DER VATER DER EMILIA GALOTTI


von Torsten Schwanke


für Quentin



Personen:

Odoardo Galotti.

Claudia.

Appiani.

Hettore Gonzaga.

Laura.

Bediente.


Die Szene, ein Vorsaal in dem Hause des Galotti.



Erster Auftritt

Claudia. Laura. (Laura zuerst in einiger Entfernung)


(Saal in einem herrschaftlichen Hause)


Claudia (auf einem Sessel, in sich versunken)

Was lastet so auf mir, zerreißt mein Herz?

Die Nacht liegt bleiern über meinem Geist.

O wehe mir, o wehe meiner Brust!

Sie ist in seiner Macht – ganz ohne Schutz.

Wie kam es nur, dass ich sie dort verließ?

Der Himmel selbst verzeih’s, ich war nicht Mutter.


Laura (tritt näher)

Beruhigt euch – der Fürst ist kein Tyrann.

Er hat ein weiches Herz, ein edles Haupt.

Was euch wie List erscheint, ist edle Glut,

die sich in Lob und Zartheit nur ergießt.


Claudia

War's Lob, als er sie heut zur Messe sprach

mit Worten, die der Ort nicht hören sollt?

Bei Fürsten ist die Zier nur ein Bekenntnis,

der Blick ein Schwur, der Schwur ein dunkler Wille.


Laura

Doch seine Art zu lieben war stets fein.

Nie ward ein Herz von ihm verächtlich rührt.

Er weiß, dass sie verlobt war mit Appiani –

und eine Braut entehrt kein Edelmann.


Claudia

Ein Fürst vergisst nicht, dass man ihm oft folgt

aus Furcht, aus Schwäche, nicht aus reinem Triebe.

Und nun – ein Lustschloss, fern von jedem Ohr!

Wer weiß, ob Vorsatz oder Zufall sie

in seine Nähe warf? – Appiani tot,

und meine Tochter hilflos, ganz allein.

Der Habicht hat die Taube nun erfasst –

sie windet sich, und seine Krallen bluten.

Er lacht, als wär's ein Spiel, ein Zeitvertreib.

O Laura, Laura! Hätt ich sie gehalten!

Wo war mein Herz, mein mütterlich Gefühl?

Was ließ mich scheiden, wo Gefahr begann?


Laura

Vergrößert nicht die Furcht durch Fantasie.

Sie ist kein Kind, sie hat ein starkes Herz.

Entschlossenheit ist in dem reinen Blick,

ihr Wort trifft schärfer als ein Degenstich.


Claudia

Doch meine Nähe hätte sie gestärkt!

Gemeinsam wären wir wie eines nur,

zwei Seelen, die sich stützen, nicht entgleiten.

Der Fürst – er müsste doppelt überlisten,

doppelt betören, doppelt niederzwingen.

Was tat ich nur, was ließ ich da geschehn!

Die Hündin schützt ihr Junges bis zum Tod –

und ich verließ mein Kind beim Raubgetier.

Und Marinelli – jener dunkle Mann!

Der letzte Laut aus Appianis Mund

war Marinelli – sprach’s wie: Mörder! – aus.

Und dort, so nah am Fürstensitz, der Schuss!

Zufall? – Nein! Zufall kann so finster nicht.


Laura

Doch war nicht Odoardo bei ihr dort?

Ein Vater schützt – so wie ein Mann nur kann.


Claudia

Man ließ ihn nicht hinab! Er stand vor Toren.

Ein harter Befehl, mich fernzuhalten –

und ich gehorchte wie ein scheues Kind.

Hab ich denn keine Stimme, keinen Sinn?

Bin ich nur gut, die Tücher glatt zu streichen,

die Ordnung in den Zimmern zu bewahren?

Es dämmert schon, und niemand kehrt zurück!

Nicht Odoardo, nicht mein süßes Kind!

Ach käm sie doch! Sie flöge mir entgegen,

wäre es ihr nur möglich, wär sie frei!

Doch, liebe Laura – geh zum Haus des Grafen.

Frag, ob er lebt. Wenn du ihn nicht erblickst,

so glaube nicht, dass er dem Schuss entkam.


(Laura geht.)


Claudia (allein)

Ich sitze hier, wie auf durchbohrten Nadeln,

die Ungewissheit quält wie kalte Fesseln.

Fast ist die Angst um sie mir greifbar wahrer

als jeder Schmerz, den ihre Nähe brächt.


(Laura kehrt zurück.)


Laura

O Freude, Trost! Der Oberst ist soeben

vom Pferd gestiegen – Odoardo kommt!


Claudia (eilt ihm entgegen)

Odoardo! Mein Gatte! – Doch wo ist

Emilia? – Mein Kind! Wo ist sie nur?





Zweiter Auftritt


Odoardo (in einer finstern Zufriedenheit.) Claudia.


Odoardo.

Sammle die Kräfte deiner weichen Seele,

Claudia. Laß den Blick sich heben, daß du bist

die Gattin Odoardos – Claudia Galotti.

So sei, wie Odoardos Weib sein soll.


Claudia.

O Jungfrau, heil’ge Mutter Gottes, sprich –

Was ist dies für ein Gruß, was diese Rede?

Wo ist Emilia? Wo habt ihr sie gelassen?


Odoardo.

Sei ruhig, wie du siehst, daß ich es bin.

Der Mann voll redlicher, voll heißer Tugend,

mit treuem Sinn, mit starkem, klarem Geist,

er hat gesiegt – gesiegt in schwerem Kampf

– besiegt den Vater in dem Mann.


Claudia.

Du redest dunkel. Wo ist mein geliebtes Kind?

Ist sie noch immer bei dem Prinzen dort?


Odoardo.

Sie ist an einem Ort, wo Guastalla,

wo keine Fürstenhand, kein Arm der Macht

sie je erreichen, je mehr greifen kann.

Sie ist verwahrt – o sicherer verwahrt

als an der Brust der Mutter, als bei mir.


Claudia.

Nicht mehr in seines feur’gen Auges Macht?

O Mutter Christi, Jungfrau rein und hehr,

dir sei mein Dank! Mein Kind ist dir geweiht!

O führe mich zu ihr, so schnell du kannst!

Dies Haus, dies öde Zimmer, wo sie fehlt,

ist mir ein leeres Grab, ein kalter Ort.

Und hättet ihr sie in den Wald gebracht,

wo nie ein Mensch sich zeigt, wo Nacht nur wohnt –

dort wär’s für mich wie in Elysium.


Odoardo.

Ha! Sie ist in einem besseren Elysium –

doch fern von hier, so fern wie Himmel, Erde;

und Schmerzen sind die Wege dorthin, Blut.


Claudia. (fällt auf den Sessel)

Weh, weh mir, arme, unglücksel’ge Frau!

Ich ahne, was du sagst – mein Kind ist tot!

Emilia lebt nicht mehr – mein Herz zerbricht!


Odoardo.

Die Rose brach, noch ehe sie entfiel

im Sturm, der ihre Blätter rauben wollte.


Claudia.

O Gott – mein Kind ist tot! Ich kann’s nicht fassen!

Du nennst dich Vater – und du ließest dies?


Odoardo.

Sie wollte nicht, was sie nicht sollte, leiden,

nicht dulden, was sie da nicht dulden durfte.

Natur wollt’ ihr Meisterwerk erschaffen –

doch nahm sie feinen Ton, zu fein, zu edel.

Sie war ein starker Geist im Weibeskleid.

Der Prinz wollt’ sie – mit Gier, mit Macht, mit List.

Doch ihr Entschluß war Tugend, war ihr Wille.

Sie konnte sterben. Und sie starb.


Claudia.

Zu sterben! Und ich lebe weiter – ich!

Du hast sie nicht gerettet?


Odoardo.

Ich rettete sie –

vor Schande, nicht vor Tod. Einst war ein Vater,

der seinem Kind, das droht' entehrt zu werden,

das Herz durchbohrte mit dem ersten Stahl,

der griffbereit. Nun gab es noch so einen.

Ich war’s. Ich schenkte ihr das Leben neu –

ein Leben ohne Schmach, das zweite Mal.


Claudia.

Mein Denken schwindet, meine Stirn wird bleich.

Du – warst es? Deine Hand? Ihr Vater selbst?

Gerechter Himmel – das soll Liebe sein?


Odoardo.

Du bist nicht aus dem Stoff, aus dem sie war.

Dein Herz ist Milch – die allererste Milch,

und deine Seele weich und weiblich ganz.

Du siehst nicht ein, daß Leben schlimmer sei

als Tod, wenn Schande seine Frucht gewesen.

Du hättest sie am Leben wohl behalten,

auch wenn sie Schmach, die grausamste, getragen?


Claudia.

Was kann ich noch begreifen als dies eine:

Sie lebt nicht mehr, sie ist nicht mehr bei mir.

Und wo ich ohne sie bin, da ist Nacht.


Odoardo.

Dein Weinen macht mich krank, steckt an, verdirbt.

O Gott, verlaß mich nicht, daß ich noch Mann bleib!

(Er geht zur Tür, ruft hinaus.)

Lauren, komm her!

Dein Frauchen hat die Ohnmacht überfallen.

Bring sie in ihr Gemach – gib Geisteskräfte,

mit Düften, Essenzen, stärk ihr Herz erneut.




Dritter Auftritt



Odoardo (allein):


Es war an Zeit, dass ich sie fortgebracht.

Das weiblich Teil, das mir von meiner Mutter

vererbt ward in der Mischung meines Wesens,

begann, an mir die Oberhand zu üben.

Ich will sie nicht verklagen, dass sie weint—

sie weint um eine Tochter, wie sie war,

das schönste Kleinod, das der Himmel je

einer erfreuten Mutter schenken konnte,

und auch dem Vater. Auch ich weine sie;

doch ist ihr Tod ein kleineres Entsetzen,

als wär sie lebend Schande mir geworden,

ein Kebsweib, ach!—verfluchtes, hässlich Wort!

Nicht einmal das des Prinzen! Was ist das?

Das Kebsweib eines Prinzen ist wie jedes,

wie das des niedrigsten, gemeinsten Manns.

Im Hause Galotti muss ein Sohn

voll Tapferkeit, die Tochter unbefleckt.

Es war ein grausam schrecklicher Entschluss—

doch nur für Seelen, die zu schwach, zu weich,

um zu empfinden, dass sie selbst zum Dolch

gegriffen hätten an des Vaters Statt.

So fühlt, wer wahre Ehre in sich trägt.


Und doch—ich fürchte, man wird mich verdammen.

Wie viele gibt es, die der Tugend dienen

nicht bloß mit Worten, sondern mit dem Herzen?

Verdient hätt ich den Tadel, wenn ich selbst

weniger stark als meine Tochter war.

Ich fühlte nur mit ihr, der Zarten, Stummen,

der Furchtsamen. Und dies ist jener Punkt,

in dem ich Virginius übertroffen:

Der Römer war gezwungen zum Entschluss.

Das Volk verließ ihn; Markus riss sie fort,

mit Urteilsspruch bewaffnet und mit Macht.

Für meine Tochter aber blieben Wege—

der Rettung gab es viele noch für sie.

Selbst im Palast des Grimaldi hätt ich

auf ihre Tugend schwören können fast.

Virginius hatte Recht im alten Rom,

sein Kind zu töten nach Gesetz und Brauch.

Mir gaben keine Rechte Guastallas

ein solches Recht. Doch wer gerecht sich nennt,

bleibt seinem Herzen, seinem Ehrbegriff,

seinem Gewissen standhaft treu und sucht

den eig’nen Weg, wenn ihn das Recht verlässt,

sich aus der Schmach mit eigner Hand zu retten.




Vierter Auftritt

Appiani. Odoardo.


(Appiani tritt auf, gestützt von zwei Bedienten. Ein Mantel hängt lose über seinen Schultern. Sie führen ihn zum Sopha; er wirft den Mantel zurück.)

Appiani.

Noch einmal, Odoardo, seh ich euch!

Ich danke Gott, daß er dies Auge ließ

Für einen letzten Blick auf Freunde offen.


Odoardo.

Der Graf lebt noch! Appiani lebt –

Und auch Emilia lebt – dein Herzblatt lebt!

Welch heil’ger Schutz bewahrte dich dem Tod,

Als Claudia und Emilia dich versinken

Gesehen – Blut des Bräut’gams auf der Braut!


Appiani.

Ein Mörder war’s, gedungen – Nikolo,

Ich sah ihn wohl – der Schuß durchdrang die Hüfte.

Doch war’s ein heil’ger Engel, der ihn lenkte;

Zu ihm hab ich am Morgen noch gebetet.

Wo aber ist Emilia? Wie ertrug

Sie diesen Schlag? Ich fürchte, daß mein Schmerz

In ihr sich tiefer gräbt als in mein Fleisch.

Der Ort, der Anschlag, Marinelli,

Und auch der Prinz bedrücken meine Brust.


Odoardo.

(versunken, dann auffahrend)

Emilia trägt der Mutter Form –

Doch in der Seele ist sie ganz mein Bild.

Sie ist der weibliche Odoardo,

Und du, Appiani, fühlst, was ich gefühlt.

Ich würde deinen Adel niederschlagen,

Glaubt’ ich, ich müsst’ es leise dir bereiten,

Was jeden trifft wie Donnerschlag das Herz.


Appiani.

O Gott, schon diese Worte sagen mir:

Sie ist nicht mehr – mein Weib, mein Engel – tot!


Odoardo.

Ja – tot, Appiani – tot, damit du nicht

Von etwas Schlimm’rem hören müsstest.

Denn schlimmer noch als Tod ist Schande,

Der Tod der Ehre ist das wahre Sterben.

Der Prinz – in dessen Schloss sie Zuflucht suchte,

In Angst, in Unschuld, ahnungslos des Trugs –

Er hielt sie fest, entriss sie mir mit List

Und wollte sie dem Kanzler Grimaldi

Zum Raube führen – in sein Freudenhaus.


Appiani.

O Gott! Ich kenn das Haus Grimaldi wohl –

Ein Bordell ist’s, verborgen unterm Glanz;

Die Töchter dienten einst dem Prinzen willig,

Und jetzt sind sie die Lockmittel der Lust.


Odoardo.

Emilia sah es, wie es wirklich ist:

Ein Harem für des Fürsten Lüste.

Und damit man sie dorthin nicht verschleppt,

Verlangte sie den Dolch, mein Schwert der Ahnen.


Appiani.

Ihr habt ihn ihr doch nicht gegeben?


Odoardo.

Dann wollt’ die Haarnadel den Dolch ersetzen.

Sie warf mir vor, ich sei damit zufrieden,

Daß sie des Prinzen Beute werden sollte.

Und was ich lang verschloss in meiner Brust,

Zerbarst in diesem Augenblick der Wut.

Sie sprach: "Solche Väter wie Virginius

Gibt’s heut nicht mehr!" – und machte mich zum Zweiten.


Appiani.

Der Vater – und die Tochter – meine Braut!

(Er taumelt rück.)


Odoardo.

Der Vater sank, doch nicht der Ehrenmann.

Er ist sich selbst entfremdet, doch –

Hältst du mich für zu hoch, Appiani,

Wenn ich von deiner Kraft zu viel geglaubt?

Bist du so schwach, da sie so stark gewesen?


Appiani.

(Nach einer langen Pause.)

Ach, hätt’ die Kugel mir das Herz durchbohrt,

Eh ich dies Elend hören musste! Alles

Ist nun verloren – ich bin nur noch Leib.

Ich lebe, doch Emilia ist dahin!

Wie soll ich anders fühlen als ein Mensch?


Odoardo.

Sie sah, es war verloren, weil du tot –

Und sie des Prinzen Eigentum nun sei.

Da ward sie ruhig – nicht in feiger Duldung,

Doch wissend: wer zu sterben weiß, der siegt.

Ein Mädchen, meine Tochter – deine Braut –

Gedacht so hoch; wie dürft’ ein Mann sich schämen,

Wenn er es nicht vermag, ihr gleich zu denken?


Appiani.

Blieb Odoardo, Stolz des alten Stamms,

Kein Mittel, sie zu retten – oder sterben?

Nicht List, die sei dem Kleinmut überlassen,

Doch offner Kampf, Gewalt, ein scharfes Schwert!

Ist ihm das Eisen aus der Faust geglitten?

War Mut ihm fremd, dem feigen Wüstling zu

Vergelten, was er tat – mit Blut, mit Recht?


Odoardo.

Die Fürstenperson gilt mir als unantastbar.

Verflucht sei jede Hand, die sie verletzt –

Denn sie verletzt das Recht, verletzt die Ordnung.


Appiani.

Ein Fürst, der raubt, verführt, entehrt – hat nicht

Verdient, geheiligt noch genannt zu sein.

Wir sind nicht Knechte, zeugen keine Buhlen,

Und reichen keine Lustgespielin dar.


Odoardo:

Es war genug, daß er die Frucht nicht kost,

die seiner frechen Hände Raub gewesen;

dies sollte ihn zermartern, mehr als Schuld.

Wenn bald ihn Ekel von den Lüsten triebe,

so sei die eine Lust, die ihm entging,

der Wurm, der alle andern ihm vergällt.

Was hat die Tugend mit der Rache zu?

Soll Laster Rache sein, wo Recht gefordert?


Appiani:

Das nennt man feine, spitzgewitzte Rache.

Wie seltsam nur, daß solcher Plan entstieg

dem Haupt Italiens, Kriegers, Zornesmanns!


Odoardo:

Willst du mich lehren, junger Übermüt’ger?

Ich war nicht Richter – nein, das Land erhob

den Schändlichen zu meinem Oberherrn.

Der über uns in höchsten Höhen sitzt,

der mag ihn richten. Ich war nicht befugt.


Appiani:

Und ihre Tochter war nicht Schuldnerin.

Welch' Unrecht hat sie je mit Tat begangen,

daß solcher Tod aus Vaterhand gerecht?


Odoardo:

Ich straft’ kein Übel, ich entriss sie ihm.

Dem Hause Grimaldi war sie hingegeben –

ein Ort, wo keine Zücht’ge sicher weilt,

wo selbst das reinste Blut in Brand gerät.

Sie selbst erschrak vor ihrer eignen Schwäche,

sie bat mich, daß ich sie bewahr’ davor.


Appiani:

O hätten Sie der Tugend mehr vertraut!


Odoardo:

Ich glaube nicht an Tugend, die nicht wankt.

Sie sah Versuchung mit verklärtem Blick

und doch mit Zagen, Misstrau’n, innerer Angst.

Kaum eine Stunde war sie dort gewesen

und unter Augen ihrer eignen Mutter –

und doch empörte sich ihr ganzes Innres,

daß selbst Gebet es kaum zu stillen wußte.


Appiani:

Mein Herr, verwirren Sie nicht reines Herz

mit solcher List des Lasters! Sie verkannten

den reinen Sinn, der Ihnen anvertraut.

Zu schnell gehorchten Sie dem argen Zweifel,

dem rauen Stolz, dem eifersücht’gen Groll.

Sie trafen Unschuld – reiner als das Licht –

und ist dies Blut, das jetzt ihr Kleid befleckt,

nicht aus dem reinsten Quell der Unschuld selbst?

Verwehren Sie mir nicht den letzten Dienst!

Ich küss' dies Blut – o heil’ger Nachlaß du!

(Er beugt sich nieder und küßt das Blut auf dem Kleid.)

Nie trank ich edlere, lebendigere Tropfen.


Odoardo:

O Jungfrau, sieh, wie tief die Liebe sinkt!

Wie schwer ist’s, Mensch zu sein, und stark zu bleiben.

Wie leicht gerät der Mann in Weibes Schwachheit.


Appiani:

Mein Oberst, wo blieb Ihre Tugend jetzt?

Sie war ein Haus, worin ein Engel wohnte.

Sie jagten ihn hinaus – nun ist es leer.

Ich muß hinab, sie ein letztes Mal zu sehn,

sie zu umfassen, die mich nie mehr hält.

Sie darf nicht in der Hand des Frevlers sein,

es ist Entweihung selbst, wenn seine Augen

ihr kaltes Bild beschämen mit Begierde.


Odoardo:

Ein Klagelied! Und das von einem Manne!

Wie fühlt sich der, der alles Männliche

verloren hat in einer Nacht des Grams!

O wär’ ich nicht durch meine rasche Tat

zum Teilhaber des Missetäters worden!

Du, Appiani – du bringst mir dunkle Schatten,

sie legen sich mit Kälte auf mein Herz.

Wie sehr ich fürchte, daß ich lernen muß

zu weinen – und nicht weiß, wie man's beginnt.




Fünfter Auftritt

Der Prinz. Odoardo. Appiani.


Der Prinz (mit ängstlicher Gebärde):

Hier ist Odoardo – den ich suchte eben!

Und – seh ich recht? – der totgeglaubte Graf,

Appiani selbst! Nicht zu der Braut gekommen,

Nicht zu der Hochzeit – nein, zu Schmerz und Weh!

Ein Toter kehrt zurück in diese Welt!


Appiani:

Soll ich – kann ich ertragen diesen Blick,

Den Blick des Mannes, der den Grund gelegt

Zum Jammer Emilias – zu allem Leid?


Der Prinz:

Ertrag ihn, Graf; dir fällt es leichter wohl,

Als mir, mich selbst zu tragen, wie ich bin.


Odoardo:

Wenn Ihr mich sucht, mein Prinz – ich war nicht fort.

Ich war nicht schwer zu finden. Hieltet Ihr

Mich wirklich für so feig, dass ich entflieh?

Dass ich, der Tat bewusst, mich selbst verstoße?

Ein Dolch vielleicht, ins eigne Herz gewandt?

Ihr irrt Euch schwer. Ich ließ den Zeugen dort

Im Schlosse Eures Rates, ging von dannen

Nach Guastalla, in mein eig'nes Haus,

Bereit, mein Urteil zu erwarten hier.

Ihr seid des Landes Richter, also sprecht.

Doch dieses hohe Amt, das Euch gehört,

Habt Ihr entweiht mit niederträcht’gem Sinn –

Ihr wolltet meine Tochter schänden – mich

In meiner Ehre tief verletzen so.

Und dies ist's, was mich handeln ließ wie heut.

Nach meiner Ehre, nach dem Recht gefühlt –

War meine Tat ein Unrecht vor dem Gesetz,

So nehm ich frei die Strafe auf mich selbst.

Wenn einst vor Gottes Richterstuhl wir steh’n,

Dann wird er richten – Euch wie mich – gerecht.


Der Prinz:

Der Richter aller! – Herrscher wie Beherrschte!

Der, der verführt ward durch des Herzens Gier,

Und jener, den der Teufel selbst verführt hat!


Odoardo:

Beide – Prinz und Graf! Nun steigen düstre Bilder

Mir auf die Stirn, als hätte selbst der Himmel

Ein Unrecht geseh’n, wo ich nur Scham

Und drohendes Verhängnis wollte meiden.

Der Graf, Appiani, warf mir seinen Blick

Wie einen Schatten in mein Innerstes.

War ich ein Jüngling, heiß, doch alt an Haar?

Hingab ich mich der raschen Schwärmerei?

War es nur Wahn, nicht Ehre, was mich trieb?

Ich fürchtete, sie würd’ der List erliegen –

Doch war das Misstraun nicht zu groß, zu blind?

Hätt’ ich die Tugend, die bewährte, ehren

Und nicht verdächtigen so grausam sollen.

Ach, welch ein Sturm erhebt sich in der Brust!


Der Prinz:

So denkst du, Oberst? Muss ich dann nicht mehr

Mich selber schelten, hassen gar, verfluchen?

Wenn du dich selbst schon solcher Schuld bezichtigst,

Was bleibt für mich, für meine Tat noch übrig?

Nicht nur, was Marinelli sich erlaubt,

Der Teufel in Gestalt des Freundes mir –

Nicht nur sein Werk, der Tod des Appiani –

All das, all das kehrt wieder zu mir selbst.

Es war mein Wahn, mein wilder, blinder Drang,

Der dies Verbrechen an den Tag gebracht.

Ich konnte nicht ertragen, dass Appiani

Emilia heut zur Gattin nehmen sollte.

Ich hörte auf den Schurken, der mir riet,

Ein Mittel sei gefunden, dass die Braut

Mir ausgeliefert würde – ohne Zwang.

Er sprach von möglichem Verhängnis wohl,

Doch war ich nicht so blind, dass ich nicht spürt’,

Was sich dahinter barg – ich ließ es zu.

Als dann der Streich geschehen war – o Hohn! –

Da nutzte ich den Jammer frech für mich.

Ich nahm das zitternde, verlass'ne Kind

In mein Gemach – sie dachte, sie sei gerettet.

Und ich, ich sprach von Glück, das ihr nun winke,

Von süßer Lust, die sie in mir erwarte –

In ihrer Angst, in ihrem tiefsten Leid!

Ich hielt’s für heil'ges, kleines Unrecht gar!

Ein Graf mehr oder minder – was ist das?

So dacht ich, wie Marinelli es gedacht.

Nicht reute mich die Tat – nur, dass der Plan

Nicht besser war, das schalt ich damals bloß.

Ich wollt dich täuschen, Oberst, wollt dich beugen –

Sie triumphal nach Guastalla bringen!

Was für ein Triumph? – Der Tod des Gatten?

Der Schmerz des Vaters? – Das war meine Beute!

Und als du sie zurückgefordert hast,

Verhüllte ich Gewalt in frommes Recht:

Man müsse sie verhören – sie verhaften!

Doch ihre Zelle – war ein Lustgemach.

Der Ort – dem Herzen keuscher mehr zuwider

Als tiefstes Loch im düstren Kerkergrund!

Und das war's, was dich zur Raserei getrieben.

Ich war der Täter, Räuber, Mörder gar!

Ich ließ den Schuss von Marinellis Hand,

Doch ich war’s, der das Ziel ihm vorgegeben –

Der alles plante, alles trug – und schwieg.

Ich gab dem Vater selbst den Dolch zur Tochter.

Ich kann es kaum in Worte fassen noch,

Was meine Seele mir an Klage bringt!


Odoardo:

Ein langes Register Eurer Schuld, mein Fürst!

Und doch – so vieles Ihr Euch aufgeladen –

Die Tat, der Tod des reinsten Kindes – liegt

Noch immer schwer auf meiner eignen Brust.

Der Richter, den ich mehr als Euch fürchte,

Der wird mich finden, wird mir Urteil sprechen.

Schon regt sich Gift in meiner tiefsten Brust,

Ein Nagen, eine Reue ohne Maß,

Die alle Schmerzen übertrifft an Glut.


Der Prinz:

O Gott, mein Gott! Ich fühl dieselben Schlangen!

Ihr Biss zerfrisst mein Innerstes mit Glut!

Sie schreien in mir: Du, du hast gemordet!

Du hast die Blume in der Blüte welken

Und Unschuld in der Reinheit unterdrückt!

Du nahmst der Welt ihr schönstes Beispiel Tugend,

Den Töchtern Guastallas ihr Ideal!

Du gabst dem Vater selbst das Werkzeug hin,

Du stahlst dem Freund den Schatz aus seiner Brust!

Die Söhne, die sie zeugen sollten einst,

Die Tugend der Mutter, Kraft vom Vater –

All dies hast du getötet vor der Zeit!


Appiani:

Wenn mein Gebieter solche Reue fühlt –

Wenn er den Jammer, den er schuf, beklagt –

Wenn seine Tränen meine Tränen spiegeln,

Dann – o wie seltsam! – fühl ich für ihn Leid

Und meine eigne Klage schwindet gar.


Der Prinz:

Du, Graf, bist dennoch unter uns der Glücklichste.

Es war nicht deine Tat, was dich verletzt;

Du trägst den Trost der Unschuld in der Brust –

Ein Gut, das kein Verbrechen je dir nimmt.

Könnt ich es kaufen mit dem eignen Blut,

Ich gäb es hin, es wär mir nicht zu teuer.

O Richter droben, der du in das Herz

Den strengsten Kläger uns gelegt – erhör mich!

Straf mich mit Tod – ich küsse deine Hand.

Doch wende nicht das Angesicht von mir!

Vergib die Schuld, und lösche deinen Zorn!

Ihr, meine Herren – Ihr, die ich gekränkt,

Verzeiht – damit auch Gott mir einst verzeih’!


Odoardo:

Ein Anblick, der zu Tränen rühren kann –

Den Fürsten so gebeugt vor sich zu sehn!

Dass er sich selbst und seine Macht verlässt!

Erinnert Euch, mein Fürst – Ihr seid es doch,

Des Reiches Souverän – der Macht der Ordnung.


Der Prinz:

Das bin ich nicht. Haltet mich nicht dafür.

Ich weiß zu gut, dass ich nicht alles darf.

Ich darf nicht walten, wie mein Trieb es will.

Ich darf nicht herrschen ohne Maß und Recht.





Epilog zur Emilia Galotti.


Emilia (indem sie die Kleidung ablegt)

Wie froh bin ich, dies Kleid erneut zu lassen!

Die Rolle, die ich spielte, stand mir schlecht,

und ebenso, mein Ich, stand ihr nicht an.

Verzeiht, ihr Herrn und Damen, dass ich schlecht

die Figur getroffen, die ich spielen sollt.

Ich konnte sie nicht so verkörpern, dass

der Dichter über mir vergessen ward.

Und war das Stück von Lessing – dem man oft

mit Vorurteil und Lob ins Haus gefolgt –,

so denkt euch nur, vielleicht war’s nicht mein Fehlen,

dass seine Kraft in meiner Hand versank.

Ich bilde mir in Demut dennoch ein,

so tugendhaft zu sein, so zart, so still,

und doch so stark wie jene Emilia,

die Tochter jenes altgedienten Degens.

Doch ihre Regung war der meinen fremd.

Als Appiani starb an meiner Seite,

und Battista, ein Fremder, mich ergriff

und aus dem Wagen trug – da riss es mich

nicht leicht von Mutter und von Liebstem fort,

nicht folgte ich dem Weg nach Dosala,

den Ort so sehr ich wie sein Herrn gemieden.

Als meiner Mutter Augen mir erzählten,

dass er nicht lebte, hätte ich gern laut

geweint, und ohne Rücksicht auf die Form

die Umstehenden mit Klagen aufgehalten.

Doch selbst als alles verloren schien,

stieg nie die Angst vor jenem, der mich raubte,

so hoch, dass mich mein Glaube je verließ,

noch meine Tugend mich im Stich gelassen.

Zu christlich war ich, an den Tod zu denken

durch eigne Hand – mein Mut war Tugendmut,

nicht jener Griff zur Tat der Hoffnungslosen.

Ich bin kein kluger Geist der Tragödie,

der denkt: „Zu schweigen heißt: ich muss; ich will.“

Als ich vom Tode meines Liebsten hörte,

dacht ich an nichts als nur: „Er ist verloren!“

Nicht an mich selbst, nicht an die eigne Schuld,

nicht dass er meinetwegen sterben musste,

nicht an Gefahr, in die ich nun geriet.

Doch wäre mir ein wenig Zeit geblieben,

ich hätte mich nicht still zurückgezogen.

Vergessen hätt’ ich mich, mein eignes Selbst,

und Rache für den Liebsten wär mein Wille.

Doch nicht an mir, nicht an Unschuldgem Zorn –

für Leben oder Tod hätt’ ich gegolten,

nur um zu sehn, wer einen Menschen zwingt.

Die Emilia des Dichters denkt daran –

doch nimmt sich selbst das Leben in der Not.

Ihr Wille war: den fremden zu entfliehen,

indem sie eigenmächtig sich vernichtet.

Ich bin nicht so – und wär ein Pirat da,

der mich ins Meer zu stoßen sich anschickte,

und sah ich’s nützlich, dass ich selber spräng,

so tät ich’s nicht – ich hab ein einzig Leben.

Die Unschuld wär durch tätlichstes Verbrechen

nicht minder rein, nicht minder ganz geblieben.

Die gute römische Lucretia war

unschuldiger noch als sie selbst geglaubt –

doch tötete sich, weil ihr Ehrverlust,

obwohl durch Zwang, als Schmach erschien.

Sie war reiner als diese Emilia,

die durch ein eig’nes Tun die Schmach vermeiden

und sich in eigner Tat beschmutzen wollte.

Ich frage euch, ihr Damen, fühltet ihr

bei Lucretias Geschichte nicht mehr Echtheit

als bei dem Selbstmord der Galotti-Tochter?

Nicht nur als Kunstverständ’ge ruft ihr aus:

So sticht sich keine!“ – Ja, das sag auch ich.

Ich kenne tausende, die in den Fluss

gesprungen sind, aus Angst vor schlimmerem –

doch was ist schlimmer denn, als was sie scheuten?

Ein Dolch, mir ins Herz, war das Gefühl,

als Odoardo, Vater, Hauptmann, Mann,

ihr jenen Dolch entriss und sich vergewissert,

ob sie zu sterben wolle – nicht aus Pflicht,

doch weil sie ihrer Sinne nicht gewiss

und ihren Körper nicht bewahren könne.

Auf diese ihre Furcht war er noch stolz –

und stach. Und das soll Vaterliebe heißen?

Habt ihr, ihr Damen, euch daran erinnert,

wie stark sie sich in jenem Augenblick

der Sinnesfreude Wirrnis vorgestellt,

da jedes treue Herz dem Tod geweiht

nur bei dem toten Liebsten hätte sein

mit Herz und Seele, Geist und jeder Faser?

So eine Tochter ist nicht mehr, die fleht,

den Dolch nicht gegen einen Bösewicht,

sondern gegen sich selbst zu lenken bittet.

Und so ein Vater ist nicht mehr, der feige

den Mut nicht hat, sich gegen das Verbrechen

zu stellen – doch das Opfer still ersticht.

War’s wirklich ihre Drohung mit der Nadel,

die – kaum zum Frisierwerkzeug geeignet –

ihm als Beweis genügte für Entschluss?

Der Mohre Othello, rasend vor Verdacht,

war katholischer – er ließ sie beten

vor dem ersten Stich. „Fleh zum Himmel!“, sprach er.

Er wollte nicht die Seele unvorbereitet

dem Himmel senden. Das war noch ein Mann.

Das Parterre war mir gnädig. Doch ich fürchtete,

als ich das sagte: „Ehedem gab’s einen Vater,

der seiner Tochter Stahl ins Herz gestoßen –

doch solche Väter sind von gestern.“ – Oh,

dafür hätt’ ich wohl Zitronen, Äpfel,

und faule Eier an den Kopf verdient,

wie jene freche Meerkatze einst traf

des Dichters Schlag, gerechter Zorn getroffen.

Ist das ein Vater? Ist das ein Soldat,

der zweifelnd zwischen Ja und Nein ersticht?

Mit Ekel küsst’ ich ihm die Mörderhand.

In drei- und vierzig Szenen war kein Grund,

dass er die Tochter je erzürnt betrachtet –

nur als sie sagte: „Solche Haarnadel

gehört nicht einer Frau, wie du sie willst.“

Das war sein Grund? Der große Offizier?

Der rächende, gefühlsstarke Tyrann?

Er hat das Laster an der Tugend gerächt –

durch ihren Tod – mit kaltem Vaterblick.


Doch so wie sie – so stirbt kein Weib mehr heut,

und so wie er – so sticht kein Vater mehr.

Nur einen hat Apoll sich auserkoren,

mit Marwoods Gift und Saras bittrem Schmerz

und Galottis Dolch das Herz zu bohren,

um Lessings Shakespeare gänzlich zu beschwören.