DER TOTENGRÄBER


VON TORSTEN SCHWANKE


NACH EINER WAHREN BEGEBENHEIT


Die letzten Habseligkeiten des Totengräbers Torsten Schwanke waren auf den Leichenwagen gelegt, und ein müder Motor schleppte diesen zum vierten Mal von der Nadörster Straße in die Tilsiter Straße, wohin der Totengräber mit seinem ganzen Haushalt umzog. Er machte seinen Laden zu, nagelte eine Anzeige an die Tür, dass das Haus zu verkaufen oder zu vermieten sei, und begab sich zu Fuß nach seiner neuen Wohnung. Als er sich dem roten Haus näherte, das schon lange seine Phantasie gereizt und das er endlich für eine bedeutende Summe erworben hatte, fühlte der alte Totengräber mit Erstaunen, dass sein Herz sich gar nicht freute. Als er über die neue Schwelle trat und in seiner neuen Behausung ein großes Durcheinander vorfand, gedachte er mit einem Seufzer seiner alten Hütte, wo achtzehn Jahre lang die strengste Ordnung geherrscht hatte; er fing an, seine beiden Töchter und die Putzfrau wegen ihrer Langsamkeit zu schelten und legte selbst Hand an. Bald war die Ordnung hergestellt; der Hausaltar mit dem Marienbild, der Schrank mit dem Geschirr, der Tisch, das Sofa und das Bett nahmen die für sie bestimmten Winkel im Hinterzimmer ein; in die Küche und ins Wohnzimmer kamen aber die Erzeugnisse des Hausherrn: Särge von allen Farben und Größen, ebenso Schränke mit Trauerschleiern, Mänteln und Fackeln. Über dem Tore prangte ein Schild mit der Darstellung eines Thanatos, der eine gesenkte Fackel in der Hand hielt, und der Inschrift: Hier werden einfache und gestrichene Särge verkauft und überzogen, auch werden solche ausgeliehen und alte repariert. Die Mädchen gingen auf ihre Kammer; Torsten machte eine Runde durch seinen Besitz, setzte sich ans Fester und ließ sich den Kaffee bringen.


Der aufgeklärte Leser weiß, dass Shakespeare und Walter Scott ihre Totengräber als lustige und zum Scherzen aufgelegte Menschen darstellen, um durch diesen Kontrast unsere Phantasie mächtiger zu erregen. Aus Achtung vor der Wahrheit können wir aber diesem Beispiel nicht folgen und müssen gestehen, dass der Charakter unseres Totengräbers vollkommen seinem düsteren Handwerk entsprach. Torsten Schwanke war gewöhnlich finster und versonnen. Er brach sein Schweigen nur, um seine Töchter auszuschimpfen, wenn er sie beschäftigungslos am Fenster sitzen und nach den Vorbeigehenden ausschauen fand, oder um für seine Erzeugnisse einen übertriebenen Preis von denen zu verlangen, die das Unglück (zuweilen auch das Vergnügen) hatten, ihrer zu bedürfen. Torsten war auch jetzt, da er am Fenster saß und die siebente Tasse Kaffee leerte, wie immer in seine traurigen Betrachtungen versunken. Er dachte an den Regenguss, in den vor acht Tagen der Leichenzug eines verabschiedeten Soldaten unmittelbar an der Stadtgrenze geraten war. Viele Trauermäntel waren nach diesem Guss enger geworden, viele Schleier waren zerrissen. Er sah unvermeidliche Auslagen voraus, denn sein alter Vorrat an Trauerkleider geriet allmählich in einen jämmerlichen Zustand. Er hoffte, diesen Schaden bei der Beerdigung der alten Witwe Maite herauszuschlagen, die schon seit einem Jahre im Sterben lag. Aber Maite starb in der Wiesenstraße, und Schwanke fürchtete, dass die Erben, trotz des gegebenen Versprechens, es scheuen würden, nach ihm so weit zu schicken, und sich mit seinem nächsten Konkurrenten einigen könnten. Diese Betrachtungen wurden unterbrochen durch ein dreimaliges Freimaurerklopfen an der Türe. Wer ist da?, fragte der Totengräber. Die Tür ging auf, und ins Zimmer trat ein Mann, in dem man auf den ersten Blick einen Handwerker erkannte und der sich mit der lustigsten Miene dem Totengräber näherte. Verzeihen Sie, Herr Nachbar, sagte er in jenem plattdeutschen Dialekt, den wir noch immer nicht ohne Lachen anhören können: Verzeihen Sie, dass ich störe... ich möchte schneller Ihre Bekanntschaft machen. Ich bin Schuhmacher, mein Name ist Malek Martinzek, und ich wohne hier gleich gegenüber in diesem Haus vor Ihren Fenstern. Morgen feiere ich meine silberne Hochzeit, und ich bitte Sie und Ihre Töchter, bei mir freundschaftlich zu Mittag zu speisen. Die Einladung wurde wohlwollend angenommen. Der Totengräber bat den Schuhmacher, Platz zu nehmen und eine Tasse Tee zu trinken, und dank dem offenen Charakter des Malek Martinzek kam bald ein freundschaftliches Gespräch in Fluss. Wie geht das Geschäft, Herr Nartinzek?, fragte Torsten. – Ha, ha, antwortete Malek Martinzek: verschieden. Klagen kann ich nicht, obwohl meine Ware doch ganz anders ist als die Ihrige: der Lebende kann sich ohne Stiefel behelfen, aber der Tote kann ohne Sarg nicht leben. – Sehr wahr!, bemerkte Torsten: wenn aber der Lebende kein Geld hat, um sich Stiefel zu kaufen, so muss er barfuß laufen; doch der tote Bettler kriegt seinen Sarg umsonst. So ging die Unterhaltung noch eine Weile; endlich stand der Schuhmacher auf und verabschiedete sich vom Totengräber, wobei er seine Einladung wiederholte. Am andern Tag, Punkt zwölf Uhr, traten der Totengräber und seine Töchter aus der Pforte ihres neu gekauften Hauses und begaben sich zum Nachbarn. Ich will weder den Arbeiterkittel Torsten Schwankes, noch den italienischen Schmuck Fennas und Jannas beschreiben und weiche somit von der Übung der postmodernen Romanschreiber ab. Ich halte es jedoch nicht für überflüssig zu bemerken, dass die beiden jungen Mädchen rote Schuhe trugen, die sie nur bei feierlichen Gelegenheiten zu tragen pflegten.


Die kleine Wohnung des Schuhmachers war voller Gäste; es waren dies hauptsächlich Handwerker mit ihren Frauen und Gesellen. Von Beamten war nur Juri zugegen, ein Nachtwächter, der trotz seines bescheidenen Amtes das besondere Wohlwollen des Gastgebers genoss. Fünfundzwanzig Jahre hatte er dieses Amt treu und ehrlich versehen. Der Brand, der Hamburg zerstörte, vernichtete auch sein Wächterhäuschen. Aber bald nach der Vertreibung des Feuers erschien an seiner Stelle ein neues, mit dorischen Säulen, vor dem Juri wieder in seiner Rüstung aus grobem Tuch und mit der Hellebarde in der Hand auf und ab zu gehen begann. Er war fast allen Deutschen, die in der Nähe des Stadttores wohnten, gut bekannt: viele von ihnen hatten schon manche Nacht vom Sonntag auf Montag in seinem Wächterhäuschen zugebracht. Torsten lernte ihn sofort als einen Menschen kennen, den er früher oder später vielleicht brauchen können würde, und als die Gäste sich an die Tafel setzten, nahmen sie nebeneinander Platz. Herr und Frau Martinzek und ihre Tochter, die siebzehnjährige Noomi, aßen mit den Gästen, bewirteten sie und halfen der Köchin beim Servieren. Das Bier floß in Strömen. Juri aß für vier; Torsten stand ihm nicht nach; seine Töchter genierten sich jedoch mehr; die in hochdeutscher Sprache geführte Unterhaltung wurde immer lauter. Plötzlich erbat sich der Hausherr Aufmerksamkeit, entkorkte eine versiegelte Flasche und rief auf Plattdeutsch:


Auf das Wohl meiner guten Christina! Der Champagner zweiter Güte schäumte. Der Hausherr küsste zärtlich das schmale Gesicht seiner fünfzigjährigen Lebensgefährtin, und die Gäste tranken geräuschvoll auf das Wohl der guten Christina. Auf das Wohl meiner liebenswürdigen Gäste!, verkündete der Hausherr, eine zweite Flasche entkorkend. Die Gäste dankten ihm, indem sie ihre Gläser von neuem leerten. Nun folgten die Trinksprüche aufeinander: man trank auf das Wohl eines jeden Gastes besonders; auf das Wohl von Hamburg und eines ganzen Dutzend deutscher Städtchen; man trank auf das Wohl aller Klassen im allgemeinen und jeder einzelnen im besonderen; man trank auf das Wohl aller Meister und ihrer Gesellen. Torsten trank mit großem Eifer und kam so sehr in Stimmung, dass er selbst einen scherzhaften Trinkspruch ausbrachte. Plötzlich erhob einer der Gäste, ein dicker Bäcker, sein Glas und rief: Auf das Wohl derer, für die wir arbeiten, auf das Wohl unserer Kunden! Dieser Vorschlag wurde wie die anderen freudig und einstimmig angenommen. Die Gäste begannen, sich voreinander zu verbeugen: der Schneider vor dem Schuhmacher, der Schuhmacher vor dem Schneider, der Bäcker vor den beiden, alle vor dem Bäcker. Juri rief inmitten dieser gegenwärtigen Verbeugungen seinem Nachbarn zu: Nun, Vater Torsten, trink doch aus das Wohl deiner Toten! Alle lachten, aber der Totengräber hielt sich für beleidigt und wurde mürrisch. Niemand merkte es, die Gäste tranken weiter, und man läutete schon zur Vesper, als alle sich vom Tische erhoben.


Die Gäste trennten sich in später Stunde, zum größten Teil angeheitert. Der dicke Bäcker und der Buchbinder, dessen Gesicht in rotes Leder gebunden zu sein schien, führten Juri an den Armen nach seinem Wächterhäuschen, eingedenk des Sprichworts: Die Schuld wird erst durchs Bezahlen schön. Der Totengräber kam betrunken und wütend nach Hause. Was ist das, in der Tat, sprach er laut vor sich hin, warum soll mein Handwerk weniger ehrenhaft sein als die übrigen? Ist denn der Totengräber ein Bruder des Henkers? Worüber lachen diese verdammten Protestanten? Ist denn ein Totengräber ein Hanswurst für die Fastnacht? Ich wollte sie schon zur Einweihung meiner neuen Wohnung einladen und ein Fest geben; doch das soll nicht sein. Ich lade aber diejenigen, für die ich arbeite: die katholischen Toten. – Was redest du, Alter?, sagte die Putzfrau, die ihm gerade die Stiefel putzte. Was sprichst du für Unsinn? Bekreuzige dich doch. Die Toten zu Gast laden. Fürchterlich. – Bei Gott, ich werde sie einladen, fuhr Torsten fort. Und sogar für morgen. Bitte kommt doch, meine Wohltäter, zu mir morgen Abend zu einem Schmaus. Ich werde euch laben mit allem, was mir Gott beschert hat. Mit diesen Worten ging der Totengräber zu Bett und begann bald zu schnarchen. Draußen war es noch dunkel, als man Torsten weckte. Die Witwe Maite war in derselben Nacht gestorben, und ein motorisierter Bote vom Verwalter brachte Torsten diese Nachricht. Der Totengräber gab ihm dafür zehn Euro Trinkgeld, zog sich in aller Eile an, nahm ein Taxi und fuhr zur Wiesenstraße. Am Tor des Sterbehauses stand schon die Polizei und gingen Kaufleute auf und ab, wie die Raben, die ein Aas wittern. Die Verstorbene lag auf dem Tisch, gelb wie Wachs, aber durch die Verwesung noch nicht entstellt. Verwandte, Nachbarn und das Gesindel drängten sich um sie. Alle Fenster standen offen; die Kerzen brannten; die Geistlichen lasen Gebete. Torsten ging auf Maites Neffen, einen jungen Angestellten in modischem Anzug, zu und erklärte ihm, dass er den Sarg, die Kerzen, die Sargdecke sowie das übrige Begräbniszubehör in bester Ordnung und pünktlich beistellen würde. Der Erbe dankte ihm zerstreut und sagte, er wolle wegen der Kosten nicht feilschen und verlasse sich in allen Dingen auf seine Anständigkeit. Der Totengräber schwor seiner Gewohnheit gemäß bei Gott, dass er keinen Cent zu viel verlangen würde, wechselte mit dem Verwalter einen vielsagenden Blick und machte sich auf, um das Notwendige herbeizuschaffen. Den ganzen Tag fuhr er von der Wiesenstraße zum Stadttor und zurück; gegen Abend war er fertig, entließ das Taxi und ging zu Fuß heim. Es war eine Mondnacht. Der Totengräber erreichte glücklich das Stadttor. Bei der Auferstehungskirche rief ihn unser Freund Juri an, und als er den Totengräber erkannte, wünschte er ihm gute Nacht. Es war spät. Der Totengräber näherte sich schon seinem Hause, als es ihm plötzlich vorkam, dass jemand auf die Hauspforte zuging, sie öffnete und eintrat. Was mag das wohl bedeuten?, fragte sich Torsten. Wer kann nach mir verlangen? Ist es vielleicht ein Dieb? Oder haben meine dummen Gänse Besuch von Geliebten? Das wäre möglich. Der Totengräber wollte schon seinen Freund Juri zu Hilfe rufen. Aber in diesem Augenblick näherte sich wieder jemand der Hauspforte und wollte eintreten; als er den Hausherrn heran laufen sah, blieb er stehen und zog seinen Hut. Das Gesicht kam Torsten bekannt vor, aber in der Eile konnte er es nicht genau sehen. Sie kommen zu mir, sagte Torsten atemlos: treten Sie bitte ein. – Keine Umstände, Herr, antwortete jener dumpf. Geh voraus und zeige den Gästen den Weg. Torsten hatte auch keine Zeit, Umstände zu machen. Die Hauspforte stand offen, er ging die Treppe hinauf, und jener folgte ihm. Torsten kam es vor, als ob in seinen Zimmern Leute auf und ab gingen. Was für ein Teufelsspuk!, dachte er sich und wollte eintreten... aber hier knickten seine Beine ein. Das Zimmer war voller Toten. Der Mond schien durch die Fenster herein und beleuchtete ihre gelben und blauen Gesichter, die eingesunkenen Münder, die trüben, halb geschlossenen Augen und die zugespitzten Nasen... Torsten erkannte in ihnen mit Entsetzen Leute, die unter seiner Beteiligung beerdigt worden waren; in dem Gast, der zugleich mit ihm eingetreten war, den Soldaten, bei dessen Beerdigung es in Strömen geregnet hatte. Sie alle, die Herren und die Damen umringten den Totengräber mit Verbeugungen und Komplimenten, mit Ausnahme eines Bettlers, der vor kurzem unentgeltlich begraben worden war und der, sich seiner Lumpen schämend, nicht näher kam und bescheiden in einem Winkel stand. Alle übrigen waren höchst anständig gekleidet: die Damen trugen Schleier mit Diademen; die Beamten hatten Uniformen an, waren bärtig; die Kaufleute waren in ihren Sonntagsanzügen erschienen. Siehst du, Schwanke, sagte der Soldat im Namen der ganzen Gesellschaft, wir sind alle auf deine Einladung hin auferstanden; nur diejenigen sind zu Hause geblieben, die nicht kommen konnten, die ganz auseinandergefallen sind und nur noch aus Knochen ohne Haut bestehen; aber auch von diesen konnte sich einer nicht enthalten – so gerne wollte er dich besuchen... In diesem Augenblick drängte sich ein kleines Skelett durch die Menge und ging auf Torsten zu. Sein Schädel lächelte dem Totengräber freundlich zu. Fetzen grünen und roten Tuches und alter Leinwand hingen an ihm wie an einer Stange, während die Knochen seiner Füße in seinen hohen Stiefeln wie Stößel in Mörsern klapperten. Du erkennst mich nicht, Schwanke, sagte das Skelett. Erinnerst du dich noch an den alten Achim Meinholt, denselben, dem du im Jahre 1994 deinen ersten Sarg verkauft hast, und dazu einen aus Fichtenholz statt aus Eichenholz? Mit diesen Worten wollte er ihn in seine knöchernen Arme schließen. Aber Torsten nahm seine ganze Kraft zusammen, schrie auf und stieß ihn zurück. Achim wankte, fiel hin und ging in Stücke. Unter den Toten erhob sich ein Gemurmel der Entrüstung; alle traten für die Ehre ihres Genossen ein, fielen über Torsten mit Schimpfworten und Drohungen her, und der arme Gastgeber, fast erdrückt und durch ihr Geschrei betäubt, verlor seine Geistesgegenwart, fiel selbst auf die Gebeine des alten Achim und verlor das Bewusstsein.


Die Sonne beleuchtete schon längst das Bett, auf dem der Totengräber lag. Endlich schlug er die Augen auf und erblickte vor sich die Putzfrau, die Kaffee machte. Mit Entsetzen erinnerte sich Torsten aller gestrigen Erlebnisse. Maite, der Soldat und der alte Meinholt tauchten wieder vor ihm auf. Er wartete schweigend, dass die Putzfrau ein Gespräch beginnen und ihm über die Folgen der nächtlichen Abenteuer berichten würde.


Wie du verschlafen hast, Alter, sagte Evelin, indem sie ihm seinen Schlafanzug reichte. Der Nachbar Schneider war da, auch der Nachtwächter mit der Mitteilung, dass der Physiker heute Namenstag hat, aber du geruhtest noch zu schlafen, und wir wollten dich nicht wecken.


Kam denn niemand von der verstorbenen Maite? - Von der Verstorbenen? Ist sie denn gestorben? - Dumme Kuh! Hast du mir nicht selbst geholfen, alles für ihre Beerdigung herzurichten? - Was hast du, Alter: bist du verrückt geworden oder ist der gestrige Rausch noch nicht verflogen? Was für eine Beerdigung hast du denn gestern gehabt? Du hast den ganzen Tag beim Protestanten gezecht, warst dann betrunken heimgekommen, hast dich aufs Bett geworfen und hast bis zur Stunde geschlafen, wo man zur Messe läutete. - Wirklich?, fragte der Totengräber erfreut. Aber gewiss!, antwortete die Putzfrau. Nun, wenn es so ist, dann gib mir schnell Tee und ruf die Mädchen zu mir.