VON TORSTEN SCHWANKE
I
In einem abgelegenen Tal, wo die Berge wie schweigende Wächter stehen
und die Winde uralte Gebete tragen,
lebt eine Frau, deren Hände mehr wissen als die Worte der Ärzte.
Sie heißt nichts Großes – sie ist einfach „die Heilerin“.
Menschen kommen zu ihr,
erschöpft von Schmerzen, enttäuscht von dem, was kalt und nüchtern heilt.
Sie suchen in ihren Augen die Wärme,
in ihren Händen den Trost,
in ihrem Glauben die Kraft,
die mehr ist als Medizin –
ein Bündnis zwischen Erde und Himmel.
Doch das Dorf ist ein Spiegel voller Risse:
manche sehen in ihr ein Licht,
andere einen Schatten, eine Gefahr.
Die Angst vor dem Unbekannten, die Furcht vor dem Wunder,
sie mischen sich mit Neid und Argwohn.
Und doch, wenn sie still ein Kind segnet,
wenn sie die Stirn eines Kranken berührt,
öffnet sich ein Raum,
in dem Hoffnung wie eine Kerze brennt –
unscheinbar und doch unübersehbar.
Die Heilerin ist keine Herrscherin,
keine Prophetin.
Sie ist nur eine Frau, die den Schmerz anderer trägt,
und darin ihre eigene Last verwandelt.
Am Ende bleibt kein Triumph,
kein Donnerhall,
nur das stille Wissen:
Heilung ist mehr als Körper,
Heilung ist Vertrauen,
und manchmal – ein Gebet,
das in den Händen einer alten Frau wohnt.
II
Ob droben in den Bergen,
wo still die Wälder stehn,
da lebt’ die alte Heilerin,
die konnt’ in Herzen sehn.
Die Leut’ sie kamen leise,
mit Sorge, Not und Plag,
sie suchten Trost und Hoffnung
bei ihr am stillen Tag.
Sie legte auf die Hände,
sprach fromm ein gutes Wort,
und manchen, der schon müde war,
trug neue Kraft hinfort.
Doch andre schauten finster,
sie murrten: „Das ist Sünd’!
Was hilft der alte Glaube noch,
wo Ärzte stärker sind?“
So wuchs im Dorf das Raunen,
so schlich auch manch Verdacht,
doch wo ein Kind ihr dankbar lacht,
da siegt des Glaubens Macht.
Und wenn ihr Name klingt noch
im Tal von Mund zu Mund,
dann weiß man: Heilung wohnet dort,
wo Herz und Liebe grund’.
III
Tief in den dunklen Bergen,
wo Nebel Schleier webt,
da wohnt’ die alte Heilerin,
die zwischen Welten lebt.
Sie rief den Geist der Wälder,
sie sprach mit Quell’ und Stein,
und wer von Schmerzen niederlag,
trat heilend bei ihr ein.
Die Tiere in den Gründen,
sie kannten ihren Schritt,
der Adler in den Lüften
flog schweigend mit ihr mit.
Doch murrten dunkle Stimmen:
„Sie trägt verborgne Macht!
Ein Bündnis mit den Schatten wohl,
sei heimlich da erwacht.“
Da hob sie still die Hände,
ein Leuchten brach hervor,
und alle, die ihr nahten,
spürten ein neues Tor.
So blieb sie wie ein Flammenbild,
ein Stern in tiefer Nacht,
die Heilerin – ein Märchenwort,
das über Zeiten wacht.
IV
Hört, ihr Leute, hört die Kunde,
wie in finstrer Bergesrunde
eine Frau, von Gott berufen,
stand mit Kraft auf starken Stufen.
Nicht mit Schwert und nicht mit Speeren,
nicht mit Macht, wie Kön’ge wehren –
nein, mit Händen, schlicht und rein,
trat sie gegen Schmerzen ein.
Kranke, Lahme, Wundgetriebne,
Arme, Schwache, Hoffnungsliebne,
kamen wallend, schwer und bang,
lauschten ihrem Segensklang.
Doch die Mächt’gen, hart und kalte,
sprachten: „Sünde, die sie walte!
Falsches Licht, das sie entbrennt –
das Gericht sei ihr geschenkt!“
Da erhob sie sich im Schweigen,
ließ die heil’ge Kraft sich zeigen,
und wie Feuer, rein und klar,
strahlte ihre Seele dar.
Und die Berge, alt und graue,
nickten still in heil’ger Schaue,
und der Himmel rief sein Lied:
„Wo die Liebe heilt, da siegt.“
So bewahrt die alte Sage,
über Zeit und über Plage:
Eine Frau, die schlicht geblieben,
kämpfte groß – mit nichts als Lieben.
V
Uns ist in alten Mären
von einer Frau gesagt,
die Heil in stillen Händen,
von Gottes Kraft getragen, hat.
In Bergen, hoch und dunklen,
da wohnt’ sie schlicht und klein,
doch strömte aus den Worten
ein Licht, wie’s rein kann sein.
Zu ihr in schwerem Leiden
die Kranken kamen her,
sie sprach zu ihnen leise,
und Schmerz war nimmermehr.
Doch wider sie erhuben
sich Zungen voller Neid,
sie riefen: „Zaub’rin ist sie!
Verführt das Volk im Leid!“
Da trat sie vor die Menge,
ihr Antlitz mild und klar,
und still entbrannt im Schweigen
ward Gottes Nähe wahr.
So singt von ihr die Kunde,
so hallt der Zeiten Sang:
von einer Frau, der Heilung
durch Gottes Lieb gelang.
VI
Die Großmutter lebte am Rande des Dorfes, wo der Nebel länger auf den Wiesen verweilte als anderswo. Ihr Haus war alt, das Holz gedunkelt von Regen und Wind, und doch hatte es jene stille Würde, die aus jahrzehntelangem Gebet geboren wird.
An der Stube hing ein Bild des Herzens Jesu: die Flammen, die Dornenkrone, das Licht. Jeden Morgen entzündete sie davor eine Kerze, auch dann, wenn die Hände zitterten.
Die Enkelin – kaum siebzehn – verstand dieses Ritual nicht recht. Sie beobachtete es, manchmal heimlich, manchmal mit gespielter Gleichgültigkeit. Und doch zog sie etwas an diesem Blick Jesu an, dieses ernste, zugleich unendlich sanfte Antlitz, das so ganz anders war als die flüchtigen Gesichter ihrer Freundinnen in der Stadt.
Zwischen den beiden stand die Mutter – eine Frau, die in ihrer Jugend fortgegangen war, um ein anderes Leben zu suchen, und nun zurückgekehrt war, enttäuscht von all den Versprechen der Welt. Sie misstraute der Frömmigkeit der Alten, ja, sie fürchtete sie beinahe: „Immer dieses Herz Jesu! Immer diese Kerzen! Mutter, die Zeiten sind andere.“
Doch die Alte lächelte nur. „Das Herz ändert sich nicht. Es schlägt, auch wenn unsere Zeiten wirr geworden sind.“
So begann ein stiller Kampf um die Seele der Enkelin. Die Mutter wollte sie frei sehen, losgebunden von alten Ritualen. Die Großmutter aber suchte ihr das zu geben, was sie selbst getragen hatte: die Kraft des Leidens, verwandelt durch die Nähe zum göttlichen Herzen.
Die Enkelin spürte den Riss in sich selbst. Abends hörte sie die Großmutter leise beten, die Rosenkranzperlen im Takt ihrer müden Finger. Und sie hörte die Mutter, die von Arbeit, von Freiheit, von Selbstbestimmung sprach.
Zwischen beiden Stimmen stand sie wie in einem Gewitter, und manchmal fragte sie sich: Welches Herz schlägt in mir?