TRAGÖDIE
Von Torsten Schwanke
AKT I
SZENE I
(Wohnzimmer)
FANNY
Warum, Mama, hast du das Kleid so lang
gemacht für mich? Ich find mich fast darin.
FRAU FRANKE
Du bist heut vierzehn Jahre alt geworden.
FANNY
Hätt’ ich geahnt, dass du es länger machst,
dann wär ich lieber nicht vierzehn geworden.
FRAU FRANKE
Das Kleid ist nicht zu lang, mein liebes Kind.
Was soll ich tun, du wächst mit jedem Jahr.
Ein Mädchen, das erwachsen wird, soll nicht
mehr herumlaufen wie ein kleines Kind.
FANNY
Doch steht mir mein Prinzessinkleid viel besser
als dieses Nachthemd, das du mir gegeben.
Lass mich es doch noch einmal tragen, bitte –
den Sommer lang, nicht mehr. Wenn ich fünfzehn
dann bin, trag ich es gern nicht mehr. Doch jetzt
tret ich mir doch nur dauernd auf den Saum.
FRAU FRANKE
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, mein Kind.
Ich hielte dich so gern, wie du jetzt bist.
Die andern sind mit vierzehn grob und plump –
du bist das Gegenteil, bist zart und leicht.
Wer weiß, wie du noch wirst, wenn jene reifen.
FANNY
Wer weiß – vielleicht bin ich dann gar nicht mehr.
FRAU FRANKE
Mein Kind, mein Herz! Wie kommst du nur darauf?
FANNY
Ach Mutter, sei nicht traurig, bitte nicht.
FRAU FRANKE
(umarmt und küsst sie)
Mein einziges, mein liebes, liebes Kind!
FANNY
Ich denke so, wenn ich am Abend liege
und nicht gleich schlafe. Mir ist nicht mal traurig.
Dann träum ich besser, wenn ich so gedacht.
Ist’s eine Sünde, Mutter, so zu denken?
FRAU FRANKE
Na gut – dann häng das lange Kleid zurück,
und zieh dein herrliches Prinzessinkleid
noch einmal an. Ich näh dir einen Saum,
damit es dir nicht gar zu kurz mehr scheint.
FANNY
(sie hängt das Kleid zurück in den Schrank)
Dann wär ich lieber gleich schon zwanzig, Mutter.
FRAU FRANKE
Hoffentlich frierst du nicht. Das Kleid war mal
zu lang für dich – jetzt ist es dir zu kurz.
FANNY
Doch jetzt wird’s warm, es kommt der Sommer ja!
Man kriegt doch keine Grippe in den Knien!
In meinem Alter friert man ohnehin
noch nicht – schon gar nicht unten an den Beinen.
Wär’s denn dir lieber, wenn ich schwitzen müsste?
Dank Gott, wenn dein geliebtes Herzblatt nicht
auf einmal sich die Ärmel schneidet ab
und barfuß durch das Zimmer tanzt am Abend!
Wenn ich mein Bußgewand anziehe, dann
bin ich darunter wie die Elfenkönigin...
Nicht schimpfen, Mama – keiner sieht es ja.
SZENE II
(Sonntag Abend)
JONA
Ich hab genug. Ich mach bei dem Mist nicht mit.
TOTO
Dann bleibt uns andern wohl auch nichts mehr zu tun.
Hast du die Hausaufgaben, Jona?
JONA
Macht ihr nur weiter.
THOMAS
Wohin denn willst du?
JONA
Spazieren gehn.
JÖRG
Es wird schon dunkel, merkst du das?
BERT
Und? Hast du dabei die Hausaufgaben?
JONA
Wieso denn nicht? Was spricht denn gegen Dunkel?
WERNER
Zentralamerika! Ludwig der Vierzehnte!
Zehn Verse von Homer! Und sieben Gleichungen!
JONA
Verdammte Hausaufgaben!
JÖRG
Wär nur der blöde Aufsatz
doch wenigstens nicht schon morgen fällig...
THOMAS
Man denkt an nichts – und zack! schon denkt man: Arbeit!
TOTO
Ich geh nach Haus.
JÖRG
Ich auch. Ich muss was tun.
WERNER
Ich auch, ja, ich.
BERT
Gute Nacht, Jona.
JONA
Schlaft gut, ihr Leute.
(Alle gehen ab, nur THOMAS und JONA bleiben.)
JONA
Ich frag mich oft, warum wir überhaupt leben.
THOMAS
Ich wär viel lieber ein Pferd vorm Winterschlitten –
nur wegen dieser Schule! Warum gehn wir hin?
Damit man uns prüft. Und warum prüft man uns?
Damit wir durchfallen. Das ist doch klar!
Sieben müssen durchfallen – ist doch logisch.
Der Raum da oben fasst nur sechzig Schüler.
Ich fühl mich seltsam seit dem Weihnachtsfest...
Verdammt nochmal – wär Papa nicht, dann wär ich
schon längst mit Sack und Pack nach Altona!
JONA
Lass uns von was ganz andrem reden.
(Sie gehen spazieren.)
THOMAS
Siehst du die schwarze Katze dort am Weg?
Der Schwanz steht steil. Sie schleicht ganz leis vorbei.
JONA
Glaubst du an Zeichen? So an Vorbedeutung?
THOMAS
Ich weiß nicht... Sie kam von der andern Seite.
Hat weiter nichts zu sagen, denk ich mal.
JONA
Ich denke oft: Wer sich vom Wahn befreit,
der stürzt in eine andre Tiefe hin —
Charybdis rettet den, den Skylla ließ.
Komm, setzen wir uns unter diese Buche.
Der Tauwind rauscht herab von den Gebirgen.
Jetzt wünscht’ ich, dort im Wald, ich wär ein Wesen,
ein junges Baumgeist-Mädchen, das sich still
die ganze Nacht in hohen Kronen wiegt...
THOMAS
Mach auf die Jacke, Jona, atme frei!
JONA
Wie herrlich, wie der Wind die Kleider füllt!
THOMAS
Es wird so dunkel, dass man nichts mehr sieht.
Wo bist du eigentlich? — Sag mal, Jona,
glaubst du, die Scham ist nur erzogne Tugend?
JONA
Ich hab erst kürzlich drüber nachgedacht.
Sie scheint mir tief verwurzelt in uns drin.
Denk nur: du müsstest dich ganz nackt entblößen
vor deinem besten Freund – du würdest zögern,
es sei denn, er tut’s ebenfalls zugleich.
Doch vieles ist wohl auch nur eine Mode.
THOMAS
Und wenn ich einmal Kinder habe, Jona —
Jungs und auch Mädchen — dann erzieh ich sie
im selben Raum, vielleicht auf einem Bett.
Sie helfen sich beim An- und Ausziehn
am Abend und am Morgen, Tag für Tag.
Und wenn der Sommer kommt, dann tragen sie
nur eine Tunika, aus weißem Leinen,
kurz, locker, leicht, mit Lederriemen fest.
So wachsen sie vielleicht gesünder auf
und leben friedlich – nicht wie wir: gestört.
JONA
Das glaub ich auch, o Thomas, du hast recht.
Nur stellt sich eine Frage: Was geschieht,
wenn dann die Mädchen plötzlich Kinder kriegen?
THOMAS
Wie meinst du das – dass sie...?
JONA
Ich glaube fest,
ein Trieb in uns ist stärker als das Wissen.
Sperrst du nen Kater und ne Katze ein,
ganz fern von aller Welt, ganz ohne Lehrer —
sie werden es begreifen, irgendwann.
Die Katze wird auch ohne fremdes Vorbild
doch einmal trächtig. Das liegt in der Art.
THOMAS
Bei Tieren ist das naheliegend, ja.
JONA
Beim Menschen umso mehr! Denk nur daran:
Dein Sohn liegt neben deiner Tochter nachts,
die ersten Regungen im Leib erwachen —
ich wette drauf, du kannst es nicht verhindern!
THOMAS
Du hast wohl recht in mancher Hinsicht… trotzdem...
JONA
Glaub mir, und auch die Mädchen fühlen
zur selben Zeit ein Ziehen, ein Erwachen —
nicht dass sie gleich... man weiß es ja nicht so —
doch irgendetwas regt sich, das ist sicher.
Und Neugier tut den Rest, das kannst du glauben!
THOMAS
Nur eine Frage, Jona, ganz privat —
JONA
Ja, bitte?
THOMAS
Doch du versprichst, du gibst mir Antwort?
JONA
Natürlich!
THOMAS
Ganz ehrlich?
JONA
Hier — gib mir deine Hand. Und frag!
THOMAS
Hast du den Aufsatz denn schon aufgeschrieben?
JONA
Ach komm, sprich frei heraus, hier sieht uns keiner.
THOMAS
Den Kindern würde ich vorschreiben, tags
zu arbeiten im Hof, im Garten auch,
und sich durch Spiele körperlich zu fordern.
Sie müssten reiten, turnen, klettern, rennen —
und nachts, da dürften sie nicht weich mehr schlafen
wie wir es tun. Wir sind verweichlicht, Jona.
Ich glaube wirklich: Wer hart schläft, der träumt nicht.
JONA
Ich schlaf seit Neustem nur noch in der Hängematte.
Mein Bett steht hinterm Ofen, eingeklappt.
Im letzten Winter träumte ich einmal,
ich hätte Lolek lang und hart geschlagen,
bis er sich gar nicht mehr bewegen konnte.
Das war das Schlimmste, was ich je geträumt.
— Was schaust du mich auf einmal seltsam an?
THOMAS
Hast du’s auch schon gespürt?
JONA
Was meinst du denn?
THOMAS
Wie hast du's eben noch genannt?
JONA
Du meinst — die Regungen?
THOMAS
Hm.
JONA
Natürlich!
THOMAS
Ich auch.
JONA
Ich kenn das schon seit fast genau nem Jahr.
THOMAS
Es war, als hätte mich ein Blitz getroffen.
JONA
Du hast davon geträumt?
THOMAS
Nur einen Augenblick.
Von Beinen so in himmelblauer Hose,
die leichthin über das Katheder stiegen —
ich dacht’, sie wollten drüber. Ganz kurz nur
ich habe sie gesehn.
JONA
Und einer träumte mal
von seiner Mutter.
THOMAS
Hat er dir das gesagt?
JONA
Da draußen, ja — am Galgensteg.
THOMAS
Wenn du nur wüsstest,
was ich gelitten hab seit jener Nacht!
JONA
Gewissensbisse?
THOMAS
— Gewissensbisse? Nein.
Doch Todesangst.
JONA
Mein Gott…
THOMAS
Ich hielt mich für verloren.
Ich dacht, in mir sei etwas krank, zerstört.
Ich wurde erst beruhigt, als ich anfing,
mein Leben aufzuschreiben, Schritt für Schritt.
Drei Wochen lang, mein Freund, Gethsemane...
JONA
Ich war darauf gefasst, als es geschah.
Ein wenig Scham, das war’s — mehr war da nicht.
THOMAS
Und du bist fast ein Jahr noch jünger als ich!
JONA
Mach dir darum nicht allzu viele Sorgen.
Ich habe die Erfahrung oft gemacht:
Das erste Kommen solcher Art Phantome
folgt keinem Alter. Kennst du Lämmergeier,
den großen mit dem weizengelben Haar,
der Nase wie ein Adler?
THOMAS
Den kenn ich.
JONA
Der ist drei Jahre älter noch als ich.
Doch Johann sagt, der träumt noch heut von nichts
als Aprikosenmarmelade, Torte.
THOMAS
Ich bitte dich — wie will das Johann wissen?
JONA
Er hat ihn selbst gefragt.
THOMAS
Er hat ihn echt gefragt? – Ich hätte nicht
gewagt, so etwas offen zu gestehen.
JONA
Doch du hast mich doch auch mal so gefragt.
THOMAS
Ja, Gott bezeugt es! – Und vielleicht hat Johann
sein Testament gemacht. Wer weiß das schon?
Ein seltsam Spiel, das man hier mit uns treibt.
Und wir – wir sollen dankbar dafür sein?
Ich weiß nicht, dass ich je die Sehnsucht spürte
nach solcher Art Erregung. Warum hat man mich
nicht einfach schlafen lassen, bis es still
geworden wär? Mein Vater, meine Mutter
sie hätten bessre Kinder haben können.
Und nun bin ich halt da – ich weiß nicht wie –
und soll nun Rechenschaft dafür ablegen,
dass ich nicht fortgeblieben bin. Sag, Jona:
Hast du schon mal darüber nachgedacht,
wie wir in diesen Strudel rein geraten?
JONA
Du weißt es also wirklich noch nicht, Thomas?
THOMAS
Wie sollt’ ich’s wissen? – Ich seh Hühner Eier
legen, und Mama sagt, sie trug mich einst
unter dem Herzen. Reicht denn das als Antwort?
Ich weiß noch, wie ich als ein kleines Kind
schon rot geworden bin, wenn man im Buch
Herzdame mit dem Ausschnitt aufgeblättert.
Das hat sich mit der Zeit wohl aufgelöst.
Heut kann ich kaum mit einem Mädchen sprechen,
ohne dabei was Ekelhaftes zu
empfinden – und, ich schwör’s dir, Jona,
ich weiß nicht einmal, was es ist genau.
JONA
Ich sag’s dir ganz genau. Ich weiß es aus
den Büchern, Bildern und Naturbetrachtungen.
Ich war ganz überrascht – und wurde damals
Ein Atheist. Ich habs auch Jörg erzählt.
Und Jörg der wollt es Johann dann berichten.
Doch der – der kannte längst schon alles,
gelernt von seinem Kindermädchen.
THOMAS
Ich hab den kleinen Meyer durchgeackert,
von A bis Z – nur Worte, nichts als Worte!
Kein einzig klarer, schlichter Satz dabei.
Und dieses Schamgefühl! – Wozu ein Lexikon,
das auf die wichtigste der Fragen schweigt?
JONA
Hast du schon mal zwei Hunde rennen sehen,
so quer die Straße rüber, Seite an Seite?
THOMAS
Nein! – Bitte, Jona, sage heut nichts mehr.
Ich habe noch Lateinamerika,
den Ludwig Vierzehn, die sieben Verse
Homer, und Gleichungen – den Aufsatz
Lateinisch! Ich fall sonst wieder durch.
Zum Lernen muss man stumpf sein wie ein Ochse.
JONA
Komm einfach mit zu mir aufs Zimmer rauf.
In einer halben Stunde habe ich
Homer, die Gleichungen und zwei Berichte
fertig. Ich bau dir ein paar Fehler ein,
damit es echt wirkt. Mama gibt Limonade,
wir reden ganz gemütlich von dem Thema.
THOMAS
Ich kann das nicht. – Ich kann „gemütlich“ nicht
Fortpflanzung diskutieren! Wenn du willst,
dann schreib mir auf, was du darüber weißt.
So kurz wie möglich, und so klar es geht.
Stecks mir ganz einfach morgen bei dem Turnen
zwischen die Bücher. Ich trag’s heim,
ohne zu wissen, dass ich’s bei mir hab.
Irgendwann find ich’s dann wieder – reiner Zufall.
Und überflieg es mit müdem Blick.
Wenn’s unbedingt so sein muss, kannst du auch
ein paar Randzeichnungen ergänzen, gerne.
JONA
Du bist ja wie ein Mädchen. – Wie du willst!
Ich find, es ist ne interessante Hausaufgabe.
– – Nur eine Frage noch, Thomas...
THOMAS
Hm?
JONA
Hast du schon mal ein Mädchen nackt gesehn?
THOMAS
Ja.
JONA
Ganz nackt?
THOMAS
Komplett.
JONA
Ich auch! Dann brauchen wir auch keine Bilder.
THOMAS
Beim Schützenfest, in dem Museum wars.
Hätt man's gewusst, ich wär sofort geflogen.
So schön wie heller Tag — und echt naturgetreu!
JONA
Ich war mit Mama letzten Sommer dort,
in Frankfurt. — Gehst du schon, mein Thomas?
THOMAS
Ich muss was für die Schule vorbereiten.
Gute Nacht.
JONA
Bis bald!
SZENE III
(DOROTHEA, FANNY und MARTHE kommen Arm in Arm die Straße herauf)
MARTHE
Wie Wasser in den Schuh, so kriecht es rein!
FANNY
Und wie der Wind uns schneidend Wangen streift!
DOROTHEA
Mein Herz, es schlägt, als wollt’s mir aus der Brust!
FANNY
Kommt, gehen wir zur Brücke, schnell! Die Mutter
sprach heut: Der Fluss führt Zweige, Holz und Baum.
Die Jungs, sie treiben auf ’nem selbstgebauten Floß.
Man sagt, der Jona Böhmen sei ertrunken –
am Abend gestern.
DOROTHEA
Ach, der kann schwimmen!
MARTHE
Das glaub ich auch, mein Kind, der kann das wohl.
FANNY
Hätt er es nicht gekonnt, dann wär er tot!
DOROTHEA
Dein Zopf geht auf, du, MARTHE – schau, dein Zopf!
MARTHE
Pah, lass ihn! Soll er doch! Er macht mich krank,
bei Tag, bei Nacht. Ich darf nicht tragen, was
ich will: Kein kurzer Schnitt wie du, kein offen
wie FANNY. Zu Hause soll ich mich frisieren –
nur wegen der verknöcherten Tanten!
FANNY
Ich bring die Schere mit zur Religionsstunde.
Beim Psalm „Wohl dem, der nicht im Rat der Bösen
einhergeht“ – schneid ichs ab!
MARTHE
Um Gott, o FANNY, nein!
Mein Vater schlägt mich windschief, meine Mutter
sperrt mich drei Nächte ein ins Kohlenloch.
FANNY
Womit denn schlägt er dich, du arme MARTHE?
MARTHE
Manchmal, da denk ich fast, sie brauchten mich –
denn ohne mich, das spür ich, fehlte was:
ihr schlechtgeratner Schrecken – ihr Gespenst.
DOROTHEA
Mensch, Mädchen! Was denn redest du da bloß?
MARTHE
Du durftest doch ein Band – und himmelblau! –
durch deine Bluse ziehn, DOROTHEA?
DOROTHEA
Rosa aus Atlas. Mama meint, das Rosa
steht gut zu meinen schwarzen, tiefen Augen.
MARTHE
Mir stand das Blau so wundervoll! Doch dann –
Mama, sie riss mich grob am Zopf aus’m Bett.
Ich fiel auf beide Hände auf die Diele.
Und dabei betet sie doch, Abend für Abend...
FANNY
Ich wär an deiner Stelle fortgelaufen!
MARTHE
Siehst du? Genau das ist’s – das denkt sie auch!
Ich solle’s nur versuchen – sie wird schon seh’n!
Doch meiner Mutter – der soll keiner je
ein einzig Mal nen Vorwurf machen können...
DOROTHEA
Hu – hu – das ist mir nicht geheuer!
MARTHE
O DOROTHEA – weißt du, was Mama
mit ihrem Satz gemeint hat?
DOROTHEA
Ich nicht... und FANNY, du?
FANNY
Ich hätt’ sie gleich gefragt.
MARTHE
Ich lag da auf dem Boden, schrie und heulte.
Dann kam mein Vater. Ratsch – das Hemd ging runter.
Ich lief zur Tür, hinaus – da hab ich’s!
So wollte ich wohl auf die Straße gehn...
FANNY
Das glaub ich nicht, o MARTHE. So war’s nicht.
MARTHE
Mir war so kalt. Ich schloss die Tür. Ich schlief
die ganze Nacht im Sack, aus Lumpen, draußen.
DOROTHEA
Nie könnt ich schlafen in so einem Sack!
FANNY
Ich würd es glatt mal tun – für dich, o MARTHE.
MARTHE
Wenn sie mich bloß nicht dauernd schlagen würden.
DOROTHEA
Doch so erstickt man doch, wenn's eng wird, oder?
MARTHE
Der Kopf bleibt frei. Man bindets unterm Kinn.
DOROTHEA
Und schlagen sie dich dann?
MARTHE
Nur wenn was ist.
Wenn wirklich was passiert, dann ja, vielleicht.
FANNY
Womit denn schlagen sie dich, Marthe?
MARTHE
Ach, mit vielem.
Sag, findet deine Mutter’s auch daneben,
im Bett ein Stückchen Brot zu essen?
FANNY
Nein, nein. Sie sagt da nie was.
MARTHE
Ich hab oft das Gefühl,
sie freuen sich, auch wenn sie nichts sonst sagen.
Wenn ich mal Kinder hab, dann dürfen sie
so wild wie Unkraut in dem Garten wachsen.
Das stört dort keinen – und es wächst so hoch,
so dicht – viel schöner als die alten Rosen,
die jeder Sommer schwächer blühen lässt...
DOROTHEA
Wenn ich mal Kinder hab, sie tragen Rosa.
Rosa von Kopf bis Fuß – nur schwarze Strümpfe!
Dann zieh’n sie los, marschieren vor mir her.
Und du, was willst du, Fanny?
FANNY
Wer weiß schon,
ob wir überhaupt mal Kinder kriegen?
DOROTHEA
Warum denn nicht?
MARTHE
Die Tante Hildegard
hat doch auch nie ein Kind gehabt.
DOROTHEA
Weil sie nicht mal vermählt ist, dummes Gänschen!
FANNY
Doch Tante Petra – dreimal war sie’s schon,
und hat doch nie ein einziges bekommen.
MARTHE
Sag, Fanny – wenn du Kinder kriegst, was lieber:
Jungs oder Mädchen?
FANNY
Jungs! Ich will Jungs!
DOROTHEA
Ich auch – nur Jungs!
MARTHE
Ich auch nur. Zwanzig mal doch lieber
zehn Jungs als nur drei Mädchen!
DOROTHEA
Mädchen sind langweilig!
MARTHE
Wenn ich nicht selbst geworden wär ein Mädchen,
dann heut bestimmt nicht mehr.
FANNY
Ich glaub, das ist Geschmack, du liebe Marthe.
Ich freu mich jeden Tag, ein Mädchen zu sein.
Ich würd mit keinem Königssohn mehr tauschen –
doch will ich trotzdem lieber Jungs als Töchter.
DOROTHEA
Das ist doch Unsinn, lauter dummer Kram!
FANNY
Ich bitte dich, es ist doch viel erhabner,
von einem Mann geliebt zu werden – oder?
DOROTHEA
Willst du jetzt sagen, Peter liebt Melitta
mehr, als sie ihn?
FANNY
Ja, genau das sag ich!
Peter ist stolz – auf sich und seinen Rang.
Denn Peter hat sonst nichts. Doch Melitta
ist überglücklich, weil sie so viel kriegt,
mehr, als sie selbst je war.
MARTHE
Bist du nicht stolz
auf dich, o Fanny?
FANNY
Das wär doch lächerlich.
MARTHE
Ich wär an deiner Stelle mächtig stolz.
DOROTHEA
Sieh doch, wie sie die Füße setzt, den Blick,
wie sie sich hält, o Marthe! Das ist Stolz!
FANNY
Wozu denn nur? Ich bin so froh, ein Mädchen
zu sein – wär ich es nicht, dann würd ich mich
gleich selbst umbringen – und hoffen, nächstes Mal...
JONA
(geht vorbei und grüßt)
DOROTHEA
Er hat so einen wunderschönen Kopf.
MARTHE
So stell ich mir den jungen Alexander vor,
als er bei Aristoteles lernen ging.
DOROTHEA
Ach Gott, die ganze griechische Geschichte!
Ich weiß nur noch: der Sokrates lag in
'ner Tonne, als ihm Alexander – was? –
den Schatten eines Esels andreht, oder?
FANNY
Er soll der Beste der Klasse sein.
DOROTH0EA
Professor Soundso meint da, er könnte
der Erste bleiben, wenn er wollte.
MARTHE
Er hat 'ne schöne Stirn, sein Freund hat aber
viel mehr Gefühl und Ausdruck in den Augen.
DOROTHEA
Du meinst wohl Thomas Weiß? Der Träumer? Echt?
MARTHE
Ich fand ihn immer angenehm im Reden.
DOROTHEA
Der blamiert dich, ganz egal wo man ihn trifft.
Beim Kinderball bei Schneiders bot er mir
Pralinen an – stell dir das vor, o Fanny –
die waren warm und weich! Ich sag dir was:
Er hatte sie zu lange in der Hosentasche.
FANNY
Weißt du noch, Jona Böhmen sagte damals,
er glaub an gar nichts mehr – auch nicht an Gott –
an gar nichts mehr in dieser ganzen Welt.
SZENE IV
(Parkanlagen vor dem Gymnasium — JONA, TOTO, JÖRG, BERT, JOHANN, LÄMMERGEIER)
JONA
Weiß einer, wo DER THOMAS WEISS nur steckt?
JÖRG
Dem geht’s nicht gut! — Ich sag’s dir: Dem geht’s mies!
TOTO
Der treibt’s zu weit — und irgendwann kracht’s richtig!
LÄMMERGEIER
Ich sag euch ehrlich: Ich wollt er nicht sein!
BERT
Das ist doch frech! — Das geht zu weit, verdammt!
JONA
Wa–wa–was redet ihr da für ein Zeug?
JÖRG
Was wir da wissen? Na, ich sag’s dir gleich ...
LÄMMERGEIER
Ich habe nichts gesagt — hört auf, mich da zu nennen!
TOTO
Ich auch nicht — weiß der Himmel, was da läuft!
JONA
Wenn ihr mir nicht sofort...
BERT
Kurz und direkt:
Der THOMAS ist ins Lehrerzimmer gegangen.
JONA
Ins Lehrerzimmer... was? — Im Ernst?
TOTO
Jawohl, sofort
nach der Lateinstund — ist direkt er reinmarschiert.
JÖRG
Er war der Letzte. Blieb mit Absicht noch zurück.
LÄMMERGEIER
Ich bog grad um die Ecke von dem Korridor —
da sah ich, wie er auf die Türe zuging.
JONA
Verfluchter Mist!
LÄMMERGEIER
Wenn nur nicht er verflucht wird!
JÖRG
Vielleicht hat man den Schlüssel nicht entfernt?
BERT
Oder er hatte einen Dietrich bei sich.
TOTO
Dem würd ich sowas ohne Zögern glauben.
LÄMMERGEIER
Geht's gut, kriegt er nur’n Sonntag aufgebrummt.
BERT
Und einen fetten Eintrag in das Zeugnis!
TOTO
Wenn er mit solchen Noten nicht schon fliegt...
JOHANN
Da ist er ja!
JONA
So bleich wie’n Lappen, ehrlich!
(THOMAS tritt auf — sichtlich aufgewühlt.)
LÄMMERGEIER
O THOMAS, was hast du gemacht? Sag an!
THOMAS
Nichts, gar nichts.
BERT
Du fieberst doch, man sieht’s dir an, mein Freund!
THOMAS
Vor Glück! — Vor Seligkeit! — Vor reinem Jubel!
TOTO
Du bist erwischt?! Sag, was ist los mit dir?
THOMAS
Ich hab’s geschafft! — O JONA, hab’s geschafft!
Ich bin jetzt promoviert! Die Welt vergehe!
Ich hab’s geschafft! — Wer hätt es je geglaubt,
dass ausgerechnet ich das schaffen würde?!
Ich fass es nicht — ich hab’s wohl zwanzigmal
gelesen, immer wieder, doch — es blieb!
O Gott, es blieb! Ich bin — bin promoviert!
(lächelt)
So sonderbar fühl ich mich — so ganz benommen —
(Der Boden schwankt)
O Jona, Jona —
ach könntest du nur ahnen, was geschah!
JOHANN:
Ich gratulier dir, Thomas. Sei doch froh,
dass du so glimpflich aus der Sache kamst!
THOMAS:
Du weißt es nicht, mein Johann. Kannst nicht ahnen,
was wirklich auf dem Spiel gestanden hat.
Drei Wochen schlich ich an der Tür vorbei,
als ging’s hinab in einen Höllenschlund.
Und heut — da seh ich plötzlich, sie steht offen,
nur angelehnt. Ich schwör, man hätt mir Geld
geboten — eine Million! — umsonst!
Nichts, gar nichts hätte mich zurückgehalten!
Ich geh hinein, steh mitten im Büro,
ich nehm das Protokoll — ich blätter — finde —
und während all der Zeit...
JONA:
Und während all der Zeit?
THOMAS:
... da steht die Tür
sperrangelweit geöffnet hinter mir.
Wie ich hinaus bin, wie die Treppe runter —
ich weiß es nicht.
JOHANN:
Wird Werner auch noch promoviert?
THOMAS:
Oh ja, gewiss, mein Johann, ganz gewiss.
Auch Werner wird befördert werden —
doch ebenso wie ich: vorläufig nur.
Im ersten Quartal wird es sich zeigen,
wer schließlich weichen muss. Armer Werner!
Ich selbst — ich hab den Blick zu tief gesenkt,
mir ist um mich nicht länger bange jetzt.
TOTO:
Ich wette um fünf Mark, dass du wirst weichen.
THOMAS:
Du hast doch nichts. Ich will dich nicht bestehlen.
Mein Gott — jetzt wird gebüffelt, Tag und Nacht!
Jetzt kann ich’s sagen, glaubt es oder nicht —
nun ist’s egal — ich weiß, es ist die Wahrheit:
Wär ich nicht promoviert, ich hätte mich...
BERT:
Angeber!
JÖRG:
Ein Feigling!
TOTO:
Dich hätt ich gerne mal beim Schießen gesehn!
LÄMMERGEIER:
Der braucht ne Ohrfeige!
JONA (gibt ihm eine)
Komm, Thomas,
wir gehen runter zu dem Försterhaus.
JÖRG:
Du glaubst den Mist doch nicht im Ernste, oder?
JONA
Was kümmert dich das? – Lass sie reden, THOMAS!
Komm, fort von hier, hinaus, raus aus der Stadt!
(Die Professoren gehen vorbei.)
PROFESSOR I
Ich kanns nicht fassen, lieber Herr Kollege,
wie sich der beste Schüler ausgerechnet
zum allerletzten hingezogen fühlt.
PROFESSOR II
Ich auch nicht, lieber Herr Kollege, nein.
SZENE V
(Ein sonniger Nachmittag im Wald. JONA und FANNY treffen zufällig aufeinander.)
JONA
Bist wirklich du’s, o FANNY? Was machst du
so ganz allein hier oben in dem Wald?
Seit Stunden streif ich kreuz und quer umher,
kein Mensch begegnet mir – und plötzlich du,
aus dichtem Buschwerk trittst du vor mich hin!
FANNY
Ja, ich bin’s wirklich.
JONA
Wenn ich dich nicht erkennte
als FANNY FRANKE – könnte fast ich glauben,
du wärest ’ne Dryade, wohnend in dem Grün.
FANNY
Nein, nein, ich bin nur FANNY FRANKE. – Und du?
Wo kommst du her?
JONA
Ich folg den eignen Wegen,
verloren in Gedanken, wie so oft.
FANNY
Waldmeister suche ich, denn Mama will
für Mai nen Trank draus machen. Erst wollt sie
mitkommen – doch dann kam noch Tante Petra,
die geht ja ungern. Also ging ich selbst.
JONA
Und hast du deinen Meisterwald gefunden?
FANNY
Der Korb ist voll – dort drüben, bei den Buchen,
steht er so dicht wie Klee auf einer Wiese.
Jetzt such ich nur den Weg zurück – ich glaub,
ich hab mich etwas hier im Wald verirrt.
Weißt du vielleicht, wie spät es grade ist?
JONA
Es ist halb vier vorbei. – Wann musst du heim?
FANNY
Ich dacht, es wäre später schon. Ich lag
am Goldbach eine ganze Weile still
im Moos und hab geträumt. Die Zeit verging
so leicht – ich fürchtete, es sei schon Abend.
JONA
Wenn man dich nicht erwartet – bleibe doch,
bleib noch ein wenig hier mit mir im Wald.
Dort unter jener Eiche liegt mein Platz.
Wenn man den Kopf zurücklehnt an den Stamm
und durch die Zweige in den Himmel sieht,
wird man ganz still, fast wie hypnotisiert.
Die Erde ist noch warm von Sonnenstrahlen.
Seit Wochen schon da wollt ich dich was fragen.
FANNY
Doch vor fünf Uhr muss ich zu Hause sein.
JONA
Wir gehen dann gemeinsam, ich trag den Korb
Durch jene Mulde da – dann sind wir bald
schon auf der Brücke, keine zehn Minuten!
Wenn man so liegt, die Stirne in der Hand,
Gedanken kommen, seltsam, unbegrenzt…
(Beide setzen sich unter die Eiche.)
FANNY
Was wolltest du mich fragen, JONA, sag?
JONA
Ich hörte, du besuchst oft arme Leute,
bringst Essen, Kleider, Geld – aus eigner Hand?
Oder, sagt deine Mutter, du sollst gehn?
FANNY
Meist schickt die Mutter mich. Es sind Familien,
mit vielen kleinen Kindern, Tagelöhner.
Oft findet sich kein Werk, dann hungern sie.
Wir haben vieles noch von früher – Dinge,
die brauchen wir nicht mehr. Die bring ich hin.
Doch warum fragst du das?
JONA
Wenn sie dich schickt –
gehst du dann gerne? Oder widerwillig?
FANNY
Oh, nichts tät ich so gern! — Wie kannst du fragen?
JONA
Doch sieh die Kinder an — verdreckt, verwahrlost,
die Frauen krank, die Häuser voller Dreck,
die Männer hassen dich, weil du nicht schuftest...
FANNY
Das stimmt doch nicht, o Jona. Und selbst wenn doch —
gerade dann, dann gehe ich erst recht hin!
JONA
Gerade dann? Wieso? Erklär dich, Fanny.
FANNY
Ich sag: erst recht. Es macht dann noch mehr Sinn.
Noch mehr ein Grund, zu helfen, wenn's so schlimm ist.
JONA
Du gehst zu ihnen, weil es dich erfreut?
FANNY
Ich geh zu ihnen, weil sie arm sind, Jona.
JONA
Doch wenn's dir keine Freude machte — würdest
du trotzdem gehen?
FANNY
Kann ich denn was dafür,
dass Helfen mir von Herzen Freude macht?
JONA
Und dafür kommst du dann auch in den Himmel? —
Das lässt mich keinen Tag mehr ruhig schlafen!
Der Geizige, der keine Freude findet,
wenn Kinder krank und dreckig vor ihm steh’n —
hat der denn Schuld, weil’s ihm nicht Freude macht?
FANNY
Ach, dir würd’s sicher große Freude machen!
JONA
Und trotzdem soll's den Tod ihm ewig bringen!
Ich schreib ’ne Diskussion. Die kriegt der Pastor.
Er hat uns dieses Opfer-Zeug erzählt!
Wenn er mir nicht konkret darauf was sagt,
verlass ich Kinderlehre und die Kirche.
FANNY
Warum den Eltern diesen Kummer machen?
Lass dich doch einfach konfirmieren, Jona —
es kostet ja nicht mal den Kopf dabei.
Wenn nur die weißen Kleider nicht so schrecklich
und eure Hosen nicht so dämlich wären —
man könnt sich fast dafür begeistern dann.
JONA
Es gibt kein Opfer! Keinen Altruismus!
Die Guten freuen sich in ihren Herzen,
die Schlechten zittern, klagen, voller Angst —
ich seh dich, Fanny Franke, lachen, glänzen,
du schüttelst deine Locken, und mir wird
so seltsam weh, als wär ich ausgestoßen.
— Was hast du vorhin eigentlich geträumt,
als du am Goldbach lagst im hohen Gras?
FANNY
— Ach, dummes Zeug. Verrückte Phantaseien —
JONA
Mit offnen Augen?
FANNY
Ich träumte, ich
wär ein ganz armes Kind, ein Bettelkind,
das früh um fünf schon auf die Straße muss,
bei Wind und Wetter betteln, ohne Pause.
Und wenn ich abends heim komm, krank vor Hunger,
und bring nicht das, was Vater haben will,
dann schlägt er mich — er schlägt mich, Jona, hart.
JONA
Das kenn ich, Fanny. Das ist aus Geschichten.
So Menschen gibt es heut nicht mehr — vergiss das!
FANNY
Doch, Jona, doch — du irrst dich. Meine Marthe
wird Abend für Abend windelweich geschlagen.
Man sieht am nächsten Tag die Striemen noch.
O, was die leiden muss! Man wird ganz heiß,
wenn sie erzählt — ich weine oft im Bett.
Seit Monden denk ich, wie man ihr könnt helfen.
Ich würd mit Freuden sieben Tage tauschen.
JONA
Man sollte ihren Vater doch verklagen!.
Dann nähm man ihm das Kind vielleicht bald weg.
FANNY
Ich bin in meinem Leben nie geschlagen —
nicht ein Mal, Jona, nie. Ich weiß nicht mal,
wie es sich anfühlt. Hab mich selbst geschlagen,
nur um zu wissen, wie das ist im Herzen.
Es muss ein furchtbar grauenvoll Gefühl sein.
JONA
Ich glaube nicht, dass Kinder besser werden,
wenn man sie schlägt.
FANNY
Was meinst du — wodurch besser?
JONA
Durchs Schlagen eben. Durch Gewalt, verstehst du?
FANNY
— Mit dieser Gerte hier zum Beispiel, schau —
wie dünn die ist! Und zäh!
JONA
Die zieht dir Blut!
FANNY
Willst du mich denn nicht auch einmal so schlagen?
JONA
Wen meinst du?
FANNY
Mich, Jona. Mich allein.
JONA
Was redest du, o Fanny, bist du irre?
FANNY
Was ist denn Schlimmes dran? Es wär doch nichts.
JONA
Nun schweig! Ich schlag dich nicht, das sollst du wissen.
FANNY
Doch wenn ich’s dir erlauben will, warum?
JONA
Nie tu ich das, mein Mädchen, niemals ich.
FANNY
Und wenn ich’s flehentlich von dir verlang?
JONA
Bist du bei Trost? Was brennt in deinem Sinn?
FANNY
Ich bin noch nie geschlagen worden, nie!
JONA
Wie du um sowas bitten kannst... o Gott!
FANNY
Ich bitt’ dich — bitte, Jona — bitte sehr —!
JONA
Ich will dir zeigen, was es heißt, zu bitten!
(Er schlägt sie)
FANNY
Ach Gott — ich fühl doch nichts, nicht das Geringste!
JONA
Das glaub ich wohl — hindurch durch all die Röcke...
FANNY
Dann schlag mich doch am Bein, ich will es spüren!
JONA
O Fanny! —
(Er schlägt fester)
FANNY
Du streichelst mich! Du streichelst mich ja nur!
JONA
Jetzt warte, Hexe — ich will Satan jagen!
(Er wirft den Stock weg, schlägt mit Fäusten auf sie ein. Sie schreit entsetzlich. Er beachtet es nicht, wütend schlägt er weiter, während dicke Tränen ihm die Wangen überströmen. Plötzlich springt er auf, fasst sich an die Schläfen und bricht in lautem, jammervollen Schluchzen zusammen, stürzt dann tief in den Wald davon.)
AKT II
SZENE I
(Abend auf JONAS Studierzimmer. Das Fenster steht offen, die Lampe brennt auf dem Tisch. — JONA und THOMAS auf dem Sofa.)
THOMAS
Jetzt bin ich wach, nur etwas aufgeregt.
Doch in der Griechischstunde schlief ich tief,
wie Polyphem, wenn er zu viel getrunken.
Ich wundre mich, dass mich des Lehrers Stimme
nicht in die Ohren biss. — Beinahe wär
ich heut zu spät gekommen, wie so oft.
Mein erster Gedanke beim Erwachen war:
ein Verb auf μ — ein Höllenfrühstück!
Beim Weg zur Schule konjugiert ich weiter,
bis mir die Augen grün im Kopf geworden.
Kurz nach drei bin ich dann eingenickt.
Ein Tintenklecks ist noch im Buch zu sehn.
Die Lampe rauchte, als Mathilde kam,
mich weckte — draußen sang im Fliederbusch
die Amsel hell, so lebensfroh, so frei —
da ward mir gleich unsagbar melancholisch.
Ich band den Kragen mir und strich das Haar.
Doch fühlt man sich ganz eigen, wenn man einmal
der eignen Schwäche etwas abgerungen.
JONA
Darf ich dir eine Zigarette drehen?
THOMAS
Ich danke, nein, ich rauche nicht. – Wenn nur
es weitergeht! Arbeiten will ich, bis
mir meine Augen aus dem Schädel platzen.
Der Werner, Freund, hat seit den Ferien
schon sechsmal nichts gewusst – in Griechisch dreimal,
zweimal bei Knochenbruch, einmal bei Büchern.
Ich selbst stand fünfmal kläglich da – genug!
Ab heute kommt das nicht mehr vor, nie mehr!
Werner erschießt sich nicht. Er hat ja niemand.
Sein Vater ist vielleicht ein Schiffer. Oder
ein Niemand. Er kann werden, was er will:
ein Söldner, Cowboy oder auch Matrose.
Fall ich da durch, trifft’s meines Vaters Herz
mit einem Schlag, und Mutter wird verrückt!
Das ist kein Spaß! Vor dem Examen noch
hab ich zu Gott gefleht: Laß mich erkranken!
Schick mir die Schwindsucht, dass ich sterben kann
und mir der Kelch des Lebens wird erspart!
Er ging vorüber — doch sein goldner Glanz
leuchtet mir heut noch aus der Ferne zu,
dass ich den Blick kaum heben darf bei Tag.
Doch jetzt, da ich den Stab gefaßt, da will
ich steigen — bis zum letzten Ast. Ich weiß,
ich stürze nicht, wenn ich nicht alles brech.
JONA
Das Leben ist von einer Art Gemeinheit,
die keinen Namen kennt. Ich hätte Lust,
mich aufzuhängen an den nächsten Zweig.
Wo bleibt denn nur Mama mit ihrem Saft?
THOMAS
Dein Saft, mein Jona, wird mir Wohltat sein.
Ich zittre nämlich. Fühl mal – bin ich warm?
Mir ist, als wär ich nicht mehr ganz von hier.
Ich seh, ich hör, ich fühl so überdeutlich,
und doch wie aus dem Traum heraus – so weich,
so stimmungsvoll, so sanft umflort im Licht.
Sieh nur, wie sich der Garten weitet dort
im Mondenschein — so still, so tief, so klar,
als wär dahinter gleich Unendlichkeit.
Und unter Büschen regt sichs – leise Schatten,
sie huschen atemlos durch Licht und Laub
und sind schon fort. Dort unter dem Kastanienbaum
da scheint mir eine Ratsversammlung sich
zu sammeln. Wollen wir nicht hingehn, Jona?
JONA
Wart’, bis wir Saft getrunken haben, ja?
THOMAS
Die Blätter flüstern eifrig, leis und warm.
Mir ist, als hörte ich die Großmama,
wie sie die Mär von jener Königin
ohne den Kopf mit seligem Blick erzählt.
Sie war so schön wie Licht im Morgengold,
viel schöner noch als jedes Mädchen hier,
doch kam sie ohne Haupt zur Welt, o Jammer!
Sie konnte weder essen noch sich freun,
nicht sehen, trinken, lachen, nicht mal küssen.
Mit einer kleinen, weichen Hand allein
sprach sie zu Hof und Volk ihr königlich Gebot.
Mit zarten Füßen strampelte sie Krieg,
sprach Todesurteil aus mit feinem Schwung.
Dann kam ein König, doppelt war sein Haupt,
die zwei in stetem Streit, ganz unversöhnt.
Der Zaubermeister nahm den kleineren
und setzte ihn der Königin aufs Haupt.
Und siehe da – wie wunderbar er stand!
Da war der König klug und freite sie.
Nun küssten sie sich Stirn und Wange rot,
und lebten lange, voller Glück und Lust...
Ein Unsinn, und verflucht sei solch ein Bild!
Seit diesen Ferien geht sie mir nicht aus
dem Kopf – die Königin ganz ohne Kopf.
Seh ich ein schönes Mädchen auf der Straße,
so seh ich es, als hätt es kein Gesicht –
und plötzlich komm ich mir auch selbst so vor:
als wär ich sie – die Königin aus Traum.
Vielleicht, vielleicht setzt man mir ja auch
ein Haupt noch auf, das endlich zu mir passt.
(FRAU BÖHMEN tritt herein mit süßem Saft und stellt ihn auf den Tisch vor THOMAS und JONA.)
FRAU BÖHMEN
Hier, Kinder – lassts euch schmecken! – Guten Abend,
Herr Weiss – wie geht es Ihnen heute Nacht?
THOMAS
Ich dank, Frau Böhmen – höre dort den Tanz
und lausche seinem Reigen still empor.
FRAU BÖHMEN
Sie sehen aber gar nicht gut aus heute.
Fühlt sich Herr Weiss vielleicht ein wenig krank?
THOMAS
Das ist nicht schlimm. Ich kam nur spät zur Ruh
in diesen letzten Nächten, mehr nicht, wirklich.
JONA
Er hat die ganze Nacht hindurch geschafft.
FRAU BÖHMEN
Ach, sowas tut man nicht, Herr Weiss, oh nein.
Sie müssen sich doch schonen, bitte sehr.
Bedenken Sie: Die Schule bringt nichts ein,
wenn Ihre Kraft dahin ist. Gehn Sie raus,
spazieren Sie! Die Luft ist heiliger
als jedes Mittelhochdeutsch auf dem Blatt.
THOMAS
Sie sprechen weise. Ich will draußen gehn.
Man kann ja auch beim Wandern fleißig sein –
wie kam ich selbst noch nie auf diesen Einfall!
Nur schreiben muss ich freilich noch daheim.
JONA
Das Schriftliche – das machst du hier bei mir!
Dann wird es beiden leichter. – Weißt du noch,
wie Max dereinst am Nervenfieber lag?
Und heute Mittag kam sein Bruder, bleich,
vom Totenbett, direkt zum Rektor hin,
um zu berichten, dass der Tod nun kam.
Der Rektor sagt nur: „Hast du nicht noch zwei
Versäumnisstunden? Hol dir diesen Zettel
und bring ihn schleunigst zum Pedell. Und sieh –
dass Ordnung herrscht. Die Klasse kommt zur Gruft.“
Der arme Johann stand wie eingefroren.
FRAU BÖHMEN
Was liest du da für’n Buch, mein lieber Sohn?
JONA
Den „Faust“.
FRAU BÖHMEN
Hast du es denn schon durchgelesen?
JONA
Noch nicht zu Ende.
THOMAS
Wir sind bei der Walpurgisnacht.
FRAU BÖHMEN
Ich hätt’ gewartet, ein, zwei Jährchen noch.
JONA
Ich kenn kein Buch, das so sehr schön ist, Mama.
Warum sollt ich es dann nicht lesen dürfen?
FRAU BÖHMEN
Weil du es nicht verstehst.
JONA
Das kannst du nicht erkennen, Mutter, nein.
Ich fühle wohl, wie fern mir noch das Ziel,
das Werk in seiner Hoheit ganz zu fassen —
doch bin ich offen für des Geistes Ruf.
THOMAS
Wir lesen stets zu zweit; das hilft enorm!
Zu zweit begreift man leichter, was da steht.
FRAU BÖHMEN
Du bist kein Kind mehr, Jona, du weißt wohl,
was dir zur Stärke dient, was dir nicht frommt.
Tu, was du tragen kannst in deinem Herzen,
dann werd ich nimmer Grund empfinden müssen,
dir etwas zu entziehen nur aus Sorge.
Ich wollte dich nur mahnen, lieber Sohn,
daß selbst das Höchste schaden kann dem Geist,
der nicht bereit ist, es gerecht zu fassen.
Doch mein Vertrauen schenk ich lieber dir
als irgendeiner strengen Sitten-Regel.
Wenn euch noch etwas fehlt, dann komm, mein Kind,
ruf mich herüber, ich bin nebenan.
(Ab.)
THOMAS
Sie sprach vom süßen Gretchen, meinst du nicht?
JONA
Wir hielten doch nicht lange bei ihr an!
THOMAS
Doch Faust ging kälter nicht an ihr vorbei!
JONA
Das Werk erhebt sich über solche Tat!
Hätt er ihr Heirat feierlich versprochen,
und ging dann fort, so wär's gleich schlimm für mich.
Ob sie an Liebeskummer ging zugrunde —
sie wär nicht minder tragisch als zuvor.
Doch immer springt der Blick auf dies Moment,
als ob sich alles um zwei Lettern dreht!
THOMAS
Ich sag dir offen, Jona, was ich spür:
Seit ich den Aufsatz las, dein Werk, dein Wort —
im ersten Urlaub fiel es mir zu Füßen.
Ich hielt den Faust, und plötzlich war ich still.
Ich schloss die Tür und las mit heißem Blick,
wie eine Eule, die dem Feuer flieht,
so raste ich durch Zeilen, glühend, blind.
Und alles klang in mir wie dunkler Sang,
wie Kindheitslieder, sterbend neu gehört.
Doch was du schriebst vom Mädchen, traf mich tief.
Ich werd den Eindruck nimmer los, mein Freund.
Glaub mir: Zu leiden ist ein süßerer Schmerz,
als selbst das Unrecht in die Welt zu tragen.
Und wer ein solch Unrecht dulden muss,
der lebt in Seligkeit, dies glaub ich dir.
JONA
Ich will nicht Seligkeit aus Mitleid nur!
THOMAS
Warum denn nicht?
JONA
Ich will, was ich erkämpft!
Nicht, was mir reicht die Hand wie Armensuppe!
THOMAS
Doch ist das dann noch Freude? — Sieh das Mädchen:
Sie lebt, sie liebt, wie Götter einst geliebt.
Sie wehrt sich nicht — ihr Herz ist wie ein Quell,
der aus dem Felsen klar empor sich hebt.
Sie sieht das Paradies, und dennoch zögert
ihr Herz vor Höllenangst im selben Blick.
Sie trinkt den Becher, rein von jedem Hauch,
den Irdisch-Eitles je befleckt — mit Glut
und Licht erfüllt, trinkt sie ihn atemlos.
Doch was der Mann da fühlt — erscheint mir schal,
ein abgestandner, müder, matter Rest.
JONA
Denk, was du willst — nur sag es lieber nicht.
Ich denk es mir nicht gern — und will es nicht.
SZENE II
FANNY
(erscheint in Unterröckchen in der Seitentür rechts)
Was gibt es, Mutter?
FRAU FRANKE
Du bist schon erwacht?
Wie schön von dir, mein Kind, so früh schon auf.
FANNY
Du warst schon aus dem Haus?
FRAU FRANKE
Nun kleide dich,
sei flink, du musst sogleich zu Marion.
Du bringst ihr diesen Korb, vergiss ihn nicht.
FANNY
(zieht sich währenddessen weiter an)
Du warst bei Marion? Wie geht es ihr?
Noch immer keine Besserung in Sicht?
FRAU FRANKE
Ach stell dir vor, mein Kind — die ganze Nacht
war er bei ihr, der Storch, und brachte ihr
ein Söhnchen mit – ein wunderschöner Bube.
FANNY
Ein Junge? Wirklich? Ach, wie wunderbar!
So war es das – die lange schwere Grippe!
FRAU FRANKE
Ein Prachtkerl, sag ich dir!
FANNY
Den seh ich mir
sofort einmal genauer an! Nun bin
zum dritten Mal ich Tante — wie famos!
Ein Mädchen und nun zwei entzückende Jungs!
FRAU FRANKE
Und was für Jungs, mein Kind! So geht es halt,
wenn man so nah am Kirchendache wohnt.
Zwei Jahre sind vergangen morgen erst,
seit sie im langen Kleid die Stufen stieg.
FANNY
Warst du dabei, als er den Jungen brachte?
FRAU FRANKE
Da war er schon verschwunden, fortgeflogen.
Willst du dir nicht vielleicht ’ne Rose pflücken?
FANNY
Warum bist du nicht früher hingegangen?
FRAU FRANKE
Ich glaub, er hat für dich auch was gebracht —
’ne Brosche oder so, vielleicht ein Schmuck.
FANNY
Wie schade, wirklich schade ist es doch!
FRAU FRANKE
Ich sag dir doch: ’ne Brosche hat er dir
gebracht, bestimmt!
FANNY
Ich hab doch schon genug...
FRAU FRANKE
Dann sei zufrieden, Kind, was willst du mehr?
FANNY
Ich hätt so schrecklich gern gewusst, ob er
durchs Fenster oder den Kamin durch kam.
FRAU FRANKE
Da frag nur Marion! Sie weiß es ganz genau.
Sie sprach mit ihm — ’ne halbe Stunde lang.
FANNY
Ich frag sie, wenn ich bei ihr angekommen.
FRAU FRANKE
Doch tu es wirklich, liebe Engelin!
Das interessiert mich auch: Wo kam er rein?
FANNY
Soll ich nicht doch den Schornsteinfeger fragen?
Der Schornsteinfeger muss es doch wohl wissen,
ob einer durch den Schornstein fliegen kann!
FRAU FRANKE
Nicht ihn, mein Kind, der redet wirren Kram.
Was weiß ein Schornsteinfeger schon vom Storch?
Der glaubt ja selbst nicht, was er so erzählt...
Was starrst du da denn unten auf die Straße?
FANNY
Ein Mann, o Mutter – größer noch als Rinder!
Mit Füßen breit wie Schiffe voller Dampf!
FRAU FRANKE
(ans Fenster stürzend)
Nicht möglich! — Nein, das kann doch garnicht sein,
nicht möglich ist’s, was ich dort unten sah —
FANNY
(zugleich)
Er trägt 'ne Bettstatt unterm Kinn daher,
und fiedelt so "Die Wacht am Rhein", so krumm —
gerade bog er um die Straßenecke...
FRAU FRANKE
Du bleibst ein Kindskopf, Fanny, wie du bist!
So jage nicht der Mutter Furcht ins Herz!
Nimm deinen Hut, und mach dich endlich fort!
Mich wundert’s, wann bei dir Verstand einkehrt —
ich habe längst die Hoffnung aufgegeben.
FANNY
Ich auch, Mama, ich auch — mein armer Geist
ist traurig, wie er ist. Stell dir doch vor:
Ich hab 'ne Schwester, zwei Jahr’ ist sie fort,
vermählt — und dreimal bin ich schon
geworden Tante — und versteh kein Wort
von dem, was da gescheh’n soll in der Welt.
Sei nicht erzürnt, Mama, sei nicht erzürnt!
Wen soll ich denn sonst fragen, wenn nicht dich?
Ich bitt dich, sag es mir! Sag’s mir, Mama!
Ich schäm mich selbst, doch frag ich dich darum.
Beschimpf mich nicht, nur weil ich’s wissen will —
wie geht das zu? Wie kommt es, sag es mir!
Du willst doch nicht, dass ich mit vierzehn Jahr’
noch an den Storch da glaube wie ein Kind.
FRAU FRANKE
Ach Gott, wie sonderbar du doch nur bist —
was hast du nur für einen Einfall, Kind! —
Ich kann beim besten Willen dir nichts sagen!
FANNY
Warum denn nicht, Mama? Warum denn nicht?
Es ist doch nichts Gemeines, nichts Verworfnnes,
wenn alle sich so sehr darüber freuen!
FRAU FRANKE
O Gott, behüte! — Das verdient man nicht!
Zieh dich doch an, mein Mädchen, geh nur fort!
FANNY
Ich geh... Und wenn dein Kind nun hingeht,
Und fragt den Schornsteinfeger auf der Straße?
FRAU FRANKE
Das ist doch närrisch! Hörst du, komm doch her —
Ich sag es dir — ich sag dir alles, ja!
O große Güte Gottes — nur nicht heute!
Nicht heut, Fanny! Bald vielleicht — schon morgen —
in einer Woche — wenn du willst, mein Herz!
FANNY
Ich will’s heut wissen, Mutter, hier und jetzt!
Denn wie du eben ganz erschüttert warst —
nun lässt mir’s keine Ruhe mehr im Sinn.
FRAU FRANKE
Ich kann nicht, Fanny.
FANNY
Warum denn nicht, Mama?
Hier knie ich, und ich leg mein Haupt in deinen Schoß —
Deck mich mit deiner Schürze zu, und sprich,
als wärst du ganz allein in diesem Raum.
Ich rühr mich nicht, ich werde nicht erschrecken —
ich trag es still, was du mir sagen willst.
FRAU FRANKE
Der Himmel weiß, ich trag die Schuld doch nicht —
er kennt mich gut — nun komm! So sei’s — ich will.
Ich sag dir, Mädchen, wie du einst erschienst,
wie du ins Leben kamst auf diese Welt.
So hör mir zu, mein Kind...
FANNY
(unter der Schürze)
Ich höre, Mama.
FRAU FRANKE
(ekstatisch)
Doch nein — es geht nicht, Kind! Ich kann das nicht!
Ich darf’s nicht sagen! — Man würd’ mich verklagen,
ins Zuchthaus setzen — dich mir nehmen gar!
FANNY
(unter der Schürze)
Fass dir ein Herz, Mama!
FRAU FRANKE
Dann höre —
FANNY
(unter ihrer Schürze, zitternd)
O Gott, o Gott, was lebt da jetzt in mir?
FRAU FRANKE
Du weißt es, Kind — ein Mensch wächst dir im Leib.
Verstehst du, Fanny, was das heißen kann?
FANNY
Ach, Mutter, sprich! Ich halt es nicht mehr aus!
FRAU FRANKE
Ein Kind — das kommt, wenn man, aus tiefstem Herz,
den Ehemann in heil‘gen Gluten liebt.
Nicht so, wie du in deinem Alter liebst —
nein, tiefer noch, mit Fleisch und Geist und Blut.
So, dass kein Wort es ganz beschreiben kann.
Nun weißt du’s, Kind. Nun weißt du, was da kommt.
FANNY
(sich erhebend)
Mein Gott — mein Gott im hohen Himmel droben!
FRAU FRANKE
Und das sind Prüfungen, die vor dir stehn.
FANNY
Und das ist alles? Mehr kommt da nicht mehr?
FRAU FRANKE
So wahr mir helfe Gott. Nun nimm den Korb
und geh zu Marion. Dort gibt es Schokolade
und Kuchen auch. Nun, lass mich dich noch sehn —
Der Gürtel sitzt, die Handschuhe sind fein,
Die Taille wie bei einer Seemannsbraut —
Und Rosen blühn in deinem jungen Haar.
Doch, Fanny, ach! Dein Röckchen ist zu kurz!
FANNY
Hast du ans Fleisch für Mittags schon gedacht?
FRAU FRANKE
Der liebe Gott behüte dich, mein Kind!
Ich werd dir bald noch eine Handbreit Saum
dran nähen. Nun, nun geh – sei still und brav.
SZENE III
JOHANN
(Kerze in der Hand, verriegelt die Tür und öffnet den Deckel)
Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?
(Er zieht ein Bild hervor.)
Du bist kein Vaterunser, holde Maid.
Du schaust wie eine, die das Glück erwartet,
als ich dich sah im Schaufenster, ganz still,
bei Schlesinger — und meine Brust erbebte.
So weich die Glieder, Hüften zart gewölbt,
so straff die Brust — ein Rausch war’s, dich zu sehn.
Der Meister sah dich, vierzehnjährig fast,
gestreckt auf einem Diwan, träumend schön —
Und hat im Blick dein Ebenbild gefasst.
Suchst du mich heim noch in der Nacht, mein Bild?
Ich breite meine Arme weit für dich
und küss’ dich, dass dir bald der Atem stockt.
Du ziehst bei mir ein wie die rechte Herrin
ins Schloss, das leer war, tot seit langer Zeit —
Und alle Tore öffnen sich von selbst.
Der Brunnen rauscht im Park wie eh und je.
Die Sache will es so! Doch nicht aus Trieb
erschlug ich dich — das Herz klopft viel zu wild.
In einsamen, durchwachten, langen Nächten
erschlug ich dich aus Not, aus tiefem Schmerz.
Nicht Überdruss war’s, nein, das schwör ich dir.
Denn wer wär je des Schauens überdrüssig?
Doch saugst du mir das Mark aus meinem Leib,
machst krumm den Rücken, raubst mir das Gesicht.
Du forderst viel mit deiner stillen Art,
zu aufreibend mit deinen starren Gliedern!
Du oder ich! Und ich, ich hab gesiegt!
Wenn ich sie zähle, die mir gleich gewesen —
Psyche von Thumann, alt und mager schon,
ein Andenken an Angelique, die Schlange
im Kinderparadies — dann war da Jo,
von dem Correggio, Galathea,
Amor von Bouguereau, dann auch Ada,
gestohlen Papa aus dem Sekretär —
sie alle nahm ich mit in meinen Harem.
Und Makarts Leda, zitternd, zuckend, schön,
gefunden unterm Heft von meinem Bruder —
Sieben sind’s, o du blühende Kandidatin
für diesen Weg in dunklen Tartarus!
Lass das dir Trost sein — mehr kann ich nicht tun.
Und blick mich nicht so an, du stilles Bild —
du machst die Qual noch größer, als sie ist.
Du stirbst nicht dir, du stirbst durch meine Schuld!
Aus Notwehr gegen dich vollbring ich’s jetzt,
mit blut’gem Herzen, mord’ ich meine siebte.
In Blaubarts Rolle wohnt ein tiefes Leid.
Ich glaube, seine Opfer litten kaum
so sehr wie er beim Würgen jeder Frau.
Doch wird mein Herz durch deinen Tod beruhigt,
mein Leib gestärkt, wenn du, verdammte Hexe,
nicht länger thronst auf rotem Seidenflor
im Schmuckgemach, das meine Lust beherbergt.
Statt deiner soll die Lorelei dort wohnen,
von Bodenhausen, oder jene dort,
die Loni heißt, gemalt von irgendwem –
sie ziehn in deine Kissen sanft hinein.
So werde ich mich rascher noch erholen.
Ein Vierteljahr, o süße Seele, mehr –
und schon hätt’ Josaphat dein nackter Leib
mein armes Hirn zernagt, wie Sonne Butter.
Es war nun an Zeit, dich zu verlassen.
Mir graust – ein Heliogabalus in mir!
Moritura me salutat! O Mädchen,
was presst du denn die Knie so hart zusammen?
Noch jetzt? – und vor der Ewigkeit der Nacht?
Ein Zucken nur – ich ließ dich frei, o Weib!
Ein weiblich Zeichen – Lüsternheit und Liebe!
Dann wollt’ ich dich in Gold gefasst verehren,
und über meinem Lager hängte ich
dein Bild auf. Siehst du’s nicht: Nur deine Tugend
gebiert in mir die wildsten Ausschweifungen.
Weh über euch, ihr Unbarmherzigen!
Man merkt es, sie genoss Erziehung, wahrlich.
Auch mir geschieht’s – ganz ähnlich, denkt man fast.
SZENE IV
(Ein Heuboden. JONA liegt im Heu. FANNY steigt die Leiter hinauf.)
FANNY
Hier hast du dich verkrochen? Alle suchen
nach dir. Der Wagen kehrt zurück, o Jona.
Du musst jetzt helfen. Bald bricht Sturm herein.
JONA
Fort, geh von mir! Ich will dich nicht mehr sehn!
FANNY
Was ist? Warum verbirgst du dein Gesicht?
JONA
Fort, fort mit dir! Ich werf dich in die Tiefe!
FANNY
Dann bleibe ich erst recht hier.
(Sie kniet zu ihm.)
Warum kommst du nicht mit aufs Mattenlager?
Hier ist es dumpf, die Luft steht schwer und feucht.
Und wenn wir klatschnass werden bis aufs Mark –
was schadet das? Wir trocknen uns mit Lust.
JONA
Das Heu das duftet, süß und warm, nach Sommer.
Der Himmel draußen schwarz wie Leichentuch.
Ich seh nur Mohn, der leuchtet an der Brust,
und hör dein Herz – es klopft in meiner Brust.
FANNY
Nicht küssen, Jona! – Nein, das darfst du nicht!
JONA
Dein Herz, ich höre es – so warm, so nah ...
FANNY
Man liebt, wenn man sich küsst ... doch nicht, nicht jetzt!
JONA
Glaub mir, es gibt nicht Liebe – nur Verlangen!
Nur Eigennutz! Nur Hunger! – Ich lieb dich
so wenig, wie du mich je lieben könntest.
FANNY
Nicht! – Nicht! – O Jona! Bitte nicht – nicht das!
JONA
O Fanny!
FANNY
O Jona, nicht!
SZENE V
FRAU BÖHMEN
(sitzt, schreibt):
Lieber Herr WEISS!
Nach einem Tag voll Sinnen und voll Sorgen
Ergreif ich nun, mit schwerem Herz, die Feder.
Die Mittel für die Überfahrt nach drüben
Kann ich, bei allem Willen, nicht verschaffen.
Ich schwöre's Ihnen, schwörs bei dem, was heilig:
Ich hab sie nicht. Und auch, besäße ich
Die Summe, wär's doch Unrecht, sie zu geben.
Denn was Sie planen, ist in seinem Kern
Ein Akt der tiefsten, heftigsten Verblendung.
Nicht gegen Sie, mein lieber Herr, gerichtet
Ist meine Weigerung — im Gegenteil:
Gerad aus Liebe halt ich Sie zurück.
Was wär' ich für ein mütterlicher Geist,
Wenn ich, geblendet von des Jammers Drang,
Nicht Halt gebiete, wo Vernunft gebietet?
Ich schreibe gern, sofern Sie es erlauben,
An Ihre Eltern — will mit Ernst erklären,
Was Sie geleistet haben im Quartal.
Sie taten, was ein Mensch in Not nur kann.
Und weiter Druck auf Ihre junge Kraft
Wär’ nichts als eine töricht harte Tat,
Die sich, ich fürchte, schädlich wirkte aqus
Auf Ihre Seele wie auf Ihren Leib.
Doch, was mich schmerzt: Sie sprachen unklar
Von Selbstvernichtung, wenn die Flucht misslingt.
Das, o Herr Weiss, hat mich erschüttert.
Kein Leid, wie bitter, heiligt solche Wege.
Was mich betrübt: Sie scheinen anzudeuten,
Ich trüg' die Schuld, falls Sie sich selbst entleibten.
Doch solch ein Schritt, so finster er auch wär,
Entspringt nicht meiner Hand, nicht meinem Herzen.
Der Schatten, den dies auf mein Bildnis wirft,
Ist einer, den ich nie geahnt von Ihnen.
Ich glaube fest, dass Ihre erste Angst
Noch spricht aus diesen unbedachten Zeilen.
Und hoffe nun, mein Wort trifft Sie gefasst.
Nehmen Sie an, was ist. Die Zeugnisse
Sind nicht das letzte Maß für Menschenwert.
Zu oft ward aus dem Schwächsten starkes Holz,
Und manches Licht verblich nach frühem Glanz.
Ich halte Sie in Ehren, o Herr Weiss,
Und auch mein Sohn — ich weiß — wird treu Sie schätzen.
So Kopf empor! Auch diese dunkle Prüfung
Vorübergeht, wie alle Erden-Schmerzen.
Wär’ Tod die Antwort auf des Lebens Haken,
So lebte bald kein einz'ger mehr auf Erden.
Lassen Sie bald von sich ein Zeichen hören
Und bleiben Sie gewiss: in Treue bin ich
Noch immer Ihre Freundin, unverändert —
Mit warmem Herz und offener Umarmung,
Frau Böhmen.
SZENE VI
(FRANKES Garten im Morgensonnenglanz)
FANNY
Warum verließ ich leis die warme Stube?
Veilchen zu finden, ja — das war mein Ziel.
Die Mutter lächelt — ach, ich kann nicht sagen,
warum mein Mund sich plötzlich nicht mehr schließt.
Ich weiß es nicht. Die Worte fliehen mich.
Der Weg ist weich, wie pelzner Teppichgrund,
kein Stein, kein Dorn, der meine Sohlen kratzt.
Ich fühle kaum den Boden unter mir ...
Wie selig war mein Schlaf in dieser Nacht!
Hier standen sie. – Es ist, als würde mir
so wundersam zumut, als sei ich still
wie eine Nonne bei dem Abendmahl.
Ihr süßen Veilchen! – Ruhig, Mutterherz!
Ich kleide mich in Bußgewand und Schweigen.
O Gott! Wenn doch ein Mensch mir käme nah,
dem ich mich an den Hals mit Tränen werfen
und alles sagen könnte, was mich füllt!
SZENE VII
(Abenddämmerung. Der Himmel ist leicht bewölkt. Der Weg schlängelt sich durch niedriges Gebüsch und Riedgras. In einiger Entfernung hört man den Fluss rauschen.)
THOMAS
Es ist wohl besser so. Ich passe nicht
in ihre Welt. Sie steigen sich aufs Haupt
und nicken noch dabei. Ich mach mich frei
und zieh die Tür ganz leise hinter mir.
Ich will nicht länger durch die Menge kriechen.
Ich hab mich nie gedrängt. Warum auch jetzt?
Kein Pakt besteht mit Gott — so war es stets.
Sie drückten mich hinein in dieses Leben.
Ich klage nicht die Eltern an. Sie wussten,
worauf sie sich einließen, waren alt.
Ich aber war ein Säugling, ohne Wahl.
Hätt ich nur damals klüger schon erkannt,
wie man ein andrer wird – ich tat es nicht.
Weshalb soll ich nun büßen, dass die Welt
so voll von andren ist? Das ist doch töricht!
Schenkt man mir einen tollen Hund, dann sag
ich Dank – und geb ihn schleunigst auch zurück.
Und nimmt man's nicht – so bin ich menschlich noch …
Ich müsste wohl vom Kopf gefallen sein!
Man kommt zur Welt per Zufall – und man soll
dann überlegt entscheiden, wer man sei?
Das ist doch zum Verrücktsein! Wenigstens
das Wetter hat sich gütig heut gezeigt.
Der ganze Tag war schwer von Regenwolken,
doch hielt es aus. Die Luft ist wie aus Glas,
so still und zart, kein Laut, der Seele kränkt.
Als hielten Himmel, Erde sich bedeckt,
wie feines Spinngewebe, kaum berührt.
Ein Schlaflied flüstert leis durch das Gezweig:
„Schlaf ein, mein Prinzchen“ – wie Snandulia sang.
Nur schade, dass sie ihre Ellenbogen
so ungeschickt beim Tanzen hebt …
Cäcilienfest – da tanzte ich zuletzt.
Sie tanzt nur mit „Partien“. Ihr Gewand
war ausgeschnitten – vorne bis zur Ohnmacht,
und hinten bis zum Gürtel. Unterkleid
war keins. Ich schwör's... Das wär vielleicht noch etwas,
was mich entzücken könnt – aus Kuriosität.
Ein seltsames Gefühl muss das wohl sein,
als stürzte man durch einen Strom ins Licht …
Ich werde sagen, ich hab alles mitgemacht.
Denn was ist peinlicher, als Mensch zu sein
und doch das Menschlichste nicht zu erfahren?
Wie der, der aus Ägypten kehrt – und nie
die Pyramiden sah!
Ich will heut nicht mehr weinen. Nein, genug.
Ich denke nicht an mein Begräbnis mehr.
Jona wird Kränze flechten für den Sarg,
der Priester redet Trost. Der Rektor nennt
dazu ein Beispiel aus der Weltgeschichte.
Ein Denkmal? Ach, ich werd wohl keines kriegen.
Ich wünscht’ mir Marmor, weiß, auf schwarzem Stein –
doch fehlt mir nichts, wenn ich es nicht mehr seh.
Denkmäler sind für Lebende gemacht.
Ein Jahr wohl brauchte ich, um ganz zu scheiden
von dieser Welt. Doch nun blick ich zurück
ohn‘ Groll. So viele Abende mit Jona –
dort bei den Uferweiden, und beim Forsthaus,
wo fünf uralte Linden Wache stehn –
dort auf dem Schlossberg, bei Ruinen, still.
Wenn meine Stunde kommt, will ich nur denken
an süße Sahne. Sie hält niemand auf.
Sie sättigt, ja – doch lässt sie Gutes nach.
Die Menschen sind ja besser, als ich dachte.
Ich traf nicht einen, der nicht Gutes wollte.
Ich litt für viele, die um meinetwillen
barmherzig schauten. Ich schreite zum Altar,
wie einst der Jüngling in Etrurien,
der mit dem letzten Hauch das Wohl der Brüder
fürs nächste Jahr erkauft. Ich schmecke tief
den Schauder dieser letzten Welterlösung.
Ich wein aus Wehmut über dieses Los.
Das Leben hat mir kalt gezeigt die Schulter.
Doch von dort drüben seh ich Werners Blick:
kopflose Königin! – Sie ruft mich mit
Gefühl, mit nackten, sanften Armen heim.
Eure Gebote gelten nur den Kleinen.
Ich trag mein Freibillet bereits im Herzen.
Sinkt meine Schale – fliegt der Falter fort.
Das Leben – ach das ist nicht mein Geschmack.
SZENE VIII
(GROẞE MUTTER tritt auf, in abgerissener Kleidung, ein buntes Tuch um den Kopf. Sie fasst ihn von hinten an der Schulter.)
GROẞE MUTTER
Was hast du hier verloren?
THOMAS
Du, Große Mutter?!
GROẞE MUTTER
Was suchst du hier?
THOMAS
Warum erschreckst du mich so plötzlich?
GROẞE MUTTER
Was suchst du denn? Was hast du denn verloren?
THOMAS
Was schreist du mich so furchtbar plötzlich an?
GROẞE MUTTER
Komm aus der Stadt zurück. Ich geh nach Haus.
THOMAS
Ich weiß nicht, was ich eigentlich vermisse.
GROẞE MUTTER
Dann hilft dir auch dein Suchen gar nichts mehr.
THOMAS
O Sakrament! O Sakrament!
GROẞE MUTTER
Vier Tage lang war ich nicht mehr daheim,
nicht eine Nacht.
THOMAS
So lautlos wie ’ne Katze schleichst du rum!
GROẞE MUTTER
Weil ich die Ballschuh ja noch immer trag.
Die Mutter wird da Augen machen, ja!
Begleit mich doch ein Stück bis an mein Haus!
THOMAS
Wo hast du wieder rumgestrolcht, du Ding?
GROẞE MUTTER
In den Priapia.
THOMAS
Priapia?
GROẞE MUTTER
Bei allen Malern halt! Kling, kling und kling —
die Maler werden springen, das ist klar!
THOMAS
Sie malen dich?
GROẞE MUTTER
Der Meister malt mich
als Heilige auf einem Säulenkopf.
Korinthisches Kapitell! Das sag ich dir:
Der Meister, das ist eine harte Nuss.
Zuletzt zertrat ich ihm ’ne Tube Farbe.
Er wischte mir den Pinsel in das Haar.
Ich schlug ihn. Und er warf mir die Palette
voll Wut an Kopf und Brust. Die Staffelei.
Er hinterher mit Stöcken, quer durchs Zimmer.
Wir rannten über Tische, Diwan, Stühle.
Da hinterm Ofen lag ’ne Skizze. Ich:
„Sei brav! Sonst reiß ich dir das Ding in Fetzen!“
Er schwor auf Frieden — und hat mich am Ende
so schrecklich, schrecklich, sag ich dir, geküsst!
THOMAS
Wo schläfst du denn, wenn du in Städten bleibst?
GROẞE MUTTER
Ich war so voll,
sie mussten mich zu dritt zu Bette tragen.
Gehst du noch in die Schule, kleiner Thomas?
THOMAS
Nein, dies Quartal da nehme ich die Entlassung.
GROẞE MUTTER
Da hast du recht. Wie rasch die Zeit vergeht,
wenn man nur Geld verdient! Erinnre dich:
Wir spielten Räuber, du und Fanny Franke
und ich und all die andern von dem Hof.
Ihr kamt am Abend oft heraus zu uns
und trankt die warme Ziegenmilch uns weg.
Was macht wohl Fanny? Ich sah sie zuletzt
bei jener großen wilden Überschwemmung. —
Und Jona Böhmen? Sieht er noch so tief
und grüblerisch wie einst beim Bibelkreis?
THOMAS
Er philosophiert.
GROẞE MUTTER
Und Fanny war bei uns,
Und brachte Mutter Eingemachtes mit.
Ich saß den ganzen Tag beim Frauenmaler.
Der will mich malen: Maria, Mutter Gottes,
mit Christus auf dem Arm. Er ist ein Tropf,
ein Schwächling! — wie ein Wetterhahn im Wind.
Hast du denn einen Kater?
THOMAS
Von gestern Nacht. Wir haben da fesoffen,
gesoffen wie die Pferde, bis um fünf.
Ich wankte heim.
GROẞE MUTTER
Man sieht’s dir an, mein Freund.
Und waren Mädchen da?
THOMAS
Die Arabella, diese Rotweinnymphe —
Die Andalusierin!
Der Wirt ließ uns die Nacht allein mit ihr.
GROẞE MUTTER
Man sieht es dir gleich an, mein Thomas!
Ich kenn das nicht — den Katzenjammer, nein.
Im Karneval war ich drei Tag und Nächte
nicht aus den Kleidern und nicht in dem Bett.
Vom Essen zum Café, dann Bellavista,
am Abend Tingel-Tangel, nachts Redoute.
Die Lena war dabei und auch Viola.
Und in der dritten Nacht fand mich der Heinrich.
THOMAS
Hat er dich etwa aufgesucht, mein Wort?
GROẞE MUTTER
Er stolperte — mein Arm lag ausgestreckt.
Ich selbst lag da wie tot im Straßenschnee.
Dann kam ich zu ihm. Vierzehn Tage lang
verließ ich seine Wohnung nicht — o Zeit
voll Grauen! Morgens trug ich seinen Rock,
bunt, persisch, Gold-durchzogen. Und am Abend
war ich ein Page — schwarze Uniform,
mit weißen Spitzen an den Ärmeln, Hals
und Knien. Täglich stellte er mich dar:
als Ariadne auf der Sofalehne,
als Leda, Ganymed, als Nebukadnezar —
auf allen Vieren, weibisch und grotesk.
Er sprach vom Tod. Vom Selbstmord, Gift und Dampf.
Am Morgen nahm er die Pistole mit
ins Bett, lud sie mit scharfen Kugeln voll
und drückte sie mir auf die Brust. Er sagte:
Ein Zwinkern nur – ich schieß! Und glaub mir, Thomas,
er hätte es getan! Er nahm das Ding
dann selbst in seinen Mund, so wie ein Blasrohr.
Das weckt den Trieb, sich selbst zu retten, meint er.
Ein Knall – die Kugel wär durch mich gefahren,
ganz durch das Mark, durchs Rückgrat, kalt wie Stahl.
THOMAS
Lebt Heinrich noch?
GROẞE MUTTER
Was weiß ich? Überm Bett
ein Spiegel in dem Dach — das Kabinett
ein heller Turm, fast wie ein Opernhaus,
man sah sich selbst vom Himmel niederhängen.
Die Nächte waren grauenvoll. Ich träumte
von Göttern, von der Angst, vom Tod und Wahnsinn. —
„Schlaf, große Mutter, du bist schön zum Morden“
sprach er zur Nacht.
THOMAS
Lebt dieser Heinrich noch?
GROẞE MUTTER
Wenn Gott will, nicht! — Denn eines Tages ging er
Sich Schnaps besorgen, ich warf mir den Mantel
um, schlich mich auf die Straße. Karneval
war schon vorüber, Polizei hielt an:
Was ich in Männerkleidern denn hier suchte?
Sie brachten mich zur Wache. Dann erschienen
die Maler unsrer Stadt — all die Priapia,
sie bürgten alle gleich für mich. Ein Taxi
fuhr mich zum Atelier der Frauenmaler.
Seitdem halt ich mich treu zur wilden Horde.
Ein Affe und ein Schwein, Hyäne, Uhu,
Kamel — doch liebe ich sie alle, alle,
und jeden wie den andern. Ich häng mich
an keinen sonst — nicht Engel und nicht Star.
THOMAS
Ich muss zurück, o große Mutter.
GROẞE MUTTER
Komm mit — komm mit zu uns!
THOMAS
Wozu? Wozu denn das?
GROẞE MUTTER
Wir haben warme Ziegenmilch für dich,
ich locke dir die Haare, häng dir Glöckchen
um deinen Hals. Auch haben wir ein Pferd,
ein kleines Pferd, mit dem du spielen kannst.
THOMAS
Ich muss zurück — ich trag noch schwer an Arbeit:
Mohammed, Jesu Predigt auf dem Berg,
das Parallelepipedon, das lastet
auf meinem Sinn. — Gut Nacht, o große Mutter!
GROẞE MUTTER
Schlaf süß! — Geht ihr wohl noch zum Wigwam dort,
wo Jona Böhmen meinen Tomahawk
begrub? — Wenn's euch erwischt, dann liege ich
schon längst im Kot.
(Eilt davon.)
THOMAS
(allein)
Ein Wort allein hätt es gebraucht.
(Ruft)
O Große Mutter! — Große Mutter! —
Gottlob, sie hört mich nicht.
Ich bin nicht in der Stimmung. Dazu braucht’s
ein heitres Herz, ein freies Haupt. — Wie schade
um dies Gelegenheit! Ich werde sagen:
Ich hatte einen Spiegel überm Bett,
ließ mir ein wildes Füllen kommen, stolz
mit schwarzen Seidenstrümpfen, Lack, und Handschuhn,
Glacé, schwarz wie die Nacht, mit Samt am Hals —
ließ auf dem Teppich es an mir vorbeigehn —
und hab’s im Wahnsinn in dem Bett erwürgt.
Ich werde lächeln, wenn man spricht von Wollust…
Und dann — O große Mutter! — Priapia! —
Besinnungslosigkeit! — Das raubt mir Kraft!
Das Sonnenkind! Das Glückskind auf dem Weg
voll Elend!
SZENE IX
(Im Ufergebüsch: Der Garten – Abenddämmerung. Monolog.)
THOMAS
Hab ich sie doch, ganz ohne es zu wollen,
gefunden wieder: diese Rasenbank.
Die Königskerzen stehen hoch im Licht,
als wären sie gewachsen seit dem Tag.
Der Blick durchs Weidenpaar ist wie zuvor.
Der Fluss dort unten zieht, so schwer und matt,
gleich flüssigem Blei, das langsam strömt.
Doch dass ich nicht vergesse...
(zieht einen Brief hervor und wirft ihn in die Flammen)
Wie die Funken
hinüberirren, kreuz und quer dahin —
wie Seelen — oder wie die Sterne ziehn!
Eh ich sie zündete, sah man das Gras,
und einen Streif dort an dem Horizont.
Nun ist es Nacht. Die Dunkelheit ist da.
Jetzt geh ich nicht mehr heim. Nicht mehr zurück.
AKT III
SZENE I
(Konferenzzimmer. Bildnisse von Pestalozzi und Rousseau. Gaslicht über grünem Tuch. Die Professoren sitzen, der Rektor erhöht.)
REKTOR
Soll denn noch einer meiner Herren sprechen?
O meine Herrn! Wenn wir gezwungen sind,
vom hohen Kultusministerium
die Schulentlassung jenes Schülers zu
beantragen — so können wir es nicht.
Nicht aus den Gründen, die zunächst uns scheinen.
Nicht um das Leid zu sühnen, das geschah.
Nicht um die Zukunft uns zu sichern gar,
nicht um die Schule reinzuwaschen hier.
Nicht, um den Einfluss zu bestrafen, den
er auf die andern Jungen ausgeübt,
noch um zu hemmen, dass derselbe Geist
von ihm sich über sie erneut verbreitet.
Nein, meine Herren, wir vermögen's nicht —
und dies mag wohl der schwerste Grund noch sein —
weil wir der Schule Schutz gewähren müssen
vor jener Seuche, die in mancher Stadt
Gymnasien wie Flammen sich verbreitet:
der Selbstmord-Sündtflut unter uns,
die aller Mittel Hohn gesprochen hat,
den Jüngling an das Dasein anzubinden,
das seine gute Bildung ihm bestimmt.
Hat einer meiner Herren noch was vorzubringen?
PROFESSOR III
Ich muss bekennen: es ist an der Zeit,
ein Fenster aufzumachen. Endlich, ja.
PROFESSOR IV
Es herrscht hier eine Luft wie in den Krypten,
in Katakomben tief – es ist wie einst
in dem Gerichtssaal Wetzlars, still und schwer.
REKTOR
Pedell!
PEDELL
Zu Diensten, o Herr Rektor!
REKTOR
Ein Fenster auf!
Wir haben, Gott sei Dank, genug da draußen!
Hat noch ein Herr ein Weiteres zu sagen?
PROFESSOR V
Wenn die Kollegen an das Fenster wollen —
so soll's geschehen. Nur, ich bitt' darum:
Nicht hinter meinem Rücken sei es offen!
REKTOR
Pedell!
PEDELL
Zu Diensten, o Herr Rektor!
REKTOR
Dann öffnen Sie das andere Fenster jetzt!
Gibt's sonst noch einen Wunsch, ein Wort, ein Nein?
PROFESSOR II
Nicht, dass ich streiten möchte – doch sei klar:
Das andere Fenster wurde zugemauert
bereits im Herbst, seit jenem Ferienende.
REKTOR
Pedell!
PEDELL
Zu Diensten, o Herr Rektor!
REKTOR
Dann lassen Sie das Fenster eben zu.
Ich seh mich nun gezwungen, meine Herren,
den Antrag zur Entscheidung nun zu bringen.
Ich bitte jene, die dafür sich zeigen,
dass das allein verbleibende Fenster
geöffnet werde — um sich zu erheben.
(Er zählt.)
Eins, zwei, drei —
Eins, zwei, drei —
Pedell!
PEDELL
Zu Diensten, o Herr Rektor!
REKTOR
Das andre Fenster bleibt geschlossen auch.
Ich halte die Atmosphäre für perfekt.
Hat einer meiner Herren was zu sagen?
Nun gut, die Herren, höret meine Worte:
Verzichteten wir darauf, den Antrag stellen
beim hohen, werten Kultusministerium
der Schulentlassung dieses armen Sünders,
so gibt man uns die Schuld an jenem Fall.
Denn unter jenen Schulen, den verehrten,
die jüngst die Seuche Selbstmord heimgesucht,
sind derer viele, wo ein Viertel fiel,
durch jenen Schlag vom Amt entlassen worden.
Die Pflicht ist uns geboten, zu bewahren
die heil’ge Ordnung, unsern hohen Rang.
Es schmerzt uns, ja — doch können wir beim Blick
auf seine Taten keine Milde üben.
Der Umstand, wie auch mildernd er erscheint,
ist keine Hilfe mehr in dieser Not.
Was Nachsicht hieß, ist Feigheit jetzt genannt.
Drum müssen wir den Sünder schuldig sprechen,
damit wir selbst nicht schuldig werden dran.
Pedell!
PEDELL
Zu Diensten, o Herr Rektor!
REKTOR
Führ ihn herauf!
(PEDELL ab.)
PROFESSOR IV
Wenn, wie gesagt, die Atmosphäre hier
in höchsten Kreisen nichts vermissen lässt,
so stelle ich den Antrag — Sommerzeit
sei’s, wann wir auch das andre Fenster mauern!
PROFESSOR V
Wenn unser Herr Kollege Zungenschlag
die Luft in unserm Saal nicht recht empfindet,
so sei empfohlen, einen Ventilator
direkt ins Sinuszentrum einzubauen!
PROFESSOR IV
Das — das brauch’ ich mir nicht gefallen lassen!
Ich dulde keine Grobheit — keine — nie!
Ich bin noch meiner fünf, sechs Sinne mächtig!
REKTOR
Ich bitt’ die hohen Herren um Geduld,
um einen Anstand dieser Sitzung willen.
Man hört, der schuldbeladne Schüler kommt.
(PEDELL öffnet die Tür. JONA tritt ein, bleich, aber gesammelt.)
REKTOR
Herangetreten, nur nicht zögernd — an den Tisch.
Nachdem der Herr von Weiss — betroffen, stumm —
vom ruchlos wilden Frevel seines Sohns
erfuhr, durchsuchte er die Kleiderschränke,
in Hoffnung, eine Spur, ein Bild zu finden,
das uns den Grund der Tat verständlich macht.
An einem Ort, der nichts zur Sache tut,
fand er ein Schriftstück. Titel: Beischlaf.
Gesprächsform, zwanzig Seiten, lebensgroß
bebildert mit den frechsten Schweinereien.
Ein Werk, das jeden Lüstling glücklich macht.
JONA
Ich habe …
REKTOR
Ihr habt zu schweigen, bis ich fertig spreche.
Das fragliche Pamphlet hat uns Herr Weiss
zum Zwecke der Entlarvung übergeben.
Verglichen ward die Handschrift — eine Probe —
mit denen sämtlicher noch lebender Schüler.
Das Urteil war gewiss Einstimmigkeit,
und unser Kalligraph, geschätzter Mann,
bestätigt klar die Übereinkunft
mit deiner Hand.
Jona:
Ich habe…
REKTOR
Ihr habt euch ruhig und bescheiden zu verhalten!
Obwohl die Ähnlichkeit, durch höchste Macht
Bestätigt, offenkundig scheint – so wollen
Wir dennoch, ungeachtet dessen, noch
Auf weitre Schritte erst einmal verzichten,
Um euch in aller Tiefe zu vernehmen
Zum Vorwurf, der mit Sittlichkeit im Streit
Und mit dem düstren Tod verknüpft erscheint.
JONA
Ich habe ...
REKTOR
Ihr habt auf meine Fragen, eine nach
der andern, Antwort schlicht zu geben:
Ein „Ja“ – ein „Nein“. Nicht mehr. Pedell!
PEDELL
Zu Diensten, o Herr Rektor!
REKTOR
Die Akten! Bringt sie her! —
Ich bitte Herrn Kollegen Fliegentod,
Das Protokoll von jetzt an Wort für Wort
Genau und treu zu führen.
(zu JONA)
Erkennst du dieses Schriftstück hier?
JONA
Ja.
REKTOR
Weißt du, was in dem Schriftstück steht?
JONA
Ja.
REKTOR
Ist diese Schrift, die es verfasst, die deine?
JONA
Ja.
REKTOR
Verdankt dies freche Werk dir seine Zeilen?
JONA
Ja. Doch zeigt mir, wo steht Schweinerei!
REKTOR
Du hast auf meine Fragen klar zu antworten!
„Ja“ oder „Nein“ – kein Kommentar!
JONA
Ich schrieb nicht mehr und auch nicht weniger,
Als was bekannt ist – Ihnen auch bekannt!
REKTOR
Ein Schandbub!
JONA
Beweisen Sie es mir!
Zeigt eine Zeile, die die Sittlichkeit verletzt!
REKTOR
Glaubst du, ich würde mich zum Narren machen
Für deinen Gauklerwitz? Pedell!
JONA
Ich habe ...
REKTOR
Du zeigst so wenig Ehrfurcht vor der Würde
Der hohen Lehrerschaft, wie Anstand fehlt
Für das in uns verwurzelte Gefühl
Der keuschen Scham, der sittlich reinen Ordnung!
Pedell!
PEDELL
Ich höre, o Herr Rektor!
REKTOR
Nun! Ich ersuche Herrn Kollegen,
Das Protokoll hiermit zu schließen.
JONA
Ich habe ...
REKTOR
Du hast dich still zu halten! — Pedell!
PEDELL
Befehl empfangen, Herr, ich handle nun.
REKTOR
So führ ihn ab! Tief unter unserm Maß.
SZENE II
(Ein Friedhof. Sturm und Regen. Ein Grab ist offen. Der Priester steht, den Schirm in seiner Hand. Rechts neben ihm: Herr Weiss, sein Freund, und der Onkel. Links davon: Rektor und ein Professor. Gymnasiasten umringen das Grab. Weiter entfernt: Marthe und die Große Mutter, unter einem halb verfallenen Grabmonument.)
PRIESTER
Denn wer die Gnade, die der Vater schenkt,
verschmähte und in Sünde weiterging,
der stirbt des Geistes Tod, nicht minder wahr
als Fleisch und Leib dem Staube einst verfallen.
Wer aber trotzig sich verweigert hat
dem Kreuz, das ihm der Ew‘ge auferlegt,
der wird – ich sage euch: er wird – vergehen,
in ewig Tod und Nacht und Gottesferne.
(Er wirft eine Schaufel Erde in das Grab)
Doch wir, die noch den Dornenpfad durchschreiten,
solln loben den, der unergründlich wählt.
Denn wie der fiel in dreifach finstren Tod,
so führt der Herr die Seinen heim zum Licht.
HERR WEISS
(weinend, wirft Erde ins Grab)
Der Junge war nicht mein! — Ich schwör’s euch allen!
Er war nicht mein! — Von klein auf widerstrebte
mir sein Gesicht, sein Wesen, seine Art!
REKTOR
(wirft Erde ins Grab)
Der Selbstmord – das ist, denk ich, wohl der klarste
Beweis für unsre Ordnung dieser Welt:
Denn wer sich selbst verneint, bejaht Gesetze.
Die Tat, so wüst sie ist, bestätigt sie.
PROFESSOR
(wirft Erde ins Grab)
Verbummelt — und versumpft — verhurt — verlumpt —
am Ende ganz verludert, tief gesunken!
ONKEL
(wirft Erde ins Grab)
Ich hätt’s der eignen Mutter nicht geglaubt,
dass so ein Kind mit seinen Eltern handelt!
FREUND
(wirft Erde ins Grab)
So gegen einen Vater sich zu stellen,
der zwanzig Jahr und mehr nichts mehr gedacht
als nur das Wohl des Kindes, Tag für Tag!
PRIESTER
(drückt WEISS die Hand)
Wir wissen doch, wer Gott liebt, dem wird alles
zum Guten dienen – (eins Korinther, zwölf) –
Sei deiner Frau ein Trost in tiefster Nacht!
Ersetz das Kind durch doppelt-große Liebe!
REKTOR
(drückt WEISS die Hand)
Wir hätten ihn, so wahr ich hier nun steh,
wohl nimmermehr zum Doktor zugelassen.
PROFESSOR
(drückt WEISS die Hand)
Und hätt er’s doch geschafft – im nächsten Frühling
wär er mit Sicherheit erneut gefallen!
ONKEL
(drückt WEISS die Hand)
Nun hast du, Freund, vor allem selbst zu leben:
Denk an dich selbst. Du bist Familienvater!
FREUND
(drückt WEISS die Hand)
Vertraue dich mir an! — Ein Wetter reißt
den Leib! Wer da nicht gleich nen Grog sich gönnt,
verspielt sein Herz und seine Klappen gleich!
HERR WEISS
(schneuzt sich)
Der Junge war nicht mein ... er war nicht mein ...
(HERR WEISS, geleitet vom PRIESTER, REKTOR, Professor, Onkel und Freund ab. Der Regen lässt nach)
JOHANN
(Er wirft eine Schaufel Erde in die Gruft.)
So ruhe wohl, du ehrliche Gestalt!
Grüß meine Bräute dort im ew'gen Reich,
die ich dem Angedenken aufgeopfert,
und sage Gott in Demut meinen Gruß —
du armer Tropf! Man stellt dir, Engel gleich,
wohl eine Vogelscheuche auf das Grab.
JÖRG
Hat man denn die Pistole aufgefunden?
BERT
Man muss nicht suchen, wo nichts da ist, Freund!
WERNER
Hast du ihn selbst gesehn, o Bert, so sag?
BERT
Ein Fluch, ein Trug! Ein Hohn! Wer sah ihn denn?
Wer? Sag es mir!
TOTO
Genau das ist der Punkt —
Ein Tuch war über seinen Leib geworfen.
JÖRG
Und hing die Zunge draußen aus dem Mund?
BERT
Die Augen, ja! Drum war das Tuch darüber.
TOTO
Ein Grauen ist das Ganze, schlicht und wahr.
JOHANN
Weißt du gewiss, dass er sich selbst erhängt?
WERNER
Man sagt, sein Haupt sei gar nicht mehr am Leib.
TOTO
Ein Unsinn! Nichts als dumme, leere Worte!
BERT
Den Strick hielt ich mit eigner Hand, ich schwör’s!
Noch nie sah ich ’nen Hängenden, der nicht
vom Tuch bedeckt gewesen wäre dort.
JÖRG
Auf niedrigere Art ging’s wirklich kaum.
JOHANN
Zum Teufel! Hängen soll ganz nett sein, heißt’s!
TOTO
Er schuldet mir noch Mammon, nebenbei —
Wir wetteten, er würd sich halten, ja!
JOHANN
Du hast ihn dazu angetrieben, Toto!
Du nanntest ihn ja einen Prahlhans noch!
TOTO
Ach was! Ich muss auch jede Nacht mich plagen.
Hätt er nur Griechisch einmal angesehn,
dann bräucht er nicht am Strick zu enden so!
WERNER
Sag, hast du deinen Aufsatz fertig, Toto?
TOTO
Nur den Prolog, hab mehr noch nicht geschafft.
WERNER
Ich weiß nicht mal, wovon ich schreiben soll.
JÖRG
Warst du denn nicht dabei, als der Professor
das Thema uns genau erklärt hat, Mann?
JOHANN
Ich bastle mir was aus dem Demokrit.
WERNER
Vielleicht find ich im kleinen Meyer was.
TOTO
Hast du Vergil denn schon für morgen, hä?
(Die Gymnasiasten ab. MARTHE und GROẞE MUTTER kommen zum Grab.)
GROẞE MUTTER
Geschwind! Geschwind! Die Totengräber nahn.
MARTHE
Vielleicht wär’s besser, wenn wir warteten?
GROẞE MUTTER
Und wenn sie kommen, sehen sie uns stehn,
dann plaudert gleich das halbe Dorf davon.
Was sollen wir noch warten? Er ist fort.
Was jetzt geschieht, geschieht nur seinem Leib.
Die Seele, sag ich dir, die ist nicht mehr
an solch ein irdisch Grab gebunden hier.
MARTHE
Ich hab ihn sehr gemocht, so still war er.
Er sprach so selten, aber was er sagte0,
das war oft klug, und manchmal war’s sehr schön.
GROẞE MUTTER
Ein armer, ernster, eigensinniger.
Doch glaub mir, Kind, es ist wohl besser so.
Ein solcher Mensch hat keinen Ort im Leben.
Zu weich für Härte, doch zu stolz für Trost.
MARTHE
Ich hätt ihm helfen wollen, wenn ich könnte.
GROẞE MUTTER
Man hilft dem, der auch Hilfe nehmen will.
Doch der, der schweigt, trägt seine Not allein.
(Sie treten näher an das Grab heran.)
MARTHE
Ach, ist das Erde? Ist dies nun das Ende?
So vieles Denken, Lieben, Hoffen — fort?
GROẞE MUTTER
Was wir gewesen sind, bleibt irgendwo.
Es irrt nicht völlig fort, was einmal war.
Ein Echo hallt, so leise es auch klingt,
in jenen, die uns kannten, weiter nach.
MARTHE
Dann lass uns still ihn segnen und vergehn.
Er war kein Böser, nur ein Stillverlorner.
GROẞE MUTTER
So geh’n wir denn. Der Regen ist vorbei,
der Tag wird blass. Und morgen kommt ein neuer.
(Sie verlassen langsam das Grab.)
MARTHE
Wozu? Wir bringen neue. Immer neue!
Es wachsen doch genug – sie sterben auch.
GROẞE MUTTER
Du hast wohl recht, mein Kind.
(Sie wirft den Kranz aus Efeu still in jene dunkle Gruft. Dann öffnet sie die Schürze, lässt hinab Anemonen auf den frischen Sarg.)
MARTHE
Ich grab die Rosen aus, was soll's? – Die Schläge
bekomme ich ja doch! Hier blühn sie besser.
GROẞE MUTTER
Ich will sie gießen, immer, wenn ich komm.
Vergißmeinnicht hol ich vom Goldbach her,
und Lilien bringe ich von meinem Garten.
MARTHE
Es soll ein Bild der Pracht und Schönheit werden!
GROẞE MUTTER
Ich war schon überm Steg, da fiel der Schuss.
MARTHE
Ach, armes Herz!
GROẞE MUTTER
Ich weiß, warum er fiel.
MARTHE
Hat er dir etwas anvertraut?
GROẞE MUTTER
„Parallelepipedon!“ – Doch sag es nicht.
MARTHE
Hier meine Hand, ich schwör’s dir, Große Mutter.
GROẞE MUTTER
Hier – siehe: die Pistole.
MARTHE
Deshalb hat man sie nicht mehr finden können!
GROẞE MUTTER
Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als ich
vorbeikam.
MARTHE
O schenk sie mir, o Große Mutter, bitte!
GROẞE MUTTER
Nein, ich behalte sie zum Angedenken.
MARTHE
Ist’s wahr, dass er nun ohne Haupt dort liegt?
GROẞE MUTTER
Er hat sie wohl mit Wasser nur geladen –
doch Blut war auf den Königskerzen, rot.
Sein Hirn, es klebte hoch in den Gezweigen.
SZENE III
(Familie BÖHMEN)
FRAU BÖHMEN
Man suchte einen Sündenbock. Die Stimmen,
die laut erhoben klagten, nicht schwiegen.
Und da mein Kind dem Sturm der Zeit verfiel,
soll ich, die eigne Mutter, Henkerin
des eignen Blutes werden? – Gott bewahre!
HERR BÖHMEN
Nun, vierzehn Jahre schwieg ich zu dem Tun.
Dein Geist, dein Witz, dein feiner Sinn – ich sah
es anders. Immer hielt ich fest daran:
Ein Kind ist doch kein Spielzeug, verlangt nach Ehre.
Ein Kind verlangt nach unserm heil’gen Werner.
Doch sagt ich mir: Wenn nun dein Glanz, dein Wesen
den edlen Grundsatz Werners zu ersetzen
vermag, so sei dein Weg wohl auch der rechte.
Ich mache dir gewisslich keinen Vorwurf.
Doch tritt mir nicht in den gerechten Weg,
wenn ich versuch, dem Jungen Recht zu schaffen –
für dein und mein Versäumnis, unsern Fehler.
FRAU BÖHMEN
Ich weiche nicht zurück von diesem Pfad,
solang noch warmes Blut durch Adern rinnt!
In einer Anstalt ist mein Kind verloren.
Ein Übeltäter mag dort besser werden –
ich weiß es nicht. Doch wer das Gute trägt
im Herz, wird dort zum Abgrund hingetrieben,
gleich wie die Pflanze stirbt, der Licht entzogen.
Ich weiß von keinem Unrecht meinerseits,
und dank dem Himmel stets für seine Gnade,
dass ich im Kinde Recht und Edelmut
zu wecken wusste. Was tat er denn Schlimmes?
Ich will ihn nicht in Schutz zu nehmen wagen –
doch war die Schulverweisung nicht sein Werk!
Und wär’ sie’s – so hat er sie schon gebüßt.
Du magst das besser wissen, magst im Recht
mit deinem klugen Sinn für Ordnung sein –
doch darf ich mir mein einzig Kind nicht lassen
von fremder Macht zum Tode treiben!
HERR BÖHMEN
Das liegt an uns nicht, Liebste, glaub mir das.
Ein jedes Glück bringt seine Lasten mit.
Wer schwach ist für den Marsch, bleibt auf der Strecke.
Und wäre es das Schlimmste auch – so kommt
das Unvermeidliche zu seiner Zeit.
Gott mög’ uns gnädig sein! Doch ist’s uns Pflicht,
den Wankenden zu halten, bis Vernunft
ihr letztes Mittel bietet. Und gewiss –
die Schulverweisung war nicht seine Schuld.
Doch auch, wenn sie nicht kam – was wär’ gewonnen?
Du nimmst es allzu leicht, erkennst nicht klar
den Ernst, wo du nur Spielerei vermutest.
Ihr Frauen seid für solche Last nicht da.
Wer schreibt, wie Jona schreibt, ist tief verdorben.
Das Mark ist krank. Kein halbwegs klares Wesen
irrt um in solch Gedankenspiel aus Freuden.
Wir alle irren – das gesteh ich ein –
doch seine Schrift bezeugt den Grundverfall.
Nicht Fehltritt ist es, was aus ihr da spricht,
sie ist das Denkmal seines finstren Triebs.
Sie ist der Wille selbst zur Unmoral.
Ein Wahnsinn, wie wir als Juristen sagen.
Ob Heilung möglich sei, vermag ich nicht
zu sagen. Doch – ist Hoffnung unser Ziel,
und unser reines Herz als Eltern Pflicht,
so müssen wir nun handeln – mit Entschiedenheit.
Nicht länger lass uns streiten, Liebste, nein!
Ich weiß, wie sehr du ihn in Liebe hältst,
weil er in seinem Wesen dir so gleicht.
Doch sei nun stark – sei stärker als du bist!
Zeig deinem Sohn: die Liebe kann auch opfern!
FRAU BÖHMEN
Gott steh mir bei – wie soll ich das ertragen?
Nur Männer reden so – mit kaltem Blick!
Nur Männer sehen nicht, was vor den Augen
so deutlich leuchtet! Ich war stets bedacht
und sorgsam gegen Jona, Tag für Tag,
seit ich erkannt, wie tief er offen war
für all die Wirklichkeit, die ihn umgab.
Doch sind wir denn für Zufall etwa schuldig?
Dir fällt vielleicht ein Ziegel auf den Kopf –
kommt dann dein Freund, dein Vater – pflegt er dich?
Wie, oder tritt er dich mit kaltem Fuß?
Ich lasse nicht zu, dass mein Kind vergeht
vor meinen Augen. Dafür bin ich Mutter!
Was schreibt er denn? Ist das ein schlimmes Wort?
Ist's nicht ein Zeugnis seiner reinen Unschuld,
Naivität, fast lieber Dummheit gar?
Ein Kind – das ohne Scheu solch Wort bringt zu Papier,
das kann nicht böse sein. Nur wer nicht fühlt,
nur wer kein Herz besitzt, kein Aug für Menschen,
nur kalter Bürokrat erkennt darin
Verdorbenheit! Sag, was du willst, ich steh
zu Jona – führst du ihn der Anstalt zu,
so trenn ich mich von dir. Und ich – ich finde
auf dieser Welt gewiss noch Kraft und Hilfe,
ihn aus dem droh’nden Abgrund zu befrein!
HERR BÖHMEN
Du wirst dich fügen müssen – jetzt, gar bald.
Es ist nicht leicht, mit Unglück abzurechnen.
Doch stehst du nicht allein. Ich geh mit dir.
Ich werde, wenn dein Mut in Not gerät,
an deiner Seite stehen, Opfer bringen,
um dir das Herz zu stützen. Grau und schwer
seh’ ich die Zukunft – wärst auch du verloren!
FRAU BÖHMEN
Ich seh ihn nicht mehr wieder – nie mehr Licht
in seinen Augen! Er erträgt das Rohe nicht.
Er beugt sich nicht dem Schmutz, dem kalten Zwang.
Ein Schreckensbild steht ihm lebendig vor.
Und seh ich ihn noch einmal – o mein Gott –
dies frühlingsfrohe Herz, sein helles Lachen,
den Mut, fürs Recht zu kämpfen ohne Furcht,
den reinen Geist, wie ich ihn mir bewahrte –
mein höchstes Gut, mein Bild vom Morgenhimmel...
Wenn Unrecht nach Vergeltung schreit – halt mich!
Halt dich an mich! Mich trifft die Schuld allein!
Doch lass die Hand vom Kind, von seinem Leben!
HERR BÖHMEN
Er hat sich schuldig selbst gemacht.
Frau BÖHMEN
Er tat es nicht!
Herr BÖHMEN
Er tat es doch.
Wie gern hätt’ ich erspart es deiner Liebe.
Am Morgen kam zu mir, in Tränen ganz,
die Mutter eines Mädchens, fünfzehn Jahre.
Ein Brief war in der Hand – für ihre Tochter.
Aus Neugier las sie ihn – das Kind war fort.
Darin bekennt sich Jona schwerer Schuld:
Er habe sich vergangen an dem Kind.
Er trüge nun die Last, wollt helfen, zahlen,
sie möge sich nicht sorgen, auch bei Folgen.
Er sei bereits bemüht, das Leid zu mindern,
die Schulentlassung gäb ihm nun die Freiheit.
Der Fehltritt könnte noch zum Glücke führen –
und solch verwirrtes, wirres leeres Zeug.
FRAU BÖHMEN
Das ist nicht möglich!
HERR BÖHMEN
Der Brief ist falsch. Betrug liegt deutlich vor.
Man will die alte Schulentlassung nutzen,
sie stadtbekannt, als Mittel sie missbrauchen.
Ich sprach mit ihm noch nicht – doch sieh die Hand!
Die Schrift – sie ist nicht seine, das ist klar.
FRAU BÖHMEN
Ein unerhörtes, schamloses Verbrechen!
HERR BÖHMEN
Das fürcht’ ich sehr.
FRAU BÖHMEN
Nein, nein – das kann nicht sein!
Das Kind ist gut, ich weiß es, nie und nimmer!
HERR BÖHMEN
Dann ist's umso erfreulicher für uns.
Die Frau bat mich in Tränen, was zu tun sei.
Ich riet, das Kind nicht in das Heu beim Dach
zu lassen, nachts – sie ließ den Brief zurück.
Doch wenn wir Jona aufs Gymnasium
versetzen, ohne elterliche Hand –
drei Wochen später droht uns neue Schmach:
Entlassung! Und schon wieder bricht sein Herz
im Frühlingsdrang, gewöhnt sich an das Spiel.
So sag, mein Schatz – wohin mit diesem Jungen?
FRAU BÖHMEN
Ins Irrenhaus!
HERR BÖHMEN
Wohin?
FRAU BÖHMEN
Ins Irrenhaus!
HERR BÖHMEN
Dort fände er, was ihm daheim gefehlt:
Gesetz und Disziplin, Moral mit Druck –
der ihn, ob willig oder nicht, dann beugt.
Und fürchte nicht den Ort – er ist kein Graus.
Man fördert dort ein christlich frommes Denken,
das Gute will er lernen, nicht das Wilde.
Er soll das Recht, nicht die Natur befragen.
Ein Telegramm, vom Bruder eingetroffen,
bestätigt mir die Worte jener Frau.
Jona vertraute sich ihm an, bat ihn
um Geld, zweihundert Mark – zur Flucht nach England...
FRAU BÖHMEN
(bedeckt ihr Gesicht)
O Himmel, sei mir gnädig, sei mir nah!
SZENE IV
PSYCHIATRIE, ein Korridor
DIETRICH VON BERN
Hier ist ein Fünzigpfennigstück für euch!
REINECKE FUCHS
Und was soll sein damit?
DIETRICH VON BERN
Ich leg’s hier hin.
Ihr stellt euch drum. Wer trifft, der kriegt die Münze.
KNECHT RUPRECHT
Machst du nicht mit, mein Jona?
JONA
Nein, nein, ich danke euch.
SIEGFRIED
Der heilige Josef schweigt!
KASPAR HAUSER
Er ist zur Ruhe hier.
JONA
(für sich)
Es ist nicht klug, sich abzusondern jetzt.
Man achtet hier auf mich, der Blick trifft mich.
Ich muss mitspielen – oder ich vergeh.
Die Haft bringt viele um, die Kraft zerbricht.
Fall ich – so gut. Entkomm ich – auch Gewinn.
Knecht Ruprecht wird mein Freund, er kennt sich aus.
Ich geb ihm Juda’s Schnur, die Thamar, Moab,
von Loths Geschlecht und auch von Abischag,
der Vashti und der Sonne in Schirhaim.
Er trägt das seltsamste Gesicht im Haus.
KNECHT RUPRECHT
Ich hab’s erwischt!
SIEGFRIED
Ich komme gleich noch nach!
KASPAR HAUSER
Vielleicht in zwei, drei Tagen, wer weiß wann...
SIEGFRIED
Gleich jetzt! — Nun los! — Oh Gott, o Gott, ich hab’s —
ALLEe
Summa — summa cum laude!
KNECHT RUPRECHT
(nimmt das Geldstück)
Ich danke sehr!
SIEGFRIED
Gib’s her, du Hund!
KNECHT RUPRECHT
Was sagst du, Schwein?
SIEGFRIED
Du Galgenvogel!
KNECHT RUPRECHT
(schlägt ihn ins Gesicht, rennt davon)
Da! Und leb wohl!
SIEGFRIED
(ihm nachrennend)
Ich bring ihn um, ich schlag ihn gnadenlos!
DIE ÜBRIGEN
Los, hinterher! Packt ihn! Nur Hetze jetzt!
Hetz! Hetz! – Er darf uns nicht entkommen!
JONA
(allein, zum Fenster gewandt)
Dort führt das Kabel in das Erdreich fort.
Ein Tuch drumwickeln, sonst schlägt’s durch die Haut.
Wenn ich an SIE nur denke – heiß mein Haupt,
das Blut schießt auf. Und Thomas zieht mich nieder,
als läg er mir in beiden Füßen bleischwer.
Ich geh zur Redaktion. Bezahlt mich stückweis!
Ich bringe Neuigkeiten, frisch vom Tag –
bericht lokal, mit Ethik, Seele, Stil...
Das Haus misst sechzig Fuß, der Putz fällt ab.
Sie hasst mich – ja, sie hasst mich, tief und stumm,
weil ich ihr einst die Freiheit raubte, blind.
Was ich auch tu – es bleibt Gewalt, Zwang, Schuld.
Allein die Zeit mag’s heilen, nach und nach ...
Acht Tage, dann ist Neumond – dunkle Zeit.
Und morgen öle ich die Angeln, lautlos.
Bis Samstag – das steht bei mir fest – muss klar
sein, wer den Schlüssel hat zur eignen Tür.
Und Sonntag bei der Andacht – droht ein Anfall;
doch möge Gott verschonen, was da lebt!
Es liegt so klar vor mir, als sei’s geschehn:
Ein Tritt, ein Sprung – ich fass das Fenstersims,
ein Griff – ein Schwung – ich wäre frei, wenn nicht
ein Tuch drum müsst, damit’s nicht schreit beim Griff …
— Da naht er schon, der Inquisitor.
(Ab)
Dr. WEINGARTEN und Schlosser treten auf
DR. WEINGARTEN
Die Fenster sind im dritten Stock, doch was –
darunter wächst ein Beet aus Feuer-Nesseln.
Doch kümmert sich Entartung je darum?
Vergangnen Winter kroch uns einer raus
zur Luke – und wir hatten da das Leid:
Transport, Bericht, Begräbnis – all der Aufwand …
SCHLOSSER
Die Gitter – schmiedet man aus Eisen, Herr?
DR. WEINGARTEN
Aus Eisen, ja – doch lasst sie fest vernieten,
man kann sie nicht einlassen ins Gemäuer.
SZENE V
(Ein Schlafgemach, Frau FRANKE, MARION MÜLLER, Medizinalrat Dr. von KUPIDSKI, FANNY im Bett)
DR. VON KUPIDSKI
Nun sag, mein Kind: Wie alt bist du denn jetzt?
FANNY
Bin Vierzehn – und ein halb, Herr Doktor.
DR. VON KUPIDSKI
Die Blaud’schen Pillen nehm ich stets zur Hand.
Seit fünfzehn Jahren schon verordn’ ich sie –
mit größtem, ja, mit blendendem Erfolg.
Weit besser als der Lebertran, der Stahlwein.
Drei Pillen täglich – vier, wenn Sie’s ertragen,
und steigern, so wie’s Geist und Körper dulden.
Elfriede, Baroness von Witzesleben –
ich riet: „Steigere jede Nacht um eine“.
Doch sie – wie kam’s? – nahm jeden Tag gleich drei!
Doch siehe da: In kaum drei Wochen Zeit
fuhr sie gesund nach Bad Pyrmont mit Mama.
Ich dispensier von langen Gängen draußen
und von der Mahlzeit, die liegt schwer im Magen.
Doch eins verlang’ ich, liebes Kind, von dir:
Du fordre, was du willst – und isst, was dir gefällt.
Beweg dich, frei und ohne Schamgefühl.
Dann weichen bald die Enge in der Brust,
der Kopfschmerz, Schwindel, Frost und Magenweh.
Frau Witzesleben – ja man glaubt es kaum – genoss
nach sieben Tagen schon ein Brathuhn mit Kartoffeln,
am Morgen, noch vorm ersten Glockenschlag!
FRAU FRANKE
Ein Glas vielleicht – ein Tropfen guten Weins?
DR. VON KUPIDSKI
Ich danke – nein, mein Wagen wartet schon.
Nun, nehmen Sie’s nicht schwer – sie wird gesunden!
In wenig Wochen hüpft das Kind wie neu,
so leicht wie eine frische Lenzgazelle.
Nur Mut, Frau Franke! Gott behüt’ euch alle.
Gut Tag, mein Kind. Gut Tag, Madame.
O meine Damen – leben Sie recht wohl.
(Geht mit ihr hinaus.)
MARION
(am Fenster)
Schau – eure Buche färbt sich schon schöm bunt.
Siehst du sie? Von dem Bett aus dort im Garten?
Ein Farbenspiel – so kurz, so kaum der Freude wert.
Man sieht es kommen, seufzt – und schon vergeht’s.
Ich muss nun fort, denn vor der Post steht Müller,
und vorher führt mein Weg zur Schneiderin.
Mein Mucki heute kriegt die erste Hose,
und Karl braucht einen Anzug für den Winter.
FANNY
So manchmal – wird’s in mir ganz still und selig,
als wär die Welt aus Licht und lauter Glanz.
Wer hätt’ geahnt, dass Glück so sanft sich regt?
Ich möcht hinaus, durch Abendfelder gehn,
den Himmelsschlüssel finden, nah dem Fluss,
und träumen still am Ufer, selig sein …
Doch dann – das Zahnweh kommt mit kalter Hand,
und mir ist so, als stürb’ ich morgen früh.
Mir wird so heiß – dann wieder eiskalt bang,
die Augen trüb – und flatternd fliegt es ein,
dies Tier, dies dunkle Tier aus Nebelgrau …
Und jedes Mal, wenn ich erwache, seh’
ich Mutter weinen – und mein Herz zerbricht.
Ich kann’s dir nicht beschreiben, Marion.
MARION
Willst du, dass ich das Kissen etwas hebe?
FRAU FRANKE
(kehrt zurück)
Er sagt, dasd as Erbrechen bald vergeht,
und du sollst dann ganz ruhig wieder aufsteh’n ...
Ich glaube auch, es ist wohl besser so,
wenn du dich bald erhebst, mein Kind, o Fanny.
MARION
Wenn ich das nächste Mal dich wiederseh’,
springst du vielleicht schon wieder durch das Haus.
Leb wohl, Mama. Ich muss noch zu der Schneiderin.
Behüt dich Gott, du liebe Fanny.
(Küsst sie)
Werd rasch gesund, ja, recht balde Besserung!
FANNY
Leb wohl, o Marion. Bring mir, wenn du zurück
nach Hause kommst, ein Sträußchen Schlüsselblumen.
Adieu. Und grüß die Jungens schön von mir.
(MARION ab.)
FANNY
Was hat er draußen noch gesagt, o Mama?
FRAU FRANKE
Er sprach nicht viel. Er sagte nur, das Fräulein
von Witzesleben sei in Ohnmacht oft
gesunken. Solches käme häufig vor
bei Bleichsucht, meinte er.
FANNY
Hat er gesagt,
dass ich die Bleichsucht habe, Mutter, wirklich?
FRAU FRANKE
Du sollst viel Milch und Fleisch, Gemüse essen,
wenn dir der Appetit zurückgekehrt.
FANNY
O Mutter, Mutter — ich fühl’s tief in mir —
ich glaube nicht, dass ich die Bleichsucht habe ...
FRAU FRANKE
Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig nun,
sei ruhig, Fanny, ach du hast die Bleichsucht.
FANNY
Nein, Mutter, nein! Ich weiß es, fühl es klar —
ich hab die Wassersucht …
FRAU FRANKE
Du hast sie nicht!
Er sprach doch selbst: du leidest an der Bleichsucht.
Beruhige dich, Mädchen. Es wird besser.
FANNY
Es wird nicht besser. Nein. Ich habe sie.
Die Wassersucht. Ich muss nun sterben, Mutter.
O Mutter — ich muss sterben!
FRAU FRANKE
Du stirbst nicht!
Du musst nicht sterben, Kind! O großer Himmel —
du musst nicht sterben!
FANNY
Doch warum, Mutter,
warum weinst du so bitterlich, so sehr?
FRAU FRANKE
Du stirbst nicht — nein, mein Kind! Du hast sie nicht.
Nicht Wassersucht. Du — hast ein Kind, mein Mädchen!
Du hast ein Kind! — O, was hast du nur getan?
FANNY
Ich habe dir nichts angetan, o Mama ...
FRAU FRANKE
O leugne nicht, o Fanny! Ich weiß längst.
Ich konnte dir kein Wort dazu nur sagen …
O Fanny, Herz, mein armes, armes Kind!
FANNY
Doch das ist doch unmöglich, Mutter! Ich —
ich bin doch nicht einmal vermählt …
FRAU FRANKE
O großer Gott! Genau das ist es ja!
Dass du nicht bist vermählt! Das ist das Schreckliche!
O Fanny, Kind — was hast du nur getan?!
FANNY
Ich weiß es nicht! Weiß Gott, ich weiß es nicht!
Wir lagen so im Heu ... Ich habe nie geliebt
als dich allein, du warst mir alles, Mutter.
FRAU FRANKE
Mein Herzblatt, Kind —
FANNY
O Mutter, sag, warum
hast du mir nie, nie alles offenbart?
FRAU FRANKE
Mein Kind, mein Herz, wir dürfen nicht verzagen.
Mach dich gefaßt! Verlier den Mut doch nicht!
Ein Mädchen, vierzehn—und doch schon so schwer!
Ich hätt’s geglaubt, dass eher Sonne stirbt.
Ich tat an dir, wie meine Mutter einst
An mir getan – aus Liebe nur, mein Kind.
So lass uns denn dem lieben Gott vertrauen,
Auf Gnade hoffen, und das Unsre tun!
Noch ist ja nichts geschehen, denke doch!
Wenn wir kleinmütig nicht und feig nun sind,
Wird Gott uns auch nicht plötzlich von sich stoßen.
Hab Mut, o Fanny, fasse Mut, mein Kind!
So sitzt man oft am Fenster, ganz in Ruh,
Die Hände still im Schoß, das Herz gefasst—
Und plötzlich stürzt das Unglück brennend ein,
Als wollt’s das Herz zerreißen in der Brust.
Wa—was ist das? Warum erschrickst du so?
FANNY
Da—jemand klopfte.
FRAU FRANKE
Ich hörte nichts, mein Kind.
(Geht zur Tür und öffnet.)
FANNY
Ich hörte es, ich schwör’s, ganz deutlich war’s!
Wer ist denn draußen?
FRAU FRANKE
Rein niemand, weiter nichts.
— Die Mutter Schmidt nur aus der Gartenstraße nur.
Du kommst wie recht gerufen, Mutter Schmidt.
SZENE VI
(Im Weinberg. Die Sonne sinkt im Westen hinterm Berg, vom Tal herauf das helle Glockengeläut. JOHANN und WERNER, im welken Gras, beim höchsten Stück des Rebhangs, halb in den Fels gelehnt.)
WERNER
Ich hab mich überarbeitet, mein Freund.
JOHANN
Lass uns nicht trauern! Jede Stund ist wert.
WERNER
Man sieht sie hängen, doch der Arm ist matt.
Und morgen schon sind alle Trauben fort.
JOHANN
Die Müdigkeit ist mir wie Hunger schwer.
WERNER
Ich kann nicht mehr, ich spür mich selbst nicht mehr.
JOHANN
Der letzte Muskateller—glänzend, voll!
WERNER
Ich bring die Spannkraft nicht zurück, sie schwindet.
JOHANN
Beug ich die Ranke, baumelt sie zum Mund.
Kein Arm muss sich mehr regen, keine Hand.
Wir beißen ab, und lassen, was nicht lohnt,
Zurück an seinen Ort, als wär’s nie fort.
WERNER
Kaum denkt man: Nein!, so kehrt sie schon zurück—
Die Kraft, die eben noch verschwunden war.
JOHANN
Dazu das Licht, der Flammenhimmel dort,
Und fern das Glockenspiel, so weich, so fern.
Ich hoff nicht mehr zu viel auf das, was kommt.
WERNER
Ich seh mich manchmal schon als Pfarrer dort,
Mit sanfter Alten, still in einem Haus,
Mit Büchern reich gefüllt und Ämtern groß.
Sechs Tage denkt man, schweigt; am siebten spricht man.
Beim Gang durch Gassen reichen Kinder mir
Die Hand, und wenn ich heimkomm, dampft der Trank.
Der Kuchen wird gebracht, die Mädchen singen,
Und Äpfel tragen sie durch Gartentüren.
Was Schöners kann’s nicht geben, meinst du nicht?
JOHANN
Ich träum von halbgeöffnetem Gesicht,
Von Lidern schwer und Lippen halb entfacht,
Und Draperien, weich wie Träume selbst.
Ich glaub nicht an das Pathos. Unsere Alten
Verstecken ihre Torheit hinter Ernst.
Sie nennen uns wie sich – als wär’n wir gleich!
Wenn ich erst einmal Millionär bin, Freund,
Setz ich dem lieben Gott ein Denkmal hin.
Die Zukunft denk ich mir wie süßen Brei—
Mit Zucker, Zimt – und einer wirft ihn um
Und jammert, einer rührt ihn um und schwitzt.
Warum nicht schöpfen ab, was oben schwimmt?
Warum nicht lernen, wie man’s richtig tut?
WERNER
So schöpfen wir!
JOHANN
Was übrig bleibt, den Hühnern!
Ich zog mich oft aus mancher Schlinge frei...
WERNER
So schöpfen wir, mein Johann! Was nur lachst du?
JOHANN
Du fängst schon wieder an?
WERNER
Doch einer muss!
JOHANN
Wenn wir in dreißig Jahren dann zurück
An diesen Abend denken – ach wer weiß,
Vielleicht erscheint er uns als Paradies.
WERNER
Und alles geht so leicht, als wär’s ein Spiel!
JOHANN
Warum denn nicht?
WERNER
Wenn man allein ist, kommen manchmal Tränen.
JOHANN
Lass uns nicht trauern —
(küsst ihn auf die Stirn)
WERNER
(küsst ihn zurück)
Ich kam nur her, um kurz mit dir zu sprechen,
Und dann zurück nach Hause heimzukehren.
JOHANN
Ich habe dich erwartet. — Tugend, ja,
Sie kleidet nicht so schlecht — doch braucht sie Körper.
WERNER
An uns hängt sie wie Kleider fremder Zeit.
Ich hätt’ nicht Ruh gefunden ohne dich.
Ich lieb dich, Johann, mehr als je zuvor
Ein Wesen auf der Welt mein Herz berührt.
JOHANN
Lass uns nicht traurig sein! In dreißig Jahren
Vielleicht wir lachen drüber — ach wer weiß schon?
Jetzt aber ist es schön. Die Berge glühn,
Die Trauben hängen reif an unsern Mündern,
Und Abendwind streicht zärtlich über Fels
Wie eine Katze, spielend, weich und warm...
JONA
Hierher — da folgt mir nicht das wilde Rudel.
Solang sie durch Bordelle stürmen, atme
Ich auf — und kann mir sagen, wie weit fort
Ich bin von dem, was war. Von jedem Ort.
Mein Rock: in Fetzen. Taschen: leer wie ich.
Der Einfalt in Person bin ich nicht sicher.
Des Tages laure ich im Wald am Weg,
Der weiterführt — doch führt er fort von mir?
Ein Kreuz hab ich zertrampelt auf dem Weg.
Die Blümchen wären heut noch dort erfroren.
Ringsum ist Erde kahl — ein leeres Grab.
Im Totenreich! —
Hinauf durchs Dach zu steigen war nicht schwer.
Doch dieser Weg? Ich war nicht vorbereitet.
Ich hänge überm Abgrund, alles sinkt,
Verschlingt sich, wird zu Schatten und vergeht.
O wär’ ich dort geblieben! Warum sie —
Warum denn sie, na meinetwegen! Warum
Nicht der Verschuldete? Warum so blind?
Ich hätte Steine klopfen können — hungern!
Mir blieb nichts übrig — außer Schuld und Nacht.
Was hält mich aufrecht? — Ach ein neues Werk
Des Bösen folgt dem alten. Schlamm umschlingt
Mich wie der Tod. Ich habe kaum noch Kraft,
Dies alles abzuschließen. Ich war gut!
Ich war doch gut! Ich war doch nicht nur schlecht!
Kein Mensch ging je so neiderfüllt wie ich
Am bunten Grab vorbei. — Doch Mut? Ich hab
Nicht Kraft genug zu enden. Nicht einmal
Die Feigheit wär’ mir Zuflucht in der Nacht.
O, fasst mich Wahnsinn, in der Dunkelheit!
Ich muss zu denen, die schon längst verfallen.
Der Wind spielt auf den Steinen — Ton für Ton
Ein andres Klagelied. Beklemmend tönt
Die Luft, als wollte ein Orchester ängstlich
Sich sammeln. Kränze reißen. Schleifen flattern.
Sie baumeln wie die Geister an dem kalten Marmor —
Ein Friedhof voll von Vogelscheuchen steht,
Die eine greller noch als jene dort,
So groß, dass selbst die Teufel fliehn vor ihnen.
Die goldnen Lettern glänzen kalt im Licht.
Die Weide ächzt — sie streicht mit Fingernägeln
Aus Rinde über Worte auf dem Stein...
Ein Engelskind in stummer Haltung — still —
Ein Schild.
(Wind und Wolken)
Ein Schatten hetzt herab — ein Heulen,
Ein Wettlauf nun von Wolken, ostwärts drängend.
Kein einz’ger Stern — nur Wind, der weiter jagt.
Und immergrün, das Gärtlein? — Immergrün?
Ein Mädchen —
(Liest den Grabstein)
Hier ruht in Jesus FANNY FRANKE,
geboren an dem fünften Mai, gestorben
An Bleichsucht — sechsundneunzig — im Oktober.
O selig sind, die reinen Herzens sind.
Und ich — ihr Mörder. Ich hab sie getötet.
Die Hoffnung stirbt mit ihr. Mir bleibt nur eines:
Verzweiflung. Ach ich darf hier doch nicht weinen —
Nur fort von hier! Nur fort!
(THOMAS WEISS tritt auf)
THOMAS
Ein Augenblick, mein Jona! Den verpass nicht.
So bald kehrt dieser Ort nicht wieder heim.
Du ahnst nicht, was in dieser Stund‘ geschieht...
JONA
Wo kommst du her?
THOMAS
Von drüben kam ich – von der Mauer her.
Du warfst mein Kreuz. Nun lieg ich an der Wand.
Reich mir die Hand, mein Jona....
JONA
Du bist nicht Thomas Weiß!
THOMAS
Reich mir die Hand. Ich bin dir wohlgesonnen.
Du wirst erkennen, was du mir verdankst.
So leicht wie jetzt wird’s nimmermehr für dich.
Ein seltsam glückliches Begegnen ist’s –
Ich kam nur deinetwegen, Jona.
JONA
Schläfst du denn nicht?
THOMAS
Nicht was ihr Schlafen nennt.
Wir sitzen hoch – auf Türmen, Dächern, Giebeln,
Wo immer wir es wollen, halten Rast.
JONA
Und seid ihr ruhelos?
THOMAS
Aus Lust allein.
Wir streifen um die Bäume bunt der Dörfer,
Um Waldkapellen, einsam wie der Tod.
Wir schweben über Feiern, Leidensstätten,
Lauern im Schornstein oder an dem Baldachin
Der Schlafenden. – Reich mir die Hand! – Wir reden
Nicht viel, doch sehen wir und hören alles.
Wir wissen, alles Tun der Menschen ist
Ein töricht Spiel – und lachen über sie.
JONA
Was hilft das?
THOMAS
Was braucht es, dass es hilft?
Wir sind für nichts erreichbar, nicht für Gutes
Noch Böses. Hoch und fern vom Irdischen,
Steht jeder einsam da. Wir meiden uns,
Denn selbst der andre stört die große Ruh.
Nichts bleibt uns mehr, was wir verlieren könnten.
Wir sind erhaben über Schmerz und Jubel,
Sind mit uns selbst in stillem Bund zufrieden.
Die Lebenden verachten wir zutiefst,
Kaum dass wir sie bedauern möchten.
Ihr Tun, ihr Schmerz erheitert uns – wir lächeln,
Ein jeder für sich selbst – und sinnen nach.
Reich mir die Hand! Wenn du sie mir nur reichst,
So lachst du selbst dich tot an deinem Griff....
JONA
Und ekelt dich das nicht?
THOMAS
Wir stehn zu hoch dafür.
Wir lächeln! – Bei der Bahre stand ich selbst
Und mischte mich zu schwarzen Trauergästen.
Ich habe mich dabei gut amüsiert.
Das, Jona, ist Erhabenheit! Ich weinte
Wie keiner sonst – doch kroch zur Mauer hin,
Um mir den Bauch zu halten vor dem Lachen.
Nur unter diesem Blick verdaust du’s noch,
Den Quark, den diese Welt uns täglich gibt.
Auch über mich hat man gelacht, gewiss,
Bevor ich aufgestiegen bin zum Horizont.
JONA
Mich lüstet’s nicht, zu lachen über mich.
THOMAS
Die Lebenden, sie sind nicht zu bedauern!
Ich selbst hätt’ es zuvor nie so gedacht.
Jetzt aber ist’s mir völlig unbegreiflich,
Wie man so blind und töricht leben kann.
Ich seh den Trug – kein Wölkchen bleibt zurück.
Was zögerst du, mein Jona? Reich die Hand!
In einem Hauch stehst du weit über dir.
Dein Leben ist ein ewig leeres Warten....
JONA
Könnt ihr vergessen?
THOMAS
Ja, alles. Gib die Hand!
Wir können trauern um die junge Seele,
Die ihre Angst als Ideal begreift,
Und um das Alter, das sich überhebt
Und innerlich daran zerbrechen muss.
Wir seh’n den Kaiser beben vor Gesängen,
Und Bettler vor der Kriegsposaune zittern.
Und wir durchschauen Masken – Komödianten
Und Dichter, die sie heimlich auf sich kleben.
Wir sehen den Zufriedenen in Armut leben
Und Reichtum im Gequälten widerstrahlen.
Wir lauschen heimlich Liebenden beim Schwur
Und wissen: sie betrügen sich zugleich.
Wir sehn, wie Eltern Kinder in die Welt
Gebären, nur um ihnen zuzurufen:
„Wie glücklich seid ihr doch, zu haben solche Eltern!“
Und diese Kinder tun’s dann ebenso.
Und wir belauschen Dirnen, Schiller lesend,
Und sehen Unschuld, die sich selbst verliert.…
Wir sehen Gott und Teufel, wie sie scheitern,
Und wissen still in uns: Sie sind betrunken.…
Ein tiefer Friede. O Zufriedenheit. – O Jona!
Du brauchst mir nur den kleinen Finger reichen.
Schneeweiß wirst du – und nie kehrt so
Ein Augenblick zurück!
JONA
Wenn ich die Hand dir geb, ist’s aus Verachtung
vor mir getan. Ich bin geächtet.
Was mir einst Mut verlieh, liegt tief begraben.
Ich bin der edlen Regung nicht mehr wert —
und seh’ kein Hindernis vor meinem Fall.
Ich bin das Scheusal dieser eklen Welt.
THOMAS
Was zauderst du?
(Ein MASKIERTER HERR tritt auf.)
DER MASKIERTE HERR
(zu JONA)
Du zitterst — Hunger? Du bist nicht imstande
zu richten.
(zu THOMAS)
Du gehst jetzt besser fort.
JONA
Wer sind Sie?
DER MASKIERTE HERR
Das zeigt sich bald.
(zu THOMAS)
Verschwinde!
Was hast du hier verloren? Und dein Kopf —
warum hast du ihn nicht auf deinen Schultern?
THOMAS
Ich habe mich erschossen.
DER MASKIERTE HERR
Dann bleib, wo du nun bist — am rechten Ort!
Belästige uns nicht mit Grabesdunst.
Sieh deine Finger an! Schon bröckelt’s ab —
Pfui Teufel!
THOMAS
Schick mich nicht fort…
Lass mich ein Weilchen noch dabei verweilen.
Ich will nicht stören. Unten ist es kalt.
DER MASKIERTE HERR
Warum dann dieses prahlerische Wort
von deiner Hocherhabenheit? Nur fauler Stolz!
Du lügst, nur Hirngespinste.
Wenn dir dran liegt, dann bleib.
Doch hüte dich vor leeren Windgespenstern —
und zieh die Leichenhand zurück, mein Freund!
JONA
So sagen Sie: wer sind Sie?
DER MASKIERTE HERR
Nein, nein.
Doch mach ich dir ein Angebot: Vertrau
dich mir jetzt an. Ich sorg zunächst für deinen Weg.
JONA
Sind Sie mein Vater?
DER MASKIERTE HERR
Erkennst du ihn nicht an der Stimme?
JONA
Ach nein.
DER MASKIERTE HERR
Dein Vater sucht in dieser Stund bei Mutter Trost.
Ich öffne dir die Welt.
Was dich verwirrt, ist deine tiefe Not.
Mit einem warmen Essen siehst du klarer.
JONA
(für sich)
Ein Teufel!
(laut)
Ein Mahl ersetzt mir nicht
die innre Ruhe nach der Schuld, die brennt!
DER MASKIERTE HERR
Kommt auf das Mahl an. Schau, die Kleine war
von edlem Bau. Sie starb an Mitteln, die
die alte Schmidt ihr gab.
Ich führ dich nun
zu Menschen. Weit wird sich dein Horizont
erstrecken. Und du lernst die Welt in allem lieben,
was sie an Wundern birgt.
JONA
Wer sind Sie nur?
Ich kann mich keinem anvertraun, den ich nicht kenne.
DER MASKIERTE HERR
Du wirst mich nur erkennen,
wenn du dich mir ganz anvertraust.
JONA
Das glauben Sie?
DER MASKIERTE HERR
Ist Faktum! – Doch was hilft’s? Du kannst nicht wählen.
JONA
Ich könnt’ ihm jetzt die Hand zum Frieden reichen.
DER MASKIERTE HERR
Dem Freund? Ein Scharlatan! Wer etwas hat,
der lacht nicht mehr. Der edle Humorist –
er ist das klägliche Produkt der Welt!
JONA
Er sei, was er auch sei – doch sagen Sie
mit einem Wort, wer Sie in Wahrheit sind,
sonst reiche ich dem Clown die Hand!
DER MASKIERTE HERR
Nun denn?!
THOMAS
Er hat wohl recht, mein Freund, ich schwätzte.
Lass dich von ihm bewirten, nutz ihn aus.
Er mag sich auch maskieren, wie er will —
so ist er es zumindest!
JONA
Und glauben Sie an Gott?
Der MASKIERTE Herr
Das kommt drauf an.
JONA
Wer schuf das Pulver?
Der MASKIERTE Herr
Mönch Berthold Schwarz — auch Konstantin genannt,
um dreizehnhundertdreißig, Mönch zu Freiburg.
THOMAS
Ich gäb mein Leben, hätt’ er’s nicht getan!
DER MASKIERTE HERR
Dann hättest du dich aufgehängt, mein Freund.
JONA
Wie steht’s mit Ihrer Meinung zur Moral?
DER MASKIERTE HERR
Was soll das, Kerl? Bin ich dein Schüler?
JONA
Ich weiß nicht, wer Sie sind!
THOMAS
So streitet nicht! Wozu? Wozu das Wort?
Warum sind wir — zwei Lebende, ein Toter —
um zwei Uhr nachts hier auf dem Friedhofsgrund,
wenn wir wie Kneipenbrüder zanken wollen?
Es wär’ mir Freude, still zu lauschen, doch —
wenn ihr nur zankt, dann nehm’ ich meinen Kopf
und trag ihn unterm Arm nach Hause fort.
JONA
Du bleibst der alte Hasenfuß!
DER MASKIERTE HERR
Das Spukgesicht hat Recht. Man wahrt die Würde.
Moral ist ein Produkt aus zweien Größen —
die Größen selbst: „Ich soll“ - „Ich will nicht“.
Sind beide leer — doch ihr Produkt ist echt.
THOMAS
Hätt’ ich das früher nur vernommen, Herr!
Moral trieb schließlich in den Tod mich.
„Du ehre Vater, Mutter“ — drum der Schuss.
Ein Wort, das sich blamiert an mir!
DER MASKIERTE HERR
Befreie dich von all den Illusionen!
Die Eltern wären nicht daran verendet —
sie fluchten bloß, aus innerem Bedarf.
JONA
Das mag wohl sein. Doch eins sag’ ich gewiss:
Wenn ich dem Thomas eben die Hand bot,
so war’s die Sünde der Moral — nichts sonst.
DER MASKIERTE HERR
Drum bist du eben nicht der Thomas dort!
THOMAS
Doch meinen Sie, dass dieser Unterschied
so wichtig sei? So hart und trennend gar?
Sie wären ebenso auch mir begegnet —
mit meiner Waffe in der Manteltasche,
als ich durch Erlen träumend mich verlor.
DER MASKIERTE HERR
Erinnerst du dich nicht? Auch du, du standest
am Scheideweg von Leben und von Tod.
Doch dies ist kaum der Ort, mein lieber Freund,
wo wir so schwere Dinge reden sollten.
THOMAS
Das stimmt. Es wird schon kühl, ihr meine Herrn!
Sie zogen mir den Sonntagsrock zwar an —
doch Hemd und Unterhosen fehlen mir.
JONA
Leb wohl, mein Thomas. Wohin er mich führt,
das weiß ich nicht. Doch ist er auch ein Mensch...
THOMAS
Vergilt mir nicht, mein Freund, dass ich’s versucht,
dich umzubringen – alter Hang, mein Freund.
Ich wollte klagen, jammern all mein Leben,
wenn ich dich nur ein letztes Mal begleiten dürfte!
DER MASKIERTE HERR
Ein jeder hat sein Teil – du dein Gefühl,
mit leerer Hand zu gehn – und du, mein Freund,
den Zweifel nagend, der dich nie verlässt.
Lebt wohl.
JONA
Leb wohl, o Thomas! Nimm den Dank
fürs Kommen. Wie viel heitrer, lichter Tag
in unsern fünfzehn Jahren war uns gnädig!
Ich schwöre dir – mag kommen, was da will,
mag ich mich wandeln zehnfach noch im Leben,
mich aufwärts tragen oder stürzen tief –
dich werd ich nie vergessen, niemals ganz...
THOMAS
Ich danke dir, mein Lieber, aus dem Herzen.
JONA
Und wenn ich eines Tages alt und grau
mit weißem Haupt in stiller Ecke sitz,
dann stehst vielleicht du näher mir als all
die Lebenden, die um mich wandeln dann.
THOMAS
Ich danke dir. – Viel Glück auf eurem Weg!
Lasst euch nicht länger von mir halten.
DER MASKIERTE HERR
Komm, Kind.
(Er nimmt Jonas Arm und führt ihn fort – sie schreiten schweigend über Gräber hin.)
THOMAS
(allein)
Nun sitz ich da mit meinem Haupt im Arm.
Der Mond verhüllt sein bleiches Angesicht,
entblößt sich wieder – und bleibt schön und leer.
So kehr ich wieder an mein Plätzchen heim,
ich richte auf mein Kreuz, das mir der Mann zertrat,
und leg mich dann zurück auf feuchte Erde,
wärm mich am Moder, Mutter, lächle...