SHIRIN


POEM UND KOMMENTAR


VON TORSTEN SCHWANKE



ERSTES KAPITEL


Hormoz, der König mild und weis’

regiert' mit sanftem Sinn das Land.

Er achtet Recht und Menschenfleiß,

mit guter, güt’ger Hand.


Lang harrte er, bis einst ein Sohn

ihm ward, ein Knab' voll Licht und Kraft,

Khosrow Parviz, von edlem Thron,

von Schönheit, Mut und Saft.


In Wissenschaft ward er geübt,

im Reiten, Fechten, Bogenschuss,

sein Herz war frei, vom Lernen trübt

ihn nimmer Müh’ noch Verdruss.


Ein Freund war stets an seiner Seit’ —

Shapour, ein Maler hochbegabt,

der klug und treu in Leid wie Freud,

des Königs Sohn nie labt.


Eines Tags sprach Shapour vertraut

vom Reich Arman, von Königin,

die mächtig, schön und unvertraut,

doch kinderlos darin.


"Sie hat," so sprach er, "eine Nichts',

die Shirin heißet, wunderbar!

Ein Ross besitzt sie, schwarz wie Nichts,

schnell wie der Wind sogar."


Khosrow, vom Wort in Brand gesetzt,

verliebte sich in Bild und Klang.

Er bat Shapour, er möcht’ ihn jetzt

zu ihr bringen – nicht bang.


Shapour, getreu, zog bald hinaus,

vernahm von Shirins Wandelflug,

malte das Bild des Prinzen aus,

und hing’s im grünen Hug.


Shirin kam bald mit ihrem Kreis,

sie scherzten wild im Frühlingshain,

bis sie vom Bild ergriffen leis’

sah in das Angesicht fein.


Am nächsten Tag, erneut das Spiel —

das Bild am Baum, ihr Blick so klar,

ihr Herz ward heiß, ihr Wunsch ward Ziel,

wer wohl der Jüngling war?


Shapour erschien – ganz "Zufall" war’s —

und nannte ihr des Bilds Gestalt:

Das ist Khosrow, ein edler Mars,

der dich liebt, hold und bald.“


Ein Ring, gesandt vom Prinzen mild,

gab er der Maid mit ernstem Wort:

Reit ihm entgegen durch das Bild,

zieh selbst gen fremden Ort.


Und findest du ihn nicht im Feld,

so reit nach Madaen sodann,

zeig dort den Ring, warte auf Held,

bis er dich lieben kann."


So ritt Shirin, im Windgebraus,

auf Shabdiz schnell, dem schwarzen Pferd,

und ließ das alte Leben aus —

ins Ungewisse, weit und wert.


Ein Teich war's, wo sie rasten wollt’,

sie badet’ still im klaren See.

Der Mond war Zeuge, silbern, gold,

die Welt lag still im Weh.


Khosrow, auf eigner Wanderschaft,

nahte dem Ort zu gleicher Zeit,

sah ihre Schönheit, stolz und sacht,

verhüllt von Wasserkleid.


Schamrötlich blickt’ sie auf ihn hin,

er wandte schnell den Blick im Traum.

Sie floh, entschwand wie Wind dahin,

sein Herz blieb bei dem Baum.


Zwei Seelen, nah – doch trennte Pfad,

sie strebten fort, gen andres Ziel.

Doch jede trug im Herzen Saat —

der Liebe süßes Spiel.


KOMMENTAR:


Dieses Gedicht entfaltet eine märchenhafte Liebesgeschichte vor dem Hintergrund königlicher Größe und spiritueller Bestimmung. Doch unter der Oberfläche dieser epischen Erzählung wirkt eine tiefe seelische Dynamik, die sich aus psychologischer wie spiritueller Perspektive deuten lässt.


Tiefenpsychologische Deutung

Aus tiefenpsychologischer Sicht, insbesondere im Sinne der Analytischen Psychologie C.G. Jungs, ist das Gedicht ein archetypischer Seelenmythos, der die Begegnung von Anima und Animus schildert – das innere Weibliche im Mann und das innere Männliche in der Frau.


Khosrow verkörpert das strebende Ich, das sich seiner Bestimmung nähert. Er ist Sohn eines weisen Vaters, der als Symbol des Selbst gedeutet werden kann – des höheren, integrierten Persönlichkeitskerns. Khosrow ist also eine junge Seele auf dem Weg zur Individuation: geschult, stark, mutig, aber noch nicht vollendet.


Shirin erscheint zuerst als „Nichts“ – eine äußerst symbolträchtige Wendung. Sie wird nicht als „Tochter“, „Dame“ oder „Prinzessin“ eingeführt, sondern als Leerstelle, die alles enthält. Das verweist auf die Anima in ihrer ursprünglichen Gestalt: das Unbewusste, das nicht greifbar, aber mächtig ist. Ihr schwarzes Pferd ist psychologisch als Trägerin instinktiver Kraft und tiefster seelischer Energie zu sehen.


Der Moment, in dem sich beide in Bildern begegnen – erst über das gemalte Bild, dann über den Blick beim Bad im See – ist von zentraler Bedeutung. Hier beginnt die eigentliche innere Wandlung:


Das Bild, das Shapour malt, ist eine Projektion: Der Prinz verliebt sich in die Vorstellung der Frau, nicht in ihr wahres Wesen. Diese Projektion ist notwendig – denn erst in der Projektion kann das Unbewusste bewusst gemacht werden.


Die Badeszene am Teich erinnert an archetypische Reinigungs- und Offenbarungssymbole. Der Teich ist das Unbewusste, der Mond die Intuition, das Licht der Erkenntnis. Der Augenblick des Blicks ist zart, heilig und erschütternd. Doch es ist noch kein Einswerden möglich – Scham, Scheu, der Schatten der Trennung liegen dazwischen.


Spirituelle Perspektive

Spirituell betrachtet, spiegelt sich hier die Bewegung der Seele auf Gott zu – oder, im christlich-mystischen Sinne, der Weg der amor sanctus, der heiligen Liebe, die über Raum und Zeit hinweg führt.


Die Gestalten Khosrow und Shirin sind mehr als Menschen: Sie sind Seelenanteile, die nach Vereinigung streben. Ihre Liebe ist nicht bloß romantisch, sondern transzendent – sie ist eine Bewegung des Herzens, die zur inneren Einheit führen soll.


Der Weg ist jedoch nicht linear. Beide müssen getrennte Pfade gehen, denn wahre Liebe ist nicht Besitz, sondern Erkenntnis. Es braucht das Wandern, das Suchen, das Missverstehen. Nur so kann das Göttliche in der Liebe geboren werden.


Das Motiv des Ringes ist ein uraltes Symbol der Verbindung, der Ganzheit, auch der göttlichen Ordnung. Dass Shirin mit einem Ring auf die Reise geschickt wird, ist ein spirituelles Bild für ihren inneren Ruf: Sie folgt nicht dem Prinzen allein, sondern einem höheren Schicksal.


Resümee

Dieses Gedicht ist eine mystische Allegorie auf die Liebe als seelischen Weg: Die Figuren verkörpern Kräfte und Sehnsüchte der Seele, die sich nach Ganzheit sehnt.


In Khosrows Idealismus und Shirins Mut begegnen sich männliches Streben und weibliche Intuition, Wille und Hingabe. Ihre Trennung ist keine Niederlage, sondern ein notwendiger Teil der spirituellen Reifung – eine Vorbereitung auf jene tiefere Vereinigung, die nur jenseits des äußeren Bildes möglich ist.


So offenbart sich hinter dem märchenhaften Glanz eine tiefe Wahrheit: dass jede wahre Liebe ein innerer Ruf ist – zur Begegnung mit dem Anderen, und zugleich zur Rückkehr zu sich selbst.



ZWEITES KAPITEL


Shirin kam heimlich nach Madaen,

Verhüllt blieb ihr Gesicht zu seh’n.

Am Hof man hielt sie ohne Frage

Für eine Konkubin der Tage.


Der König ritt durch fremdes Land,

Mahin empfing ihn mild und grand.

Er sprach von Lieb' mit offnem Herzen

Und bat um Shirin trotz der Schmerzen.


Ein Ross so stark wie Shabdiz gar,

Gab Mahin ihm – es war ihm klar:

Zurück nach Madaen sollt' er reiten,

Um Lieb' mit Shirin zu bereiten.


Doch Shirin zog, vom Gram getrieben,

Mit Shapour heim zu ihren Lieben.

Die Wege kreuzten sich nicht mehr,

Verpasst das Glück, das einst so sehr.


Als Khosrow fand das Schloss nun leer,

War Bahram schon des Reichs Begehr.

Da ritt er neu mit wildem Triebe

Zurück zur Frau, zur einen Liebe.


Dies Mal begegneten sich zwei,

Ihr Blick – wie Morgenlicht so frei.

Sie sprachen, lachten, Herz an Herz,

Und liebten sich in Lust und Schmerz.


Doch Shirin sprach mit klarem Sinn:

Ein König, der ich würdig bin,

Ist nur, wer sich sein Reich erringt –

Nicht wer in fremdem Schatten singt.“


Gekränkt, doch wach in Lieb' und Pflicht,

Verließ er sie mit hartem Gesicht.

Zu kämpfen galt's, das Reich zu frein,

Nur dann darfst du mein Gatte sein.


KOMMENTAR:


Dieses Gedicht birgt eine tiefe symbolische und tiefenpsychologische Struktur, die sowohl individuelle als auch kollektive seelische Prozesse beleuchtet. Im Zentrum steht die Figur Shirins, deren inneres Wesen und spirituelle Haltung als archetypisch weibliche Weisheit gedeutet werden kann. Ihre Reise, ihr Rückzug und ihre Bedingung an Khosrow laden zu einer vielschichtigen Interpretation ein.


1. Die verhüllte Shirin: Das Unbewusste, das sich entzieht

Shirins Ankunft in Madaen mit verhülltem Gesicht ist kein bloßer Akt der Zurückhaltung, sondern Symbol für das noch Unentdeckte, das Mysterium des Selbst. In der Tiefenpsychologie (v.a. bei Jung) steht die verhüllte Frau oft für das Anima-Bild, das der Mann erst durch Reifung und Konfrontation mit seinem inneren Schatten zu erkennen vermag. Dass sie als Konkubine missverstanden wird, verweist auf die Projektion oberflächlicher Triebe auf eine tiefere spirituelle Wirklichkeit, die noch nicht erkannt wurde.


2. Der König im fremden Land: Die Suche nach dem Selbst

Khosrows Reise ist ein archetypischer Heldenweg – eine Reise ins „fremde Land“ symbolisiert das Abweichen von alten Mustern, das Verlassen des Bekannten. Mahin, die ihn empfängt, könnte als archetypische Große Mutter gesehen werden, die Weisung gibt. Doch der König begehrt nicht sie, sondern Shirin – das tiefere, authentische Selbst, die wahre Seele.


Dass er das Ross Shabdiz bekommt – kraftvoll und symbolisch – deutet auf die notwendige seelische Energie (Libido) hin, um den Weg zu Shirin, zur inneren Ganzheit, zu bewältigen. Doch noch ist er nicht bereit.


3. Verpasste Wege: Der Schatten der Unreife

Shirin zieht fort, „vom Gram getrieben“, mit Shapour. Hier öffnet sich ein Schattenmotiv: Die verpasste Begegnung. In der psychologischen Sprache ist dies die Phase, in der das Selbst zwar ruft, aber das Ich noch nicht bereit ist, dem Ruf zu folgen. Es fehlt an Klarheit, an innerem Durchhaltevermögen. Das Schicksal spielt keine Rolle – vielmehr ist es die fehlende seelische Reife, die den Moment verstreichen lässt.


4. Der Rückweg: Der Wille zur Ganzheit

Als Khosrow später zurückkehrt und das leere Schloss vorfindet, ist dies ein zutiefst seelischer Moment: Der Ort, an dem die Seele einst hätte gefunden werden können, ist leer. Die Besetzung durch Bahram steht sinnbildlich für äußere Kräfte oder gesellschaftliche Zwänge, die das Seelenreich beanspruchen, solange es nicht durch das bewusste Ich befreit wird.


Doch nun reitet er erneut, mit „wildem Trieb“ – der Trieb ist nicht bloß Lust, sondern psychologisch als transformierte Lebensenergie zu verstehen, die nun gereift ist.


5. Die wahre Begegnung: Herz an Herz

Erst jetzt, beim zweiten Aufeinandertreffen, gelingt die authentische Begegnung. Blickkontakt – ein uraltes Symbol für Seelenschau –, gemeinsames Lachen, das Überwinden der Spaltung von Lust und Schmerz: Die Anima wird nicht mehr projiziert, sondern erkannt. Hier öffnet sich ein Fenster zur Individuation, der Ganzwerdung des Selbst.


6. Shirin als spirituelle Lehrerin: Die Bedingung der Reife

Doch Shirin, ganz im Geiste archetypischer Weisheit, verlangt Souveränität: „Nur wer sich sein Reich erringt.“ Damit spricht sie eine tiefe spirituelle Wahrheit aus: Nur wer sein inneres Reich – sein Selbst – erringt, kann zur wahren Liebe fähig sein. Nicht durch Anlehnung an fremde Macht („nicht wer in fremdem Schatten singt“), sondern durch eigenständige Selbstwerdung.


Diese Haltung entspricht der tiefenpsychologischen Erkenntnis, dass echte Beziehung nur möglich ist zwischen zwei ganzen Individuen, nicht zwischen einem Ich und einer Projektion.


7. Der Schluss: Der Ruf zur Selbstverwirklichung

Die Geschichte endet mit Trennung, aber nicht aus Enttäuschung, sondern aus Notwendigkeit. Shirin fordert den König auf, sein Reich zu befreien, was sowohl politisch als auch seelisch zu verstehen ist. Es ist der Ruf zum inneren Kampf, zur Überwindung des Egos, zur aktiven Gestaltung des eigenen Lebens. Nur wer bereit ist, für sich selbst einzustehen, kann ein Partner auf Augenhöhe sein.


Fazit:

Das Gedicht ist in tiefenpsychologischer Hinsicht ein spiritueller Entwicklungsweg: vom triebhaften Begehren zur reifen, fordernden, aber heilsamen Liebe. Es zeigt, wie die Liebe zur Seele (Shirin) nicht durch Besitz oder bloßes Begehren erlangt wird, sondern durch Selbsterkenntnis, Eigenständigkeit und das Ringen um innere Freiheit.


Shirin ist mehr als eine Frau – sie ist das Symbol des wahren Selbst. Und sie wartet nicht auf Erlösung. Sie wartet auf Gleichrangigkeit.



DRITTES KAPITEL


Es zog Khosrow in fremdes Reich,

nach Konstantins gewalt’ger Stadt,

zu bitten dort um römisch’ Gleich

im Kampf, den er begonnen hat.


Des Kaisers Hilfe war sein Ziel,

und bald schon ward ein Bund gemacht:

Er bot dem Kaiser treues Spiel

und nahm Maria in der Nacht.


Die Tochter ward ihm anvertraut,

im Bund, der keine Neben kennt;

doch sehnt’ er sich, wie tief er’s baut,

nach Shirin, die so fern ihm brennt.


Derweil im fernen Armenland

die edle Mahin krank entfloh,

und Shirin nahm das Reich zur Hand,

das unter ihrem Zepter froh.


Gefangne ließ sie aus dem Bann,

gab Brot und Recht dem armen Mann,

und alles, was sie segnen kann,

kam unter ihre Güte dann.


Doch ach, das Herz war unbefreit,

sie dachte stets an jenen Herrn,

der einst in süßer Zärtlichkeit

ihr Herz gewann und war nun fern.


Sie konnt’ ihm nicht vergeben noch,

dass er Maria trug zum Eid,

und doch war Lieb in ihr so hoch,

dass selbst der Zorn ihr stille schreit.


Sie sprach: „Ich kann nicht länger sein

in Arman, wo mein Herz verglüht.“

Sie schwang sich auf das Ross allein,

ließ das, was war, im Windesblüt.


In Madaen, fern dem Glanz,

nahm sie ihr Heim in Schatten grau,

versteckt vor Aug’ und Hochzeitskranz,

den Maryam trug, des Reiches Frau.


Khosrow, im Hofe stets bewacht,

durft’ Shirin kaum noch einmal seh’n,

denn Eifersucht hielt Maryam sacht

den König von ihr still im Weh’n.


Doch durch den treuen Schapurs Mund

ging Botschaft still von Herz zu Herz.

Ein Band bestand, geheim, gesund,

doch auch erfüllt von süßem Schmerz.


Einst bat Khosrow in tiefer Pein,

dass Shirin käm’ zur Stund’ allein;

doch sie, so stolz und voller Kraft,

sprach: „Kein Mann in fremder Haft,


der eines Eides Kette trägt,

darf heimlich mich in Nacht begeh’n.

Sag ihm: Wer Liebe so verlegt,

wird nimmermehr mein Antlitz seh’n.“


KOMMENTAR:


Dieses Gedicht entfaltet ein tiefes Seelendrama zwischen Liebe, Treue, innerem Zwiespalt und spiritueller Entwicklung. Es ist mehr als nur eine historische oder romantische Erzählung – es ist ein Gleichnis für den Weg der Seele zwischen Bindung und Befreiung, zwischen weltlichem Begehren und geistiger Würde. Eine tiefenpsychologisch-spirituelle Deutung erschließt diese Schichten wie folgt:


1. Die äußere Handlung als Spiegel innerer Prozesse

Khosrows Reise nach Konstantinopel, sein Pakt mit dem Kaiser und die Ehe mit Maria symbolisieren den Abstieg der Seele in die Welt der Macht, der Politik und der äußeren Verpflichtung. Der König wird zum Repräsentanten des Ichs, das nach Anerkennung, Unterstützung und „Gleichheit“ im Kampf strebt – ein Kampf, der sowohl außenpolitisch als auch seelisch verstanden werden kann. In der Tiefenpsychologie entspricht dies der Bewegung vom Selbst ins Außen, vom Archetypischen ins Personale.


Maria steht hier nicht nur für eine Frau, sondern für das Angepasste Selbst, das Bündnis mit gesellschaftlichen Normen und Erwartungen. Ihre Figur verkörpert das Rationale, das Ordentliche, die abgesicherte Struktur – ein notwendiger, aber nicht seelenvoller Bund.


2. Shirin als Anima – die Stimme des wahren Selbst

Shirin, weit entfernt, herrschend in Arman, ist die eigentliche innere Geliebte – die archetypische Anima. In der jungianischen Deutung steht sie für das seelische Ideal der Weiblichkeit im Mann: das Inspirierende, das Liebende, das Göttliche. Ihre Regierung bringt Heilung, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit – Zeichen einer seelischen Ordnung, die auf Güte und Mitgefühl gegründet ist.


Doch obwohl sie regiert und befreit, bleibt ihr Herz gefangen. Sie symbolisiert die spirituelle Seite des Menschen, die zwar wirksam im Außen ist, aber innerlich leidet, wenn sie vom wahren Geliebten (dem inneren König) getrennt ist.


3. Die Spannung zwischen Treue und Freiheit

Das Gedicht verhandelt eine der tiefsten inneren Spannungen: die zwischen Loyalität und authentischer Liebe. Khosrow ist an Maria gebunden – ein Schwur, der rational und ehrenvoll scheint –, doch sein Herz gehört Shirin. In der tiefenpsychologischen Sprache: Der Mensch hat sich an äußere Strukturen gebunden, doch die Seele sehnt sich nach Tiefe, nach dem echten Selbst.


Shirin hingegen bleibt in ihrer Würde. Sie lässt sich nicht heimlich besuchen, sie verlangt Ganzheit, Ehrlichkeit und Mut zur Klarheit. Hier spricht das Höhere Selbst: „Sag ihm: Wer Liebe so verlegt, wird nimmermehr mein Antlitz seh’n.“ Es ist eine Forderung nach seelischer Wahrheit und Reinheit – die Ablehnung jedes Kompromisses mit Halbherzigkeit.


4. Spirituelle Transformation durch Schmerz

Das Gedicht ist von einer stillen Melancholie durchzogen, die an die Nacht der Seele erinnert. Der Schmerz, die Sehnsucht, die Unerfülltheit – all das dient nicht der Zerstörung, sondern der Reifung. Die Trennung ist kein Scheitern, sondern ein geistiger Prozess: eine Initiation, die notwendig ist, um das Ich von seinen Fesseln zu befreien und der Seele ihre eigene Stimme zurückzugeben.


Khosrow und Shirin bleiben verbunden – nicht durch Besitz oder Nähe, sondern durch ein geheimes Band, durch die Treue der Herzen. In diesem Band lebt der mystische Funke, der über Konvention und körperliche Nähe hinausreicht.


Fazit: Der Weg der Seele zwischen Bindung und Befreiung

Dieses Gedicht ist ein inneres Drama zwischen Anpassung und Authentizität, zwischen weltlicher Rolle und seelischer Wahrheit. Es zeigt, wie tief Liebe gehen kann – nicht als sentimentales Begehren, sondern als Weg der Verwandlung. Shirin ist nicht nur die Frau, die liebt – sie ist das Symbol des wahren Selbst, das sich nicht kaufen, nicht betrügen und nicht halb lieben lässt.


Die letzte Botschaft ist eindeutig: Nur wer ganz wird, wer sich löst von äußeren Fesseln und in Wahrhaftigkeit lebt, darf das Antlitz der Liebe wirklich schauen.



VIERTES KAPITEL


In einem Schloss, so still und fern,

wo Schatten sich mit Träumen paaren,

lebt Shirin, einsam, mild und gern,

in milchgetränkten kühlen Jahren.


Die Wege steil, das Land so rau,

durch Felsen führt des Lebens Gabe,

die Hirten tragen stets genau

den Trank empor, als wär’s ihr Habe.


Da sprach sie einst zum treuen Mann,

dem klugen Freund mit Namen Schapur:

Ist denn kein Weg, kein leichter Plan,

für Milch durch Berg und Felsen nur?“


Ein Freund von mir, in Kunst gewandt,

ein junger Mann, geschickt mit Steinen,

kann graben durch das harte Land,

sein Werk wird noch in Liedern weinen.“


So kam Farhad zum stillen Schloss,

sah Shirin nur – und war verloren.

Die Liebe traf ihn hart und groß,

als wär er neu zum Sein geboren.


Mit Meißel, Herz und Liebesmut

durchdrang er Sang-e-kharas Weite,

bald rann der Strom in süßer Flut

zu Shirins Tor – in stiller Breite.


Ein Becken schuf er, kunstvoll, rein,

der Quelle gleich in Paradiesen.

Da gab sie ihm aus Gold zwei klein

und zarte Ohrring’ – Glanz in diesen.


Doch sprachlos war der Liebende,

nahm nicht die Gunst, noch lieblich Zeichen.

Er zog hinweg in Waldes Höh,

sein Herz, das konnte nie erweichen.


Er sang von ihr, in Schmerz und Glut,

sein Ruf ging bald durch alle Lande,

als treuer Mann, voll Liebesmut,

mit Dichtkunst in der eignen Schande.


Davon vernahm nun Khosrow bald,

und Eifersucht entflammte Herzen.

Der Bildner schön, so jung, so bald

wird sie mir rauben – voll mit Schmerzen!“


Er lud Farhad in seinen Saal,

ein König klug und edlen Strebens.

Er bot ihm Lohn und Lob in Zahl,

doch nicht das Herz des holden Lebens.


Sie sprachen lang in Dicht und Klang,

von Liebe, Schmerz und stillen Zielen.

Doch sah der König bald und bang:

Farhad wird nie den Traum versiegeln.


Da sprach er schlau: „Schlag du den Pfad

durch meine Berge, wild und weite –

dann sei Shirin dein schönster Schatz,

dein Lohn für müh- und liebe Arbeit.“


Er wusste wohl, das Werk sei groß,

für Menschen kaum zu je bezwingen.

Doch nahm Farhad es an – sein Los:

für Liebe will er Felsen zwingen.


KOMMENTAR:


Dieser poetische Text entfaltet ein tiefenpsychologisch-spirituelles Geflecht aus Liebe, Sehnsucht, Archetypen und Opfer. In der Geschichte von Shirin, Farhad und Khosrow spiegeln sich zentrale Seelenbewegungen und archetypische Konstellationen, wie sie C. G. Jung oder Erich Neumann beschrieben hätten. Im Folgenden ein Kommentar, der diesen inneren Kosmos deutet:


Tiefenpsychologisch-spiritueller Kommentar


In der kühlen, entrückten Sphäre des Schlosses lebt Shirin – nicht nur als Frau, sondern als Anima, als inneres Bild des Göttlich-Weiblichen. Ihre Welt ist von Milch, also von nährender, lunarischer Substanz durchtränkt. Der Ort ist fern, entrückt, fast wie das kollektive Unbewusste selbst, aus dem archetypische Bilder aufsteigen. Shirin ist kein Objekt bloßer Begierde, sondern Symbol innerer Ganzheit – ein Ziel der seelischen Individuation.


Farhad, der junge Steinbildner, ist der Archetyp des Heldenliebenden, des aufrichtigen Suchers. Mit Herz und Meißel – Werkzeuge von Tatkraft und innerer Haltung – bohrt er sich durch die Härte der Welt. Der Berg, den er durchdringen soll, ist kein bloßes geographisches Hindernis, sondern ein Symbol des Selbst, des transzendenten Zentrums der Persönlichkeit. Das Durchdringen der Steine wird zur Allegorie der seelischen Läuterung: aus Liebe wird Arbeit, aus Arbeit wird Opfer.


Die unberührte Liebe, die Farhad empfindet, bleibt unerfüllt – und das nicht zufällig. Die Tragödie der Seele liegt oft nicht in ihrer Zerstörung, sondern in ihrer Weigerung, sich mit dem Irdischen zu vermählen. Farhad lehnt die goldenen Ohrringe ab – nicht aus Stolz, sondern aus einer Tiefe, die weiß: wahre Liebe will nicht besitzen. Er ist der spirituelle Asket im Gewand des Handwerkers. Seine Liebe ist transformierend, nicht fordernd. Sie lebt in der Distanz, wie ein inneres Feuer, das keine äußere Erfüllung sucht.


Khosrow hingegen verkörpert die Macht, das Ich im Ringen mit dem Selbst. Seine Eifersucht entlarvt das egozentrische Begehren, das nicht liebt, sondern besitzen will. Sein Versuch, Farhad mit List zu zerstören, ist Ausdruck der psychischen Dynamik, in der das Ich das aufstrebende Selbst sabotiert – aus Angst vor Transformation.


Doch Farhad nimmt die unmögliche Aufgabe an. Nicht weil er glaubt, sie vollbringen zu können, sondern weil in der Annahme des Weges die eigentliche Größe liegt. Der wahre Liebende schreckt nicht vor dem Unmöglichen zurück – er erkennt darin die Tiefe seiner Berufung.


Diese Dichtung ist mehr als ein romantisches Märchen: Sie ist ein innerer Mythos. Farhad ist in jedem von uns – der Teil, der liebt, der leidet, der formt, der sich nicht korrumpieren lässt. Shirin ist die leuchtende Mitte, die uns ruft, nicht um sich selbst zu geben, sondern damit wir an ihr wachsen.


Am Ende bleibt der Ruf des Liebenden. Sein Lied geht durch alle Lande – wie ein Echo der unvollendeten Sehnsucht der Seele nach Ganzheit. Nicht die Erfüllung ist der Lohn, sondern das Lied selbst – der Ausdruck des Werdens im Angesicht des Unerreichbaren.



FÜNFTES KAPITEL


Ein Handel ward mit List gemacht,

Da zog Farhad zum Berg Bistun.

Mit Hammerkraft und stiller Pracht

Begann sein Werk mit Liebesgluhn.


Zuerst schlug er mit zarter Hand

Ein Bildnis Shirin in den Stein,

Er küsste es, wie Lieb entbrannt,

Um stark für seine Müh zu sein.


Dann stieg er hoch zum Felsgipfel

Und rief ins Tal: „Shirin, mein Licht!“

Sein Herz war voll, sein Wille voll,

Er scheute Müh und Schlaf ihm nicht.


Ein Werk, das keiner je gedacht,

Dass Menschenhände dies vermöcht.

Doch bald ward Khosrow aufgebracht,

Denn aller Ruhm ward ihm geschmäht.


Ein Künstler ist er, wie kein Mann,

Ein Liebender, ein treuer Held!“

So sprach das Volk und lobte dann

Farhad, der Fels und Himmel stellt.


Auch Shirin kam, sein Werk zu sehn,

Und jedes Mal war sie bewegt.

Sie fühlte nah sich ihm geschehn,

Ihr Herz ward von Gefühl durchweht.


Khosrow vernahm, was da geschah,

Und Neid durchbohrte seine Brust.

Er sah, dass Shirin nahe war

Dem Mann, der schuf mit Liebeslust.


Beratend sprach sein Rat ihm zu:

Du musst den Mann zum Fall nun bringen!“

Ein Bote kam zur Felsruh im Nu,

Um Lügenwort ihm vorzusingen.


Shirin ist tot“ – so klang das Wort,

Ein Dolch aus Trug in Farhads Herz.

Er warf sich von der Höhe fort,

Zerschmettert ganz in Liebesschmerz.


Shirin erfuhr es, klagt' und weint,

Ihr Herz zerbrach in tiefer Pein.

Ein Grabmal ließ sie, edel, feind

Der Lüge, ihm zum Denkmal sein.


Khosrow, nun scheinheilig, sandt

Ein Schreiben mit gespielter Reu.

Doch wenig Mitleid lag zur Hand,

Sein Herz blieb kalt, die Worte neu.


Dann starb auch Maryam, seine Frau,

Ein Sterben, das die Wege weicht.

Shirin schrieb ihm – und wie genau

War Trost mit Stolz und Form erreicht.


Doch eh er Shirin freien kann,

Sucht Khosrow noch ein andres Ziel:

Nach Isfahan, zu Shekar dann –

Ein Zögern trübt der Liebe Spiel.


KOMMENTAR:


Dieser poetische Text erzählt in erhabener Sprache die tragische Geschichte des Farhad, eines Künstlers und Liebenden, dessen innere Kraft aus einer spirituell reinen Liebe schöpft. Der tiefenpsychologisch-spirituelle Kommentar dazu mag lauten:


Tiefenpsychologisch-spiritueller Kommentar zur Ballade von Farhad, Shirin und Khosrow:


Im Zentrum dieser Dichtung steht der uralte Konflikt zwischen schöpferischer Liebe und machthungrigem Besitzdenken, verkörpert durch Farhad und Khosrow. Farhad ist nicht einfach ein Mann, er ist ein Archetyp: der schöpferisch Liebende, der sich in seinem Werk auflöst, dessen Liebe nicht fordernd, sondern formend ist. Tiefenpsychologisch betrachtet, steht Farhad für das Selbst, das sich im Dialog mit dem Anima-Bild – hier Shirin – verwirklicht. Seine Bearbeitung des Felsens wird zum inneren Entwicklungsweg, zur Individuation, bei der aus dem Rohmaterial des Daseins (dem Fels) ein lebendiges Seelenbild (Shirin) hervorgeformt wird.


Shirin wiederum ist nicht nur eine Frau, sondern auch Symbol des inneren Ideals, der Seelenflamme, die den Liebenden ruft. Sie bleibt zugleich greifbar und entrückt – ein Spiegel für Farhads innere Läuterung. In ihrem Mitfühlen zeigt sich eine spirituelle Nähe, die jedoch nicht besitzergreifend wird. Sie empfindet, sie erkennt, aber sie fordert nicht.


Khosrow hingegen verkörpert das Ego in seinem Schattenaspekt: neidisch, kontrollierend, unfähig zur echten Liebe. Seine Strategie ist eine perfide Manipulation: durch Lüge tötet er nicht nur Farhad, sondern auch das Prinzip der aufrichtigen Hingabe. Der Tod Farhads durch „das Wort“ ist tief symbolisch – es ist kein Schwert, sondern eine trügerische Mitteilung, die ihn bricht. So zeigt sich, dass das Gift der Lüge oft tödlicher wirkt als jede Waffe. Aus spiritueller Sicht bedeutet dies: Das Herz kann durch Unwahrheit so tief verwundet werden, dass es den Himmel nicht mehr tragen kann.


Shirins Trauer ist echt, sie trägt die Würde der Liebe weiter, indem sie ein Grabmal errichtet – ein Denkmal nicht nur für Farhad, sondern für das Prinzip des schöpferischen Herzens. Ihre Weigerung, sich dem Khosrow zu schenken, zeigt einen Akt der Selbstwahrung. Sie bewahrt ihre spirituelle Integrität.


Khosrow, obwohl König, bleibt seelisch arm. Sein späterer Wunsch, Shirin zu freien, bleibt hohl. Er wird zum Symbol der inneren Leere, des Menschen, der zwar Macht hat, aber keine Tiefe. Er irrt weiter, suchend, ziellos – denn wer wahre Liebe verraten hat, bleibt selbst verraten zurück.


Fazit:

Diese Ballade ist nicht nur eine tragische Liebesgeschichte, sondern ein psychospirituelles Gleichnis. Sie fragt uns: Wollen wir wie Farhad lieben – schöpferisch, still, treu? Oder wie Khosrow begehren – kontrollierend, manipulierend, besitzergreifend? Und: Erkennen wir in uns Shirin – die, die erkennt, fühlt und dennoch frei bleibt?

So lehrt uns der Text: Wahre Liebe ist nicht Besitz, sondern ein Opfer – nicht für den Tod, sondern für das Heilige im Anderen.



SECHSTES KAPITEL


Allein war Khosrow nun erneut,

und liebte Shirin wie zuvor.

Er ritt zu ihr, vom Schmerz gebeut,

und stand bald an der Liebsten Tor.


Sie ließ ihn ein in ihren Hof,

doch weiter durfte er nicht gehn.

Ein trunkner Mann ist mir zu doof,

willst du mich, musst du mich verstehn.“


Ich bin Prinzessin, bin nicht dein,

wenn du mich nicht in Ehr begehrst.

Nur wer mich ehrt, darf bei mir sein,

der nicht nur Lust, doch Liebe nährt.“


Ich habe all die Zeit gewart’t,

auf dich, in Treue und Geduld.

Wenn du mein Herz dir neu erharrt,

so frei von Trug und ohne Schuld.“


Beschämt zog Khosrow heim zurück,

sein Herz war schwer, sein Sinn voll Leid.

Doch Shapour sprach von Liebesglück,

von Shirin, die ihm stets geweiht.


Da fasste Khosrow sich ein Herz,

und bat um Shirins edle Hand.

Mit Ernst, mit Achtung, frei von Schmerz,

sprach er als Mann mit festem Stand.


Ein Fest wie eines Königs wert

begann mit Pracht und Glanz und Klang.

Die Lieb’ war nun nicht mehr beschwert,

sie ward zum Band, zu Lied und Sang.


Shirin war Königin mit Sinn,

voll Güte, Weisheit, stark und klug.

Sie half dem Khosrow stets darin,

dass er gerecht war, mild genug.


Doch war da Shirouyeh, wild und kalt,

des Khosrows Sohn von andrer Frau.

In heimlich Lieb zur Stiefgemalt,

verstrickt in dunkler Herzensau.


Er riss die Krone von dem Haupt

des Vaters, den er tief veracht’.

Er war von Neid und Wahn bestaubt,

und nahm des Königs letzte Macht.


Khosrow saß fest in dunklem Turm,

nur Shirin war ihm Trost und Licht.

Sie war ihm Halt in Sturm und Sturm,

ein Hoffnungsstrahl im Angesicht.


Doch kam der Tag, da fiel das Schwert

des Sohns im Schlaf dem Vater bei.

Ein Mord, so feig, von Hass genährt,

ließ Khosrow stumm – und Shirin frei?


Da kam ein Bote, hart und roh:

Du hast noch sieben Tage Zeit,

dann wirst du meines Herzens Floh,

dann bist du meine Königsbraut.“


Shirin, sie schmückte sich sodann,

als sei ihr Herz nicht wund und schwer.

In Prunk, in Glanz, wie einst begann

die Hochzeit, folgte sie dem Heer.


Im Grabmahl ließ sie alle fort,

stand still bei ihm, in tiefer Ruh’.

Sie küsste seines Herzens Ort,

und sprach: „Mein Liebster, ich bin du.“


Dann zog sie aus ihr eig’nes Schwert,

und drückte es in ihren Leib.

Sie starb, wie’s einer Lieb’ gehört,

vereint mit ihm – ihr Herr, sie Weib.


KOMMENTAR:


Dieser tiefenpsychologisch-spirituelle Kommentar geht der seelischen und archetypischen Tiefe des Gedichts über Khosrow und Shirin nach – einer Geschichte von Liebe, Läuterung, Macht und Opfer, eingebettet in ein mythisches Narrativ, das sowohl psychologische Entwicklung als auch spirituelle Transformation symbolisiert.


1. Archetypische Figuren und ihre seelischen Dimensionen

Khosrow repräsentiert den archetypischen Helden, der zunächst von Triebhaftigkeit und Unreife geprägt ist. Seine Liebe zu Shirin beginnt als leidenschaftliche Begierde, die jedoch nicht durch wahre Reife oder seelisches Verständnis geadelt ist. Als „trunkener Mann“ steht er für das unbewusste, vom Ego gesteuerte Selbst, das sich der Tiefe echter Liebe noch nicht würdig erwiesen hat. Shirin weist ihn zurecht – nicht aus Kälte, sondern aus einer höheren inneren Klarheit heraus. Sie ist mehr als ein Liebesobjekt: Sie ist ein Anima-Bild, eine seelische Führerin, die ihn zur Selbsterkenntnis und Wandlung ruft.


Shirin ist die spirituelle Frau, die sich nicht dem bloßen Verlangen beugt, sondern auf Wahrheit, Achtung und Reinheit der Absicht besteht. Sie stellt Khosrow vor eine seelische Prüfung. Ihre Worte sind nicht bloß eine moralische Belehrung, sondern ein Ruf zur Individuation: „Willst du mich, musst du mich verstehn.“ Dieser Satz ist ein Schlüssel – in der Tiefenpsychologie bedeutet „verstehen“ nicht nur intellektuelles Erfassen, sondern empathisches Durchdringen, ein seelisches Mitschwingen.


2. Der Pfad der Reifung – vom Begehren zur Liebe

Khosrows Rückzug ist nicht Niederlage, sondern Beginn der inneren Wandlung. Er erkennt, dass wahre Liebe nicht genommen, sondern verdient werden muss. Durch die Hilfe Shapours – möglicherweise ein weiser Mentor oder psychopompos (ein Seelenführer) – reift er und tritt erneut vor Shirin, nun als gereifter Mann: frei von Schmerz, mit Achtung und Ernst.


Diese Transformation ist tiefenpsychologisch gesehen eine Bewegung vom instinktgetriebenen Es hin zu einem Ich, das bereit ist, dem Selbst zu dienen – dem höheren Prinzip in der Seele. In dieser Reifung findet die Hochzeit statt: eine Hieros Gamos, eine „heilige Hochzeit“, die nicht nur zwei Menschen, sondern auch Gegensätze in der Seele (männlich/weiblich, Macht/Liebe, Begehren/Ehrerbietung) versöhnt.


3. Der Schatten: Shirouyeh als dunkler Sohn

Shirouyeh steht für den verdrängten Schatten Khosrows – das Unbewältigte, das sich nicht in die Wandlung integrieren konnte. Als Sohn einer anderen Frau verkörpert er das Ergebnis einer Verbindung ohne spirituelle Tiefe. Seine „heimliche Liebe“ zu Shirin ist narzisstisch, besitzergreifend, eine dunkle Spiegelung des ursprünglichen Begehrens Khosrows, nun jedoch gänzlich ohne Läuterung.


Shirouyehs Mord ist nicht nur eine politische Tat, sondern eine symbolische: Der Schatten tötet den Vater, das alte Ich, das sich der Herrschaft des Unbewussten nicht vollständig entledigen konnte. Es ist der Moment, in dem die äußere Macht vergeht – ein psychischer Tod.


4. Shirin – der spirituelle Tod, das mystische Einswerden

Shirins Selbsttötung am Ende ist keine Niederlage, sondern ein bewusster Akt der Seelenvereinigung. Tiefenpsychologisch ist dies die Rückkehr der Anima zum Selbst, nachdem die äußere Welt zerstört ist. Sie wählt den Tod nicht aus Resignation, sondern aus Freiheit. Ihr letzter Satz „Mein Liebster, ich bin du“ ist die Essenz mystischer Verschmelzung: die Ich-Grenzen lösen sich auf, die Liebe wird zur Einheit.


Spirituell gesehen vollzieht Shirin den Übergang in die Transzendenz – sie durchschreitet das letzte Tor, das der Tod darstellt, um in der Ewigkeit mit dem Geliebten vereint zu sein. Es ist ein Opfertod, der nicht in Verzweiflung, sondern in Liebe geschieht. Wie in der Mystik vieler Traditionen ist der Tod nicht das Ende, sondern der höchste Punkt der Vereinigung mit dem Göttlichen.


Schlussreflexion: Der Weg der Liebe als Initiation

Dieses Gedicht erzählt keinen simplen Liebesroman, sondern einen tiefen seelisch-spirituellen Initiationsweg:


vom Begehren zur Würde,


vom Ich zur Hingabe,


von der Macht zur Demut,


und letztlich: vom Leben zum Tod als Rückkehr zur Ganzheit.


Es ist ein Gedicht über das Reifen der Seele – über die Liebe, die nicht bloß Zweisamkeit, sondern ein Weg zur inneren Einheit ist.




HYMNE AN DIE CHRISTIN SHIRIN


O du Schirin, hold in Anmut, leuchtend wie der Morgenstern,

Tochter des Ostens, geliebt von Königen,

Du, die mit lichter Stirn und tiefem Glauben

Christi Banner trugst im Feuer der Palastgemächer.


Nicht aus Purpur, nicht aus Kaiserstamm

stiegst du in goldnen Thronsaal,

sondern aus schlichtem Volke,

doch deine Schönheit, ein himmlisches Zeichen,

überstrahlte selbst die Gärten Ktesiphons.


Chosrau, der Herrscher von Iran,

beugte sich deiner sanften Stimme,

ließ Krone und Priester weichen

der Macht des Herzens und der heiligen Taufe.

Nicht aus Schwäche, nein — aus Ehrfurcht vor der Wahrheit

ließ er dich herrschen neben sich,

du, die dem Gekreuzigten folgte.


Tempel hast du gestiftet, Altäre erhöht,

dem Sergius-Heiligtum weihtest du Gaben,

und deine Hand hielt stand

gegen die Feinde des ewigen Kreuzes.

Als Jerusalem fiel und das Holz der Erlösung

nach Ktesiphon gebracht ward,

hülltest du es in Seide und Weihrauch,

nicht als Beute, sondern als heiliges Erbe.


Doch wie das Licht vergeht, wenn Nacht sich senkt,

so sank auch dein Stern,

als Chosrau, der Geliebte, fiel

durch des eigenen Sohnes Hand.

O Tränen, o Schmerz, o Treue!

Nicht Thron, nicht Gnade, nicht Leben

vermochten dich fernzuhalten

von dem Grab deines Herrn.

So schrittst du in die Nacht —

doch nicht in Vergessen,

denn dein Name, Schirin, lebt.


O heilige Frau,

die du Christus treu geblieben,

inmitten fremder Götzen,

höre den Ruf unserer Lippen!

Geleite die Liebenden, stärke die Standhaften,

und segne die,

die dein Andenken in Hymnen bewahren.


Amen.