ist er selbst wirklich der übelste Bandit.“
Die Guerilla-Basis vergrößerte sich schnell;
1928 beherrschte sie bereits ein Gebiet
mit über 500.000 Einwohnern.
Unter dem Druck der Kuomintang
wurde das Zentrum 1931
etwas nach Süden verlagert,
und die Jiangxi-Sowjetrepublik wurde gegründet.
Die Zeit war allerdings auch geprägt
von andauernden Machtkämpfen
zwischen Mao, der die Revolution
durch Guerillakrieg erreichen wollte,
und an der Komintern orientierten Gruppen,
die auf eine Revolution des Proletariats setzten.
In Jinggangshan lernte Mao
auch seine dritte Partnerin He Zizhen kennen.
Seine Geliebte Yang Kaihui hatte Mao
in Changsha zurückgelassen,
wo sie von der Kuomintang verhaftet
und 1930 hingerichtet wurde.
Ihre Kinder mit Mao mussten sich eine Zeit lang
als Straßenkinder in Shanghai durchschlagen,
bevor sie außer Landes gebracht werden konnten.
1934 wurde der Druck der Kuomintang
schließlich so stark, dass die Jiangxi-Sowjetrepublik
aufgegeben werden musste.
Die Kommunistischen Truppen zogen
im Langen Marsch nach Yanan,
in der Provinz Shaanxi,
ständig auf der Flucht vor Truppen der Kuomintang
oder feindlicher lokaler Kriegsherren.
Mao selbst legte den größten Teil des Weges
in einer eigens für ihn konstruierten Sänfte zurück.
Unter den Opfern waren wahrscheinlich
auch mehrere Kinder von ihm und He Zizhen,
die bei Bauern untergebracht,
aber nach 1949
nicht mehr aufgefunden werden konnten.
He Zizhen selbst überlebte zwar,
aber war gesundheitlich angeschlagen.
Sie wurde 1937 in die Sowjetunion geschickt,
um sich zu kurieren, aber auch,
um Mao nicht bei dessen Affäre
mit seiner späteren vierten Ehefrau,
der Schauspielerin und Politikerin
Jiang Qing, im Wege zu stehen.
Während des Langen Marsches konnte sich Mao
auf der Konferenz von Zunyi
mit Hilfe von Zhou Enlai als Anführer
der Kommunistischen Partei durchsetzen.
In Yanan konnte sich
die Kommunistische Partei Chinas
nur durch finanzielle Hilfe aus Moskau
und durch den großangelegten Mohnanbau
und den damit erzielten Einkünften
aus dem Drogenhandel stabilisieren.
Auch war das Gebiet abgelegen genug,
um erfolgreich Angriffe
der Kuomintang zu verhindern,
und außerdem führte der Chinesisch-Japanische Krieg
1937 zur Zweiten Einheitsfront.
Diese entstand im Wesentlichen
durch Vermittlung Stalins,
der durch ein starkes China
Japan von einem direkten Angriff
auf die Sowjetunion abhalten wollte.
Nach der Kapitulation Japans
und dem Rückzug der japanischen Truppen aus China
flammte der Bürgerkrieg 1946
erneut mit voller Härte auf.
Die Kuomintang und ihr Führer Chiang Kai-shek
hatten jedoch während des Krieges an Stärke verloren,
während die Kommunisten
enorm an Stärke gewonnen hatten.
Nach der Ausrufung der Volksrepublik China
am 1. Oktober 1949 zog sich die Kuomintang
nach Taiwan zurück,
wo sie die Republik China fortführte.
Am 25. Juni 1950 hatte der Koreakrieg
mit einer Offensive der nordkoreanischen
Volksarmee begonnen.
Am 28. Juni wurde Seoul von Nordkorea erobert.
Amerikanische und verbündete Truppen
schlugen den Angriff zurück.
Sie überschritten am 7. Oktober 1950
die Demarkationslinie
und nahmen Pjöngjang ein.
Daraufhin antwortete die Volksrepublik China
am 19. Oktober mit einer Offensive
gegen die Vereinten Nationen
und die südkoreanischen Truppenverbände.
Hintergrund waren die außenpolitischen Probleme
mit den Vereinigten Staaten
und die Ablehnung einer Wiedervereinigung Koreas
unter amerikanischer Führung.
Der Angriff wurde von zunächst etwa 200.000
chinesischen Soldaten
unter widrigsten Umständen vorgetragen.
Am 4. Januar 1951 nahmen Chinesen
und Nordkoreaner Seoul zum zweiten Mal ein.
In dieser verlustreichen Sturmeroberung,
die hauptsächlich von chinesischen
„Freiwilligenverbänden“ ausgeführt wurde,
wurden die Truppen der Südkoreaner zurückgeschlagen.
Der militärische Erfolg, nach 100 Jahren
der Machtlosigkeit gegenüber ausländischen Invasoren,
galt als einer der wichtigsten Erfolge Maos.
Im Mai 1956 initiierte Mao
die „Hundert-Blumen-Bewegung“:
Er ließ die Zensur für die Intellektuellen lockern,
um neue Anregungen zu erhalten,
wobei er davon ausging, dass er nur drei Prozent
der Intellektuellen gegen sich habe.
Aus Angst vor dem Regime setzte die Kritik
der Intellektuellen erst ein Jahr später ein,
im Mai 1957 im Zuge einer weiteren Kampagne.
Da auch Maos Politik dabei heftig kritisiert wurde,
ließ Mao durch Deng Xiaoping
die „Hundert-Blumen-Bewegung“ stoppen,
diffamierte die Intellektuellen
in einem neuen Klassenkampf
und ließ 300 000 von ihnen inhaftieren.
Weiter wurden 700 000 ihm als „Volksfeinde“
erscheinende Angestellte entlassen
und durch neue kommunistische Kader
aus den Bauernschichten ersetzt.
Aufgrund der neuen,
zumeist unqualifizierten Führungskader,
die wissenschaftliche Ratschläge und Methoden
oftmals als „unproletarisch“
oder „antikommunistisch“ brandmarkten,
griffen Misswirtschaft und Missmanagement
in weiten Teilen
der chinesischen Wirtschaft um sich.
In einer Rede vor Parteiführern sagte Mao 1958:
„Was ist so ungewöhnlich an dem Kaiser Shi Huangdi
aus der Qin-Dynastie?
Er hat nur 460 Gelehrte lebendig begraben,
wir dagegen haben 46 000 Gelehrte lebendig begraben.
Wir sind dem Kaiser in Bezug
auf die Unterdrückung konterrevolutionärer
Gelehrter hundertfach voraus!“
Der „Große Sprung nach vorn“
war die offizielle Parole für die Politik
der Volksrepublik China von 1958 bis Anfang 1962.
Ziel war es, China auf schnellstem Weg
zu einer industriellen Großmacht zu machen,
Ergebnis jedoch war die größte
von Menschen ausgelöste Hungersnot
der Geschichte! Sie kostete etwa
45 Millionen Menschen das Leben!
Deng Xiaoping, der spätere Reformpolitiker,
stritt seine Mitverantwortung
an dem „Großen Sprung“ nicht ab
und warnte davor, alle Schuld
auf Mao zu schieben.
Am 1. April 1980 sagte er dazu:
„Maos Hirn ist damals heißgelaufen.
Unsere Köpfe aber auch.
Keiner hat ihm widersprochen,
auch ich nicht“.
Da die katastrophalen Folgen der Kampagne
gegenüber der Bevölkerung
verschwiegen und diejenigen beseitigt wurden,
die darüber zu sprechen wagten,
blieb der Nimbus Maos intakt.
Nach der Zündung der ersten
chinesischen Atombombe
im Jahre 1965 sowie nach der Veröffentlichung
der „Mao-Bibel“ mit von Lin Biao
zusammengestellten Zitaten Maos
wuchs seine Verehrung bei der Bevölkerung,
und seine ideologische Stellung
wurde zunehmend unanfechtbar,
obwohl er nach dem Scheitern
des „Großen Sprungs“ einen Großteil
seiner Macht eingebüßt hatte.
1966 startete Mao
die „große Proletarische Kulturrevolution“
durch seine Unterstützung kritischer Wandzeitungen
und den Aufruf an Schüler, Studenten und Arbeiter,
neu etablierte Gesellschaftsstrukturen zu brechen.
Mit der Parole „Die Liebe zu Mutter und Vater
gleicht nicht der Liebe zu Mao Zedong“
forderte er Kinder auf, ihre Eltern
als „Konterrevolutionäre“
oder „Rechtsabweichler“ zu denunzieren –
wie überhaupt die Förderung der Denunziation
eines von Maos wirksamsten
Herrschaftsinstrumenten war.
Das erklärte Ziel der Kampagne
war die Beseitigung reaktionärer Tendenzen
unter Parteikadern, Lehrkräften
und Kulturschaffenden.
In Wirklichkeit sollte durch das entstehende Chaos
die erneute Machtergreifung Mao Zedongs
und die Beseitigung seiner innerparteilichen
Gegner erreicht werden, was Mao
mit Hilfe der Viererbande auch gelang.
Seine innerparteilichen Gegner
wurden wegen Landesverrats verhaftet,
getötet oder durch schwere körperliche Arbeit
„resozialisiert“. Die im Zuge der Revolution
aufgehetzten Jugendlichen
schlossen sich zu „Roten Garden“ zusammen.
In der Folgezeit schwänzten die Jugendlichen
Schulen und Universitäten,
töteten und misshandelten zahlreiche Menschen,
insbesondere Menschen mit Bildung
(Lehrer, Ärzte, Künstler, Mönche),
zerstörten Kulturdenkmäler, Tempel,
Bibliotheken und Museen,
bekämpften sich untereinander
und störten die öffentliche Ordnung nachhaltig.
Mao Zedong, der die Macht wieder fest im Griff hatte,
rief daher bereits 1968
die randalierenden Jugendlichen dazu auf,
ihren „wahren Revolutionsgedanken“
in die spärlich besiedelten, bäuerlichen
Westprovinzen zu tragen,
und sich die dortigen, hart arbeitenden Bauern
als proletarische Vorbilder zu nehmen.
Da nur wenige Jugendliche
schulfreies Unruhestiften
in chinesischen Großstädten
durch harte Feldarbeit
in armen Westprovinzen ersetzen wollten,
musste in der Folgezeit die Armee eingesetzt werden,
um die Roten Garden offen zu bekämpfen
und die neu eingeführte Schulpflicht zu erzwingen.
In der Folge wurden zahlreiche Rote Garden
bei Massenexekutionen erschossen.
Die Kulturrevolution wurde erst nach Maos Tod
im Jahr 1976 offiziell als beendet erklärt
und die Viererbande
für die Unruhen verantwortlich gemacht.
Außenpolitisch war die Aufnahme
der Volksrepublik China
in die Vereinten Nationen 1971
Maos größter Erfolg.
Auch der Besuch des amerikanischen Präsidenten
Nixon 1972 trug dazu bei,
dass der „Bambusvorhang“ durchlässiger wurde.
Nachdem Mao im selben Jahr
einen ersten Schlaganfall erlitt,
wurde der Spitzenfunktionär Deng Xiaoping
aus der Verbannung geholt.
Nach Maos Tod wurde eine neue Verfassung eingeführt
und die Viererbande sofort verhaftet.
Die Mao-Witwe Jiang Qing
wurde in einem Prozess 1981
zum Tod auf Bewährung verurteilt.
Das Urteil wurde zwei Jahre später
in lebenslänglich umgewandelt.
1991 wurde sie aus gesundheitlichen Gründen
entlassen, doch zehn Tage später
tötete sie sich selbst.
Nach der endgültigen Rehabilitierung
von Deng Xiaoping 1977
und nach der diplomatischen Anerkennung
durch die Vereinigten Staaten am 1. Januar 1979
öffnete China die Grenzen
und rehabilitierte die überlebenden Mao-Opfer.
Der Inhalt der Mao-Bibel wurde 1980
als Weisheit der gesamten Führung
durch Mao definiert.
1981 gestand die Kommunistische Partei
schließlich erstmals offiziell
die Misserfolge der Kampagnen ein,
sie schützt Mao aber weiterhin:
Die Kulturrevolution sei ein grober Fehler gewesen,
Maos Wirken sei in der Endabrechnung
aber zu siebzig Prozent positiv zu bewerten,
denn die Leistungen würden
die Irrtümer mehr als ausgleichen.
Außenpolitisch band Mao China zunächst
eng an die Sowjetunion an.
Seine Zweifel an der Tauglichkeit
des sowjetischen Modells zur Entwicklung
und weltweiten Verbreitung des Kommunismus
ließen ihn aber nach dem Tode Stalins
den allmählichen Bruch
mit der Sowjetunion vorantreiben.
Sinn und Zweck der permanenten
innenpolitischen Kampagnen
war vordergründig, die sich immer wieder
bildenden bürgerlichen Strukturen
durch eine „permanente Revolution“
zu zerschlagen. Diese Säuberungen
dienten allerdings hauptsächlich
Maos diktatorischem Machtanspruch,
den er rücksichtslos gegen alle tatsächlichen
und vermeintlichen Feinde
innerhalb und außerhalb der Partei verteidigte.
Man spricht von insgesamt 76 Millionen Toten,
die Maos Politik gekostet hat.
Der Maoismus als politische Bewegung
war nicht nur in China prägend,
sondern beeinflusste auch
die europäische Studentenbewegung um 1968,
die Naxaliten in Indien,
die Guerillabewegung Leuchtender Pfad in Peru,
die Kommunistische Partei der Philippinen
und zahlreiche andere Parteien,
Gruppen und Splittergruppen.
Einige Jugendliche im Westen sahen Maos
radikales Vorgehen gegen die Bürgerlichen
als Modell für die Bekämpfung
„bourgeoiser“ Strukturen weltweit.
Rot-China war während der gesamten
dreißigjährigen Herrschaft Maos
ein wirtschaftlich darniederliegendes,
von politischen Verfolgungen gezeichnetes
und bis 1972 außenpolitisch
weitgehend isoliertes Land.
Mao war viermal verheiratet
und hatte zwei Söhne und zwei Töchter.
Der Biografie seines Leibarztes zufolge
hatte Mao darüber hinaus sexuellen Verkehr
mit hunderten weiteren Frauen.
Dabei habe Mao bewusst das Risiko
in Kauf genommen, die Frauen
mit seinen Geschlechtskrankheiten,
die er nie auskuriert hatte, zu infizieren.
FÜNFTER GESANG
Derzeit gibt es in der Volksrepublik China
etwa 80 Millionen Christen,
das wären bis zu sechs Prozent der Bevölkerung.
Eine evangelikal-christliche
Missionsorganisation behauptet jedoch,
dass bis zu fast acht Prozent der Bevölkerung
auf dem chinesischen Festland Christen sind;
das wäre ein höherer Anteil als in Taiwan.
In China haben europäische Missionare
lange mit wenig Erfolg versucht zu missionieren.
Nachdem die europäischen Missionare
in den 1950er Jahren des Landes verwiesen wurden
und nachdem während der Kulturrevolution
das religiöse Leben streng verboten war,
hat das Christentum in den letzten dreißig Jahren
ohne wesentliche ausländische Unterstützung
einen massiven Aufschwung genommen.
Inzwischen hat China
eine der größten christlichen Gemeinden
mit weiterem stabilem Wachstum.
Bisher hat die übrige Christenheit
von dieser äußerst lebendigen
chinesischen Variante des Christentums
kaum Notiz genommen.
Katholizismus und Protestantismus
werden in der Volksrepublik China
als verschiedene Religionen angesehen.
Es gibt wenig Ökumene.
Die Katholische Kirche
und die protestantischen Gemeinden
haben untereinander kaum Kontakt.
Die kirchliche Situation ist sehr kompliziert
und abhängig von Konfession, Denomination
und Ort oder Diözese.
Es herrscht eine zunehmende Undurchschaubarkeit
im Bereich der Katholischen Untergrund-Kirche
und den protestantischen „Hauskirchen“
bei gleichzeitiger Entstehung
von ausgedehnten Grauzonen
zwischen dem „Untergrund“
und der vom Staat offiziell anerkannten Kirchen.
Es gibt ein sehr intensives sakramentales Leben
und unzählige Aktivitäten,
die eigentlich in keiner Entsprechung
zum Personal und zu den finanziellen
Möglichkeiten der Kirche stehen.
In der chinesischen Christenheit
gibt es eine Vitalität des christlichen Lebens,
die den europäischen Christen
inzwischen meist fremd ist.
Die christliche Lehre ist noch nicht sehr gefestigt.
Es besteht immer noch theologische
Unklarheit und Unsicherheit
in den Gemeinden mit der Gefahr,
dass ganze Gemeinden
von Sekten vereinnahmt werden.
Es gibt eine große Unversöhnlichkeit
zwischen den Gruppierungen der Kirchen
wie zwischen der offiziellen katholischen Kirche
und der Katholischen Untergrund-Kirche.
Die christliche Mission
hat in China eine sehr lange Geschichte.
Sie war jedoch bis 1949
im Wesentlichen ein Misserfolg.
Trotz jahrhundertelanger Bemühung
gab es bei der Gründung der Volksrepublik China
im Jahre 1949 nur etwa zwei Millionen Christen.
Die Volksrepublik China wurde,
gemäß der Verfassung,
als ein atheistischer Staat gegründet.
Zu dem Ziel, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten,
gehörte aber auch die Beseitigung der Religionen,
die dadurch zunehmend unter Druck gerieten.
Bis Mitte der 1950er Jahre
wurden alle ausländischen Missionare ausgewiesen.
Den Kirchen in China wurde der Kontakt
zu Institutionen und Vereinigungen
im Ausland untersagt.
Während der Kulturrevolution
wurde die Religionsausübung
vollkommen unterdrückt.
Unter Deng Xiaoping begann eine neue Periode
der Öffnung, in der auch die Religionsausübung
wieder erlaubt wurde. Seit Mitte der 80er Jahre
gibt es in China ein massives Anwachsen
der Religionsgemeinschaften.
Wissenschaftler sprechen
von einem „Religionsfieber“.
Inzwischen kommen allein zur offiziellen
protestantischen Gemeinde Chinas
jedes Jahr eine Million Menschen
neu zu den Gemeinden hinzu.
Nicht nur das Christentum wächst im heutigen China,
auch der Buddhismus, der Taoismus und der Islam.
Das Christentum hat sich aber in den letzten Jahren
am schnellsten entwickelt.
In China gibt es fünf staatlich anerkannten
Religionen: Katholizismus,
Protestantismus, Buddhismus, Taoismus und Islam,
die jeweils eine sogenannte
„Patriotische Vereinigung“ besitzen müssen.
Die patriotischen Vereinigungen
der Religionsgemeinschaften,
die in den 50er Jahren entstanden sind,
gründen auf den bereits
in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts
von chinesischen Theologen formulierten
Drei-Selbst-Prinzipien. Diese sind:
Selbsterhaltung, also finanziell selbstständig zu sein
und keine ausländische Hilfe annehmen,
Selbstverkündung, also das Evangelium
durch einheimische Kräfte zu verkünden,
Selbstverwaltung, also die Kirche in China selbstständig,
ohne ausländischen Einfluss zu verwalten.
Zu diesen staatlich geforderten Vereinigungen
zählen die protestantische
„Patriotische Drei-Selbst-Bewegung“
und die „Patriotische Vereinigung
der Katholischen Kirche“,
die beide bereits 1951 gegründet worden waren.
Gemäß der Satzung
sind die Patriotischen Vereinigungen
nicht für den direkten religiösen Bereich zuständig.
Bei den Katholiken gibt es dafür die Bischofskonferenz,
für die Protestanten ist dies
der „Chinesische Christenrat“.
Die Patriotischen Vereinigungen
sollen die Kirchen im materiellen
wie politischen Bereich unterstützen,
aber auch kontrollieren.
Die offiziellen Organisationen
haben für die Gemeinden selbst
aber nur beschränkten Einfluss.
Jede lokale Gemeinde ist, auch finanziell,
für sich selbst verantwortlich.
Einen Einfluss haben die staatlichen
Kirchenorganisationen bei der Ausbildung
der Pfarrer und Priester
und bei der Bereitstellung
von Arbeitsmaterialien.
Religiöse Amtsträger dürfen religiöse Aktivitäten
nur nach der Bestätigung
durch die Religiöse Organisationen
und der Registrierung bei den Abteilungen
für religiöse Angelegenheiten durchführen.
Jeder Prediger muss also
von einer patriotischen Drei-Selbst-Bewegung
anerkannt werden.
Neben dieser offiziellen Kirche
gibt es noch eine breite Grauzone von Gemeinden,
die teilweise toleriert, teilweise ignoriert,
manchmal auch schikaniert werden.
Es kommt sowohl auf die lokalen Behörden
wie auch auf die jeweiligen Gemeinden an,
und es gibt teilweise sehr obskure Sekten.
Die rechtliche Lage ist sehr unklar,
bis heute gibt es kein Gesetz für die Religionen.
Auf jeden Fall gehört die Mehrheit
der chinesischen Christen
keiner der beiden großen offiziellen Kirchen an.
Die Römisch-Katholische Kirche
ist geteilt in die offizielle Kirche
und die Untergrund-Kirche.
Beide Kirchen haben ungefähr 70 Bischöfe.
Die Strukturen der offiziellen
und der inoffiziellen Kirche
verlaufen parallel, so dass die Diözesen
oft doppelt besetzt sind.
Beide Organisationen haben eine
vom Vatikan nicht anerkannte Bischofskonferenz.
Die meisten Bischöfe
der offiziellen katholischen Kirche
sind inzwischen vom Papst anerkannt und legitimiert
und in einem Brief an die chinesischen Katholiken
im Jahr 2007 erläuterte Papst Benedikt XVI,
dass er eine Vereinigung der beiden
katholischen Kirchenflügel Chinas wünscht,
und dass es keine Bischofsernennungen
im Untergrund mehr geben wird.
Die Zuständigkeit für die Bischofsernennungen
bleibt weiterhin umstritten.
Der Papst ist der Überzeugung,
dass ihm das Recht auf Ernennung
der Bischöfe zusteht,
die chinesische Regierung besteht
auf dem Verfassungsartikel,
dass keine Kirche aus dem Ausland
gesteuert werden dürfe.
Es wird ein Kompromiss angestrebt.
Innerhalb der evangelischen Konfession
wird zwischen den Kirchen
der patriotischen Drei-Selbst-Bewegung,
den Versammlungspunkten im Bereich
der Drei-Selbst-Bewegung,
halb unabhängigen ländlichen Kirchen
und den sogenannten Hauskirchen unterschieden.
Die Kirchen der Drei-Selbst-Bewegung
und ihre Versammlungspunkte
sind offiziell anerkannt und staatlich registriert.
Ihre religiösen Versammlungsstätten befinden sich
meist in den Städten.
Die halb unabhängigen ländlichen Kirchen
sind nur teilweise staatlich registriert,
gehören aber nicht zur Drei-Selbst-Bewegung.
Die so genannten „Hauskirchen“
entstehen aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Ihre Gottesdienste sind nicht geheim.
Zwischen Volksreligion und Protestantismus
wachsen seit Beginn der 80er Jahre
Gruppierungen wie
die „Lehre des Östlichen Blitzes“
oder die „Apostelgemeinschaft“.
Sie sind durch einen charismatischen Anführer
und eine komplexe und flexible
Organisationsform sowie absonderliche
Erlösungslehren gekennzeichnet.
Seit der Ming-Dynastie gelten diese
als ein Anzeichen für sozioökonomische
Instabilitäten und als politisches Unruhepotential.
Sie werden vom chinesischen Staat
als eine Bedrohung der Stabilität betrachtet.
Immer wieder kommt es zu staatlichen Repressionen,
manchmal auch zu Verhaftungen.
Es gibt in China sehr verschiedene Formen
des Christentums, so dass oft
von den verschiedenen Christentümern
in China geredet wird.
So fallen das Christentum in ländlichen Gebieten
und das Christentum in den Städten
aufgrund der verschiedenen Lebenswirklichkeiten
oft weit auseinander. Besonders
auf dem Land gibt es charismatische,
auf einen einzigen Führer bezogenen Sekten
mit vom klassischen Christentum
oft weit abweichenden Lehren.
Vertreter des evangelischen Christenrats schätzen,
dass mindestens die Hälfte der Bekehrungen
in den ländlichen Gebieten Chinas
auf Geschichten oder Erfahrungen
mit Glaubensheilungen zurückgehen.
Für die arme Landbevölkerung
stehen diese Heilungsgeschichten,
bei denen ein Gebet von einfachen Menschen
von Gott erhört wurde,
gegen die in China weit verbreitete Haltung
des fatalistischen „mei banfa“:
„da lässt sich nichts machen“.
Im chinesischen Hinterland
sind aber auch militante Sekten tätig,
die sich selbst mit christlichen Inhalten
in Verbindung bringen
und versuchen christliche Gemeinden abzuwerben.
Diese Sekten, wie etwa „Der Blitz aus dem Osten“,
die verkündet, dass Jesus
in Form einer chinesischen Frau
wiedergeboren sei, sind ein ernstes Problem
für die christlichen Gemeinden.
In den Städten Chinas gibt es einerseits
die sozial Schwachen, die Hilfe
und moralische Unterstützung suchen,
andererseits gibt es die sogenannten Kulturchristen,
die sich meist keiner Gemeinde anschließen,
die sich jedoch mit dem Christentum beschäftigen
und sich mit wesentlichen Aussagen
des Christentums identifizieren.
Im Jahr 2001 führte die Universität in Peking
eine Umfrage unter den Studenten durch.
Vier Prozent der Befragten erklärten,
sie seien Christen, sechzig Prozent
der Befragten erklärten,
sie seien zwar nicht Christen,
jedoch durchaus am Christentum interessiert.
In den Städten und an den Universitäten
haben sich in den letzten Jahren
nicht registrierte Hausgemeinden
oder Gruppen zum Bibelstudium etabliert.
Ein wesentlicher Grund
für das rasante Anwachsen des Christentums
in China liegt in der Auflösung
bisheriger gesellschaftlicher Strukturen
und Moralstandards
und in der Diskreditierung klassischer Werte.
Auch hat der Kommunismus
als Staatsideologie inzwischen
als sinnstiftende Kraft keine Bedeutung mehr.
Die Kirchen werden wie alle religiösen Gruppen
von den staatlichen Organen misstrauisch beobachtet.
Sie sind dem Staat aufgrund ihres
für die Menschen in China attraktiven
Erwartungs-, Hoffnungs-
und Handlungspotentials suspekt.
Die Chinesen haben im Modernisierungsprozess
materiell erstaunliche Fortschritte erreicht.
Doch der rapide gesellschaftliche Wandel
hat die ursprünglichen Moralsysteme zerstört
und Wertestandards gingen verloren.
Menschen wurden in ihren Glauben erschüttert.
Es kam zum Ausbruch einer moralischen Krise,
die in der chinesischen Gesellschaft
lange latent geschlummert hatte.
Korruption und das Fehlen eines
auch nur minimal ausgeprägten
Gemeinschaftssinns sind inzwischen
allgemeine Phänomene in China.
Die massiven gesellschaftlichen Veränderungen
der letzten 30 Jahre folgten
auf die vorherigen Erschütterungen Chinas
durch die Kulturrevolution,
die die bisherigen Werte nach Kräften zerstörte.
Die Dichterin Shu Ting schrieb im Jahr 1980,
kurz nach dem Ende der Kulturrevolution:
„… nichts blieb in mir zurück als ein Ruinenfeld.“
Familiäre Beziehungen stehen im Zentrum
der chinesischen Kultur.
Doch unglücklicherweise hat sich jeder
politische und soziale Wandel
in der modernen chinesischen Geschichte
auf die Familien belastend ausgewirkt.
Der Theologe Chen Xida zeigt am Beispiel
des Bibel-Gleichnisses vom Verlorenen Sohn,
wie das Christentum
gerade die sozial Strauchelnden anspricht,
die in der chinesischen Tradition
eher ausgegrenzt werden.
Das Gleichnis Jesu zeichnet das Bild eines Vaters,
der das traditionelle chinesische Vatermodell
herausfordert, nach dem ein Vater
seine Kinder disziplinieren,
zum Erfolg führen und dazu bringen muss,
seinen Namen und den aller Vorfahren zu glorifizieren.
Damit ist Misserfolg im traditionellen Familienbild
ein Makel, aufgrund dessen sich
viele Menschen schämen
und nicht mehr heimzukehren wagen.
Dem steht im Gleichnis des verlorenen Sohns
ein Familienbild gegenüber,
bei dem jeder immer zurückkehren kann
und willkommen ist.
Jedes Jahr ruft die Katholische Kirche
am 24. Mai zum Weltgebetstag für China auf.
Diesen besonderen Gebetstag
hat Papst Benedikt XVI bewusst
auf den Tag der traditionellen Wallfahrt
nach Sheshan, dem größten Marienheiligtum
in China nahe Shanghai, gelegt.
Die Begriffe, die für Gott
im Chinesischen verwendet werden,
sind selbst innerhalb des Christentums unterschiedlich.
Als die ersten Missionare
während der Tang-Dynastie in China ankamen,
sprachen sie von ihrer Religion
als Jing jiao („lichte Lehre“).
Einige andere sprachen von Shangdi
(„der Herrscher von oben“),
da dies eher in der chinesischen Sprache
verwurzelt war.
Schließlich entschied sich jedoch
die Katholische Kirche dazu,
den konfuzianischen Begriff Tianzhu
(„Herr des Himmels“) zumindest
in offiziellen Gottesdiensten
und Texten zu verwenden.
Als die Protestanten schließlich
im 19. Jahrhundert nach China kamen,
bevorzugten sie Shangdi gegenüber Tianzhu.
Viele Protestanten benutzen auch den Titel Shen,
der im Allgemeinen „Gott“ oder „Geist“ bedeutet.
Die moderne chinesische Sprache
unterteilt die Christen im Allgemeinen in zwei Gruppen:
Die Anhänger des Katholizismus, Tianzhu jiao,
und die Anhänger des Jidu jiao – wörtlich „Christentums“ –
oder Jidu Xinjiao, „Neu-Christentum“-Protestantismus.
Chinesen sehen Katholizismus und Protestantismus
als unterschiedliche Religionen,
auch wenn diese Unterscheidung
in der westlichen Welt nicht vorgenommen wird.
In der westlichen Welt fasst der Begriff
„Christentum“ alle Konfessionen zusammen,
im Chinesischen hingegen gibt es keinen Begriff,
der dies ermöglicht.
In der heutigen Katholischen Literatur
wird der Begriff Jidu zongjiao
für christliche Sekten benutzt.
Der Begriff bedeutet wörtlich „Religion Christi“.
Die orthodoxen Ostkirchen werden
Dongzheng jiao genannt,
welches die wörtliche Übersetzung
von „östliche orthodoxe Religion“
ins Chinesische ist.